7

»Irgendwie vermisse ich unsere Jane jetzt schon«, seufzte Mutter Schumann, als sie ins Haus zurückkehrten. »Das Mädchen ist mir richtig ans Herz gewachsen – trotz ihrer manchmal mehr als seltsamen Angewohnheiten.«

Auch Dorothea konnte sich nicht so recht darüber freuen, ihr Zimmer nun wieder für sich zu haben. Ihr fehlte die Freundin noch mehr als den anderen, weil sie nun niemand mehr hatte, dem sie sich anvertrauen konnte. Jane hatte immer ein offenes Ohr für sie gehabt, auch wenn sie oft Dorotheas Probleme nicht hatte nachvollziehen können.

Umso freudiger reagierte sie, als Miles Somerhill eines Tages mit geheimnisvoller Miene eine Überraschung für sie ankündigte. »Du hast deine Stelle als Redakteur genehmigt bekommen?«, riet sie auf gut Glück.

Er lächelte, schüttelte jedoch den Kopf.

»Was dann?« Dorothea schmiegte sich an ihn und begann, an einem der Westenknöpfe zu drehen. »Sag es, ich bin nicht in der Stimmung für lange Ratespiele.«

»Setz deinen Hut auf, dann zeige ich es dir.« Miles löste ihren Griff vom gefährdeten Knopf.

»Es ist in meinem Zimmer bei Mrs. Wilson.«

Die Straßen der Stadt waren nahezu ausgestorben. In der Gluthitze des Spätsommers mieden Mensch und Tier um diese Tageszeit den Aufenthalt im Freien. Glücklicherweise lag Mrs. Wilsons Haus nur ein paar Straßenecken weiter. Ein einstöckiges Haus zwischen einer bereits halb zerfallenen Lehmhütte, deren Bewohner schon vor Monaten ausgezogen waren, und einer Schlosserei, an deren Tür noch das Schild hing »Zu verkaufen«. Niemand hatte sie gekauft, also hatte der Handwerker einfach seine Sachen gepackt und das nächste Schiff Richtung England bestiegen. Und nicht nur er. Immer mehr Einwohner verließen die Stadt auf Nimmerwiedersehen.

Adelaide verfiel langsam, aber sicher. Erst neulich hatte der Bürgermeister die besorgniserregende Entwicklung in Zahlen gefasst: Von den rund eintausendachthundert Häusern stand rund ein Fünftel bereits leer, und der Trend schien sich eher zu verstärken als abzuebben. Von der sich selbst finanzierenden Kolonie, wie sie die Gründer der South Australian Company vorgesehen hatten, war schon lange nicht mehr die Rede.

»Wo ist Mrs. Wilson eigentlich?« Dorothea sah sich erstaunt im düsteren Hausflur um. Miles hatte ihr immer Schauergeschichten von seiner Vermieterin erzählt, und sie war entsprechend neugierig darauf, sie endlich kennenzulernen.

»Sie ist zu einer kranken Freundin nach Glenelg gereist«, sagte Miles mit solch sonderbarer Stimme, dass Dorothea sich zu ihm umdrehte und fragte: »Bist du sicher, dass sie nichts dagegen hat, dass du mich in ihr Haus gebracht hast?«

»Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß«, murmelte Miles und betrachtete sie mit einem ganz eigenartigen Glanz in den Augen. »Hier entlang.« An der Hand zog er sie in das hinterste Zimmer, in dem der größte Teil des Raums von einem Bett und einer Spiegelkommode eingenommen wurde. Das Bett war aufgeschlagen, auf dem Tischchen daneben standen eine Flasche Champagner und zwei Gläser.

»Miles?« Dorothea schluckte nervös und suchte seinen Blick. Er wich ihr aus und beugte sich stattdessen vor, um die zwei Gläser einzuschenken.

»Hier – auf uns und unsere Liebe!«

Ihr wurde heiß. Auch wenn sie es sich insgeheim gewünscht haben mochte – das jetzt kam doch sehr überraschend. Verlegen nahm sie das Glas entgegen und leerte es mit raschen Schlucken.

Miles nahm ihr das leere Glas aus den Fingern, stellte es ab und nahm sie in die Arme. »Ganz ruhig, Liebes. Ich werde nichts tun, was du nicht willst«, versprach er und küsste sie sanft.

Es passierte genau dasselbe wie in seinem Büro: In dem Augenblick, in dem seine Lippen ihre berührten, schien ihr Körper sich ihrem Willen zu entziehen. Sie schloss die Augen und überließ sich willig dem Zauber, der ihr normales Bewusstsein auslöschte. Als sei sie durch einen Spiegel gegangen, zählte nichts anderes mehr als das unbestimmte Verlangen, das in ihrem Inneren alles andere – Scham, Furcht vor dem Unbekannten, den letzten Rest instinktiver Zurückhaltung – verdrängte. Ihre Finger glitten wie selbstverständlich unter sein Hemd, gierig auf das Gefühl nackter Haut. Strichen über seine harten Flanken, seinen mit drahtigem Haar überzogenen Oberbauch, um schließlich kühn an seinem Hosenbund zu zerren.

Ohne den leidenschaftlichen Kuss zu unterbrechen, zog Miles sie zum Bett. Zitternd vor Ungeduld ließ sie es zu, dass er sie langsam auszog. Warum dauerte das nur so lange? Unbeherrscht grub sie ihre Fingernägel in seinen Rücken, um ihn zu größerer Eile anzutreiben. Er lachte. Ein kehliges, triumphierendes Lachen. Ehe er sie in die Kissen drückte und sich über sie schob.

Miles war ein guter Liebhaber. Auch wenn sie auf diesem Gebiet noch unerfahren war, spürte sie mehr, als dass sie es bewusst wahrnahm, wie geschickt er ihre Leidenschaft so weit anstachelte, bis sie ihn völlig außer sich vor Lust anflehte, der süßen Qual ein Ende zu bereiten.

Der eigentliche Akt, vor dem sie sich in klaren Momenten gefürchtet hatte, war nur ein nichtiger Schmerz, der sich sofort verflüchtigte. An seiner Stelle wuchs in ihr der Wunsch nach etwas, das sie nicht fassen konnte. Ihr Körper spannte sich wie eine Bogensehne, während die Lust sich mit jeder Bewegung von Miles’ Körper steigerte. Keines klaren Gedankens mehr fähig, bäumte sie sich unter ihm auf, zitternd vor Gier auf den Höhepunkt, der zum Greifen nah schien. Als sie ihn erreichte, schrie sie auf, weil sie das Gefühl hatte, sich aufzulösen, in Tausende winziger Splitter zu zerspringen, die in die Unendlichkeit des Firmaments geschleudert wurden.

»Alles in Ordnung?« Miles’ Frage ließ sie widerwillig in die Gegenwart zurückkehren. Sie öffnete die Augen und lächelte.

»Oh, Miles, das war – einfach wundervoll.«

Mit Worten ließ es sich nicht ausdrücken, was sie empfand, also hob sie die Arme, zog seinen Kopf zu sich herunter und küsste ihn leidenschaftlich.

»Können wir es gleich noch einmal tun?«

»Ich fürchte nein.« Miles schien von ihrer Frage sowohl überrascht als auch amüsiert. »Lass mir ein bisschen Zeit, dann geht es wieder.«

Er erhob sich, ging zu dem Beistelltisch und füllte die Gläser erneut. »Auf dich!« Er hob eines der Gläser zum Toast. »Und auf unsere nähere Bekanntschaft.«

Dorotheas Blick glitt mit einer Art Besitzerstolz über seinen nackten Körper, bis er an seinem Glied hängen blieb, das feucht und schlaff in nichts mehr an den Zustand erinnerte, in dem sie es kennengelernt hatte. »Ich hätte nicht gedacht, dass ihr Männer so seltsam beschaffen seid«, bemerkte sie leicht herausfordernd. Begierig darauf, erneut jene Lust zu empfinden, die er ihr eben verschafft hatte, erschien ihr jede Verzögerung als Ärgernis. »Kannst du es irgendwie beschleunigen, dass er wieder hart wird?«

Miles’ Augen verschmälerten sich plötzlich zu Schlitzen, und ein laszives Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Jaaaa, es gäbe da etwas«, erwiderte er gedehnt. »Soll ich es dir zeigen?«

Der Nachmittag schien zu verfliegen. Miles zeigte ihr Dinge, von denen sie nie gedacht hätte, dass man sie überhaupt machen könnte. Die neue Welt, die sie unter seiner Anleitung entdeckte, begeisterte sie. Am liebsten hätte sie sie nie wieder verlassen. Miles war es, der bei einsetzender Dämmerung daran erinnerte, dass sie jetzt besser nach Hause ginge. »Nicht, dass deine Eltern anfangen, sich Sorgen zu machen.«

Bedauernd ließ sie sich von Miles beim Ankleiden helfen und bat ihn um einen Kamm oder eine Bürste, um ihr zerzaustes Haar zu frisieren. Gespannt überprüfte sie ihr Spiegelbild nach irgendwelchen Anzeichen für Verruchtheit. Angeblich sah man losen Frauenzimmern ihren Lebenswandel an. Zu ihrer Erleichterung unterschied sich ihr Aussehen in nichts von dem üblichen. Vielleicht wirkte sie ein bisschen erschöpft, aber das konnte sie mit der Hitze und dem Fußweg zur Mission erklären.

»Ich liebe dein wundervolles Haar«, sagte Miles und hob die schweren Flechten an, um sie mit den Lippen zu berühren. »Es ist wie schwere Seide, wenn es über meinen Körper gleitet.« Er verzog die Lippen, als sie bei dieser Anspielung feuerrot wurde. »Ach, meine kleine Missionarin. Nach all dem, was wir miteinander geteilt haben – immer noch so prüde?«

»Sei nicht albern. Ich bin überhaupt nicht prüde«, widersprach Dorothea heftig. »Und jetzt nimm deine Hände da weg, sonst bekomme ich es nie gerichtet.«

Jegliche Sorge, ihre Familie könnte ihr etwas anmerken, verflog in dem Augenblick, in dem sie durch die Hintertür die Küche betrat und ihre Eltern und August in heller Aufregung vorfand.

»Karl ist verschwunden«, rief ihre Mutter, die verzweifelt die Hände rang. »Er wollte irgendetwas zeichnen, irgendetwas mit Ohren als Berge. Aber er ist nicht zurückgekommen. Weißt du vielleicht, wohin er wollte?«

Ohren als Berge? Jane hatte doch die Geschichte von dem getöteten Riesen erzählt, dessen Ohren zu Mount Lofty und Mount Barker geworden waren. Vermutlich war Karl zu der Stelle gegangen, an der man die Bergkette so gut gesehen hatte. »Ich denke, ja«, sagte sie rasch. »Aber wir sollten besser welche von Papas Schülern bitten, uns zu begleiten. Ich bin nicht sicher, ob ich im Dunkeln den Weg dorthin finde.«

Pastor Schumann schüttelte den Kopf. »Sie gehen niemals nach Sonnenuntergang von ihrem Feuer weg. Angeblich schleicht dann dieses Nachtgespenst Nokunna im Busch umher. Vor dem fürchten sie sich mehr als vor allem anderen.«

»Ich fürchte ihn nicht.« Alle fuhren herum. Im Türrahmen stand Koar. Der Junge, den Pastor Schumann als seinen besten Schüler bezeichnet hatte und der Dorothea damals aufgefallen war, weil er sich auf schwer fassbare Weise von den anderen seiner Gruppe unterschieden hatte. Stolz warf er den Kopf zurück und wiederholte: »Ich fürchte weder Nokunna noch sonst einen Geist. Der Geist meines Ahnen ist mächtiger als sie.« Mit zwei Fingern holte er einen bräunlichen Gegenstand aus dem Lederbeutel an seinem Hals und hielt ihn andächtig auf der Handfläche. »Das ist die Hand von Tenberry, dem großen Zauberer. Kein böser Geist wird es wagen, mich anzurühren. Ich werde euren Sohn finden und zurückbringen.«

Mutter Schumanns Augen hingen wie gebannt an dem mumifizierten Körperteil. Sie schwankte zwischen Grausen und Dankbarkeit, und ihr fehlten sichtlich die Worte. Auch Dorothea betrachtete die krallenartig zusammengeballte Hand mit unterdrücktem Ekel. Unter der verschrumpelten, dunkelbraunen Haut waren noch deutlich die Fingerglieder zu erkennen. Es war zweifellos eine menschliche Hand, die dieser Junge als Talisman mit sich herumtrug.

Ihr Vater und ihr Bruder reagierten erstaunlich gleichmütig auf diese seltsame Reliquie. Ohne weiter darauf einzugehen, sagte August nur: »Das finde ich großartig von dir, Koar. Lass uns gleich losgehen. Kannst du uns zeigen, wo ihr damals gegangen seid, Doro?«

Wortlos ging Dorothea voraus. Anfangs war der Weg noch deutlich zu erkennen. Dann wurde der Pfad allmählich immer schmaler, bis sie schließlich unsicher auf einer Lichtung stehen blieb. Im Mondlicht sahen die Sträucher alle gleich aus. Erleichtert überließ sie Koar die Führung, der ihnen jetzt wie ein Spürhund vorauslief, zuweilen tatsächlich mit der Nase fast auf dem Boden. August und Dorothea hatten ihre liebe Mühe, ihm zu folgen. Immer wieder blieben sie stehen und riefen. Und immer wieder war nur Rascheln und das Knacken von trockenen Ästen die Antwort. Nach einer halben Stunde blieb Koar plötzlich stocksteif stehen und hob eine Hand. »Hört ihr?«

Dorothea lauschte angestrengt, und wirklich vernahm sie ein schwaches »Hallo, hier bin ich«. Es drang aus einem dichten Gebüsch ein Stück weiter vorn. August wollte sofort losstürzen, aber Koar hielt ihn zurück. »Er hängt in einem Schlammloch fest. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht ebenfalls hineingeraten!«, sagte er. Vorsichtig führte er sie näher an die Stelle heran, bis sie zwischen dem Schilf hindurch ihren Bruder Karl bis zu den Hüften in schwarzem Schlamm stecken sahen. Mit beiden Händen klammerte er sich an einer dicken Wurzel an dem Abbruch über sich fest, aber seine Kräfte reichten nicht aus, sich daran aus dem zähen Schlick zu ziehen.

»Gott sei Dank, dass ihr kommt«, rief er ihnen erschöpft zu. »Lange hätte ich mich nicht mehr halten können! Dieser verfluchte Matsch! Seid vorsichtig, dass ihr nicht auch noch abrutscht.«

August warf sich direkt am Abbruch auf den Boden und streckte ihm seine Hand entgegen. Es fehlte gut eine halbe Armlänge. »Wir bräuchten ein Seil. Oder einen Ast. Aber etwas Stabiles!« Verzweifelt sah er sich nach etwas Brauchbarem um.

»Deine Hose!«

August brauchte ein paar Sekunden, bis er verstand, was Koar meinte. Dann setzte er sich auf den Boden, riss sich die Stiefel von den Füßen und zog seine Hose aus festem Baumwollköper aus. Unter normalen Umständen hätte Dorothea sich köstlich über den Anblick amüsiert: August in Hemd und Socken wie ein Kleinkind. Jetzt aber achtete weder sie noch einer der anderen darauf. Erneut legte ihr Bruder sich auf den Bauch und schob sich so nah es ging an die Abbruchkante heran. »Kannst du sie greifen?« Etwas ungeschickt schwang er die Hose so lange hin und her, bis es Karl gelang, erst eines und gleich darauf auch das zweite der Hosenbeine zu packen. »Ich hab sie!«

»Wickle sie dir einmal um die Handgelenke«, wies Koar ihn an. »Du darfst auf keinen Fall loslassen! Und bleib ganz ruhig: Wir ziehen dich jetzt langsam heraus.«

Koar und August stemmten die Fersen in den harten Lehmboden und begannen zu ziehen. Der Schlamm schmatzte mehrmals wie ein großes Tier, das unwillig ist, seine Beute wieder auszuspucken, ehe er Karl aus seinen Untiefen freizugeben begann. Fingerbreite um Fingerbreite zogen sie ihn aus der schwarzen Masse. Karl war ein schlanker Junge, aber die klebrige Masse des Schlamms, in dem er feststeckte, vervielfachte sein Gewicht.

Als er endlich mit einem letzten, lauten Schmatzen freikam, lief August und Koar der Schweiß übers Gesicht. Nachdem sie ihn über die Kante gehievt hatten, ließen sie sich vor Erschöpfung auf den Rücken fallen und keuchten nur noch.

Vor Erleichterung über den glücklichen Ausgang hätte Dorothea in Tränen ausbrechen können. Stattdessen stürzte sie auf Karl zu und schüttelte ihn wie einen jungen Hund. »Weißt du überhaupt, welche Sorgen du Mama und Papa bereitet hast? Wie konntest du nur so leichtsinnig sein?«, schrie sie ihn an, nur um im nächsten Moment die Arme um ihn zu schlingen und ihn an sich zu pressen. Wieso war ihr erst in diesen Momenten höchster Gefahr klar geworden, wie sehr sie an ihrem Bruder hing?

»Es war ein Unfall«, verteidigte der sich schwach. »Ich war wirklich nicht leichtsinnig. Dieses verdammte Schlammloch war einfach nicht zu sehen.«

»Lass ihn!«, sagte Koar ruhig und richtete sich langsam auf. »Es war ihm so vorherbestimmt. Solche Ereignisse kann man nicht ändern.« Seine dunklen Augen ruhten mit fast ungläubigem Staunen auf Karls mitgenommener Erscheinung. »Der weise Tenberry hat es vorhergesagt, und es ist genau so eingetroffen.«

»Behaupte jetzt bitte nicht, dein Ahne hätte prophezeit, dass Karl in ein Schlammloch fällt!«, schnaubte Dorothea. »Das glaube ich einfach nicht.«

Im Mondlicht, das inzwischen schräg durch die Büsche fiel, blitzten Koars Zähne, als er lächelte. »Nein, natürlich nicht«, gab er mit leichter Ungeduld zurück. »So funktionieren Voraussagen nicht.«

»Wie dann?« Augusts Atem hatte sich wieder normalisiert, und er musterte den jungen Aborigine mit Interesse.

»Tenberry träumte von einem weißen Stern, der auf die Erde herniederfiel und in unserem Lagerfeuer verglühte. Am nächsten Morgen lag dort ein Kind mit heller Haut und einem sternförmigen Mal auf der Brust. Dieses Kind fühlte sich einsam und war unglücklich, weil niemand etwas mit einem Unglücksbringer zu tun haben wollte. Eines Nachts stieg es deswegen auf zum Wodliparri, das ist dort.« Koar legte den Kopf in den Nacken und zeigte auf das helle Bild der Milchstraße über ihnen am Nachthimmel. »Im Wodliparri, an dessen schilfbewachsenen Ufern die Ahnengeister hausen, fand er in einem der Löcher von Jura, dem Wasserungeheuer, einen Bruder.«

»Eine tolle Geschichte«, sagte August verständnislos. »Aber was hat sie mit dir zu tun?«

»Sie ist der Grund dafür, dass ich lebe«, erwiderte Koar schlicht.

»Wie bitte?«

»Als ich geboren wurde, war meine Haut so hell, dass meine Familie mich töten wollte. – Kinder mit ungewöhnlich heller Haut bringen Unglück«, fügte er hinzu. »Aber Tenberry entdeckte zufällig das Mal auf meiner Brust und verbot es ihnen. Ich sei ein Kind, das den Geistern gehörte. Niemand wollte die Geister erzürnen, aber ebenso wenig wollte jemand mich aufziehen. Also nahm Tenberry mich zu sich. Er war schon sehr alt und fürchtete, nicht lange genug zu leben, um mir all sein Wissen weitergeben zu können. Deswegen begann er bereits damit, mich zu unterrichten, als ich noch ein Kind war.«

»Bist du jetzt schon, nach den Sitten deines Stammes, ein richtiger Zauberer?«, wollte Karl wissen, während er vergeblich versuchte, den Schlamm von seiner Hose zu klopfen.

»Niemand traut sich, es herauszufinden«, sagte Koar und grinste. »Tenberrys Hand schützt mich immer noch.« In einer liebevollen Geste bedeckte er den Beutel auf seiner Brust mit der Hand.

»Aber ich vermisse ihn.«

»Wann ist er gestorben?«, fragte Dorothea leise. Das Schicksal dieses Jungen war wirklich ungewöhnlich.

»Vor vier Wintern. Danach zog ich allein umher, bis ich beschloss, dass es an der Zeit sei, auch die Bräuche und Künste der Weißen zu lernen. Tenberry hat immer gesagt, Wissen sei wie die Beeren und Wurzeln am Wege. Man sollte alles mitnehmen, auf das man stoße. Alles sei auf seine Art wertvoll.«

»Gehen die anderen dir deswegen aus dem Weg, Koar? Weil sie Angst vor dir haben?« Karl sah ihm forschend ins Gesicht.

Der Junge machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sie sind dumm. Sie fürchten, dass ich sie verfluchen könnte.«

»Und du lässt sie in dem Glauben, was?« Karl nickte verständnisvoll. »Auf die Art hast du deine Ruhe vor ihnen. – Ich bin dir zu großem Dank verpflichtet, Koar«, sagte er dann sehr ernst. »Ohne dich hättet ihr mich wahrscheinlich nicht mehr rechtzeitig gefunden. Lange hätte ich mich nicht mehr halten können. Und ich danke euch beiden ebenfalls, dass ihr nicht erst die Constabler abgewartet habt.«

»Spar dir deinen Atem«, brummte August, sprang auf und verpasste ihm liebevoll eine Kopfnuss. »Das war doch selbstverständlich. – Wo ist meine Hose?«

Nach diesem Abenteuer waren Karl und Koar unzertrennlich. Bald ging der junge Aborigine bei den Schumanns ein und aus, als hätte er schon immer dazugehört. Nach einigem Bedenken rang er sich sogar dazu durch, bei der Anlage des Gemüsegartens mitzuhelfen. Eigentlich sei das reine Frauenarbeit, erklärte er dem verblüfften Karl. Aber angesichts der Tatsache, dass auch August und Pastor Schumann sich nicht zu schade waren, mit anzupacken, würde er sich den europäischen Sitten anpassen.

Bei Mutter Schumann hatte er bald einen Stein im Brett, als er den Kopfschmerz-Umschlägen aus den Stängeln des Ngalyipi, der ausgezeichnet an den Bäumen hinter dem Haus gedieh, einige Substanzen zufügte, über die er sich geheimnisvoll ausschwieg, deren Wirksamkeit jedoch unbestreitbar war. Wenn Dorothea oder Karl sich an Janes Vorschlag mit dem Goannafett erinnerten, sprach es doch keiner aus. »Hauptsache, Mama fühlt sich dadurch besser«, verteidigte Dorothea ihr Schweigen gegenüber Miles, der sich köstlich darüber amüsierte.

»Ein schlauer Bursche! Es könnte auch ganz einfach daran liegen, dass die Hitze nachgelassen hat. Bald wird die Regenzeit einsetzen. – Hast du übrigens schon davon gehört? Man erwartet praktisch jede Woche Gawlers Nachfolger. Das wird ein lustiger Tanz werden.« Miles streckte sich genüsslich und fuhr dann mit den Fingerspitzen über Dorotheas nackte Schulter. »Mr. Stevenson macht sich große Hoffnungen, dass der neue Gouverneur ihm wieder die Regierungsaufträge zuspricht.«

»Und? Wird er das tun?« Dorothea schmiegte ihre Wange an seinen Handrücken, ein wenig abgelenkt von der Tatsache, dass Miles’ Knie sich gerade zwischen ihre Schenkel schob.

»Keine Ahnung. Über Grey ist eher bekannt, dass er ein Teufelskerl ist«, sagte ihr Geliebter nachdenklich. »Auf seinen Forschungsreisen hat er Unglaubliches geleistet. Aber als Regierungsvertreter hat er nicht viel Erfahrung. Gerade mal ein Jahr als Bevollmächtigter am King George Sund im Südwesten. Er muss glänzende Beziehungen in London haben.«

»Wenn er den neuen Gouverneur davon überzeugen kann, uns wieder die lukrativen Aufträge zu geben, dann könntest du doch auch deine Festanstellung bekommen, oder?« Miles hatte oft genug durchblicken lassen, dass eine sichere Anstellung die Voraussetzung für ihre gemeinsame Zukunft wäre. Das war nur vernünftig. Schließlich musste er ja auch eine Familie ernähren können. Aber warum kümmerte er sich dann nicht etwas mehr darum? Sie hätte schon längst mit Mr. Stevenson gesprochen.

»Das wird dann sicher auch klappen, Liebes. Ganz bestimmt. Aber jetzt sollten wir sehen, noch rasch die letzte Galgenfrist auszunutzen, ehe Mrs. Wilson vom Whist zurückkommt.« Verführerisch strichen seine Lippen über ihre empfindliche Kehle, ehe er sie in die Kissen drückte. Sie hatten es sich angewöhnt, sich an den Nachmittagen in Miles’ Zimmer zu treffen, an denen seine Vermieterin zu ihren wöchentlichen Whist-Turnieren in die Nordstadt ging.

Wenn sie dann, durch ihren Gewinn und den stets reichlich ausgeschenkten Portwein in äußerst heitere Stimmung versetzt, in den frühen Abendstunden heimkehrte, war sie gegenüber verdächtigen Gerüchen oder Spuren deutlich weniger argwöhnisch als normal.

Dorotheas Familie hatte sich in der Zwischenzeit so an ihre ungeregelten Abwesenheiten gewöhnt, dass sie, wenn sie sich in die Redaktion verabschiedete, höchstens mit der Frage rechnen musste: »Bist du zum Abendbrot zurück?«

Nachdem ihr erster unter ihrem eigenen Namen erschienener Bericht über Janes ungewöhnliche Liebesgeschichte, die der Hochzeit vorausgegangen war, zahlreiche positive Leserbriefe zur Folge gehabt hatte, hatte Stevenson von ihr weitere »Frauengeschichten« verlangt. Als Erstes hatte sie mit den deutschen Marktfrauen gesprochen, und erst dabei war ihr die ganze Tragweite des Schicksals der gemeinhin als »lutherans« bezeichneten Gruppe klar geworden.

»Wie schäbig vom preußischen König, sie derart zu schikanieren!«, hatte sie sich entrüstet, als sie beim gemeinsamen Essen der Familie von den Gefängnisstrafen und harten Geldbußen erzählt hatte, mit denen man sie zum Einlenken hatte zwingen wollen. »Stellt euch vor: Die armen Menschen sind nur wegen ihres Glaubens verfolgt worden. Wie im alten Rom!«

»Jetzt lass aber mal die Kirche im Dorf«, hatte ihr Vater ungewohnt vehement eingeworfen. »Es hat genug lutheranische Gemeinden gegeben, die sich der gemeinsamen Agenda nicht verweigert haben. Die Absicht des Königs, in Preußen eine einzige unierte Landeskirche zu schaffen, sollte anderen Menschen den Kummer ersparen, den er als zutiefst frommer Mann empfunden hat, weil er niemals mit seiner geliebten Frau gemeinsam das Abendmahl einnehmen durfte! Sosehr ich Pastor Kavel als Theologe schätze, als Seelsorger zeigt er einen bedenklichen Hang zum Fanatismus.«

»Du gibst ihm die Schuld an der Misere?«

Pastor Schumann seufzte leise und schüttelte den Kopf. »Nein, Dorchen. So einfach ist es nie. Da sind schon mehrere Dickköpfe aufeinandergeprallt. Ich wollte dich nur davor warnen, vorschnell einseitig Partei zu ergreifen. Du hast eine gute Auffassungsgabe und einen scharfen Verstand. In einer Zeitung zu schreiben bedeutet auch eine große Verantwortung. Die Leser erwarten, dass das, was du schreibst, der Wahrheit entspricht. Das darfst du nie vergessen!«

Der Fund von vier weiteren Leichen des Maria-Massakers Ende April 1841, darunter vermutlich die des Kapitäns und seiner Frau, hätte wohl mehr Aufsehen erregt, wenn die Nachricht sich nicht mit der Ankunft des neuen Gouverneurs überschnitten hätte. »Ich werde mich doch jetzt nicht in die Einöde schicken lassen, wenn in Adelaide die Fetzen fliegen!«, hatte Miles ihren Vorschlag, nach Encounter Bay zu reisen, um seine Eindrücke der einsamen Gräber in den Dünen besser schildern zu können, von sich gewiesen. »Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass sich noch irgendjemand für die armen Schweine interessiert? Jetzt, wo dieser bigotte Gawler endlich abgesägt ist, werden andere Zeiten anbrechen.«

Miles Somerhill sollte recht behalten, allerdings nicht ganz in dem Sinne, in dem er es gemeint hatte. Der neue Gouverneur schien nach dem Sprichwort zu verfahren: »Neue Besen kehren gut.« Noch ehe sein Vorgänger das Land verlassen hatte, wurden bereits Stimmen laut, die meinten, man sei vom Regen in die Traufe geraten. Nicht nur, dass Grey mit sofortiger Wirkung sämtliche Baumaßnahmen gestoppt hatte – er hatte auch all jene Angestellte aus dem öffentlichen Dienst entlassen, die seinen Anforderungen nicht genügten oder sonst sein Missfallen erregt hatten. Den stechenden Augen unter buschigen Brauen entging nichts. Ein Angestellter wurde entlassen, weil er versehentlich eine Fensterscheibe zerbrochen hatte; ein Bürojunge, weil dem Gouverneur dessen acht Pence Lohn zu hoch schienen.

Der zuständige Beamte für Immigration musste sich anhören, dass Senf unnötiger Luxus bei der Beköstigung der Bedürftigen sei. Ihre staatliche Unterstützung wurde auf ein absolutes Minimum heruntergefahren, in der Absicht, die Menschen dazu zu bewegen, sich außerhalb Adelaides um Arbeit und Brot zu bemühen und so die öffentlichen Kassen zu entlasten.

Der schmale Mund unter dem blonden Schnurrbart verzog sich fast nie zu einem Lächeln, was zu seinem Ruf beitrug, arrogant und selbstherrlich zu sein.

Natürlich hatte er nicht sofort alle Aufträge wieder dem Register zugesprochen. Mr. Thomas hatte sich gezwungen gesehen, nach London aufzubrechen, um dort seine Ansprüche zu verfechten. Bis zu seiner Rückkehr musste sein Partner Stevenson sehen, wie er zurechtkam.

Derweil kehrte Gouverneur Grey weiterhin mit eisernem Besen. Die Polizeikräfte wurden halbiert und mit Truppen aus Sydney aufgestockt. Im Vermessungsamt bemängelte er die »ruinöse Unbedachtsamkeit«, mit der weiter entfernte neue Landstriche erschlossen wurden.

Selbst die Missionsschule blieb nicht verschont. Eines Morgens brachte ein Bote einen knapp formulierten Brief, der August darüber in Kenntnis setzte, dass sein bis Ende des Jahres laufender Kontrakt leider nicht verlängert werden könnte.

»Das macht mir weniger aus, als er denkt«, vertraute er Dorothea an. »Ich habe bereits am Mechanischen Institut vorgesprochen, und dort würden sie mich als Gehilfen anstellen, sofern der Professor mich akzeptiert.«

»Wie schön für dich!«, sagte Dorothea geistesabwesend. Sie bewegten ganz andere Sorgen.

In letzter Zeit war Miles manchmal so seltsam gewesen. Wann immer sie die gemeinsame Zukunft anzusprechen versuchte, hatte er es einzurichten gewusst, sie davon abzulenken. Die ersten Male war es ihr nicht aufgefallen, aber inzwischen war es nicht mehr zu beschönigen: Er wich jedem Gespräch über Heirat oder Familiengründung so rasch aus wie ein Hase, der Haken schlägt. Sogar das letzte wöchentliche Treffen hatte er abgesagt. Angeblich war Mrs. Wilson krank gewesen. War sie das wirklich?

Die ersten, diffusen Zweifel, ob Miles ihre Beziehung so wie sie sah, hatte sie noch mühelos abgetan. Sie war so selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie heiraten würden, dass sie gar nicht auf die Idee gekommen war, dass es bei ihm anders sein könnte. Doch seit einigen Tagen nagte genau diese Befürchtung an ihr. Liebte er sie nicht mehr? Rückblickend fiel ihr auf, dass hauptsächlich sie es gewesen war, die ihn mit Liebesbeteuerungen überschüttet hatte. Er hatte dann meist nur gelächelt und sie stumm geküsst.

Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt vor Schrecken, als sie sich zu vergegenwärtigen versuchte, wann Miles von sich aus über Heirat gesprochen hatte: Nie. Er konnte sie doch nicht in dem Glauben gelassen haben, dass sie ein Ehepaar würden, wenn er …

»Schau mal!« Lischen hielt ihr eine verschwitzte Hand unter die Nase, aus der sich eine graugrüne Eidechse zu befreien versuchte. »Ist sie nicht schön?« Seit ihrem vorweihnachtlichen Ausflug mit Jane hatte die Kleine ihr Interesse für die Tierwelt der Umgebung entdeckt. Kaum ein Tag, an dem sie nicht stolz irgendein mit ihrem Schmetterlingsnetz gefangenes Exemplar anbrachte. »Ich werde sie in den Glaskrug setzen und mit Fliegen füttern.«

»Lass sie lieber frei«, sagte Dorothea automatisch. »Sicher hat sie Kinder zu Hause, die auf sie warten!« Das sagte ihre Mutter auch immer, wenn sie Lischen zu überreden versuchte, ihre Beute wieder laufen zu lassen. Aber diesmal versetzte ihr die harmlose Bemerkung einen Stich.

Konnte es wirklich sein, dass Miles sie so hintergangen hatte? Dass er sich so unglaublich hinterhältig verhalten hatte? Miles? Der stets so moralische Miles?

Nicht nur wegen der kühlen Temperaturen jetzt im Juni fröstelte sie, und sie zog sich das wollene Umschlagtuch enger um die Schultern. Morgen würde sie ihn zur Rede stellen. Und wenn es sich bewahrheiten sollte, dass er nur mit ihr gespielt hatte, würde sie ihm den Laufpass geben. Unbewusst ballten sich ihre Hände zu Fäusten. Heiße Wut stieg in ihr auf. Wut auf Miles – und auch Wut auf sich selbst. Wie hatte sie nur so unglaublich dumm sein können?

Sie hatte sich ihm ja praktisch an den Hals geworfen. Daran war nichts zu beschönigen. Eine solch leichte Beute dürfte er selten in seinem Zimmer empfangen haben!

In einem winzigen Winkel ihres Herzens hoffte sie noch, dass alles Misstrauen sich am nächsten Morgen zerstreuen würde wie die morgendlichen Nebel über dem Torrens River. Miles würde ihr einen förmlichen Heiratsantrag machen, und alles würde gut enden. Aber ihr Verstand, den ihr Vater so gelobt hatte, sagte ihr, dass sie sich solche Hoffnungen sparen könnte.

Die halbe Nacht lag sie wach und schwankte zwischen bitteren Selbstvorwürfen und Rachegelüsten.

Am nächsten Morgen hingen dunkelgraue Regenwolken wie ein böses Omen tief über Adelaide. Dorothea bemühte sich, den zahllosen Pfützen auszuweichen, die den Weg zur Stadt hinunter in eine Miniaturseenlandschaft verwandelt hatten. So trocken der Sommer gewesen war, so nass zeigte sich jetzt der Winter. Mit dem Einsetzen der Regenzeit verfiel die Kolonie in eine Art Winterstarre. Zwar schneite es nicht, und Nachtfröste waren äußerst selten, aber die Straßen waren bloß noch bodenlose Schlammpisten. Niemand unternahm eine Reise, wenn es nicht absolut unvermeidlich war.

In den Räumen des Register herrschte gespenstische Stille. Dorothea trat unwillkürlich leise auf, als sie durch das menschenleere Erdgeschoss auf die Treppe zuging. Auch im oberen Stockwerk schien niemand zu sein.

»Miles?«, rief sie verunsichert, als sie auf die offen stehende Tür ihres gemeinsamen Büros zuging. Auf der Schwelle blieb sie wie angewurzelt stehen. Dort, wo sie letzte Woche noch Miles am Schreibtisch gegenübergesessen hatte, stapelten sich jetzt Wollballen über Wollballen. Der Geruch nach feuchtem Schaf war so überwältigend, dass sie unwillkürlich den Atem anhielt.

»Was machen Sie denn hier?«

Die herrische Stimme ließ sie herumfahren. George Stevenson stand vor seinem Büro und betrachtete sie ungehalten. »Ich habe Ihnen doch ausrichten lassen, dass Sie warten sollen, bis ich mich wieder bei Ihnen melde.«

»Niemand hat mir etwas gesagt«, stieß sie trotzig hervor und griff nach dem Türrahmen, weil um sie herum alles zu schwanken begann.

»Somerhill wollte doch …« Stevenson brach ab und kam mit schnellen Schritten auf sie zu. »Mir scheint, was Sie jetzt brauchen, ist ein Brandy«, sagte er, ergriff ihren Arm und führte sie ins Allerheiligste. Dort drückte er sie in den Besuchersessel und klappte den hölzernen, hohlen Globus auf, in dem er seinen berühmten Brandy aufbewahrte.

»Somerhill hat nicht mit Ihnen gesprochen?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Er drückte ihr ein Glas mit einer reichlich bemessenen Portion des intensiv duftenden Getränks in die Hand und nahm ihr gegenüber Platz. »Nicht nippen. Herunter damit.« Dorothea gehorchte. Im nächsten Moment bedauerte sie es, denn der Alkohol schien ihre Kehle zu versengen. Hustend und mit Tränen in den Augen kämpfte sie um ihre Fassung.

»Den Rest auch noch«, sagte Stevenson ruhig und wartete danach geduldig, bis ihr Gesicht wieder seine normale Färbung hatte. »So, Miss Schumann, reden wir offen miteinander. Sie haben ja sicher mitbekommen, dass die Lage für den Register immer prekärer wurde. Deswegen hatte ich Somerhill bereits vor Längerem geraten, sich besser um eine Anstellung bei einer anderen Zeitung zu bemühen. Vor vier Tagen hat er sich nach Singapur eingeschifft.«

»Nach Singapur? Liegt das nicht in Ostindien?« Halb betäubt starrte sie auf die große Landkarte an der gegenüberliegenden Wand, ohne wirklich etwas davon zu sehen. »Und wann wird er wiederkommen?«

»Überhaupt nicht.« Der Chefredakteur räusperte sich. »Ich dachte, dass Sie das wüssten.«

Miles hatte sich feige aus dem Staub gemacht! Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Damit hatte sie nicht gerechnet. Jetzt konnte sie ihm ihre Verachtung nicht einmal mehr ins Gesicht schleudern. Selbst um diese letzte kleine Genugtuung hatte er sie gebracht!

In Stevensons harten Gesichtszügen war nichts zu lesen. Weder Mitgefühl noch Neugier.

Plötzlich erschien es ihr überaus wichtig, vor ihm nicht die Fassung zu verlieren. »Er ist wohl nicht dazu gekommen, es mir zu sagen.« So würdevoll wie möglich richtete sie sich auf und sah ihm ins Gesicht. »Sie erwähnten vorhin eine Nachricht, die Sie mir haben schicken lassen? Dass Sie mich nicht mehr bräuchten?«

»Verstehen Sie das bitte nicht falsch! Sie sind eine verdammt gute Reporterin. Aber ich kann Sie nicht mehr bezahlen.« Stevenson verzog den Mund zu einem bitteren Grinsen. »Sie haben es ja vorhin selbst gesehen: Sämtliche Büros sind zu Lagerräumen umfunktioniert und vermietet. Das bringt jedoch nur das Nötigste. Bis wir wieder flüssig sind, muss ich, so leid es mir tut, auf Ihre Dienste verzichten.«

»Ich bin sicher, dass der Register bald wieder an seine große Zeit anknüpfen kann«, sagte Dorothea und versuchte dabei, überzeugt zu klingen. Irgendwie ging gerade alles schief: erst Miles’ Verrat und nun auch noch dieser Rückschlag! »Dann will ich Sie nicht länger aufhalten. – Danke für den Brandy, Mr. Stevenson.«

Dass es erneut zu regnen angefangen hatte, bemerkte sie nicht einmal. Wie im Traum setzte sie Fuß vor Fuß, ohne auch nur im Entferntesten darauf zu achten, dass ihr leichtes Schuhwerk bald total durchnässt war. Wut und Enttäuschung kämpften in ihr. Hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, in Tränen auszubrechen, und dem Wunsch, sich irgendwie an Miles rächen zu können, schritt sie so kräftig aus, dass Protector Moorhouse Mühe hatte, sie einzuholen.

»Miss Schumann – warten Sie doch. Wenn Sie gestatten: Ich würde Sie gerne begleiten. Ich hätte mit Ihrem Vater etwas zu besprechen. – Geht es Ihnen gut?«

Die Besorgnis in seinen freundlichen Augen war ehrlich, und so rang sie sich ein Lächeln ab. »Danke, mir geht es gut. Ich war nur völlig in Gedanken versunken.«

»Ein neuer Artikel?« Er sah sie fragend an, während er seinen Schritt dem ihren anpasste. »Ich wollte Ihnen schon seit Längerem sagen, wie gut mir der über Jane und ihr Leben gefallen hat. Auch der über die Frauen der Lutheraner. Wissen Sie schon, worüber Sie als Nächstes schreiben werden?«

»Das ist leider noch völlig ungewiss. Mr. Stevenson hat mir eben eröffnet, dass der Register sich keine weiteren Artikel von mir leisten kann.«

»Oh, das tut mir leid«, murmelte er. Offensichtlich hielt er ihren Zustand für eine Folge dieser Unterredung, und Dorothea war ihm dankbar, dass er den Rest des Weges über nur belanglose Konversation führte.

Endlich allein auf ihrem Zimmer, gab sie dem Bedürfnis nach, das sie die ganze Zeit unterdrückt hatte. Den Kopf im Kissen vergraben, schrie sie ihren ganzen Zorn hinaus und hielt auch die Tränen nicht mehr zurück, die ihr in den Augen brannten; Tränen der hilflosen Wut. Dorothea war noch nie eine Heulsuse gewesen, und so dauerte der Sturm nicht lange. Sobald sie sich einigermaßen beruhigt hatte, schniefte sie kräftig, zog die nassen Sachen aus, wusch ihr Gesicht mit kaltem Wasser und nahm sich vor, Miles Somerhill so rasch wie möglich zu vergessen. Nur gut, dass sie niemanden in die Heiratspläne eingeweiht hatte! Jetzt Gegenstand des unvermeidlichen allgemeinen Mitleids zu sein hätte sie nicht ertragen.

Aber da keiner davon wusste, konnte sie so tun, als wäre nichts gewesen. Vielleicht sollte sie einen kleinen Flirt zugeben. Sonst würden einige von sich aus mehr vermuten. Schließlich waren sie ständig zusammen gesehen worden.

Hoffentlich erging es diesem Schuft richtig schlecht in Singapur! Sie schwelgte in Vorstellungen darüber, wie Miles als niederer Dienstbote von seiner Herrschaft schikaniert wurde oder sich gar als Lastenträger verdingen müsste. Und wenn er sich die Passage vom Munde abgespart hätte und hier wieder auftauchte, um sie um Verzeihung zu bitten, würde sie ihn nicht zu kennen vorgeben.

Nach diesem Entschluss fühlte sie sich deutlich besser.

Der Besuch von Mr. Moorhouse hatte einen konkreten Anlass gehabt: Pastor Schumann wurde gebeten, den neuen Gouverneur mit einer Delegation, bestehend aus Geschäftsleuten und Vertretern der Südaustralischen Company, in den Süden zu begleiten. Dort, im Gebiet am unteren Murray River und weiter südlich waren angeblich deutlich bessere Böden entdeckt worden als die bereits bewirtschafteten im Norden Adelaides. Pastor Schumann sollte in seiner Eigenschaft als Geistlicher und Sprachkundiger eventuell feindselige Eingeborene beruhigen. In Anbetracht der schlechten Reiseverhältnisse zu Lande, würde man mit dem Schiff von Port Adelaide südwärts die Küste entlangsegeln. Sollten sich die Gerüchte bestätigen, würde eine weitere Expedition klären, ob der Viehtrieb aus Neu-Südwales nicht zukünftig besser an der Küste erfolgen sollte.

»Sie haben sicher davon gehört, dass die Maraura im April einen Viehtreck auf der Höhe von Lake Bonney angegriffen haben«, hatte Moorhouse erklärt. »Die versprengten Tiere – immerhin fünftausend Schafe und achthundert Rinder – sind immer noch verschwunden, obwohl schon zwei Expeditionen nach ihnen gesucht und dabei einige Eingeborene erschossen haben. – Und unsere letzte Expedition, von der ich gerade zurückgekehrt bin, war ein Desaster.« Er starrte düster auf seine Hände.

»Sind dabei nicht auch Hirten umgekommen?«, fragte Dorotheas Mutter leise.

»So ist es. Major O’Halloran und ich trafen mit unseren Männern einen verfluchten Tag zu spät ein. Bei dem Überfall am Abend zuvor waren vier von Mr. Langhornes Männern mit Speeren getötet worden. Wie viele Maraura erschossen worden waren, ließ sich nicht mehr eruieren.«

»Es ist sicher klug, die Situation nicht weiter eskalieren zu lassen und nach einem anderen Weg für die Trecks zu suchen«, sagte Pastor Schumann nachdenklich. »Gibt es denn eine Erklärung für diese plötzliche Feindseligkeit? Ich kann mich nicht erinnern, dass die Maraura in früheren Jahren Weiße angegriffen hätten.«

»Sicher weiß man es natürlich nicht.« Moorhouse wirkte bedrückt. »Es gibt Stimmen, die den Viehtreibern die Schuld daran geben. Es heißt, sie vergriffen sich ohne jede Kompensation an den Eingeborenenfrauen und die Männer des Stammes rächten sich dafür.«

»Kann man denn diese Kerle nicht unter Kontrolle halten?« Mutter Schumann war empört. »Es geht doch nicht an, dass sie sich straflos an diesen armen Frauen vergreifen!«

Der Protector lächelte schwach. »Das ist leichter gesagt als getan, Madam. Die meisten von ihnen sind ehemalige Sträflinge oder ähnlich dubiose Gestalten, die man guten Gewissens als Abschaum bezeichnen kann. Anständige Männer sind die wenigsten. Doch das ist den Viehbaronen egal. Für sie zählt nur ihr Profit, sprich eine möglichst große Anzahl Tiere lebend hierherzubringen.«

»Dann verstehe ich nicht, wieso der Gouverneur ihnen Major O’Halloran und seine Truppe zu Hilfe schickt.« Pastor Schumann schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich dachte, militärisches Eingreifen wäre Angelegenheiten von allgemeinem öffentlichen Interesse vorbehalten. Sollen die Herren doch sehen, wie sie ihr Vieh transportieren.«

»Der Gouverneur möchte damit vor allem denjenigen Siedlern den Wind aus den Segeln nehmen, die nach einer strengen Bestrafung der Eingeborenen rufen. Indem er Major O’Halloran den Gebrauch von Schusswaffen untersagte und mich mitschickte, wollte er den größtmöglichen Schutz der Maraura sicherstellen. Wie gesagt, leider kamen wir zu spät. Und ich fürchte, Mr. Bull wird jetzt umso lauter darauf drängen, endlich ein Exempel zu statuieren.«

»Ich verstehe. Deshalb wäre eine neue Route die beste Lösung.« Pastor Schumann nickte. »Natürlich komme ich mit. Wie könnte ich mich einem so guten Zweck verweigern?«