Sterne

Kieran bediente den Mäher und bündelte das Heu zu Ballen. Zwei andere Jungen waren mit den Staplern zugange. Sie hoben jeden einzelnen Ballen vorsichtig mit den krallenartigen Fortsätzen an der Vorderseite der Maschine an. Die Arbeit mit den Staplern sah lustig aus, und wenn Kieran der Meinung gewesen wäre, er hätte die Arbeit auf dem Mäher einem Jüngeren übertragen können, dann hätte er auch mal eine Runde gedreht. Aber im Moment saß er hoch oben auf dem Sitz fest, fuhr die riesige Maschine Reihe auf Reihe durch die Gräser und sammelte sie als Mulch oder als Streu für die Hühner und Ziegen.

Er fuhr hoch, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte, drehte sich um und sah, dass sich Arthur über ihn lehnte. Der war komplett außer Atem, das Gesicht schweißnass, die Augen hinter schmutzigen Brillengläsern weit aufgerissen, und balancierte auf dem Trittbrett des Traktors. Arthur sprach, aber Kieran konnte durch den Maschinenlärm nichts verstehen und musste die Zugmaschine und dann den Heubinder abstellen, ehe sich Arthur verständlich machen konnte.

Hoffentlich eine gute Nachricht, dachte Kieran.

»Ich habe gesagt, dass der Nebel sich lichtet!«, rief Arthur.

»Was?« Kieran starrte ihn an. »Was meinst du mit ›sich lichtet‹?«

»Das bedeutet, wir können die Sterne sehen.«

Das musste Kieran sich mit eigenen Augen ansehen. Er winkte den beiden, die die Stapler bedienten, zu und folgte Arthur aus der Graslandkultur zu den Fahrstühlen, die sie direkt in die Kommandozentrale bringen würden.

»Wie viele Sterne?«, fragte Kieran ungeduldig. »Mehr als nur ein paar?«

»Eine Menge. Ich glaube, wir sind am Rand des Nebels angekommen.«

Kierans Herz pochte, und er musste sich an die Fahrstuhlwand lehnen. Über die Monate hinweg hatte er den Großteil seiner Stärke zurückgewonnen, aber die Zeit des Hungers hatte ihn gezeichnet. Wenn er sich stark aufregte, schien das Adrenalin in seinem Körper ihn zu schwächen, und er fühlte sich benebelt und seltsam leicht. Genauso fühlte er sich jetzt, als er darauf wartete, dass sich die Fahrstuhltüren öffneten und er Arthur in den Kommandoraum folgen und es sich mit eigenen Augen anschauen konnte. Ungefähr ein Dutzend Jungen war in der Kommandozentrale, und keiner von ihnen sprach ein Wort. Kieran konnte die anderen atmen hören, während sie wie gebannt aus den Fenstern starrten. Hinter dem dünnen Dunst, der noch vom Nebel übrig war, glänzten Sterne. Millionen und Abermillionen, und es wurden immer mehr, während das Schiff auf den äußeren Rand des Nebels zuraste. Der Effekt erinnerte Kieran an die Nacht, in der sein Vater ihm zu erklären versucht hatte, dass man auf der Erde tagsüber die Sterne nicht sehen konnte. »Erst in der Dämmerung kamen sie heraus, einer nach dem anderen«, hatte er gesagt.

Kieran war nicht in der Lage gewesen, sich das vorzustellen, aber nun geschah es direkt vor seinen Augen. Die Sterne kamen heraus, einer nach dem anderen, als würden sie sich durch einen Seidenvorhang schieben.

»Mein Gott«, sagte er lautlos.

Es war wirklich wahr. Sie erreichten den Rand der schrecklichen Wolke, die sie vor Jahren verschluckt hatte. Eine Zeitlang blickte Kieran die Sterne mit zusammengekniffenen Augen an und bemerkte die Unterschiede zwischen ihnen. Einige funkelten rot, andere blau, einige hatten einen gelben Schimmer. Aber dann schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf, und er brüllte Sarek, der die Kom-Station bemannte, zu: »Starte einen Radarscan! Sie sind vielleicht auch herausgekommen!«

Sarek starrte Kieran einen Moment lang an, als würde er nicht verstehen, aber plötzlich flogen seine Hände über die Steuerungsfläche, als er jede verfügbare Radarschüssel auf dem Schiff aktivierte, um alle Frequenzen zu durchsuchen. Dann aktivierte er alle acht Radaremitter, die nach Festkörpern im Umkreis von fünfzehn Millionen Kilometern suchten.

In der Kabine blieb es still. Niemand schien zu erwarten, dass irgendetwas passierte, und so war es fast ein körperlicher Schock, als eine menschliche Stimme ihren Weg durch Sareks Kom-Link fand.

»Mayday, Mayday, Empyrean – wenn ihr dieses Signal empfangt, bestätigt bitte. Hier spricht Waverly Marshall. Mayday, Mayday, Empyrean, wenn ihr –«

»Was ist das?«, fragte Arthur atemlos.

Andere Jungen schrien auf. Ein Junge in der Ecke sank auf die Knie. Kieran konnte Sarek nur anstarren, während ein Zittern sich von den Fingerspitzen bis in sein Innerstes vorarbeitete. Ihre Stimme. Das war ihre Stimme.

Die Nachricht lief in Dauerschleife, viele Male, bis sich Kieran daran erinnerte, wie man sprach. »Antwortet«, sagte er.

Sarek nahm das Mikrofon, passte die Frequenz an und sagte: »Hier spricht die Empyrean, Waverly, wo bist du? Hallo?«

Sie drängten sich um Sareks Kom-Station, während Waverlys dünne Stimme weiter die Nachricht in Endlosschleife sprach. Kieran konzentrierte sich darauf, suchte nach einem Hinweis über sie. Sie hörte sich klein und durcheinander an, aber auch ruhig und entschlossen. Sie klang tapfer.

»Sarek«, sagte Kieran verzweifelt, »sende deine Nachricht in Dauerschleife zurück an –«

»Hallo?«

Es war die Stimme eines jungen Mädchens, zerbrechlich und zögerlich.

Kieran riss Sarek das Mikrofon aus der Hand. »Hol Waverly.«

»Wer ist da?«, fragte das Mädchen.

»Hol Waverly!«, rief Kieran, aber es klang schon eine andere Stimme durch das Mikrofon.

»Kieran?«

Sein Herz schien zu schmelzen. Er hörte sie. Er hörte Waverly.

»Waverly, wo bist du?« Tränen strömten ihm über das Gesicht, aber es kümmerte ihn nicht, was die anderen Jungen von ihm dachten. In diesem Moment war alles, was er wollte, Waverly. Genau jetzt.

»Ich weiß es nicht, aber wir können nicht allzu weit entfernt sein. Es gibt kaum Verzögerungen bei der Übertragung.«

»Geht es dir gut?«

»Ja, uns geht es gut. Geht es dir gut?« Kieran meinte, auch Tränen in ihrer Stimme zu hören.

»Uns geht es gut!«

»Kannst du Captain Jones sagen, dass er uns suchen muss?«

»Ist Harvard nicht da? Oder mein Vater?«, fragte Kieran wankend.

Es gab eine Pause, und Waverlys Stimme veränderte sich; sie enthielt jetzt eine Spur Bitterkeit. »Keine Erwachsenen, Kieran. Nur wir Mädchen.«

Mehrere der Jungen schrien auf. Peter Stroub schlug wiederholt gegen die Metallwand.

Kierans Mut sank, aber er sammelte sich, deckte das Mikrofon ab und sagte in den Raum hinein: »Dann sind die Erwachsenen in den Shuttles, und wenn sie aus dem Nebel auftauchen, nehmen wir auch mit ihnen Kontakt auf.«

Ein paar Jungen nickten, aber die meisten blickten niedergeschlagen zu Boden.

»Bitte, Kieran, kannst du Captain Jones holen?«, fragte Waverly. Es war eine Spur Hysterie in ihrer Stimme. »Oder einen Piloten? Jemand, der weiß, wie man uns findet?«

»Der Captain … ist gerade nicht hier. Lasst uns euch an Bord holen, und wir reden über diesen ganzen Kram später, okay?«

Arthur ging zur Radaranzeige und schaltete sich durch die Schirme, bis er einen fand, auf dem eine rote Nachricht blinkte: SICH BEWEGENDES OBJEKT. Er deutete auf einen hellen Punkt. »Das müssen sie sein. Sie sind vor uns und kommen auf uns zu.«

»Kannst du einen Abfangkurs abstecken?«, fragte Kieran Arthur, der die Navigationsausrüstung zweifelnd anschaute.

»Ich kann es versuchen.«

Wut flammte in Kieran auf, und er musste kämpfen, sie unter Kontrolle zu bringen, ehe er ruhig genug war, um zu sagen: »Gib dein Bestes.«

Es schien eine sehr komplizierte Angelegenheit zu sein, aber Arthur fand heraus, dass das Navigationsprogramm mit klar erkennbaren Sternen in der Lage war, einen automatischen Abfangkurs abzustecken. Kieran hatte ein merkwürdiges Gefühl in der Magengrube, als das Schiff nach Steuerbord schwenkte.

»Wie lange?«

Arthur blickte auf den Schirm vor sich. »Ein paar Stunden.«

So lange konnte er nicht warten. Er wollte alle aus der Kommandozentrale scheuchen, damit er mit ihr allein über Funk reden konnte, aber das erschien ihm unfair. »Wie geht es dir, Waverly? Bist du gesund?«

»Ja, ich bin gesund. Ich glaube, das sind wir alle.«

»Wer ist da?«, rief Sarek.

»Alle Mädchen, bis auf Felicity Wiggam und … und … Samantha Stapleton.«

»Wie konntet ihr entkommen?«

Sie schwieg eine lange Zeit, bis sie schließlich sagte: »Darüber möchte ich nicht per Kom reden, Kieran.«

Irgendetwas sehr Schlimmes war passiert. Er konnte es an ihrer Stimme hören.

»Ich will mit meiner Schwester reden!« Alfie Moore griff mit finsterem Gesichtsausdruck nach Kierans Headset.

Kieran wollte das Headset behalten und ewig mit Waverly sprechen, aber sie sagte schnell: »Kieran, hier sind eine Menge Mädchen, die mit ihren Familien sprechen wollen.«

Kieran war verletzt. Wieso wollte sie nicht mit ihm reden?

Alfie zog am Kabel des Headsets. Er gab es dem Jungen und setzte sich in den Sessel des Captains.

 

Zu warten war eine Agonie. Er konnte es nicht ertragen, mit irgendjemandem zu reden. Er ignorierte es, als die Jungen ihm auf die Pelle rückten, und saß stocksteif da, die Faust an die Stirn gepresst, den Kiefer verkrampft, die Augen fest geschlossen, bis sie ihn schließlich in Ruhe ließen. Immer wieder stellte er sich vor, wie Waverly das Shuttle in die Hülle der Empyrean rammte. Sie hatte nie zuvor ein richtiges Schiff geflogen. Was, wenn sie starb, gerade jetzt, wo sie fast zu Hause war?

Bald ertönte das Knacken des Interkoms, und Waverlys Stimme drang aus den Lautsprechern.

»Ich kann euch sehen! Ich kann die Empyrean sehen!«, quiekte sie. »Oh, mein Gott!«

Kieran schoss nach oben.

»Zehn Minuten«, sagte Arthur. Seine Finger flogen über das Tastenfeld, und Kieran spürte, wie die Beschleunigung der Empyrean dramatisch abnahm. Er fühlte sich leicht in seinem Sitz, während er Arthurs Vidschirm und den dahinschießenden Punkt, der Waverlys Shuttle war, betrachtete. Das Shuttle kreiste, um Kurs auf den Backbord-Shuttle-Hangar zu nehmen.

Kieran sprang aus dem Sessel und rannte mit voller Geschwindigkeit durch die Gänge. Er konnte seine Beine nicht dazu bringen, sich schnell genug zu bewegen, schlug auf den Fahrstuhlknopf und trat gegen die Tür, während er wartete. »Komm schon, komm schon!«, rief er durch zusammengebissene Zähne. Sobald er im Fahrstuhl war, hätte er die Kabel durchgeschnitten, wenn sich die Kabine dadurch schneller bewegt hätte.

Als er schließlich im Shuttle-Hangar ankam, sah er, dass sich fast alle Jungen dort versammelt hatten und in stiller Erwartung auf die Luftschleuse starrten. Kieran rannte zur Kom-Station und brüllte: »Sarek, klink mich in die Shuttle-Kommunikation ein.«

Sarek antwortete: »Sie hat ihr Headset abgeschaltet.«

»Was?«

»Sie sagte, ich würde sie ablenken.«

»Wie nah sind sie?«, fragte Kieran.

»Ich habe gerade die äußeren Schleusentore geöffnet.«

Kieran spürte das Blut in seinem Gesicht pulsieren. Er starrte auf das Tor, die Lippen straff über die Zähne gezogen, und wartete. Jeder Muskel in seinem Körper war angespannt. »Bitte«, sagte er tonlos.

Im Raum herrschte Stille. Tobin Ames kaute an seiner Oberlippe, die Hände unter die Achseln geschoben, als wollte er seine Finger warm halten. Jeremy Pinto ging in die Hocke und wippte vor und zurück, von den Zehen auf die Fersen, während er das Tor anstarrte.

Plötzlich erklang das misstönende Quietschen von Metall auf Metall durch den Hangar, und Kierans Herz stand still. Aber dann hörte er, wie die Hydraulik die äußeren Tore schloss, und dann das rhythmische Pumpen von Luft.

Die inneren Luftschleusentore öffneten sich. Die Jungen verstreuten sich, um Platz für das Shuttle zu machen, als es hereinschwebte und langsam zu Boden sank wie ein gigantischer, unbeholfener Vogel.

Dann stand das Shuttle vor ihnen, schweigend und bewegungslos. Schließlich senkte sich die Rampe und Dutzende von Kleinmädchenfüßen erschienen – zögerlich zuerst, aber dann schneller, als die Mädchen Brüder und Freunde sahen. Plötzlich war der Raum erfüllt von Stimmen, weinend, lachend, kreischend oder einfach nur redend, während die Mädchen in die Arme der wartenden Jungen fielen.

Waverly war die Letzte. Kieran wusste, dass sie es sein würde.

Sie sah so dünn und blass aus. Sie humpelte an einem Gehstock. Ihr Haar war strähnig und glanzlos und klebte ihr flach am Kopf. Ihre Wangen waren eingesunken, und die Augen lagen tief. Kieran ging auf sie zu, legte seine Arme um sie, und als sie sich gegen ihn sinken ließ, hob er sie hoch und trug sie die Rampe hinunter.

»Ich kann laufen«, sagte sie, die Spitze ihrer Nase in seiner Ohrmuschel vergraben.

»Ich weiß«, flüsterte er, während er sie durch den Hangar zum äußeren Korridor trug.

Sobald sie im Fahrstuhl waren, schlang Waverly die Arme um seinen Hals, als hätte sie Angst, fortgerissen zu werden, und ihr Körper wurde von Schluchzern geschüttelt.

Sie hatte seit Tagen nicht gebadet, vielleicht seit Wochen, aber das war Kieran egal.

Er würde sie nie wieder loslassen.