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Das erste Anzeichen des Unheils hatte Lena an einem warmen, sonnigen Spätherbstmorgen gespürt. Ob sie noch eine volle Flasche von ihrem Bio-Saft habe, fragte Nino, in einem Ton, der eigentümlich nervös und entschuldigend klang. Lena griff ins unterste Regalfach und hielt ihm die Flasche hin: Erdbeer-Johannisbeer-Apfel, sündhaft teuer. Sie nippte das in homöopathischen Dosen oder schüttete es übers Müsli. «Da ist so ein Straßenmädchen am Südbahnhof», erläuterte Nino. «Die hat mich gebeten, ihr was Gesundes mitzubringen.»
Im Laufe der Woche bekam das Mädchen einen Namen: Jeannette. Ninos Stimme, wenn er über sie sprach, klang zart und nervös zugleich. Das Mädchen brauche Hilfe, müsse irgendwie von der Straße geholt werden, gehöre da nicht hin. Mehrfach ging Nino früher als sonst zur Arbeit; Lena hörte heraus, dass er mit dem Mädchen am Südbahnhof Zeit verbrachte. Es war schon immer Ninos Problem gewesen, niemals nein sagen zu können, wenn ihn jemand um Hilfe bat. Aber ob er sich um einen männlichen Obdachlosen ähnlich intensiv gekümmert hätte?
Nino arbeitete als Koch in einem italienischen Restaurant in Sachsenhausen, Montag bis Samstag von elf Uhr morgens bis elf Uhr abends, nachmittags zwei Stunden Pause. Eines Tages, Lena saß an ihrem eigenen Arbeitsplatz, klingelte gegen sechs ihr Handy. Es war Enzo, der Betreiber von Ninos Restaurant. Wo denn Nino bleibe, wollte Enzo wissen. Er sei jetzt eine Stunde überfällig. Übers Handy nicht erreichbar.
Lenas Herz begann zu klopfen. Sie selbst arbeitete von zwölf bis zwanzig Uhr und hatte Nino heute Morgen ganz normal losgehen sehen. Er kam niemals irgendwo zu spät. War ihm in der Mittagspause etwas zugestoßen? Ihre Hände zitterten leicht über der Nähmaschine. Es war Samstag, Hochbetrieb in der Reinigung-plus-Änderungsschneiderei, wo sie angestellt war. Verstohlen versuchte sie zwischendurch, Nino anzurufen. Doch sie erreichte immer nur die Mailbox. Um halb acht hielt sie es nicht mehr aus, probierte über die Rückruffunktion Enzos Nummer. Der klang sauer. «Nino? Der ist längst da. Aber der soll mich besser nicht noch einmal so sitzenlassen.» Worauf Enzo sofort das Gespräch beendete.
Lena atmete auf. Doch den ganzen Abend verfolgte sie eine Unruhe. Was war heute Nachmittag mit Nino los gewesen? Etwas stimmte nicht, das spürte sie.
Sie blieb auf, bis ihr Liebster gegen halb eins nachts zurückkam. Er schien abwesend und bedrückt, begrüßte sie nicht so liebevoll wie sonst. «Nino, Schatz, ist irgendwas? Enzo hat mich heut Nachmittag angerufen, du wärst nicht da.»
Auf Ninos Gesicht bemerkte sie einen verärgerten Zug, einen Zug, den sie nur sehr selten in all den Jahren gesehen hatte.
«Ach, der Enzo, der soll sich nicht so anstellen. Ich war halt mal zu spät.»
«Eine ganze Stunde? Was war denn?»
«Nichts weiter. Ich war während der Mittagspause unterwegs, hat halt länger gedauert. Hatte eine Verabredung mit Jeannette am Südbahnhof, sie war aber nicht da. Erst hab ich gewartet, dann bin ich sie suchen gegangen. Bin zum Hauptbahnhof und zur Konsti, da ist sie manchmal.»
Lena war sprachlos. Aus der Dunkelheit draußen drangen Stimmen von Jugendlichen durchs Fenster. Plötzlich schien alles unwirklich.
«Wenn sie nicht kommt, kommt sie halt nicht», sagte sie schließlich, «wieso musst du sie dann suchen gehen?»
In dem Moment kannte sie die Antwort. Nino war in das Mädchen verliebt. Zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren war sie, Lena, nicht mehr der Mittelpunkt von Ninos Leben.
Das sagte er ihr natürlich jetzt nicht. Jeannette brauche eben Hilfe, erklärte er, jemand müsse sich kümmern, die Ärmste sei psychisch in schlechtem Zustand, habe zu Hause Schreckliches erlebt, ritze sich selbst die Arme auf, sie sei ja noch so jung, mit Drogen wolle sie auch gar nichts zu tun haben, man könne ihr leicht helfen, jemand müsse dafür sorgen, dass sie eine bessere Zukunft bekomme.
«Ist dafür nicht das Jugendamt zuständig?», fragte Lena.
«Na ja, auch, aber man muss sie dahin erst mal bekommen. Sie hat Angst vor Ämtern. Da wollte ich heute ja mit ihr hin, aufs Meldeamt.» Das hörte sich nun für Lena beinahe wieder beruhigend an.
In den nächsten Tagen suchte sie nach Zeichen, in seiner Stimme, in seinen Blicken.
Jede Beruhigung war vorüber, als Nino Ende der Woche am Frühstückstisch anfing: Ob sie nicht zu dritt mit den Ersparnissen eine eigene Pizzeria eröffnen wollten? Er würde kochen, sie und Jeannette bedienen. An der Waldschulstraße stehe etwas leer, zum Lokal gehöre eine Wohnung, vier Zimmer, Platz für sie beide und Jeannette.
Lena traf es wie ein Holzhammer. Sie fand, er sei durchgedreht, sie so was zu fragen. Zugleich wusste sie kaum, wie sie reagieren sollte. Sie fühlte sich von ihm in die Ecke der eifersüchtigen Zicke gedrängt, die das hilfsbedürftige junge Mädchen nur als Konkurrenz sehen kann und fortbeißen will. Aber alle ihre Instinkte schrien.
Sie wolle eigentlich nicht mit einer dritten Person zusammenziehen, brachte sie schließlich heraus. Übrigens werde es Gründe geben, warum das Lokal in der Waldschulstraße leerstehe. Sie halte das für ein zu hohes Risiko.
Wie kann er mir das antun?, dachte sie.
Als er sich an dem Morgen zum Gehen bereit machte, wie neuerdings üblich eine Stunde zu früh, und sie sich verabschiedeten, merkte sie, dass er innerlich überhaupt nicht bei ihr war. Keine Freude, nichts Inniges lag in seiner Umarmung, so ganz anders als sonst.
Einige Tage später bekam Lena abends, Nino war natürlich noch nicht da, einen Anruf des Hausverwalters. «Ich will Sie ja nicht erschrecken, Frau Serdaris. Aber falls Sie es nicht wissen, wollte ich Sie nur darauf aufmerksam machen, dass die Miete diesen Monat nicht eingegangen ist. Die Lastschrift kam zurück. Haben Sie denn Zahlungsprobleme? Ich kann Ihnen gern für diesmal Ratenzahlung anbieten, ich weiß ja, Sie beide sind eigentlich zuverlässige Leute.»
«O Gott! Herr Kusnitzky, das ist mir ja so peinlich. Ich weiß von nichts. Da ist wahrscheinlich ein Fehler passiert. Nein, wir haben keine Zahlungsschwierigkeiten. Ich kümmere mich drum, okay?»
«Ja, bestens. Das hat auch bis zum nächsten Ersten Zeit, falls da das Problem liegt. Schönen Abend noch.»
Die Miete ging von Ninos Konto ab. Lena überwies Nino ihren Anteil, der kleiner als seiner war, weil sie weniger verdiente.
Auch heute war sie noch wach, als er zurückkam – absolut zur üblichen Zeit, was sie beruhigte. Aber als Nino sie zur Begrüßung umarmte und küsste, fühlte es sich wieder an, als spiele er eine Rolle, als spule er mechanisch die alten Rituale ab, die nun entsetzlich schal und leer wirkten. Sie ignorierte das Gefühl. Wahrscheinlich war es reine Phantasie. Ihr fiel der alte Spruch ein: Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft. Dabei war sie nie eifersüchtig gewesen. Jetzt schon.
«Es muss ein Problem mit deinem Konto geben», berichtete sie, als Nino sich die Zähne putzte. Sie stand daneben, in die offene Badezimmertür gelehnt, wie oft abends, wenn sie nach dem langen getrennten Tag einander einfach nahe sein wollten, bevor es ins Bett ging. «Die Miete ist nicht abgegangen.»
«Verdammt», spuckte Nino. Er nahm die Bürste aus dem Mund, drehte den Hahn voll auf, spülte aus. «An die Miete hab ich nicht gedacht.» Er griff zum Handtuch. «Das Konto muss total überzogen sein. Klar, dass die Miete nicht abgeht.»
«Wieso denn überzogen? Wir haben doch gar nichts Besonderes gekauft?»
«Na ja, so dies und das. Ich hab halt Jeannette das Hotel bezahlt. Das läppert sich dann schon.»
«Du hast was?»
Das war Lena so scharf und böse herausgerutscht wie nie ein an Nino gerichtetes Wort in all den Jahren, in denen sie sich kannten. Mit ihrer Beherrschung war es vorbei.
«Ich habe ihr ein Hotelzimmer bezahlt. Mein Gott, es ist schon kalt nachts, ich kann sie doch nicht draußen schlafen lassen.»
«Seit wann? Seit wann hast du ihr das Hotel …?»
«Ich weiß nicht, seit ein paar Wochen.»
«Und wenn du morgens früh um acht oder neun nach Sachsenhausen fährst, dann gehst du zu ihr ins Hotelzimmer?»
«Ähm, ja.»
Lena drehte sich um und ging. Im Schlafzimmer schnappte sie sich ihre Decke, schleppte sie hinüber ins Gästezimmer, das zugleich der begehbare Kleiderschrank war.
«Lenchen? Lenchen!» Nino kam ihr hinterher.
«Lass mich in Ruhe», fuhr Lena ihn an.
«Nun mach doch nicht so ein Theater! Ich hab dir doch die ganze Zeit von Jeanette erzählt! Extra, damit du nicht denkst … Ich hab nicht mit ihr geschlafen. Ich will ihr nur helfen!»
«Dafür ist verdammt noch mal das Amt zuständig. Für siebzehnjährige Mädchen gibt es betreute Wohngruppen oder so.»
«Da war sie mal und hat es nicht ausgehalten. Jetzt –»
«Nino, ich will nicht mehr reden. Regel das irgendwie. So geht es nicht weiter.»
Lena tat zwei Tage so, als sei nichts. Am dritten Morgen reagierte Nino ohne jede Freude auf ihren Morgenkuss, und das Erste, was er sagte, war:
«Lenchen, ich hab heute frei.»
«Ach, schön! Wollen wir heute Abend …»
«Ich werde heute Jeannette mitbringen. Du hast ja recht, das mit dem Hotel geht nicht mehr so weiter. Sie ist auch so eine sehr Hygienische, genau wie du, es muss für sie was Besseres sein. In einem Billighotel ekelt sie sich. Jedenfalls, es ist ja sowieso gut, wenn ihr euch mal kennenlernt. Also bringe ich sie heute mit. Sie kann dann vorläufig bei uns im Gästezimmer wohnen.»
Lena hatte mit Entsetzen zugehört. Wie schon einmal überkam sie das Gefühl, Nino müsse verrückt geworden sein, ihr so etwas vorzuschlagen.
«Nino, nein, das geht nicht.»
«Wieso? Das Gästezimmer ist doch frei?»
«Ich will keine Mitbewohnerin. Wenn du mit ihr zusammenziehen willst, musst du hier ausziehen.»
«Ach Lenchen, bitte! Du würdest dich bestimmt gut mit ihr verstehen. Du kannst doch so gut mit Jugendlichen. Sie sagt auch immer, sie würde dich gerne kennenlernen.»
«Nino, mi dispiace, es geht nicht, das ist mein letztes Wort. Du würdest es auch nicht gerne sehen, wenn ich hier plötzlich einen jungen Mann vom Bahnhof anschleppe und dir sage, dass der künftig bei uns wohnt.»
Nino sah gequält drein. «Aber sie ist so – so schutzbedürftig!»
«Nino, glaub mir, ich auch. Deshalb mute mir das bitte nicht zu.»
Nino überlegte einen Moment mit dem gleichen gequälten Ausdruck.
«Okay, okay. Sie wird nicht bei uns wohnen. Aber ich hab ihr schon gesagt, dass ich sie heute mit zu uns nehme. Du hattest ja letztes Jahr schließlich auch diesen Schulfreund über Nacht zu Besuch, Frank oder wie er hieß. Gib mir drei Tage, die Sache zu regeln. Drei Tage lass ich sie hier schlafen, und bis dahin muss was anderes gefunden sein, und wenn nicht, dann bleibt sie jedenfalls nicht länger hier. Ich hab morgen eh einen extra Termin für sie beim Meldeamt, da will ich auf jeden Fall noch mit ihr hin, danach ist das Sozi zuständig.»
Lena akzeptierte. Was blieb ihr übrig? Sie konnte Nino doch nicht verbieten, für drei Tage Besuch mitzubringen. Und sie wollte wirklich nicht als böse, hysterische Zicke dastehen, die einem armen Straßenmädchen Hilfe verweigert.
Als Lena am selben Abend um halb neun von der Arbeit zurückkam, wusste sie, Jeanette würde schon da sein. Lena hatte beschlossen, die Sache gefasst und undramatisch zu nehmen. Tatsächlich hatte sie einen guten Draht zu Jugendlichen, war die erklärte Lieblingstante zweier Nichten, der vielgenutzte Kummerkasten eines der Mädchen unten im Haus. Vielleicht würden die drei Tage ganz nett werden, und sie könnte einen positiven Einfluss auf Jeannette ausüben.
Als sie an diesem Abend die Wohnung betrat, hörte sie Stimmen aus dem Gästezimmer. Da Nino ihr nicht zur Begrüßung entgegenkam, ging sie direkt hin. Die Tür zum Gästezimmer stand offen. Sie sah das Mädchen zuerst im Profil. Der Schock war so groß, dass ihr fast schwindelte. Das Mädchen war in einen schwarzen Umhang gekleidet, das Gesicht kalkweiß geschminkt, die Augen fingerdick mit schwarzem Kajal umzogen, die Lippen schwarz angemalt. Doch die ganze Gestalt wirkte fragil, zartgliedrig, das Gesicht kindlich-süß. Ganz ähnlich, wusste Lena, musste sie selbst mit zwanzig gewirkt haben. Auch Ninos Exfreundin aus der Schulzeit war ein ähnlicher Typ gewesen. Wenn Lena irgendeinen Zweifel gehabt hatte, woher die Motivation für Ninos außerordentliche Hilfsbereitschaft, für seine Fixierung auf dieses Mädchen rührte, dann waren sie in dieser Sekunde verflogen. Aber sie musste jetzt Haltung bewahren. «Hallo», sagte sie so fröhlich-normal, wie sie konnte.
Nino sagte: «Jeannette, das ist Lena. Ich hab dir ja schon viel von ihr erzählt.»
Erst jetzt drehte das Mädchen den Kopf in Lenas Richtung, musterte sie kalt, ohne ihr in die Augen zu sehen, drehte sich darauf gleich wieder zu Nino und sagte in einem unerträglich künstlichen, zuckersüßen Ton: «Sie ist hübsch.»
Als wäre Lena nicht dabei. Lena dachte: Mit dem Spruch will sie sich bei Nino einschleimen, nicht bei mir.
Von Nino kam: «Lena, Jeannette will jetzt baden. Falls du noch mal ins Bad musst, gehst du am besten gleich.»
«Okay», sagte Lena. Das Mädchen gab sich nicht die Mühe, noch einmal zu ihr herüberzusehen. Die ganze Situation vermittelte den Eindruck, dass sie hier störe. Lena zog sich zurück, ließ die beiden allein.
Fünf Minuten später, sie war auf dem Weg zur Küche, begegnete ihr Jeannette im Flur.
«Na», sagte Lena grüßend und lächelte freundlich. Sie hatte es noch nicht ganz aufgegeben, wollte die Situation nicht eskalieren lassen. Doch Jeannette reagierte mit keiner Regung, schob sich an Lena vorbei, als sei sie ein lästiges Hindernis.
Einige Zeit später erschien Nino in der Küchentür.
«Haben wir noch ein neues Päckchen Seife? Jeanette ist das alte Stück zu dreckig.»
Dreckig?
«Die Dro-Markt-Vorräte sind in der untersten Schublade unterm Waschbecken», dirigierte Lena. «Da muss auch noch ein Stück Seife sein.»
Nino zog wortlos ab. Wenige Minuten später war er wieder da.
«Haben wir irgendwo frische große Badehandtücher? Jeannette hat die großen lieber, aber ich finde jetzt nur normale Handtücher.»
Lena zog die Augenbrauen hoch. «Wir haben ein paar große im Wäscheschrank ganz oben rechts.»
Einige Instruktionen später war der Gast fürs Baden ausgestattet. Nino erschien nun mit einem schwarzen Seesack, geschmückt mit dem Emblem eines teuren Outdoor-Herstellers, in der Küche.
«Kannst du Jeannettes Klamotten waschen, während sie badet?»
Lena reichte es. «Tut mir leid, Nino, das musst du selber machen. Die grüßt mich nicht mal im Flur; ich habe absolut keine Lust, für sie das Dienstmädchen zu spielen.»
«Sie ist halt sehr schüchtern. Aber okay, du hast recht. Warum solltest du das übernehmen. Ich mache die Wäsche, aber vielleicht hilfst du mir sortieren. Oder soll ich einfach alles bei vierzig Grad …?»
«Nimm dreißig, da kann nicht viel passieren. Nino, ich hab einen Vorschlag. Geh in den Waschsalon, an der Haltestelle Am Linnegraben ist einer. Die haben extragroße Trommeln, und da bekommst du das Zeug auch gleich wieder trocken.»
Nino nahm den Vorschlag an.
Währenddessen nahm Jeannette das Bad in Dauerbeschlag. Zwischenzeitlich hörte man sie singen. Nach einer Stunde musste Lena aufs Klo, schlich sich wieder und wieder zum Bad, um zu sehen, ob die Tür noch verschlossen sei. Einmal fragte sie Jeannette durch die Tür, wie lange sie wohl noch brauchen werde, erhielt aber keine Antwort. Nach und nach begann sie, sich Sorgen zu machen. Lag das Mädchen mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Wanne?
Über zwei Stunden waren vergangen, als Lena wieder einmal nachsehen wollte. Da verließ Jeannette gerade das Bad, schwarz gekleidet, die Haare noch nass. «Na, bist du –», begann Lena, aber da war das Mädchen schon wortlos an ihr vorüber, mit einem Seitenblick, der sagte: Wie lästig, dass man hier immer fremde Leute im Flur trifft.
Das Bad stand mehrere Zentimeter tief unter Wasser. Die Wände und Schränke troffen, es gab keinen trockenen Fleck, selbst die gesamte Großpackung Klopapier war durchgeweicht. Handtücher schwammen in einem pitschnassen Haufen auf dem Boden. Es roch penetrant nach Lenas eigenem Parfüm, White Linen; das Fläschchen lag ausgeleert neben dem Handtuchhaufen.
Lena brauchte alle im Schrank noch vorhandenen frischen Handtücher, um das Bad trocken zu bekommen. Beim Wischen fiel ihr Blick auf den Seifenhalter: In der von Jeannette gewünschten neuen Seife stak eine ausgedrückte Filterzigarette.
Als Nino vom Waschsalon zurückkehrte, holte Lena ihn ins Schlafzimmer und sagte ihm leise, dass sie nicht glaube, Jeannettes Anwesenheit drei volle Tage ertragen zu können. «Die benimmt sich unmöglich. Lässt sich hier bedienen wie im Hotel. Im Bad hat sie totales Chaos angerichtet. Und würdigt mich dann keines Blickes, wenn sie mich im Flur trifft. Ich hab sie zweimal angesprochen, sie hat nicht reagiert.»
«Ich sag doch, sie ist schüchtern. Und sie ist es halt nicht gewohnt, bei andern Leuten zu sein. Das gibt sich bestimmt bald. Ich hol ihr und mir jetzt gleich was beim Thailänder um die Ecke, willst du auch was?»
Ihr und mir? Die Formulierung passte Lena überhaupt nicht. Sie schluckte. «Nein», sagte sie. «Ich hab vorhin gegessen.» Mehr schlecht als recht. Sie war viel zu gestresst, um Appetit zu haben.
Aus der Ferne rief es mit zarter, heller Mädchenstimme: «Nino! Nino!»
«Ich muss jetzt zu Jeannette», sagte er.
Er verschwand für lange Zeit im Gästezimmer, dessen Tür verschlossen blieb. Einmal schlich Lena sich hin, lauschte. «Guck mal, was hab ich denn hier unten am Bein, ist das schlimm?», hörte sie die Stimme des Mädchens, hell und unschuldig. Was Nino antwortete, verstand sie nicht, aber seine Stimme klang warm und liebevoll.
Das war der Moment, wo Lena endgültig die Sicherungen durchbrannten. Sie wankte ins Schlafzimmer, voller Zorn und Verzweiflung, und fing an zu weinen. Es war aus und vorbei. Nach dem billigsten Klischee, wegen einer Jüngeren, die an Ninos Beschützerinstinkt appellierte und nicht einmal ein netter Mensch war. Gott, es war so traurig. Wie konnte er ihre große Liebe aufs Spiel setzen, bloß weil seine Hormone verrückt spielten?
Irgendwann hörte sie Nino rasch durch den Flur gehen, die Haustür öffnen und wieder schließen – auf dem Weg zum Thailänder wahrscheinlich. Noch niemals zuvor in all den Jahren hatte er die Wohnung verlassen, ohne Lena zu umarmen und zu küssen. Sie zwang sich, mit dem Weinen aufzuhören, tupfte sich die Tränen ab. Morgen würde sie Nino vor diese abgedroschene Wahl stellen, sie oder ich, und dann würde es sich so oder so entscheiden: Das Mädchen würde gehen, und wenn Nino das nicht passte, dann würde er ebenfalls gehen müssen.
Keine zwei Minuten später, Lena saß im Schlafzimmer auf dem Bett, hörte sie es im Flur trippeln. Ohne weitere Vorwarnung öffnete sich die Tür, das Mädchen erschien, in einem langärmeligen T-Shirt und Leggins. Lena hoffte, dass man in dem schlechten Licht die Spuren ihrer Tränen nicht sah.
«Sind Sie wirklich die Frau vom Nino?», sagte das Mädchen neugierig-herablassend und schob gleich hinterher: «Ich kann das irgendwie nicht richtig glauben.»
Lena dachte einmal wieder, sie höre nicht recht.
«Bin ich aber», sagte sie hilflos-trotzig.
«Wie alt sind Sie?» Das Mädchen stand immer noch in der Tür, die eine Hand an der Klinke, in etwas koketter Haltung.
«Achtunddreißig.»
«Echt? Sie sehen aber viel älter aus.» Jeannette lächelte böse, schloss die Tür und verschwand.
Lena schnappte nach Luft, dann kamen ihr wieder die Tränen. Sie holte sich ein neues Taschentuch, versuchte, sich zu beherrschen. Sie musste da irgendwie durch.
Als Nino vom Essenholen zurückkam, sah er nicht mal bei ihr herein, sondern ging direkt ins Gästezimmer. Es war sehr spät, als er schließlich ins Schlafzimmer trat.
«Ich schlaf natürlich bei dir», sagte er. «Sag mal, hast du geweint?»
«Ja. Ich find die Situation ganz furchtbar.» Ihr schossen wieder Tränen in die Augen.
«Aber ich hab dir doch gesagt, ich hab nichts mit ihr! Deshalb hab ich sie doch auch mitgebracht, damit du siehst …»
«Du hast nichts mit ihr, bis auf die Tatsache, dass sie für dich im Moment der wichtigste Mensch auf der Welt ist. Das ist es, was wehtut. Übrigens ist sie einfach Scheiße. Als du vorhin weg warst, kam sie plötzlich her, von wegen schüchtern, hat nicht mal geklopft und mich ganz schnippisch gefragt, ob ich denn wirklich deine Frau wäre.»
«Na ja, sie wundert sich halt, weil zwei Namen an der Tür stehen. Lenchen, ich weiß nicht, du verstehst sie ganz falsch. Ich hatte ihr vorhin gesagt, du sagst, sie hätte dich im Flur nicht gegrüßt. Da meinte sie, sie hat sich bloß so geschämt, weil sie noch nicht fertig geschminkt war. Sie sagt, sie findet dich total nett.»
Lena gab ein sarkastisches Geräusch von sich. «Sag mal, Nino, merkst du nicht, wie sie dich manipuliert?»
Ein Wort gab das andere. Sie stritten sich wie noch nie, seit sie zusammen waren. Lena fand es entwürdigend, die Rolle der eifersüchtigen Frau zu spielen. Später wusste sie weder, was sie, noch, was Nino alles gesagt hatte. Er war es, der den Streit irgendwann beendete: «Lena, lass uns aufhören, wir tun uns nur gegenseitig weh.» Lena dachte, immerhin kann ich ihm noch wehtun. Und Nino versprach, das Mädchen am nächsten Tag vor die Tür zu setzen, es noch zu dem Meldeamtstermin zu begleiten, aber dann sei Schluss, dann werde er sie nie mehr wiedersehen.
Trotzdem tat Lena in der Nacht kein Auge zu. Sie wälzte sich im Bett hin und her, konnte die immer wieder aufquellenden Tränen nicht kontrollieren. Sie war so verletzt. Nino griff oft nach ihrer Hand, wirkte enttäuscht, dass sie sich nicht trösten ließ. Aber sie konnte nicht.
Am nächsten Morgen waren sie beide an Seele und Körper verkatert. Sie standen um sieben auf, weil sie im Bett sowieso keine Ruhe fanden.
«Ich wecke Jeannette jetzt auch gleich», verkündete Nino. «Sie braucht morgens immer Stunden, und der Termin beim Meldeamt ist um zwölf.»
Sie braucht morgens immer Stunden. So gut kannten sich die beiden also schon.
Nino verschwand im Gästezimmer, kam nur heraus, um Serviceleistungen für Jeannette einzufordern, genau wie am Vorabend: «Jeannette braucht einen Kulturbeutel. Hast du so was?» – «Jeannette braucht ein paar Hosen, kannst du ihr ein Paar von deinen Jeans geben?» Mademoiselle bekam auch frische Brötchen vom Bäcker sowie ein jungfräuliches Glas Marmelade und Honig von ebenda, weil die angebrochenen Gläser aus dem Kühlschrank ihr zu «dreckig» waren. Ninos Stimme klang nach wie vor liebevoll, wenn er mit dem Mädchen sprach. So viel bekam Lena hinter der angelehnten Tür mit. Als Jeannette das Bad bezog, verlangte sie über Nino frische Handtücher (wegen des gestrigen Landunter im Badezimmer waren aber keine mehr da) sowie eine weitere neue Seife, weil die alte jetzt dreckig sei. Lena hatte die Seife samt darinsteckendem, halbgerauchtem Zigarettenstummel als Vorwurf genau so belassen, wie sie sie vorgefunden hatte. Sie konnte sich jetzt nicht verkneifen, Nino zu sagen, was sie von dem Wunsch nach neuer Seife hielt.
«Sie ist halt Hotels gewöhnt», entschuldigte er Jeannette. «Da gibt es jeden Tag neue Seife und neue Handtücher.»
Lena sah nach der ganzen Heulerei gestern so furchtbar aus, dass sie sich in aller Frühe schon für den heutigen Arbeitstag krankmeldete. Die liegengebliebene Arbeit würde sie in den Folgetagen in unbezahlten Überstunden abarbeiten müssen, so war das in ihrem Job. Nun saß sie auf glühenden Kohlen im Wohnzimmer, versuchte vergeblich zu lesen, wollte einfach nur, dass das Mädchen ging und sie ihre Wohnung zurückhätte. Doch Mademoiselle Jeannette bequemte sich erst um zehn ins Bad. Nun kam Nino ins Wohnzimmer. Statt sich neben Lena aufs Sofa zu setzen, ließ er sich ihr gegenüber in den Sessel fallen.
«Lena, ich geh also dann nachher mit ihr mit und komme heute Nachmittag wieder. Oder vielleicht erst morgen, ich wollte eigentlich heute zu meinen Eltern.»
«Musst du nicht arbeiten?»
«Ich hab mir diese drei Tage freigenommen, damit ich das mit Jeannette regeln kann.»
«Wenn sie im Bad wieder so lange braucht wie gestern, wird es mit dem Termin bei der Meldebehörde aber sehr knapp werden», sagte Lena bissig. Sie konnte einfach nicht anders.
«Ich weiß. Und glaub mir, Lena, so dumm bin ich nicht, ich merke schon, dass sie das absichtlich rauszögert. Sie will irgendwie nicht auf dieses Amt.»
«Nein, warum sollte sie auch. Wenn du sie ans Amt weiterreichst, dann verliert sie ja ihr schönes Luxusleben mit dir.»
«Ach, komm, hör mit den Vorwürfen auf.»
«Sorry. Mir geht’s nicht gut.»
«Mir auch nicht.»
Dann ging Nino. Sollte das heißen: Mir geht es nicht gut, weil du mich zwingst, auf mein kleines Glück mit diesem Mädchen zu verzichten?
Lena konnte sich schwer vorstellen, dass Jeannette sich so einfach fügen würde, wenn Nino sagte, wir sehen uns nicht wieder.
Nino und Jeannette verließen das Haus um eins, zu spät für den ausgemachten Termin bei der Meldebehörde, zu spät sogar, um noch innerhalb der Öffnungszeiten dort einzutreffen. Nino hatte Lena erklärt, er werde das Mädchen zum Bahnhof bringen. Dort wolle er die Sache beenden.
«Warum nicht jetzt gleich hier?», hatte Lena gefragt. «Warum gehst du überhaupt noch mit?»
«Das geht so nicht. Lenchen, ich hab die Scheiße gebaut, lass mich sie jetzt auch auf meine Art in Ordnung bringen.»
Scheiße gebaut. Das klang gut.
Nino verlangte von Lena, dass sie sich von Jeannette verabschiedete. Zweimal künstliches Lächeln, zwei kalte Hände, die sich drückten. Sie wünsche ihr viel Glück, sagte Lena. Sie meinte es ernst. Das Mädchen war auf seine Weise arm dran, sie wünschte ihm alles Glück der Welt. Nur nicht mit Nino.
Am späten Nachmittag rief Nino an: Er sei mit Jeannette ohne Termin auf dem Jugendamt gewesen, sei nach vielen Mühen zu einem Sachbearbeiter vorgedrungen. «Die haben ihr sogar ein Angebot gemacht, dass sie die Nacht irgendwo unterkommt und sich dann jemand um sie kümmert, um was Dauerhaftes zu finden und die Meldesache auch zu regeln. Aber Jeannette wollte nicht. Hat einfach gesagt, nee, das gefällt ihr nicht und sie wolle sowieso lieber nach Amerika, hier in Frankfurt hält sie nichts mehr.»
«Sie hat einen Knall», sagte Lena.
«Ja, sie hat einen Knall. Ich dachte, man könnte ihr so einfach helfen. Aber das stimmt nicht. Also, Lenchen, ich habe mich dann draußen von Jeannette verabschiedet, habe ihr einen Fuffi in die Hand gedrückt und gesagt, ich hätte noch ein Leben und eine Frau und eine Arbeit und dass ich meinen Teil versucht habe, aber jetzt echt nichts mehr für sie tun kann. Ich denke, sie hat das verstanden. Lenchen, ich fahr jetzt zu meinen Eltern. Muss den Kopf frei kriegen. Wir sehen uns dann morgen. Und wir vergessen die Sache. Okay?»
«Okay.»
Es wurmte Lena, dass er jetzt nicht zu ihr kam. Dass er erst «den Kopf frei» kriegen musste, bevor sie sich sahen. Sie hätte Nino gerade jetzt gebraucht. Aber sie wollte ihn nicht zwingen.
In der folgenden Nacht schlief sie kaum. Am nächsten Morgen rechnete sie ständig mit Nino. Doch er kam nicht. Irgendwie konnte sie nicht mittags zur Arbeit gehen, ohne von ihm gehört zu haben. Sie war so verunsichert.
Um elf rief sie ihn auf dem Handy an. Die Mailbox ging an. Schlief er noch? Sie versuchte es bei seinen Eltern. Ob Nino da sei? Ob sie ihn sprechen könne?
Die Auskunft der Schwiegermutter: «Nino ist heute ganz früh weg. Er wollte jemand treffen, ich weiß nicht genau. Später will er wieder zu uns kommen.»
Lena traf ein Messer ins Herz. Nino hatte es sich anders überlegt. Zog Jeannette ihr vor. Ihre Schwiegermutter, die durchs Telefon Schweigen und raues Atmen hörte, rief verwundert: «Mamma mia, piccolina, was ist denn los?»
«Er hat eine Freundin», stieß Lena halb schluchzend hervor.
«Was? Eine Freundin?»
«Freundin, Geliebte, was weiß ich. Er wollte gestern mit ihr Schluss machen, aber jetzt hat er sich wohl anders entschieden.» Lena fing wieder an zu weinen, jetzt war alles egal.
«Ich habe noch nie solchen Unsinn gehört!», rief ihre Schwiegermutter. «Ich glaube das nicht!»
«Es ist aber so. Wenn er sich heute wieder mit ihr getroffen hat, ist es so.»
«Aber er liebt dich doch so!»
«Aber sie liebt er auch.»
Am Ende bat Lena die Schwiegermutter, Nino auszurichten: Er solle sofort zu ihr kommen und eine gute Erklärung mitbringen. Wenn er jetzt aber keine Erklärung habe, dann wolle sie ihn niemals mehr wiedersehen.
Sie meldete sich bei der Arbeit wieder krank, legte sich ins Bett, wartete, ein entsetzliches Warten, entsetzliche Ungewissheit. Ihre Tränen liefen ununterbrochen, obwohl sie immer wieder versuchte, mit dem Weinen aufzuhören. Sie hatte ihr ganzes Leben nicht so viel geweint wie in den letzten beiden Tagen.
Gegen drei, die Zeit bis dahin schien unendlich lang, hörte sie unten einen Wagen halten und kurz darauf weiterfahren, vielleicht ein Taxi? Sie ahnte, hoffte, betete. Dann Ninos Schlüssel im Schloss. Seine Stimme, besorgt, im Flur: «Lenchen, Lenchen, was ist denn?»
Dann kam er ins Zimmer. «Warum weinst du denn so, was ist denn nur los! Ich hab dir doch gesagt, ich komm heute Abend erst wieder.» Er warf sich neben sie, schlang seine Arme um sie, war völlig aufgelöst. Lena weinte noch mehr, aber jetzt aus Erleichterung.
«Ich hab bei deiner Mutter angerufen», schluchzte sie, «sie hat mir gesagt, du bist heute Morgen ganz früh weg, um dich mit jemandem zu treffen. Da hab ich gedacht, du bist wieder mit Jeannette in irgendeinem Hotelzimmer und es ist noch nicht vorbei und du hast dich für sie entschieden.»
«Ach Lenchen, Lenchen! Ich hab mich bloß gestern nicht getraut, dir das zu sagen, weil du so kompromisslos warst. Ich hab doch heute noch einen Termin beim Sozialamt für sie gehabt. War mir natürlich klar, dass sie eh nicht mitgehen würde. Daher bin ich alleine hin, hab den Fall geschildert, Jeannette beschrieben und wo sie sich oft aufhält. Die sollen dort einfach wissen, dass es sie gibt und dass sie Hilfe braucht. Ich wollte das Gefühl haben, alles getan zu haben. Damit ich die Verantwortung los bin. Und dann hab ich mich tatsächlich noch mit ihr getroffen. Ich hatte ihr nämlich gestern versprochen, dass ich ihr ein Flugticket kaufe. Das war ihre Bedingung dafür, dass sie mich in Ruhe lässt. Ich war dann also gestern Abend noch am Flughafen, vorher noch auf der Bank. Hab gedacht, wenn sie tatsächlich in die USA fliegt, ist sie weg aus Frankfurt. Dann weiß man wenigstens, dass man sie los ist. Sie wird dort zwar erbärmlich scheitern. Aber das ist ihr Problem. Sie hat wirklich einen Knall. Ach Lenchen, warum weinst du denn immer noch?»
«Ich bin so verletzt. – Nino? Liebst du mich noch?»
«Ach Lenchen, Lenchen, natürlich liebe ich dich! Ich könnte nicht ohne dich leben!»