Kapitel 11
… bis zum Ende mit Schrecken
»Normalerweise bist du danach eigentlich immer entspannter«, neckte sie Ben und ließ ihren Kopf auf seine Schulter zurücksinken.
»Kann man nach vier Malen schon von normalerweise sprechen?«, konterte Ben und versuchte, sich so locker wie möglich zu machen. Aber die Anspannung saß ihm tief in den Knochen. Schließlich hatte er zum ersten Mal in seinem Leben etwas zu verlieren. Sie.
»Mal im Ernst. Was ist los?«
»Die letzten beiden Tage waren die glücklichsten in meinem Leben.« Ben atmete tief ein und lange aus. »Vielleicht warte ich einfach nur darauf, dass etwas Schlimmes passiert, weil ich es nicht anders kenne.«
Sarah stützte sich auf ihren Ellbogen und sah ihn nachdenklich an. Ben versuchte, sich nicht von ihrer verhüllten Nacktheit ablenken zu lassen. Mit mäßigem Erfolg.
»Ich denke, wir beide haben einfach keinerlei Erfahrung damit, glücklich zu sein, und können damit irgendwie nicht umgehen.« Der alte, ihm mittlerweile schon so vertraut gewordene Ausdruck von Traurigkeit huschte über Sarahs Gesicht. In den vergangenen Tagen war er verschwunden gewesen und kehrte ausgerechnet wegen seiner Stimmungsschwankungen zurück. Dafür verpasste er sich geistig einen heftigen Tritt. Ben umfasste ihre schmale, herrlich nackte Taille unter der Decke und zog sie fest an sich. Sofort stand sein Körper unter Strom. »Wir werden’s lernen«, ordnete er streng an, ehe er begann das zu tun, was schon die vorherigen Tage und Nächte ausgefüllt hatte. Sarah alles zu geben, was er zu bieten hatte, und sich wiederum alles zu nehmen, was sie ihm anbot. So lange es möglich war. Dennoch konnte er eine wachsende Unruhe in seinem Inneren fühlen.
*
Sarah konnte sich noch immer nicht an all die neuen Gefühle und Eindrücke gewöhnen. Wie hätte sie denn wissen sollen, was ihr alles entgangen war? Wie hätte sie wissen sollen, dass man sich high und erregt fühlte, nur weil ein wundervoller Mann namens Ben ihre Brüste berührte, so wie er es auch in diesem Moment tat? Wieder überzog eine heftige Röte ihre Brust und ihr Gesicht brannte ebenso. Seine rauen Hände pressten ihren Körper nah an seinen, bis seine Erektion an ihre Hüfte drückte. Noch immer war es ihr peinlich, wie laut ihr Stöhnen sein konnte, wenn er diese Dinge mit ihr tat. Aber keine Scham der Welt hielt sie davon ab, ihn weitermachen zu lassen, und selbst wild über seinen Rücken und seine Brust zu fahren. Die Erinnerungen ihres Körpers trieben sie immer weiter an, denn er wusste jetzt, wie gut es sich anfühlte, wenn Ben in ihn eindrang. Ben drängte sich zwischen ihre Schenkel, während er Sarahs Brust und Hals mit kleinen Küssen bedeckte, bis er anfing, laut aufzukeuchen. Er küsste sie heftig, drängte seine Zunge in ihren Mund, bis sie auf ihre traf. Sarahs Schoß war schon lange bereit für ihn. Sie brauchte ihn jetzt, wollte wieder diesen Rausch der Wellen spüren, der bisher jedes Mal über sie gekommen war, wenn er mit ihr schlief. Natürlich wusste sie, was es war. Doch Ben dabei in die Augen zu sehen, machte es zu so viel mehr. Neben dem körperlichen Genuss liebte sie am meisten die Intensität seiner grauen Augen, die nicht eine Sekunde zögerten oder sich schämten, sie in ihrer Lust zu beobachten. Eigentlich war es sein Blick, voller Verlangen und Überraschung, der sie endgültig über die Klippe stürzen ließ, bis sie ihn mitzog. Laut stöhnte er über ihr auf, ehe sein schwerer, harter Körper auf sie sank.
Ben rang nach Atem, streckte sich neben ihr aus, um ihr langsam über den Arm zu streifen, während sie mit geschlossenen Augen die Berührung genoss.
»Siehst du?« Sarah flüsterte schwer atmend, holte Luft und küsste ihn sanft. »Jetzt bist du definitiv entspannt.« Ben lachte überrascht auf. Sarah stimmte in sein Lachen mit ein und war einfach nur glücklich. Ja, sie würde sich daran gewöhnen. Nichts leichter als das.
Sarah kümmerte sich um die Wäsche, während Ben am Küchentisch gelehnt einen Apfel aß. Ihr entging nicht, dass er sie anstarrte.
Erst diese merkwürdige Anspannung in der vergangenen Nacht und jetzt dieses Starren machten sie nervös. Bald waren alle Wäschestücke zusammengefaltet und ihr fehlte jegliche Ablenkung, also sprach sie es endlich an. »Du starrst schon wieder.«
»Ich weiß.«
»Kannst du es nicht lassen? Es macht mich wahnsinnig, Ben.« Ihre Finger versuchten, einen festen Knoten im Nacken wegzumassieren.
»Es ist nur …Fragst du dich eigentlich nicht mehr, warum wir das alles können? Sex haben, uns berühren, ohne dass du etwas empfängst?«
Es musste ja so kommen. Sie seufzte und setzte sich zu ihm an den Tisch. Unwillkürlich fuhren ihre Finger die zahlreichen Furchen im Holz entlang. »Natürlich frage ich mich, wieso das alles bei dir möglich ist, wo es doch sonst absolut unmöglich bei jedem anderen war. Schließlich konnte ich jemandem nicht mal die Hand geben …Aber ehrlich gesagt versuche ich, es mehr zu genießen, als es zu hinterfragen.« Sarah warf Ben einen herausfordernden Blick zu, der ihm sagen sollte: Was willst du? Wieso fängst du an, darin herumzustochern?
»Was, wenn ich eine Antwort für dich hätte?« Ben starrte auf den Tisch, anstatt sie anzusehen.
»Dann würde ich sie hören wollen.« Sie zwang ihre Stimme zu Ruhe und Gelassenheit, damit er die Unsicherheit darin nicht ausmachen konnte. Ben verschränkte die Arme, ehe er sprach.
»Die Familie hat die meisten von uns schon als halbe Kinder unter ihre Kontrolle gebracht und eins der ersten Dinge, die sie mit uns machten, war eine Art von Blockademanipulation. Sie pfuschten so lange in unserem Gehirn herum, bis wir, im Falle einer Folter, automatisch gegen alle psychoparanormalen Einflüsse geschützt waren. An die meisten dieser Prozeduren erinnere ich mich nicht, nur ein paar Bilder von einem Untersuchungsraum und einem großen Kerl, der meinen Kopf zusammenquetscht, und an scheußliche Kopfschmerzen bekomme ich zusammen. Später wurde uns erklärt, dass wir dadurch geschützt wären vor euren Psychotricks und wir nichts tun müssten, dass unser Unterbewusstsein jede Art von Eindringen abwehrt. Ich denke, deshalb kannst du nichts bei mir fühlen oder sehen.«
Ben schien bei dieser Erinnerung kaum Wut oder gar Schmerz zu verdrängen, wie sonst bei allen anderen Erlebnissen um die Familie, die er bisher erzählt hatte. Sarah fand das merkwürdig, sagte aber nichts dazu. Eigentlich hatte er es ihr ja schon ansatzweise zu erklären versucht. Worauf wollte er hinaus? »Wie erklärst du dir den Vorfall im Kino? Da habe ich eindeutig etwas von dir empfangen.«
Bens Mimik entgleiste kurz. Offenbar dachte er an diesen Daniel, den toten Jungen. »Daniels Tod war vor der Familie. Bevor sie in meinem Kopf herumgepfuscht haben. Außerdem ist das, was mit Daniel geschehen ist, eines der wenigen Dinge, bei denen ich meine Gefühle nicht kontrollieren kann. Außer bei ihm, gilt das eigentlich nur für dich. Ich kann’s mir nicht genau erklären, aber ich bin mir sicher, es hat etwas damit zu tun.«
Sarah dachte nach. Ihr Zeigefinger ruhte in einer der tiefen Furchen. »Dann ist diese Blockade nicht undurchlässig. Sie muss Risse wie eine Mauer haben. Das würde auch bedeuten, dass ich dein Schwachpunkt bin. Das willst du mir doch damit sagen. Aber wieso geschieht es dann nicht, wenn wir uns berühren?« Darauf kam sie einfach nicht. Es ergab keinen Sinn.
Ben errötete, so als würde ihm das, was er gleich sagen würde, peinlich sein. »Anscheinend ist es mir wichtiger, dich berühren zu können und mit dir zu schlafen, als dir zu erlauben, in mein Innerstes zu sehen. Und ja, ich weiß, wie das klingt. Doch glaub mir, du willst die Dinge nicht sehen, die ich da oben mit mir rumschleppe.« Mit düsterer Miene tippte er sich an die Schläfe.
Was sollte das bedeuten?
Dass er ihr nie erlauben würde, in ihn hineinzusehen, weil er sie viel lieber in seinem Bett als in seinem Kopf hatte? Vor Verblüffung über sich selbst hätte Sarah fast die Augen verdreht, denn zum ersten Mal wünschte sie sich, sie könnte ihre empathischen Fähigkeiten absichtlich dazu benutzen, in jemanden hineinsehen zu können. In Ben. Doch genau das wollte er partout nicht. »Okay, ich kann das verstehen, aber warum fängst du dann überhaupt damit an? Es funktioniert doch alles, so wie es ist.« Vielleicht war es besser, diese Unterhaltung zu beenden. Wo sollte das hinführen?
Ben legte seine Hand auf ihre Finger und stoppte Sarahs nervöser werdende Erkundung der Furchenlandschaft des Tisches. Erst bei seiner Berührung spürte sie, wie kalt ihre Finger waren. »Ich denke, es ist an der Zeit, dir zu zeigen, wie du deine Gabe kontrollieren und vielleicht sogar steuern kannst.« Er ließ ihr Zeit, das zu verdauen. »Dann kann dir nie wieder so etwas wie mit Michael geschehen. Ich weiß, ich sollte es nicht, aber ich denke die ganze Zeit darüber nach, was passieren könnte, wenn mir etwas zustößt und niemand mehr da ist, der dich beschützen kann. Wenn sie dich finden, und ich bin nicht da … Oder wenn wir getrennt werden … Du musst einfach in der Lage sein, mit deiner Gabe leben zu können. Und sie vielleicht sogar, wenn es sein muss, als Waffe einzusetzen.«
Sie schloss die Augen. »Du kannst das? Du kannst mir das zeigen?« Sie fühlte sich völlig überrumpelt.
Wieso hatte er das früher nie erwähnt? Und vor allem, wieso ging er davon aus, er wäre nicht da, um sie zu beschützen?
Sie hatte nicht den Mut, ihn das zu fragen, obwohl ihr der Gedanke wahnsinnige Angst machte.
»Ja, ich kann das. Vielleicht. Die Familie hat mir einiges beigebracht.« Er bekam einen bitteren Zug um den Mund. »Einiges davon kann ich dazu nutzen, dir zu zeigen, wie du mit deiner Gabe umgehen kannst. Das musst du üben, und da es nur mich dafür gibt, brauche ich dein Versprechen, dass du die Tatsache, dass ich für dich meine Deckung lockern werde, nicht ausnutzt, um dir alles in meinem Kopf anzusehen, was du willst …« Bens Augen bekamen einen panischen Ausdruck. »Es wird für uns beide nicht einfach werden. Aber ich denke, nein, ich weiß, dass es nötig ist.« Ben schlug wieder diesen strengen Befehlston an, bei dem Sarah sofort klar war, dass er dafür sorgen würde, dass die Übungen für das kontrollierte Handhaben ihrer sogenannten Gabe früher oder später stattfinden würden, weil er es für richtig hielt. Was blieb ihr für eine Wahl?
»Na gut. Wir können es versuchen. Du weißt, wie sehr ich diese Dinge hasse, die ich tun kann, aber wenn du wirklich glaubst, dass es sein muss, mache ich es.«
Er nickte. »Wir fangen heute Nachmittag an.«
So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Sie saßen sich genauso gegenüber wie bei jedem Frühstück oder Mittagessen. Ben hatte sie gebeten, die Augen zu schließen und ein paar Mal bewusst durchzuatmen. Leider erinnerte diese Vorgehensweise sie sehr an die Therapien, zu denen sie ihr Vater geschleppt hatte, damit seine Tochter endlich wieder normal werden würde. Natürlich hatte es damals nichts genützt. Dennoch ließ sie Ben einfach machen und behielt ihre Bedenken für sich.
»Bist du entspannt?« Seine Stimme war ruhig und samtig.
»Ja, einigermaßen.«
»Gut. Dann werde ich dir jetzt meine Hand geben und du umklammerst sie mit deinen Händen.«
Sarah nickte und umfasste die Hand, die sie auf dem Tisch fühlte. Nichts geschah, außer, dass sie die vertrauten Finger spürte und nur zu deutlich wusste, wie sich diese Hand auf ihrer Haut anfühlte. »Ich sehe nichts. Ich spüre auch nichts. Nichts Ungewöhnliches jedenfalls …«, flüsterte sie, während sie seine Finger drückte.
»Konzentrier dich!« Ben quittierte ihren sanften Annäherungsversuch mit Strenge. Ben war nun mehr Assassin und weniger ihr Liebhaber, wenn der Begriff überhaupt passte. »Ich werde mich jetzt auf eine Erinnerung mit den dazugehörigen Gefühlen konzentrieren und dabei gleichzeitig versuchen, meine Blockade zu lösen, damit ich sie mit dir teilen kann. Sag, wenn sich etwas ändert, wenn du etwas empfängst.«
Zuerst waren da nur die Stille des Raums und Bens ruhige Atemgeräusche, doch an den Rändern ihrer Wahrnehmung tauchte ein Gefühl auf. Nicht als Bild, sondern viel mehr als Farbe. Ein sanftes Rotorange durchmischt mit Rosatönen drängte sich in ihr Bewusstsein. Die Farbe ähnelte Morgen- oder auch Abendrot und verbarg in ihrer Intensität und Schattierung ein Meer an Gefühlen, das in Wellen über sie kam. Manche davon waren einfach zu benennen, wie Freude, Zufriedenheit, Zärtlichkeit, Ruhe, Frieden, Nähe und Liebe. Andere waren so komplex und widersprüchlich, dass es Sarah nicht gelang, ihnen eine Bedeutung oder einen Namen zuzuordnen. Sie waren zu persönlich. Intim. »Da ist etwas«, murmelte sie. »Aber noch undeutlich.«
Ben atmete langsam und gepresst aus. Sarah wusste nicht, was er machte, doch sie fühlte, dass ein unsichtbarer Knoten gelockert wurde. Plötzlich umspülten sie Emotionen, Bilder, Erinnerungen, Wünsche und Gedanken. Alles zusammen in einer chaotischen Welle. Es gehörte eindeutig zu Ben, war Ben. Hinter dieser einen Welle, die sie noch dabei war, zu entschlüsseln, spürte sie eine deutliche Wand, gegen die ihr Bewusstsein drang. Dahinter wollte er sie nicht haben. Dennoch verspürte sie das Verlangen, diese Mauer zu überwinden. Als sie es instinktiv versuchte, bemerkte Sarah sofort, dass ihr Bens Empfindungsstrom entglitt. Also ließ sie sich zurück in die Welle fallen, die daraufhin über ihr zusammenbrach. Anders konnte man es nicht beschreiben. Als seine Gefühle und unausgesprochenen Gedanken zusammenströmten, formten sich Bilder daraus, die deutlicher wurden, bis Sarah sie erkennen konnte.
Sie sah die Erscheinung eines nackten Frauenrückens in der Morgensonne, der beinahe schon überirdisch leuchtete. Rotes Haar, das geradezu übertrieben schön wirkte. Da wurde es ihr klar. Sie sah sich. Aber nicht etwa so, wie sie tatsächlich aussah, sondern so, wie Ben sie in seinem Inneren sah. Sie erinnerte sich an diesen Morgen. Als Ben neben ihr gelegen hatte, auf spezielle, intime Weise. Er teilte diese Erinnerung mit ihr. Freiwillig. Deutlich spürte sie Bens Hingabe und seine Wünsche. Der männliche Wunsch nach Lusterfüllung, zusammen mit dem sehr menschlichen Wunsch nach Unvergänglichkeit eines perfekten Moments. Sarah nahm das Echo seiner Gedanken wahr: Ich könnte sterben für sie. Sarah für immer …Sie gehört zu mir …
Selbst nach allem, was zwischen ihr und Ben geschehen war, hätte sie sich niemals vorstellen können, dass jemand solche Gedanken für sie hegen könnte. Das war völlig anders als die Gedankenfetzen anderer Menschen, die sie früher gezwungen war, zu fühlen. Diese Ströme waren barbarisch und drängend gewesen, wollten etwas, forderten etwas, wollten sie verletzen, beneideten sie oder hatten Absichten gegen ihren Willen. Doch Bens Gedanken und Gefühle für sie waren vollkommen anders. Sie machten ihr keine Angst. Sie waren schön und willkommen in ihrem Geist.
Endlich fühlte sich ihre Fähigkeit wie eine wahre Gabe an. Sarah brauchte eine Weile, bis sie ihre Sprache wiederfand. Seine Hand in ihrem Griff zitterte. »Ben, was ich da von dir empfange, was ich sehe … ist wundervoll.« Sarah schlug die Augen auf und blickte unvermittelt in Bens aufgewühlte Sturmaugen. Hinter diesen grauen Augen war alles, was sie gerade noch erlebt und in sich aufgenommen hatte, verborgen. Alles kam ihr so verändert vor. Als hätte jemand eine Lampe angeknipst. In ihr. Selbst jetzt war sie sich nicht sicher, was der Unterschied zwischen Verliebtheit und Liebe war, und dennoch wusste sie ohne Zweifel, dass sie von nun an Ben liebte, möglicherweise einfach, weil sie seine Liebe erfahren durfte oder weil der Rest von Zweifel durch diese wundersame Erfahrung verglühte. So war es. Sie liebte Ben. Doch sie sagte es ihm in diesem Moment nicht. Einfach, weil sie das Gefühl hatte, es nicht sagen zu müssen.
Ben zog sie auf seinen Schoß und küsste sie sehr sanft auf den Mund. »Es funktioniert also. Jetzt musst du nur noch lernen, es nicht über dich kommen zu lassen, wenn du es nicht willst.«
Sarah nickte und konnte kaum fassen, was da gerade vor sich ging. Sie lernte tatsächlich, ihre Gabe zu beherrschen, die sie ihr bisheriges Leben lang beherrscht hatte.
*
Den ganzen Tag noch und die halbe Nacht lang hatte Ben mit Sarah gearbeitet. Sarah war es am Ende gelungen, sich gegen seinen offenen Gefühlsstrom zu schützen, indem sie eine Wand vor ihrem geistigen Auge errichtete. Sobald diese Mauer stand, kam nichts mehr durch, was Ben auch aussendete, egal, wie er sie berührte. Doch der Effekt hielt nicht lange an. Dauerte die Berührung zu lange, brach ihre Blockade und Bens Strömung drängte mit einer Heftigkeit in Sarahs Geist, die sie in eine unvermittelte Migräneattacke beförderte. Dabei handelte es sich keineswegs um ein vorübergehendes Phänomen, während der Sitzung, denn die Kopfschmerzen hielten auch danach noch an. Erst als Ben ihr eine Tablette gab, ebbten sie ab. »Wir sollten es gut sein lassen.« Er fühlte sich zermürbt, als er sah, wie sie die Augen zusammenkniff, weil der dumpfe Schmerz noch hinter ihrer Stirn saß.
Er begleitete sie zum Bett und gab ihr eine zweite Decke. »Anscheinend ist deine Gabe, wie die meisten entarteten Gaben, psychosomatisch. Deshalb hast du auch so heftig und anhaltend auf Michaels Attacke reagiert.«
Sarah nickte schwach und zog die Decke hoch. Ben legte sich zu ihr, nachdem er Hose und Hemd ausgezogen hatte. Der Frühling ließ das Gebäude endlich wärmer werden. Doch nachts sorgten feuchte Wände und Ritzen dafür, dass Sarah ohne zweite Decke dennoch fror. Er zog sie auf seine Brust. Heute würde er nicht mit ihr schlafen. Sarah war zu erschöpft. »Du bist wirklich erstaunlich. Wenn man bedenkt, dass du jahrelang deine Fähigkeit abgelehnt hast und nicht benutzen konntest, sind deine Fortschritte bemerkenswert. Ich denke, das spricht für die Größe deiner Begabung.« Sarah machte ein eher mürrisches Geräusch. Sie schlief schon halb. »Du solltest stolz darauf sein. Ich wurde mein halbes Leben lang dazu gebracht, Menschen wie dich zu hassen und eure Gaben zu verachten und dennoch platze ich vor Stolz auf dich und das, was du heute geschafft hast.« Ben fühlte sich wie der glücklichste Mistkerl, den es je gegeben hatte. Wie konnte jemand das, was Sarah vermochte, als falsch oder abnormal ansehen? Er hatte schon viele Menschen gesehen, die mit dem, was sie konnten, richtig schlimme Dinge angestellt hatten und einige von ihnen hatte er auch dafür getötet. Doch erst jetzt begriff er, dass einige seiner Opfer Menschen wie Sarah waren, wie Betty, und er fühlte sich schuldig bis ins Mark, weil er nichts tun konnte, um es ungeschehen zu machen. Jetzt hier im Bett mit Sarah, die ihn glücklicher machte, als er sich je hätte vorstellen können, gab es nichts, womit er es wiedergutmachen konnte. Wie sollte er je der gute Mann sein, den eine Frau wie sie verdiente? Darauf hatte er keine Antwort. Doch die Frage hielt ihn wach.
*
Der nächste Tag stellte sich als der schönste Tag seit Frühlingsbeginn heraus. Zusammen mit einer leichten, lauen Brise strömten die herrliche Frühlingssonne und Gerüche aufblühender Knospen in den Garten des Kastells, in dem Ben dabei war, die neu gekaufte Holzfuhre zu zerkleinern. Mittlerweile waren Sarah seine Holzhackgeräusche lieb geworden und zauberten ein Lächeln auf ihr Gesicht. Die Arbeit in der Küche machte ihr gleich viel mehr Spaß bei der Vorstellung eines leicht verschwitzten Bens, der durch die hintere Küchentür kam, um ihr den Nacken zu küssen. Mit einem Summen auf den Lippen zerhackte sie Petersilie, die sie selbst gezüchtet hatte. Der Gedanke gefiel ihr. Sie rührte die Kräuter in die Suppe ein. Der würzige Geruch erfüllte den Raum und vermittelte ihr ein Gefühl von Zuhause, wie sie es aus ihrer Kindheit nie wirklich gekannt hatte, die aus Fertigessen und improvisierten Menüs bestand, die ihr Vater zusammengebastelt hatte. Vielleicht bereitete ihr deshalb das Kochen so viel Freude. Und für Ben zu kochen, mochte sie noch ein bisschen mehr. Modern waren diese Gedanken nicht, aber sie fühlte sich gut dabei und wusste, dass Ben es genoss, von ihr auf diese Weise umsorgt zu werden, da auch er diese Art von Fürsorge und Geborgenheit niemals bekommen hatte. Als die Hackgeräusche draußen verstummten, machte sich Sarah daran, den Tisch mit dem spärlich vorhandenen Geschirr zu decken. Kein Teller passte zum anderen. Doch selbst, als sie sich schon an den Tisch gesetzt hatte, kam Ben nicht. Nach ein paar Minuten beschloss sie, nach ihm zu sehen. Durch das alte Küchenfenster konnte man die Stelle mit den Holzscheiten gut einsehen, doch sie konnte Ben nirgends entdecken.
Plötzlich tauchte seine Rückseite am Rande des Fensters auf. Sarah fuhr ein eisiger Blitz durch den Körper. Ben wurde von einem schwarz gekleideten Mann gestoßen. Kein Zufall, der Angreifer gehörte zur Familie. Man hatte sie gefunden. Es war vorbei.
Ein zweiter Kerl mit einem blonden Schopf erschien, der Ben zu Boden schlug. Sarah erstarrte, konnte sich nicht rühren. Was taten sie Ben da an?
Der dunkelhaarige Angreifer packte ihn am Kragen und schrie Ben an. Sarah konnte es nicht verstehen, sah aber deutlich, dass Ben ihm zur Antwort ins Gesicht spuckte. Ben! Nein!
Seltsamerweise zuckte Bens Kopf im selben Moment in ihre Richtung, ehe er sich sofort wieder den Angreifern zuwandte. Wie war das möglich? Hatte er ihren geistigen Aufschrei gehört? Sarah konnte diesen Gedanken nicht weiterführen, denn die Kerle zogen Ben bereits aus ihrem Sichtfeld. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie schwer atmete und ihr Herz raste. Ihre Brust schmerzte von den heftigen Schlägen. Wo sollte sie hin? Wie konnte sie Ben helfen? Ihre Angst steigerte sich zur Panik, als sie jemanden auf der Treppe vor der Küche hörte. Das morsche Holz kündigte Besuch an. Ohne nachzudenken, lief sie von der Küche in den riesigen Hauptraum, alles andere als ein gutes Versteck. So leise Sarah konnte, rannte sie in das obere Stockwerk. Zum Glück wog sie nicht viel. Die Treppen verursachten kein Geräusch, das sie verraten hätte. Die meisten unberührten Räume kamen nicht infrage, da sie fast gänzlich unmöbliert waren und damit kein Versteck boten. Ihr blieben nur das Bad und die alte Kammer. Beides nicht besonders geeignet, um vor Männern, die nichts anderes im Leben taten, als Leute aufzuspüren und zu töten, zu flüchten. Im letzten Moment, als sie schon die knarrenden Geräusche von schweren Männerkörpern auf den ersten Treppenstufen hörte, fiel ihr der Dachboden ein. Auf Zehenspitzen schlich sie zu der Ecke mit der Luke. Die näherkommenden Schritte waren schon im Flur. Nur noch wenige Meter und er würde sie sehen, wenn sie es nicht schaffte, die Luke lautlos zu öffnen. Mit den Fingerspitzen drückte sie gegen das Holz, bis es mit einem leisen Geräusch aufsprang. Hatte er das gehört? So oder so, er kam immer näher. Wieso bog er in keines der Zimmer ab? Ihr Kopf dröhnte. Wo war der andere? Was war mit Ben?
Als der Unbekannte ungefähr am Ende des Flurs angelangt sein musste, gelang es ihr gerade noch, in die kleine Öffnung zu schlüpfen und die Luke hinter sich zuzuziehen. Die verzogene Tür wollte nicht wieder in den Rahmen springen, also blieb Sarah nichts anderes übrig, als sie mit ihren Händen in die Fassung zu drücken. Steif hockte sie hinter der alten Holztür und wagte nicht, auch nur eine Bewegung zu machen. So gut sie konnte, brachte sie ihre Atmung unter Kontrolle. Ohne zu verstehen, wieso, schloss sie fest die Augen. Die dumpfen Schritte schienen überall zu sein. Sie hörte, wie er von Raum zu Raum ging, Dinge hin- und hertrat. Aber er war nicht mehr in ihrer Nähe. Die Anspannung nahm immer mehr zu. Verdammt! Wo war Ben? Was machten sie mit ihm? Plötzlich schrie jemand von unten.
»Hey, sie ist hier nirgendwo. Lass uns verschwinden! Ihn haben wir ja. Für William ist er das Primärziel.«
»Alles klar«, antwortete ihm eine tiefe Stimme, die kaum zwei Meter von Sarahs Versteck entfernt zu ihr drang. Sie haben Ben! Sie nehmen ihn mit. Nein!
Als sie keinen der Angreifer mehr hörte, fand sie den Mut, aus ihrem Versteck zu krabbeln und stürmte so still wie möglich, ohne länger auf ihre Sicherheit zu achten, in die Küche zurück. Sie riss die Hintertür auf und sah gerade noch, wie ein schwarzer Geländewagen vom Grundstück fuhr – mit Ben auf dem Rücksitz. Ein Mann hielt ihn fest und streckte Bens Kopf nach hinten. Sie sah sein erschrockenes, zerschlagenes Gesicht, das die Umgebung absuchte. Nach ihr? An seinem Blick und der Verzweiflung erkannte Sarah, dass er sie nicht sehen konnte. Sie wollte seinen Namen rufen oder schreien Komm zurück!, doch sie stand einfach so da. Fassungslos. Ben war fort. Sie hatten ihn ihr weggenommen. Er war verloren. Einfach so. Die Familie hatte ihn. Damit war er so gut wie tot. Oft genug hatte er ihr gesagt, was sie mit ihm tun würden, sollten sie ihn je zu fassen bekommen. Jetzt war es so weit. Ben würde sterben und sie wurde zurückgelassen. Ständig hatte er sie auf eine Situation wie diese vorbereitet, doch sie konnte sich jetzt nicht an seine Anweisungen erinnern. Sie hatte Ben verloren … Gerade erst war ihr klar geworden, dass sie ihn liebte, dass sie jemanden gefunden hatte, der auch sie liebte und jetzt sollte alles vorbei sein? Sarah begriff es einfach nicht.
Als sie das Geräusch eines zweiten Wagens hörte, der sich aus der Ferne näherte, sprang ihr Überlebensinstinkt an. Schnell griff sie sich die Axt, die noch neben dem Holz lag, lief ins Haus und zerschlug mit einem einzigen Hieb die Dielen, dort, wo Ben ihre Notfalltasche versteckt hatte. Sie fand darin das restliche Geld, ein paar Kleider für sie beide und einen gefälschten Ausweis für jeden von ihnen. Er hatte sie vor ein paar Wochen anfertigen lassen. Ohne einen Blick zurück, verließ sie das halb verfallene Kastell, den einzigen Ort, an dem sie jemals glücklich gewesen war, und rannte in den Wald. Ben hatte ihr verboten, sollte sie jemals fliehen müssen, den Wagen zu nehmen.
Versteck dich im Wald und halte dich von den großen Straßen fern. Benutz die Landkarte und nimm jeden Trampelpfad, den du finden kannst. Keine Bahnhöfe oder sonstige Umschlagplätze. Verschwinde von der Bildfläche, Sarah, sodass nicht einmal ich dich finden würde.
Mit einer schmerzlichen Intensität hörte sie seine Stimme im Kopf. Hastig wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Keine drei Kilometer hatte sie hinter sich gebracht, als es endgültig über sie kam. Etwas zerrte ihren Magen zu Boden und verpasste ihr einen stechenden Schmerz in der Brust. Sie würde das hier nie überleben, nicht ohne Ben.
Nicht einmal ein paar Kilometer konnte sie gehen, ohne gleich völlig fertig zu sein. Mit grausamer Sicherheit wusste sie, sie war viel zu schwach, um zu überleben. Der Wagen konnte nicht weit weg vom Kastell gewesen sein und inzwischen suchten bestimmt eine Handvoll Männer nach ihr, die so stark und gut ausgebildet waren wie Ben. Sie hatte doch keine Chance. Warum sollte sie überhaupt versuchen, zu entkommen? Es war ja doch sinnlos. Aber ihr Instinkt befahl ihr dennoch, weiterzumachen, also sammelte sie ihr verheultes Ich vom Waldboden auf und lief weiter.
Nur ein paar Schritte später hörte sie ein deutliches Knacken hinter sich. Dann, als sie stehen blieb, ein Rascheln. Jemand war hier. Sarah versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie seine Anwesenheit bemerkt hatte, und kramte scheinbar beiläufig in ihrem Rucksack. Sie zog die Karte aus dem Seitenfach und gab vor, sich zu orientieren, während sie mit rasendem Herzschlag verfolgte, wie der Mann sich ihr von hinten näherte. Seinen heißen Atem verspürte sie bereits im Nacken, als sie sich umdrehte und in die eisblauen Augen eines riesigen Kerls mit Glatze starrte, der sie binnen einer Sekunde packte und zu Boden drückte.
»Jetzt haben wir dich auch noch. Beweg dich bloß nicht, sonst mach ich dich fertig!«, zischte er sie an. Sarah versuchte gar nicht erst, sich gegen ihn zu wehren. Er war zwanzig, wenn nicht dreißig Kilo schwerer als sie und bestand aus Muskelbergen. Zufrieden lächelte er, als er in das Headsetmikro sprach. »Sekundärziel gefasst und unschädlich gemacht. Folgt meinem Signal und sammelt uns ein.«
Sarah versuchte, nicht in die kalten Augen des Mannes mit der Glatze zu sehen, sondern konzentrierte sich nur auf ihre Atmung, die er mit seinem Gewicht erschwerte. Er verlagerte seinen Körper, um von ihr runterzuklettern. Von der Schwere befreit, begann sie wieder Gefühl in den Gliedern zu bekommen. Und sie fühlte die Umrisse des Messers, das sie sich in die Landkarte gesteckt hatte, direkt unter sich. Der Glatzkopf fasste an die Pistole, die in seinem Gurt steckte, und beugte sich zu ihr herab. Sie stach zu. Ihre verkrampfte Hand rutschte ab, als das Messer in seiner Schulter stecken blieb. Sie hatte mit einem Schmerzensschrei oder einem Zusammenzucken gerechnet. Beides kam nicht. Nur ein Wutausbruch folgte, der alles andere als vorteilhaft für sie war. Der Kerl zog sich das Messer mit einem kurzen Schrei aus der Schulter, um es gleich darauf auf sie hinabsausen zu lassen. Instinktiv drehte sie sich weg und er erwischte sie nur am Oberarm. Sie schrie auf. Der Schmerz fuhr ihr durch den Körper, doch sie zögerte nicht. Sie trat ihm mit voller Wucht gegen die Hoden. Jetzt schrie er und krümmte sich. Wie ein Ringer stürzte sie sich auf ihn und versuchte, an die Waffe zu kommen, doch er wehrte sich heftig. Als sie zubiss und er die Hand vom Halfter nahm, konnte sie ihm endlich die Pistole abnehmen und hievte sich mit der Waffe in der Hand von ihm hoch.
»Und was jetzt?«, presste er hervor. »Du erschießt mich und was dann?« Er lachte sie aus. »Wir sind fünf. Fünf Männer, die nur dazu ausgebildet wurden, um Dreck wie dich zu jagen und zu töten. Denkst du wirklich, du hast auch nur die geringste Chance?«
Er hatte recht, sie würde am Ende dieser Nacht wohl von ihnen gefasst und getötet werden, aber Ben hätte gewollt, nein, verlangt, dass sie es wenigstens versuchte. Also hob sie die Waffe an, zielte auf seine linke Flanke und drückte ab. Trotz seiner großspurigen Worte sah er sie überrascht an, bevor er vor ihren Füßen zusammenbrach. Sarah nahm die Beine in die Hand und lief so schnell sie konnte. Ihre Lungen brannten und die Tasche fühlte sich schwer wie Blei auf ihrem Rücken an. Seit einigen Minuten hörte sie die Schritte von Männern hinter sich. Bald würde es vorbei sein. Doch für Ben würde sie jede Kugel abfeuern, die ihr noch geblieben war, ehe sie starb. Aber ihre Gedanken wurden gestoppt, als plötzlich aus der Dunkelheit vier Gestalten auf sie zukamen. Sie kesselten sie ein. Seit sie Michael in ihrem Kopf gehabt hatte, hatte sie nie wieder solche Angst verspürt. Der Moment ihres Todes. Sie hob die Waffe und sprach in Gedanken ihre Abschiedsworte an Ben. Sie würde nicht zulassen, dass diese Männer Ben, falls er noch leben sollte, um verhört zu werden, ihre Leiche zeigen konnten, um ihn zu quälen. Deshalb hatte sie bis hierher durchgehalten. Hier am Abgrund, den sie in der Finsternis kaum sah, von dem sie aber wusste und hörte, dass darunter ein reißender Fluss verlief, der mit seinem steinigen Felsvorkommen so gefährlich war, dass er für Wildwasserfahrten gesperrt worden war. Das würde ihr Grab werden. Dort würde die Familie ihren zerstörten Körper nicht bergen können. Und sie würde es entscheiden. Sie würde entscheiden, wie sie starb. Bevor die Männer noch näher kamen, warf sie die Waffe fort und ließ sich rücklings in den Abgrund fallen.
So war also das Ende. Sie fiel, sah nur noch schwarz und verlor das Bewusstsein.
*
Ben kam zu sich. Sein Kopf dröhnte wie verrückt. Sie hatten ihn ziemlich übel zugerichtet. Schon im Wagen war er nur halb da gewesen, aber er hatte nach ihr Ausschau halten müssen, auch wenn er wusste, dass das dumm war und sie in Gefahr bringen könnte. Sarah musste es geschafft haben. Alles andere war egal. Hauptsache, sie war entkommen. Endlich gelang es ihm, die Augen aufzuzwingen. Das rechte ging kaum auseinander, es musste fast völlig zugeschwollen sein. Aber es war genug, um zu sehen, wohin ihn die Jäger der Familie verschleppt hatten. Ben befand sich in einer riesigen Lagerhalle. Reihen von Paletten und Holzkisten zogen sich schier endlos durch die Halle. Man hatte ihn am Ende des Raums an einer der Förderketten festgemacht. Das war nichts Neues. Diese Methode kannte er nur zu gut. Der Verräter, das Zielobjekt, wird in ein Gebäude weit weg von bewohnten Gebieten gebracht und gefesselt, um gefoltert und verhört zu werden. Beinahe hätte er bitter aufgelacht. Die Ironie dieser Situation entging ihm nicht. Der Täter wurde zum Opfer gemacht, von Tätern. Seine Gedanken waren wirr und zäh, üblich bei Gehirnerschütterung und sie hatten ihm auch etwas gegeben, das ihn beruhigte. Zum Glück war der Effekt schon reichlich abgeflaut. Ben musste lange bewusstlos gewesen sein. Auch wenn er wusste, dass es nichts brachte, zog er an den Ketten, die seine Arme links und rechts von sich gestreckt festhielten. Als er den kalten Wind an seinem Körper spürte, registrierte er, dass man ihm sein Shirt ausgezogen hatte. Er trug nur noch die Jeans. Als er hochblickte, entdeckte Ben einen seiner Angreifer, den jüngeren mit dem Blondschopf. Neben ihm stand ein älterer, fein gekleideter Herr im grau gestreiften Anzug, den er sofort wiedererkannte. »William. Lange nicht gesehen.« Seine Stimme klang rau. Seine Kehle brannte.
»Wenn es nach mir ginge, hätte es noch länger sein können«, spie William ihm entgegen. Er war ein großer, hagerer Mann mit gut gepflegten, grauen Haaren und einem aristokratischen Profil, das ihm den Eindruck von Macht verlieh.
»Wie hast du mich gefunden?« Seinen Trotz verbarg er und sprach in einem Tonfall, der vorgab, es wäre ihm völlig gleichgültig.
»Was spielt das für eine Rolle? Ich habe dich und ich werde dich so lange quälen, wie es mir passt, bis du elendig krepierst, du mieser Verräter und Mörder.« William hatte nicht geschrien, aber bei einem Mann wie ihm war gerade dieser Tonfall gefährlich.
»Wir sind doch alle Mörder, William. Aber dein Dreckstück von Sohn stellte uns alle in den Schatten. Du solltest froh sein, dass ich dich endlich von einer Schande wie ihm befreit habe. Ich weiß doch, dass du ihn immer gehasst hast.« Ben blickte ihn durch verquollene Augen fest an. Er würde nicht zulassen, dass William ihm Angst machte. Was immer mit ihm geschah, würde geschehen. Angst war nutzlos.
»Michael war mein Sohn! Du wirst dafür bezahlen, dass du ihn wegen einer Psychohure getötet hast. Er wusste wenigstens, wem er Gehorsam und Loyalität schuldete. Anders als du, ein Verräter, der sich von seinem Opfer verführen lässt wie ein schwacher, dummer Schuljunge. Du bist eine Schande für die Familie und genauso wirst du sterben, Ben.« Sein Name kam über Williams Lippen wie Gift. Ben lächelte ihn träge an.
»Tu, was du tun musst, aber beeil dich, ich möchte mir gern den Familienblödsinn ersparen und lieber gleich mit Folter und Tod anfangen.« Bens trotzige Gleichgültigkeit entfachte blanke Wut in Williams Gesicht.
»Einverstanden. Aber vorher hab ich noch ein kleines Geschenk für dich. Ein Geschenk, das eines Assassin würdig ist«, säuselte William und verzog sein Gesicht zur Andeutung eines maskenhaften Lächelns. »Bring es rein!«, wies er den blonden Jäger an.
Ben wusste nicht, was geschehen würde, aber er hatte ein schlechtes Gefühl im Magen. Geschenke der Familie bestanden immer aus Blut und Grausamkeit. Der Jäger kam zurück und schob einen metallenen Rollwagen vor sich her, auf dem sich etwas Unförmiges unter einer nassen Decke abzeichnete. Der Blonde platzierte den Wagen vor Ben. William bekam einen Glanz in den Augen, der Ben erstarren ließ. Er hob das Tuch an und ließ es zu Boden fallen.
»Schon mal eine Wasserleiche gesehen, Ben?«, fragte ihn William kalt.
Ben hörte die Frage gar nicht richtig. Alles, was Ben sah, war eine kaum erkennbare, aufgedunsene Leiche, die Sarahs Sachen trug und deren vollkommen entstelltes Gesicht von roten Strähnen verdeckt wurde. Ben konnte nicht glauben, was er da sah. Nein. Das konnte nicht sie sein. Nicht dieses tote Ding, das verkrümmt vor ihm lag. Wie gebannt starrte er darauf, so sehr, dass er gar nichts sah, weil die Tränen in seinen verschwollenen Augen ihn nichts erkennen ließen.
»Du sagst ja gar nichts, Ben. Hat dir mein Geschenk etwa die Sprache verschlagen?« William begann mit einer Inbrunst zu lachen, die eines deutlich machte. Er war ohne Zweifel der Vater seines verkommenen Sohnes. Diese seelenlose Gestalt, die irre lachend neben Sarahs Leiche stand, und Bens Schmerz begaffte, als gäbe es nichts Köstlicheres auf der Welt. Als Ben immer noch nicht reagierte, wagte sich William näher an ihn heran und blickte ihm in die Augen. »Sie hat sich in den Fluss gestürzt. Die Felsen haben nicht wirklich viel von deinem Schätzchen übrig gelassen. Findest du sie jetzt immer noch so unwiderstehlich, Benny?«
Die Ketten rasselten. Williams erschrockener Gesichtsausdruck war herrlich. Ben hatte sich an den Ketten hochgezogen und die Beine wie einen Schraubstock um Williams Hals gelegt. William röchelte panisch. »Lachst du jetzt immer noch?«, wollte Ben wissen. William würgte. Sein Schock war Ben eine Genugtuung, die seinen Schmerz aber kein bisschen linderte. Mit einer einzigen Bewegung brach er William das Genick. William fiel zu Boden und zog Bens Beine mit. Die Fesseln rissen ihm fast die Arme aus den Gelenken. Der Jäger starrte ihn fassungslos an, ehe er verschwand, um Verstärkung zu holen. Ben blieben jetzt nur Sekunden, um zu handeln. Wollte er denn überhaupt leben? Der Sinn seines Lebens lag tot und bis zur Unkenntlichkeit zerstört auf einem Tisch vor ihm, den er nicht mehr ansehen konnte. Der Blick auf ihr rotes Haar allein ließ ihn innerlich aufschreien vor Schmerz und Trauer. Er hatte alles verloren. Er wollte nicht überleben, aber er wollte jedes Monster der Familie mitnehmen, das er mitnehmen konnte, damit keiner von ihnen einer anderen Frau das hier antun konnte.
So fest er konnte, zog er mit einem rücksichtslosen Ruck an seinem linken Arm, der mit einem Knacken aus der Fessel schlitterte. Ein gebrochener Daumen – schon wieder – und vermutlich ein zertrümmertes Handgewölbe. Beruhigungsmittel, das noch schwach durch seinen Körper floss, und Adrenalin dämpften den scharfen Schmerz. Aber es gab ihm die Bewegungsfreiheit, die er brauchte, um an Williams Schlüssel und an seine Waffe zu kommen. Mit der blutverschmierten, heftig schmerzenden Hand war es nicht einfach, die Fessel aufzuschließen, aber bis der Jäger zurückkam, war es ihm gelungen und er wartete mit gezogener Waffe auf ihn. Sobald der Kerl in seinem Sichtfeld erschien, schoss Ben ihm in den Kopf. Einer weniger. Er ließ ihn hinter sich und suchte auf seinem Weg nach draußen immer wieder Deckung. Da sah er vier Männer in Schwarz. Jäger, die mit ihren Waffen auf seine Ankunft warteten. Bens Plan war einfach. Da raus gehen, sich erschießen lassen und so viele von ihnen dabei erledigen, wie er schaffte. Kaum hatte er seine Deckung verlassen, traf ihn der erste Schuss. Das war es also. Sein Ende.