|47|EIN LEICHNAM AM FEIERTAG

Trotz der Meeresbrise aus Süden war es ein heißer Tag. Die Prozession der Pilger hatte den sandigen Strand hinter sich gelassen und stieg nun die steile Flanke des Hügels hinauf zur fernen Kapelle. In ehrfürchtigem Schweigen hatten sie vor dem uralten Granitstein des Heiligen Declan gestanden, einem Stein, von dem es hieß, er sei über das Meer gekommen und habe Gewänder und eine winzige Silberglocke mitgebracht. Hier an diesem abgelegenen Eckchen der irischen Küste hatte es ihn an den Strand gespült, und genau an dieser Stelle hatte ihn ein Kriegerprinz namens Declan gefunden, der wusste, dass Gott ihm auf diese Weise ein Zeichen gab, er solle den Neuen Glauben predigen. Und so begann er sein Missionswerk gleich hier, bei seinem eigenen Volk, den Déices des Königreiches Muman.

Seither stand dieser Stein dort. Der junge Klosterbruder, der die Pilger zu den Stätten führte, die dem heiligen Declan geweiht waren, hatte ihnen erklärt, wenn sie es schafften, unter dem Stein durchzukriechen, könnten sie vom Rheumatismus befreit werden, allerdings nur, wenn ihnen bereits alle Sünden vergeben seien. Keiner aus der Pilgerschar hatte es gewagt, den Beweis für die wundersamen Heilkräfte des Steins zu suchen.

Nun folgten sie dem Klosterbruder langsam vom Strand den steilen Hang hinauf. Sie stiegen in einer langen Schlange bergauf, |48|kamen an die graue Abteimauer und hielten auf die kleine Kapelle zu, die hoch oben auf dem Kamm des Hügels thronte. Diese letzte Pilgerstätte war die Kapelle, die der heilige Declan vor zwei Jahrhunderten errichtet hatte und in der nun seine sterblichen Überreste ruhten.

Nicht zum ersten Mal fragte sich Schwester Fidelma, warum sie sich ausgerechnet an einem so drückenden Tag dieser Pilgerfahrt angeschlossen hatte. Auch jetzt wieder stellten sich nach diesem Gedanken unverzüglich Schuldgefühle ein. Eine innere Stimme tadelte sie und wies sie streng darauf hin, es sei nun einmal ihre Pflicht als Ordensfrau, voller Ehrfurcht Leben und Werk der heiligen Männer und Frauen zu betrachten, die den Glauben an die Küsten Irlands gebracht hatten.

Um ihren hauptsächlichen Pflichten als dálaigh oder Rechtsanwältin nachzukommen, reiste Fidelma oft an die fünf Gerichte der fünf Königreiche Irlands. Diesmal war sie ins Unterkönigreich der Décia an der Südküste von Muman gekommen. Sobald ihr klargeworden war, dass sie einige Tage in der Abtei von Ardmore zubringen würde, die der heilige Declan gegründet hatte, und dass während ihres Aufenthaltes der Festtag des Heiligen begangen würde, hatte sie sich einer Gruppe von Pilgern angeschlossen, die zu den wichtigsten Stätten im Leben des Heiligen geführt wurden. Fidelma lernte immer sehr gern Neues hinzu. Sie lächelte ein wenig vor sich hin, als ihr klar wurde, dass sie sich nicht nur selbst die Frage gestellt hatte, warum sie bei der Pilgergruppe war, sondern die auch gleich selbst beantwortet hatte.

Bruder Ross, der junge Mann, der die Führung übernommen hatte, plapperte munter vom Leben des Heiligen, während er ihnen den Hang hinauf vorausschritt. Er war ein sehr ernsthafter junger Mann, kaumüber das Alter der Wahl hinaus, wohl nur knapp zwanzig Jahre alt. Nicht einmal der steile Anstieg schien |49|ihn atemlos zu machen. Er hielt keinen Augenblick in seinem begeisterten Monolog inne.

»Declan war einer der großen Heiligen, die in den fünf Königreichen von Éireann predigten, ehe der Gebenedeite Patrick kam. Die großen Heiligen sind Aílbe, der Schutzheilige unseres Königreiches Muman, Ciarán, der auch aus Muman stammte, Ibar von Laigin und Declan von den Déices von Muman. Wir können also stolz darauf sein, dass unser Königreich Muman das Erste war, das sich zum Neuen Glauben bekannte …«

Naiv und voller Leidenschaft fuhr Bruder Ross fort, die Wunder aufzuzählen, die der Heilige bewirkt hatte, und zu berichten, wie er die Pestopfer wieder zum Leben erweckte. Die Pilger lauschten in ehrfürchtigem Schweigen. Fidelma betrachtete das gute Dutzend Männer und Frauen, die sich den Hügel hinaufquälten. Sie hatte wirklich nichts mit ihnen gemeinsam, außer dass sie auch eine Ordensfrau war.

Jetzt näherten sie sich der Kuppe des kahlen Hügels, auf dem die kleine Kapelle aus grauem Granitstein stand. Sie thronte auf einer sanft gerundeten Anhöhe und war von einer niedrigen Trockensteinmauer umgeben. Aus der Ferne hatte das Gebäude sehr klein ausgesehen. Nun beim Näherkommen konnte Fidelma die niedrigen Trockensteinmauern genauer betrachten. Die Kapelle war kaum zwölf mal neun Fuß im Grundriss; das steile Dach war ihren Proportionen angepasst.

»Hier ruhen die sterblichen Überreste des Heiligen«, verkündete Bruder Ross und blieb stehen, damit die Pilger sich an dem Tor in der niedrigen Mauer um ihn sammeln konnten. »Als er seine anstrengende Missionierungsreise durch das Land abgeschlossen hatte, kehrte er hierher in seine geliebte Ansiedlung Ardmore zurück. Er wusste, dass seine Tage auf Erden gezählt waren, und versammelte alle Menschen, auch die Geistlichen, |50|um sich und riet ihnen, in seiner Nachfolge der christlichen Nächstenliebe zu dienen. Nachdem er von Bischof Ma Liag die heiligen Sterbesakramente empfangen hatte, schied er überaus heilig und glückselig aus dem Leben und fuhr, von einem Engelschor begleitet, gen Himmel auf. Es wurden Vigilien abgehalten und feierliche Hochämter gefeiert, man sah viele Zeichen und Wunder, und eine Gemeinschaft von Heiligen versammelte sich aus allen Ecken des Landes.«

Bruder Ross deutete mit der Hand auf die Kapelle und sprach mit begeisterter Stimme weiter.

»Seine sterblichen Überreste wurden in diese, seine erste kleine Kirche überführt und dort zur letzten Ruhe gebettet. Wir gehen jetzt hinein. Es können mich aber jeweils nur drei Personen begleiten, denn ihr seht ja, dass die Kapelle sehr klein ist. Im Inneren ist im Boden eine Vertiefung eingelassen, in der sich ein steinerner Sarg befindet. Diese Ruhestatt hat sich Declan selbst auf Anweisung eines Engels auserwählt. Dort liegen seine sterblichen Überreste, und durch die Mittlerschaft des heiligen Declan sind viele Zeichen und Wunder geschehen.«

Er stand mit geneigtem Haupt da, während die Pilger ihr respektvolles »Amen« murmelten.

»Wartet einen Augenblick hier. Ich gehe erst in die Kapelle und sehe nach, ob wir keine Beter stören. Heute ist der Festtag des Heiligen. Da kommen viele Leute her.«

Folgsam blieben alle bei der Mauer stehen, wie Bruder Ross sie gebeten hatte. Er machte sich auf den Weg zur Kapelle und verschwand in ihrem Inneren.

Wenige Augenblicke später kam er mit hochrotem Kopf wieder herausgestürzt. Seine Lippen bewegten sich, aber er brachte kein einziges Wort heraus. Schwester Fidelma und die anderen starrten ihn verwundert an. Der plötzliche Umschwung von stiller Ehrfurcht zu einer so heftigen Erregung verstörte sie. |51|Erst nach einer Weile würgte der junge Mann einige unverständliche Wortfetzen hervor. Dann sprudelte er in gehetztem Staccato seine Sätze los: »Er ist unverwest! Ein Wunder! Ein Wunder!«

Bruder Ross rollte wild mit den weit aufgerissenen Augen.

Fidelma trat einen Schritt näher an ihn heran. »So beruhige dich doch, Bruder!«, rief sie. Der scharfe Befehlston ihrer Stimme dämpfte seine Erregung ein wenig. »Was ist mit dir?«

»Der Leichnam des Heiligen … Er ist unverwest!«

»Was meinst du damit?«, wollte Fidelma verärgert wissen. »Du redest wirr.«

Der junge Mann schluckte und atmete einige Male tief durch, um die Fassung wiederzugewinnen.

»Der Sarkophag! Seine Deckplatte wurde zur Seite geschoben … und da liegt der Leichnam des heiligen Declan … und ist nicht verwest … wahrlich … ein Wunder … ein Wunder! Geht und verbreitet die frohe Kunde!«

Fidelma verschwendete keine Zeit damit, einen Sinn in den wirren Behauptungen des jungen Mannes zu suchen.

Sie ging rasch auf ihn zu, schob ungeduldig die Hand zur Seite, mit der er sie am Weitergehen hindern wollte, und trat in die Kapelle. Nur durch ein kleines Fenster fiel etwas Tageslicht herein. Fidelma musste einen Augenblick warten, bis sich ihre Augen auf das Dämmerlicht eingestellt hatten. Die beiden großen Kerzen auf dem Altar waren nicht angezündet, aber zu Fidelmas Überraschung brannte auf der Deckplatte des Sarkophags ein kurzer Kerzenstummel unruhig flackernd.

Die Steinplatte hatte die Vertiefung im Boden verschlossen, und man hatte sie schräg weggeschoben, sodass es möglich war, in das flache Grab zu schauen. Fidelma trat vor und blickte hinunter. Bruder Ross hatte recht: Es lag wirklich ein Leichnam darin. Aber es war nicht der eines Menschen, der vor zweihundert |52|Jahren hier bestattet worden war. Fidelma beugte sich hinunter, um ihn sich näher anzusehen. Sie bemerkte zweierlei: Ein Blutfleck glänzte noch feucht, und als sie die Stirn berührte, war die Haut noch warm.

Fidelma begab sich wieder nach draußen. Dort erging sich Bruder Ross aufgeregt in poetischen Beschreibungen. Die Pilger hatten sich um ihn geschart.

»Brüder und Schwestern, heute durftet ihr eines der Wunder des heiligen Declan miterleben. Der Leichnam des Heiligen ist nicht verwest und nicht verfallen. Geht zur Abtei hinunter und sagt es allen. Ich bleibe hier und halte Wache, bis ihr mit dem Abt zurückkehrt …«

Da merkte er, dass alle Pilger die Augen auf Fidelma gerichtet hatten, die mit grimmiger Miene näher getreten war.

»Du hast es auch gesehen, nicht wahr, Schwester?«, wollte Bruder Ross wissen. »Ich habe nicht gelogen. Der Leichnam ist unverwest. Ein Wunder!«

»Niemand betritt die Kapelle«, erwiderte Fidelma kühl.

Bruder Ross zog wütend die Brauen zusammen.

»Ich bin für die Pilger zuständig. Wer bist du, dass du hier Befehle erteilst?«

»Ich bin eine dálaigh. Meine Name ist Fidelma von Cashel.«

Der junge Mann blinzelte, weil sie mit solcher Schärfe gesprochen hatte. Er erholte sich rasch von seiner Verwunderung.

»Ob du nun eine Anwältin bist oder nicht, wir sollten die Pilger zur Abtei schicken, damit sie dem Abt Bericht erstatten. Ich warte hier … Es ist wahrhaftig ein Wunder geschehen!«

Fidelma wandte sich mit sarkastischer Miene zu ihm.

»Du weißt doch so viel über den heiligen Declan. Da kannst mir sicher ein paar Fragen beantworten: Hat man Declan mit einem Dolch ins Herz gestochen, ehe man ihn zur letzten Ruhe bettete?«

|53|Bruder Ross verstand nicht.

»Und war der Heilige in Wirklichkeit eine junge Frau?«, fuhr Fidelma erbarmungslos fort.

Bruder Ross war entrüstet.

Fidelma lächelte dünnlippig.

»Dann schlage ich vor, du schaust dir diesen nicht verwesten Leichnam ein wenig genauer an. Im Grab liegt die Leiche einer jungen Frau. Sie wurde kürzlich mitten ins Herz gestochen. Und man hat sie im Grab auf die Knochen gelegt, die wahrscheinlich das Skelett des heiligen Declan sind.«

Bruder Ross starrte Fidelma entsetzt an und rannte schließlich zurück in die Kapelle.

Fidelma wies die Pilger an, draußen zu warten, und eilte dann hinter dem jungen Mann her. Gleich hinter der Tür blieb sie stehen.

Bruder Ross, der neben dem Grab kniete, wandte sich um und schaute zu ihr hin. Selbst im Dämmerlicht schien sein Gesicht kreideweiß.

»Es ist Schwester Aróc aus der Ordensgemeinschaft von Ardmore.«

Fidelma nickte grimmig.

»Dann, denke ich, sollten wir die Pilger nach Ardmore zurückschicken und sie bitten, dem Abt zu berichten, was wir hier vorgefunden haben.«

Die Pilgergruppe wollte ohnehin die Nacht im Gästehaus von Ardmore verbringen.

»Sollten nicht wir an ihrer Stelle …?«

Fidelma schüttelte den Kopf.

»Ich bleibe, und du kannst mir zur Hand gehen.«

Bruder Ross schaute verwirrt.

»Dir zur Hand gehen?«

»Als dálaigh liegt es in meiner Verantwortung, durch Untersuchungen |54|festzustellen, wie Schwester Aróc gestorben ist.«

Nachdem Fidelma die Pilger in die Abtei hinuntergeschickt hatte, kehrte sie in die Kapelle zurück und kniete am Grab nieder. Schwester Aróc war kaum mehr als zwanzig Jahre alt. Sie war nicht sonderlich hübsch; eigentlich waren ihre Züge sogar recht reizlos. Sie war ein Mädchen vom Land, und die Haut an ihren grobknochigen Händen war rau und schwielig. Die Arme lagen an ihrer Seite, und die Finger waren merkwürdig verkrampft, als hielten sie einen unsichtbaren Gegenstand umklammert. Das Haar der jungen Frau war mausgrau.

Die Wunde am Körper hatte Fidelma bereits vorher bemerkt. Es gab keinerlei Zweifel, was diese Wunde verursacht hatte, denn die Klinge mit dem grob geschnitzten Heft steckte noch in der Leiche. Unmittelbar unter der linken Brust war das Nonnengewand eingerissen. Dort war das Messer eingedrungen und hatte zweifellos das Herz durchstochen. Die Kleidung war ringsum mit Blut getränkt. Das war noch nicht ganz eingetrocknet, was darauf schließen ließ, dass der Tod erst vor kurzem eingetreten war, wohl eher vor einigen Minuten als vor Stunden, überlegte Fidelma.

Plötzlich schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf. Sie untersuchte den Boden, den Weg bis zur Tür zurück und die Erde draußen vor der Kapelle. Eigentlich hatte sie gehofft, Blutflecke zu finden, doch da erregte etwas anderes ihre Aufmerksamkeit. Da waren Wachstropfen in der Nähe des Sarkophags. Das allein war weiter keine Überraschung. Fidelma überlegte sich, dass wohl im Laufe der Jahre viele Leute mit Kerzen hier eingetreten waren und sich über den Stein gebeugt hatten, der die sterblichen Überreste des Heiligen bedeckte. Merkwürdig war jedoch, dass auch viele Talgflecken auf der Kante des Grabmals zu sehen waren, wo normalerweise die Grabplatte lag.

|55|Fidelma packte das eine Ende der Platte mit beiden Händen und strengte all ihre Kräfte an. Die Platte bewegte sich. Sie war nicht besonders leicht, aber mit einiger Mühe konnte Fidelma sie wieder über die Grabstätte schieben. Dann rückte sie sie zurück in die Stellung, in der sie sie vorgefunden hatte, und betrachtete sie nachdenklich.

Sie musterte erneut die Leiche und untersuchte noch einmal das Messer. Es war ein Messer, wie es arme Landleute besaßen, ein Werkzeug, das für eine ganze Reihe von Verrichtungen benutzt wurde.

Fidelma versuchte nicht, es aus der Wunde zu ziehen.

Jetzt wandte sie ihre Aufmerksamkeit den anderen Gegenständen zu, die die junge Frau an sich trug. Um den Hals hing an einem Lederriemen ein hölzernes Kruzifix. Es war grob geschnitzt, und Fidelma hatte bei vielen ärmeren Ordensleuten Ähnliches gesehen. Nun wanderten ihre Augen zu dem abgegriffenen ledernen marsupium, das an der Taille der jungen Frau hing.

Sie öffnete es. Es war ein Kamm darin. Alle irischen Frauen trugen einen Kamm bei sich. Dieser hier war aus Bein und von der gleichen schlichten Qualität wie die anderen Habseligkeiten der jungen Frau. Langes Haar wurde in Irland sehr bewundert, und daher war es unerlässlich, dass alle Männer und Frauen stets einen Kamm bei sich trugen. Zu ihrer großen Überraschung fand Fidelma im marsupium auch noch ein halbes Dutzend Münzen. Sie waren von keinem besonderen Wert, und so konnte man Raub als Mordmotiv ausschließen, selbst wenn Fidelma diesen Verdacht gehegt hätte. Das hatte sie jedoch nicht.

Je länger Fidelma den Leichnam und seine Lage betrachtete, desto klarer wurde ihr, dass bei diesem Fall irgendetwas sehr seltsam war. Viel seltsamer noch als die an sich schon schreckliche |56|Tatsache eines gewaltsamen Todes. Aber was es war, konnte sie nicht genau sagen. Auf dem Gesicht der Leiche schien ein Lächeln zu liegen. Aber das war es nicht, was Fidelma nachdenklich stimmte.

Als sie wieder aus der Kapelle trat, schritten gerade drei ältere Ordensleute durch das niedrige Tor auf das Gelände der Kapelle. Fidelma erkannte sogleich die bleichen, besorgten Züge von Rian, dem Abt von Ardmore. Er wurde begleitet von einer hochaufgeschossenen Frau mit grimmiger Miene und einem mondgesichtigen Mann, der verwundert wirkte und der Verwalter des Klosters war, wie Fidelma wusste. Wie hieß er doch gleich? Bruder Echen.

»Es stimmt also, liebe Fidelma?«, fragte der Abt. Er war ein entfernter Verwandter und grüßte sie in vertrautem Ton.

»Allerdings, leider, Rian«, antwortete sie.

»Ich wusste, dass es früher oder später so kommen musste«, blaffte die große Nonne neben ihm.

Fidelma schaute sie fragend an.

»Das ist Schwester Corb«, erklärte Abt Rian nervös. »Sie ist die Novizenmeisterin unserer Ordensgemeinschaft. Schwester Aróc war eine der ihr anvertrauten Novizinnen.«

»Vielleicht wärst du so freundlich, mir deine Bemerkung näher zu erläutern?«, bat Fidelma sie.

Schwester Corb hatte ein langes, hageres und kantiges Gesicht. Sie schien immer missmutig zu schauen.

»Da braucht es nicht viel Erklärung. Das Mädchen war besonders.«

»Besonders?«

»Verrückt.«

»Und wie hat sich dies geäußert und wieso soll es zu ihrem Tod geführt haben?«

Der Abt mischte sich besorgt ein.

|57|»Weißt du, Fidelma, man sagt, die junge Frau, Schwester Aróc, hat sich von den meisten anderen in der Ordensgemeinschaft abgesondert. Ihr Verhalten war … absonderlich.«

Der Abt hatte lange gezögert, ehe er das richtige Wort fand.

Fidelma unterdrückte mit Mühe einen ungeduldigen Seufzer.

»Das verstehe ich nicht so ganz. Sagst du, dass das Mädchen schwachsinnig war? War ihr Verhalten ungezügelt? Wieso ist sie dir denn als so anders vorgekommen, dass dies unweigerlich zu ihrem Tod führen musste?«

»Schwester Aróc war eine religiöse Fanatikerin«, meldete sich zum ersten Mal Bruder Echen, der mondgesichtige Verwalter der Abtei, zu Wort. »Sie behauptete, Stimmen zu hören. Sie sagte, es wären …« Er kniff die Augen zusammen und beugte die Knie. »Es wären die Stimmen der Heiligen.«

Schwester Corb schniefte missbilligend.

»Sie hat es als Vorwand benutzt, um die Regeln unserer Gemeinschaft zu missachten. Sie behauptete, eine unmittelbare Verbindung zur Seele des heiligen Declan zu haben. Ich hätte sie für Gotteslästerung auspeitschen lassen, aber Abt Rian ist ein äußerst menschenfreundlicher Mann.«

Fidelma war nicht entgangen, dass Missbilligung in der Stimme der Ordensschwester mitschwang.

»Wenn die junge Frau, wie du sagtest, anders war, nicht die gleichen geistigen Fähigkeiten hatte wie alle anderen, was hätte dann das Auspeitschen bewirken können?«, fragte sie trocken. »Ich begreife immer noch nicht, wieso ihr Verhalten zu ihrem Tod geführt haben soll … früher oder später, wie du es formuliert hast, nicht wahr, Schwester Corb?«

Schwester Corb wirkte befremdet.

»Ich wollte damit sagen, dass Schwester Aróc nicht von |58|dieser Welt war. Naiv war, wenn du so willst. Sie wusste nicht, wie … wie lüstern Männer sein können.«

Der Abt schien einen Hustenanfall zu haben. Bruder Echen musterte interessiert seine Fußspitzen.

Fidelma starrte die Frau unverwandt an. Sie zog ihre Augenbrauen fragend in die Höhe.

»Ich meine … ich meine, dass Aróc nicht wusste, wie es auf der Welt zugeht. Sie genoss sehr freizügig die Gesellschaft von Männern, ohne zu begreifen, was Männer von einer jungen Frau erwarten.«

Der Abt hatte seine Fassung wiedererlangt.

»Leider besaß Schwester Aróc nicht sehr viel gesunden Menschenverstand, aber ich denke, Schwester Corb übertreibt die Anziehungskraft, die Aróc auf die männlichen Mitglieder unserer Gemeinschaft ausgeübt hat.«

Schwester Corbs Züge verzerrten sich sarkastisch.

»Der Vater Abt sieht nur das Gute in den Menschen. Ganz gleich, wie attraktiv sie ist, eine junge Frau bleibt eine junge Frau.«

Fidelma hob die Hände in einer Geste, die Hoffnungslosigkeit zum Ausdruck bringen sollte, und ließ sie wieder sinken.

»Ich versuche zu verstehen, was Schwester Aróc unterstellt wird und welche Rückschlüsse uns das darauf erlauben könnte, wie und warum sie auf so seltsame Art zu Tode gekommen ist.«

Schwester Corb verengte die Augen und starrte zu Bruder Ross, der noch immer bleich und verstört an der niedrigen Mauer lehnte, die die Kapelle umgab.

»Hast du ihn befragt?«

»Bruder Ross? Warum?«

Schwester Corb presste die Lippen zusammen.

»Ich sollte besser kein weiteres Wort mehr verlieren.«

|59|»Du hast bereits entweder zu viel oder zu wenig gesagt«, erwiderte Fidelma säuerlich.

»Wo war er, als der Mord geschah?«

»Das kann ich beantworten«, antwortete Fidelma. »Er hat eine Gruppe von Pilgern zu den verschiedenen Stätten geführt, die mit dem heiligen Declan zu tun haben. Ich habe zu dieser Gruppe gehört.«

»Wie kannst du dir denn da so sicher sein?«, fragte die Novizenmeisterin.

»Bruder Ross war während der letzten beiden Stunden bei uns.«

»Er könnte die junge Frau doch getötet haben, ehe er zu euch gestoßen ist?«, drängte Schwester Corb, die sich weigerte, ihren Verdacht aufzugeben.

»Das geht nicht«, erwiderte Schwester Fidelma lächelnd, »weil sie erst kurz vor unserem Eintreffen bei der Kapelle umgebracht wurde. Ich würde sogar sagen, dass es nur Minuten vorher geschehen ist.«

Schwester Corbs Mund klappte zu. Sie schien über Fidelmas logische Erklärung verärgert.

»Warum würdest du denn Bruder Ross bezichtigen wollen?«, fragte Fidelma interessiert.

»Ich habe alles gesagt, was zu sagen war«, murmelte die Novizenmeisterin, deren Lippen sich zu einer störrischen Linie verzogen.

»Ich entscheide, wann du meine Fragen zu meiner Zufriedenheit beantwortet hast«, antwortete Fidelma leise. Ihre Worte waren eindrucksvoller, weil keinerlei Streitlust in ihrer Stimme lag. Schwester Corb war sich natürlich darüber im Klaren, welche Befugnisse eine Anwältin bei den Gerichten hatte.

»Es ist allgemein bekannt, dass Bruder Ross die junge Frau begehrte«, erwiderte sie abwehrend.

|60|»Begehrte?«

»Nach ihr lüstern war.«

Bruder Echen schnaubte verächtlich.

»Das ist, bei allem Respekt, allein Schwester Corbs Deutung. Sie sieht das Verhalten männlicher Wesen allgemein mit großer Verbitterung, und das verführt sie zu den seltsamsten Schlussfolgerungen.«

Fidelma fuhr zu ihm herum.

»Du teilst also Schwester Corbs Ansichten nicht?«

»Frag doch Bruder Ross selbst«, antwortete der Verwalter leichthin. »Er war gern in Gesellschaft des Mädchens. Sie waren oft zusammen, und er hat sich nicht über sie lustig gemacht wie viele andere. Aber er hatte keine lüsternen Absichten.«

»Woher willst du das wissen?«

»Als Verwalter einer Ordensgemeinschaft muss ich wissen, was hier vor sich geht, insbesondere, wenn es Dinge sind, die zu Aufruhr unter den Klosterbrüdern führen könnten.«

»Was hätte denn in dieser Angelegenheit zu Aufruhr führen können?«

Bruder Echen schaute bedeutungsvoll zu Schwester Corb. Fidelma wandte sich lächelnd dem Abt zu.

»Vater Abt, wenn ihr, du und Schwester Corb, euch um Bruder Ross kümmern könntet?«

Sie wartete ab, bis die beiden außer Hörweite waren, ehe sie Bruder Echen anschaute.

»Nun?«, forderte sie ihn auf.

»Schwester Corb machte Bruder Ross Ärger, weil sie eifersüchtig war.«

»Eifersüchtig?«

Bruder Echen zuckte in sprechender Geste die Achseln.

»Du weißt …«

»Ich weiß es nicht. Sag es mir.«

|61|»Corb war eifersüchtig auf Ross, weil sie Schwester Aróc für sich selbst wollte. Schwester Corb ist … nun, deswegen hat sie eine seltsame Einstellung zu Männern und schreibt ihnen Lust als einziges Motiv ihrer Handlungen zu.«

»Ist Aróc auf Corbs Annäherungsversuche eingegangen, wenn sie tatsächlich welche gemacht hat?«

»Nein, wie vorhin gesagt wurde, war Aróc nicht von dieser Welt. Sie hatte für körperlichen Kontakt nichts übrig. Sie war eine von denen, die ihr Leben dem Zölibat verschrieben haben. Sie hat Corb zurückgewiesen, wie sie sich auch Ross verweigert hätte, wenn er sich ihr je aufgedrängt hätte.«

»Warum bist du so sicher, dass er das nicht gemacht hat?«

»Er hat es mir gesagt. Er hat ihre Gesellschaft genossen und mit ihr über die Heiligen und den Glauben geredet. Er hat viel zu viel Respekt vor ihr gehabt.«

»Wie gut hast du Schwester Aróc gekannt?«

Bruder Echen zuckte die Achseln.

»Gar nicht gut. Sie war erst sechs Monate in unserer Gemeinschaft. Genau genommen wurde sie noch von der Novizenmeisterin unterrichtet – von Schwester Corb. Ehrlich gesagt, ich habe nur einmal mit ihr gesprochen, und das war, als ihr Fall vor den Rat gebracht wurde.«

»Ihr Fall?«

»Der Abt hatte Corb gebeten, einen Bericht über ihre Novizinnen vorzulegen, als wir im Rat über die Belange der Gemeinschaft sprachen. Damals berichtete Corb über das absonderliche Verhalten von Schwester Aróc. Es wurde beschlossen, dass ich sie zu den Stimmen befragen sollte, die sie zu hören behauptete.«

»Und zu welcher Schlussfolgerung bist du gekommen?«

Bruder Echen zuckte erneut die Achseln.

»Sie war nicht verrückt in einem gefährlichen Sinne, wenn du |62|das meinst. Aber sie war auch nicht von gesundem Geist. Ich habe bereits ein, zwei Ordensleute kennengelernt, die behauptet haben, mit Christus und seinen Heiligen zu reden, und noch viele mehr, die das behauptet haben und dann selbst Heilige geworden sind.«

»Nur noch eines: Wo warst du während der letzten Stunde?«

Bruder Echen grinste.

»Bei zehn Leuten, die das bezeugen können, Schwester. Ich habe unseren Schreibern eine Unterrichtsstunde in Kalligraphie gegeben. Man sagt mir nämlich nach, dass ich eine schöne, feste Handschrift habe.«

»Bitte doch Schwester Corb, sich zu mir zu gesellen«, sagte Fidelma, als sie ihn entließ.

Schwester Corb erschien, immer noch kämpferisch gestimmt.

»Warum hast du nicht mit Ross gesprochen?«, wollte sie ohne Umschweife wissen. »Er muss sie getötet haben …«

»Schwester Corb!« Fidelmas scharfer Tonfall brachte die andere Nonne sofort zum Schweigen. »Wir wollen lieber von Dingen reden, die in deinem Kompetenzbereich liegen, nicht wahr? Erstens, wo warst du während der letzten Stunde?«

Schwester Corb blinzelte.

»Ich war in der Abtei.«

»Kannst du das beweisen?«

»Den größten Teil des Morgens habe ich damit verbracht, die Novizen zu unterrichten.«

Fidelma merkte, dass Schwester Corb gezögert hatte.

»Und in der letzten Stunde?«

»Willst du mich etwa beschuldigen …?«

»Ich frage dich, wo du warst und ob du das beweisen kannst.«

»Nach dem Unterricht habe ich einige Zeit im Klostergarten verbracht. Ich weiß nicht, ob mich dort jemand gesehen hat |63|oder nicht. Ich ging gerade zurück ins Haus, als ich die Pilger kommen hörte, die dem Abt berichteten, was geschehen war. Also habe ich mich ihm und Bruder Echen angeschlossen.«

»Nun gut. Wie lange hast du gebraucht, um den Hügel zur Kapelle hinaufzusteigen?«

Schwester Corb schaute überrascht drein.

»Wie lange …?«

»Ungefähr.«

»Zehn Minuten, denke ich. Warum …?«

»Das ist sehr hilfreich«, erwiderte Fidelma und schnitt ihr das Wort ab. Sie ließ Schwester Corb einfach stehen und ignorierte die Wut, die sich auf deren harten Zügen abzeichnete. Sie ging zu Bruder Ross hinüber.

»Der Tod sieht nie schön aus, oder, Bruder?«, hub sie an.

Der junge Mann schlug die hellblauen Augen zu ihr auf und starrte sie einen Augenblick an.

»Es war so finster in der Kapelle. Ich habe nicht besonders gut sehen können. Ich meinte, ich hätte …«

Fidelma lächelte ihn aufmunternd an.

»Du hast es deutlich gesagt, was du zu sehen glaubtest.«

»Ich komme mir so dumm vor.«

»Ich habe mir sagen lassen, dass du Schwester Aróc sehr gut gekannt hast?«

Der junge Mann errötete.

»Nun, ziemlich gut. Wir … wir waren Freunde. Man könnte sagen, dass ich ihr einziger Freund im Kloster war.«

»Man hat mir ihr Verhalten als etwas absonderlich beschrieben. Sie hörte Stimmen. Hat dir das nichts ausgemacht?«

»Sie war nicht verrückt«, erwiderte Bruder Ross abwehrend. »Wenn sie geglaubt hat, Stimmen zu hören, dann habe ich keinen Grund dafür gesehen, diesen Glauben in Zweifel zu ziehen.«

|64|»Aber die anderen hielten sie für wahnsinnig.«

»Die kannten sie nicht gut genug.«

»Was glaubst du, was hat sie hier oben in der Kapelle gemacht?«

»Sie kam oft hierher, um in der Nähe des heiligen Declan zu sein. Seine Stimme war es, die sie zu hören meinte.«

»Hat sie dir verraten, was diese Stimme ihr gesagt hat?«

Bruder Ross überdachte diese Frage.

»Aróc glaubte, der Heilige hätte sie ausgewählt, seine Dienerin zu sein.«

»Wie hat sie dir das mitgeteilt?«

Bruder Ross verzog das Gesicht.

»Ich glaube, sie wusste nicht einmal, worüber sie sprach. Sie meinte, man sagte ihr, sie solle dem Willen eines Heiligen folgen, der seit zwei Jahrhunderten tot ist.«

»Und was war dieser Wille?«

»Ein Leben im Zölibat und in Dienstbarkeit«, erwiderte Bruder Ross. »Zumindest hat sie das so ausgedrückt.«

»Du sagst, sie ist gern in die Kapelle gekommen, um dem heiligen Declan nah zu sein. Hast du Aróc geholfen, die Deckplatte des Sarkophags wegzuschieben und die Kante mit Talg zu beschmieren, damit sie ihn nach Belieben öffnen und schließen konnte?«

Bruder Ross schaute verdutzt auf und begegnete Fidelmas kühlem Blick.

Fidelma fuhr rasch fort: »Frag mich nicht, woher ich das weiß. Es ist nicht zu übersehen. Ich nehme an, dass du ihr geholfen hast, weil sonst niemand da war, der es hätte tun können.«

»Es war kein Frevel. Sie wollte nur die Gebeine des heiligen Declan sehen, um eine unmittelbare Verbindung zu ihm zu bekommen.«

|65|»Wusstest du, dass Schwester Aróc heute Morgen hier sein würde?«

Bruder Ross schüttelte rasch den Kopf.

»Ich hatte ihr gesagt, dass heute Pilger kommen würden, um sich die Kapelle anzuschauen – da es doch der Festtag des Heiligen ist.«

»Aróc hatte wohl einen starken Willen. Vielleicht war ihr das gleichgültig. Denn heute war doch auch für sie ein besonderer Tag, der Festtag des heiligen Declan, der Tag, an dem er aus dem Leben schied. Da wollte sicher auch sie gern herkommen.«

»Wirklich, das habe ich nicht gewusst.«

»Eines finde ich seltsam. Du kanntest sie doch so gut, du wusstest sogar, dass sie das Grab zu öffnen und auf den Heiligen herabzuschauen pflegte. Warum bist du aus der Kapelle gestürzt und hast geschrien, der Leichnam des Heiligen sei unverwest? Du musstest schließlich wissen, wie die sterblichen Überreste des Heiligen aussehen. Und du musstest auch wissen, wie Aróc aussieht. Es musste dir doch klar sein …«

»Ich habe dir bereits erzählt, dass es in der Kapelle dunkel war. Ich habe wirklich gemeint …«

»Wirklich?« Fidelma lächelte sarkastisch. »Du hast keine Sekunde lang eine andere Möglichkeit erwogen, als herauszurennen und zu verkünden, dass die staubigen Überreste des heiligen Declan plötzlich wieder zu unverwestem Fleisch geworden waren?«

Bruder Ross schaute sie widerstrebend an.

»Ich habe dir alles erzählt, was ich in dieser Angelegenheit weiß.« Er verschränkte trotzig die Arme.

Fidelmas presste die Lippen strichdünn zusammen und schaute ihn ungewöhnlich lange an. Besonders aufmerksam betrachtete sie den vorderen Teil seiner Kutte.

|66|»Hast du einen Verdacht, wer Schwester Aróc getötet haben könnte?«, fragte sie ihn schließlich.

»Ich weiß nur, dass sie eines gewaltsamen Todes gestorben ist, obwohl es keinerlei Grund gab, warum ihr Leben so enden sollte«, antwortete er streitlustig.

Fidelma wandte sich von ihm ab und schaute zu dem äußerst aufgeregten Abt Rian.

»Ich bin sehr bestürzt, Fidelma«, sagte Rian. »Ich bin der Vorstand meiner Gemeinschaft, der Hirte meiner kleinen Herde. Wenn hier unter der Oberfläche Gewalttätigkeit gelauert hätte, so hätte ich es spüren müssen.«

»Du bist nur ein Mensch und kein Prophet, Rian«, mahnte ihn Fidelma. »Du brauchst die Verantwortung dafür nicht auf deine Schultern zu laden.«

»Wie kann ich dir helfen, diesen Fall zu lösen?«

»Indem du mir einige Fragen beantwortest. Kanntest du Schwester Aróc?«

»Ich bin der Abt«, antwortete er tiefernst.

»Ich meinte, kanntest du sie persönlich und nicht nur als ein Schaf aus deiner Herde?«

Der Abt schüttelte den Kopf.

»Vor sechs Monaten hat Schwester Corb Aróc zu mir gebracht. Sie wollte sie in die Novizenschule aufnehmen. Aróc hatte das Alter der Wahl erreicht. Es schien mir, dass sie ein frommes Mädchen war, wenn auch nicht allzu gescheit. Außer der einen Unterredung mit ihr habe ich sie nur aus der Ferne gesehen.«

Er hielt inne und warf einen raschen Blick über das Kapellengelände zu Schwester Corb, ehe er fortfuhr: »Vor einigen Tagen kam Schwester Corb zu mir, um eine offizielle Beschwerde einzulegen. Erst da habe ich von Arócs seltsamem Verhalten gehört. Schwester Corb hat es ja als ›nicht von dieser Welt‹ |67|beschrieben. Echen wurde beauftragt, sich mit ihr zu unterhalten, berichtete aber, dass sie zwar exzentrisch, aber ungefährlich sei.«

»Weißt du, ob Schwester Corb andere Gründe haben könnte, sich über Aróc zu beschweren?«

Der Abt errötete ein wenig.

»Ich weiß, was du meinst. Ich hatte nicht geglaubt, dass das in diesem Fall zutraf. Schwester Corb hat jedoch mehrere Beziehungen, die ich nicht gutheiße. Doch als Abt muss man manchmal diplomatisch sein und so tun, als wüsste man nichts.«

»Mehrere Beziehungen?« Fidelma zog die Brauen in die Höhe. »Könnte es sein, dass eine ihrer … ihrer Beziehungen vielleicht auf Schwester Aróc eifersüchtig war?«

Der Abt schaute verdutzt.

»Du meinst …?«

»Wieder eine Gegenfrage«, blaffte Fidelma. »Auf jede Frage, die ich stelle, bekomme ich eine Gegenfrage zu hören!« Sie bereute diesen Ausbruch sofort, da der Abt bei ihren Worten zusammengezuckt war. »Ich bitte um Vergebung. Es scheint mir nur so schwer, hier überhaupt etwas in Erfahrung zu bringen.«

»Nein, ich sollte mich entschuldigen, Fidelma. Es gibt einige Mitglieder unserer Gemeinschaft, die über Corbs Annäherungsversuche bei Schwester Aróc wütend sein könnten, wenn du das mit deiner Frage gemeint hast. Aber ich glaube nicht, dass man sie in diesem Fall in Betracht ziehen muss.«

»Warum nicht?«

»Wenn ich mich auf mein geringes Wissen über das Recht verlassen kann, dann kann man zwar verdächtig sein, weil man ein Motiv hatte, muss aber zusätzlich auch eine Möglichkeit gehabt haben, die Tat zu begehen.«

»Dein Wissen trügt dich nicht«, bestätigte ihm Fidelma.

|68|»Nun, du hast doch Bruder Echen und Schwester Corb angedeutet, dass der Mord kurz vor der Ankunft der Pilger auf der Hügelkuppe geschehen sein muss. Sieh dich mal um.«

Der Abt breitete die Arme aus.

Fidelma wusste, was er meinte, ohne auch nur hinzuschauen. Der Hügel hatte, während sie sich über den einzigen Pfad nach oben quälten, vor ihnen gelegen. Es war ein Grashang ohne Büsche und nur mit der kleinen Kapelle oben. Wenn jemand die Kapelle kurz vor Eintreffen der Pilgergruppe verlassen hätte, er hätte nirgendwo ein Versteck gefunden.

Sie lächelte.

»Nein. Abt Rian, es ist unvernünftig, sich vorzustellen, dass sich jemand vom Kloster hier heraufschlich, dann Schwester Aróc tötete und nur Augenblicke vor der Ankunft der Pilgergruppe bei der Kapelle wieder davonmachte.«

»Was sagst du dann? Wer hat Schwester Aróc getötet?«

Schwester Fidelma bedeutete den anderen mit einer Handbewegung, sie sollten zu ihr kommen.

»Meine Untersuchungen scheinen ein Ende erreicht zu haben«, sagte sie zum Abt.

Der schaute sie verwundert an.

»Dann muss ich dich noch einmal fragen. Wer hat Schwester Aróc getötet?«

Fidelma sah zu Bruder Ross.

Schwester Corb lächelte grimmig und selbstzufrieden.

»Ich habe es doch gewusst«, murmelte sie, »ich …«

Fidelma hob die Hand und gebot ihr zu schweigen.

»Ich habe keine Anschuldigung ausgesprochen, Schwester Corb. Und du solltest wissen, welche Strafe auf eine falsche Anklage steht.«

Die Novizenmeisterin verstummte und starrte sie verdattert an.

|69|»Aber wenn Bruder Ross nicht der Mörder war …«, hob Bruder Echen hilflos an, »wer hat sie dann getötet?«

Fidelma blickte erneut zu dem jungen Klosterbruder.

»Bruder Ross wird es euch sagen«, sprach sie leise.

»Aber du hast doch gemeint …«, begann der Abt.

Fidelma schüttelte ungeduldig den Kopf.

»Ich habe nichts gesagt. Ich habe angedeutet, dass er Aróc nicht ermordet hat, aber ich habe nicht gesagt, dass er nicht weiß, wer sie umgebracht hat.«

Bruder Ross schaute Fidelma mit angstgeweiteten Augen an.

»Du würdest die Wahrheit nicht glauben«, sagte er schließlich ruhig.

»Ich kenne die Wahrheit«, erwiderte Fidelma.

»Wie? Woher konntest du wissen …?«

»Es war nicht schwer, sie herauszufinden, wenn man die Zeit bedenkt und die Lage der Kapelle, die keinerlei Versteck bietet.«

»Du erklärst uns das jetzt besser, Schwester Fidelma«, meinte der Abt.

»Unsere Pilgergruppe erreichte die Kapelle. Wie ich schon gesagt habe, war Arócs Tod, dem Zustand der Leiche nach zu schließen, wenige Augenblicke zuvor eingetreten«, begann Fidelma. »Ross ging vor der Pilgergruppe in die Kapelle. Augenblicke später kam er herausgestürzt. Er hätte genug Zeit gehabt, Aróc zu erstechen und dann zu uns zurückzukehren und vorzugeben, er hätte sie tot dort gefunden. Aber die Beweise sprechen dagegen. Hätte er sie erstochen, so wäre Blut auf seine Kutte gespritzt.

Es ist offensichtlich, dass Aróc getötet wurde, während sie im offenen Grab lag. Sie wurde nicht an einem anderen Ort umgebracht und hierhergeschafft. Es führten auch keine Blutspuren zum Sarkophag, die in so einem Fall unvermeidlich gewesen |70|wären. Hätte Bruder Ross sie ermordet, so wäre seine Kutte blutig gewesen. Stattdessen hatte er Blutspuren auf der rechten Hand und am Ärmel. Die sind entstanden, als er sich zur Toten hinuntergebeugt hat.«

Sie deutete auf die Kutte des jungen Mannes.

»Du sprichst in Rätseln«, meinte der Abt besorgt. »Verrate uns die Antwort. Der Mörder hat sich irgendwo in der Kapelle verborgen, richtig?«

Fidelma seufzte.

»Ich hätte gedacht, dass die Lösung auf der Hand liegt.«

Bruder Ross stöhnte leise.

»Ich gestehe! Ich gestehe! Ich habe sie getötet. Ich war es.«

Fidelma schaut ihn mitleidig an.

»Nein, das stimmt nicht.«

Schwester Corb war entrüstet.

»So geht es aber nicht, Schwester. Bruder Ross hat gestanden. Dieses Geständnis kannst du nicht von der Hand weisen.«

Fidelma schaute zu ihr hin.

»Bruder Ross versucht noch jetzt, die Seele seiner Freundin zu retten. Er glaubt, die Bußbücher würden verbieten, dass Schwester Aróc die Sterbesakramente empfangen dürfte, ihre Sünden würden ihr also nicht vergeben und das Begräbnis in geweihter Erde in einem Zustand geistigen Friedens würde ihr verweigert. Es ist an der Zeit, die Wahrheit zu sagen, Bruder Ross.«

»Die Wahrheit?«, drängte Bruder Echen. »Was ist die Wahrheit?«

»Sie hat sich selbst umgebracht.«

Bruder Ross stöhnte herzzerreißend.

»Wenn man jede andere Erklärung als unmöglich ausschließen kann, dann muss das, was übrig ist, die Wahrheit sein«, merkte Fidelma trocken an. »Habe ich recht, Bruder Ross?«

|71|Die Schultern des jungen Mannes waren resigniert nach unten gesackt.

»Sie … sie war nicht von dieser Welt. Sie hörte Stimmen. Sie glaubte, sie erhielte Anweisungen aus dem Jenseits. Vom heiligen Declan. Sie hatte Visionen. Sie bat mich, den Sarkophag zu öffnen, damit sie die heiligen Gebeine berühren konnte. Ich habe den Stein mit Talg eingerieben, damit sie ihn allein wegschieben konnte, wann immer sie wollte. Sie hat oft davon gesprochen, dass sie sich zu dem Heiligen gesellen wollte. Ich hätte nie gedacht, dass sie sich umbringen wollte.«

»Was ist geschehen?«, wollte der Abt wissen.

»Ich habe die Pilger zur Kapelle gebracht und bin hineingegangen, falls dort jemand betete, den wir gestört hätten. Ich sah ihren Leichnam im offenen Grab liegen. Die Hände umklammerten noch das Messer in ihrer Brust. Voller Entsetzen begriff ich, was sie getan hatte. Ich hatte weder Zeit noch Gelegenheit, den Leichnam vor den Pilgern zu verbergen. Wenn ich versucht hätte, den Sarkophag zu schließen, hätte man mich draußen gehört. Ich habe mit Gewalt ihre Hände vom Messergriff gelöst und sie an ihre Seite gelegt. Ich versuchte auch das Messer herauszuziehen, aber es war zu tief eingedrungen. Dabei habe ich mir die Hand und den Ärmel mit Blut beschmiert. Ich nehme an, ich bin in Panik geraten, weil ich fürchtete, die Pilger würden jeden Augenblick hereinkommen. Das Einzige, was mir einfiel, war vorzugeben, ich hätte den Leichnam des Heiligen unverwest entdeckt. Ich hoffte, damit könnte ich die Pilger ablenken, die dann zur Abtei herunterlaufen und mir die Zeit geben würden, den Leichnam verschwinden zu lassen. Ich hatte nicht damit gerechnet …«

Er schaute zu Fidelma und zuckte die Achseln.

»Das Verbrechen des Selbstmords verbietet es, dass sie in geweihter Erde begraben wird«, merkte Schwester Corb an. |72|»Selbstmord gilt als fingalach, als Verwandtenmord. Diese Menschen sind nicht besser als Mörder.«

»Deswegen habe ich versucht, sie zu schützen, sodass ihre Seele in Frieden ihre Reise ins Jenseits antreten kann«, schluchzte der junge Mönch. »Ich habe sie so sehr geliebt.«

»Es besteht kein Grund zur Sorge«, versicherte ihm Fidelma sanft. »Schwester Aróc kann in geweihtem Boden begraben werden.«

Nun protestierte der Abt. Fidelma schnitt ihm das Wort ab.

»Rechtlich wurde Schwester Aróc als mer, eine Person von nicht völlig gesundem Verstand, eingeordnet. Das Gesetz bestimmt, dass die Rechte der geistig Verwirrten Vorrang vor anderen Rechten haben sollen. Alle von ihnen begangenen Verbrechen werden mit außerordentlicher Milde betrachtet.«

»Aber Bruder Ross hat gelogen«, unterstrich Schwester Corb. Sie war immer noch wütend und wollte unbedingt, dass jemand bestraft würde.

Fidelma widersprach ihr.

»Das Gesetz blickt auch freundlich auf diejenigen, die Menschen schützen wollen, die sich nicht selbst schützen können. Bruder Ross kann nun versichert sein, dass Schwester Arócs Seele in Frieden von dieser Welt scheiden kann.«

Der Abt schaute zögernd um sich, ehe er einen leisen Seufzer der Zustimmung ausstieß.

»Amen!«, murmelte er leise. »Amen!«