KAPITEL 18

Eadulf sprang auf.

Die Rufe kamen von den Sachsen; sie hatten das sich nähernde Schiff entdeckt. Die Absichten des anderen Schiffes waren unverkennbar. Nicht zu übersehen war auch, daß es sich um ein Schiff der Welisc handelte. Die Kriegsflagge mit dem Drachen war den meisten Britanniern bekannt. Es war einst das Symbol des großen Macsen Wledig gewesen, den die Römer Magnus Maximus genannt hatten, als er von den Legionen, die in Britannien stationiert waren, zum Kaiser des westlichen Reiches ernannt wurde. Macsen wurde betrogen und fand den Tod. Seine Frau Elen kehrte nach Britannien zurück und wurde eine große und einflußreiche Fürsprecherin der christlichen Bewegung. Ihre Söhne und Töchter gründeten so manches Königreich der Britannier.

Eadulf beobachtete fassungslos das Schiff der Welisc. Es war klar, daß dem sächsischen Schiff keine Möglichkeit zur Flucht oder zum Manövrieren blieb. Der neue Mast war soeben erst an Bord gehievt worden, es würde eine Weile dauern, ihn aufzustellen, ganz zu schweigen vom Befestigen der Takelage und der Segel. Osrics Schiff war hilflos seinem Schicksal ausgeliefert.

Eadulf bemerkte, daß er seine Hände vor Verzweiflung zu Fäusten geballt hatte, und das so fest, daß sich die Fingernägel in das Fleisch seiner Handflächen gruben. Osrics Männer hatten die Schilde und Waffen ergriffen und waren auf eine Seite ihres Schiffes geeilt, um in einem aussichtslosen Versuch zu verhindern, daß die Feinde das Schiff enterten. Und dann geschah das Eigenartige.

Als nur noch wenige Meter zwischen dem hohen Bug des feindlichen Schiffes und der Längsseite des sächsischen lagen, drehte das rote Drachenschiff ab, machte, immer noch in voller Fahrt, eine vollständige Kehrtwendung und entfernte sich rasch von den Hwicce. Wieder vernahm Eadulf laute Rufe, dann sah er, wie von den Britanniern ein paar Brandfackeln auf das Deck der Sachsen geworfen wurden, wo an mehreren Stellen Flammen aufloderten, die aber sofort von Osrics Leuten gelöscht wurden.

Eadulf verstand nun gar nichts mehr. Er hatte erwartet, daß ein Pfeilhagel aus den Bögen niederprasseln würde, die die Britannier so gern verwendeten, oder daß sie, bewaffnet mit Schwertern und Schilden, das Schiff entern würden. Doch die Welisc entfernten sich geschwind; der Steuermann kannte sich offenbar mit den Strömungen in dieser Bucht gut aus. Ehe das Schiff ganz verschwand, nahm Eadulf jedoch noch wahr, wie wiederholt etwas vom Heck ins Wasser geschleudert wurde. Selbst aus dieser Entfernung ließ sich erkennnen, daß es sich um Menschen handelte. Und die Art, wie sie ins Wasser plumpsten und darauf trieben, deutete darauf hin, daß sie allesamt tot waren.

Eadulf wartete eine ganze Weile, denn er meinte, das Schiff würde sich noch einmal zeigen. Als das nicht der Fall war, beschloß er, hinunter an den Strand zu laufen.

Die Sachsen waren wieder bei der Arbeit und richteten gerade den neuen Mast auf. Er hörte Rufe von Wachposten und sah jemanden in seine Richtung weisen, als er den Strand erreichte. Zwei angeschwemmte Leichen lagen im seichten Wasser, mit dem Gesicht nach unten. Sie bewegten sich sanft mit den Wellen hin und her.

Man hatte ihn offenbar wiedererkannt, denn Osric und zwei seiner Krieger kletterten in ein Boot und ruderten auf die Küste zu.

Eadulf ging zur nächstliegenden Leiche.

Es handelte sich um einen jungen Mann in wollener brauner Mönchskutte. Er trug die Tonsur des heiligen Johannes; dieser Haarschnitt wurde von den Mönchen der Britannier als auch von denen der fünf Königreiche von Éireann bevorzugt. Der Mann war offensichtlich noch nicht lange tot. Vielleicht hatte man ihn erst umgebracht, kurz bevor man ihn über Bord warf. Die Wunde – man hatte ihm die Kehle durchgeschnitten – blutete noch.

Eadulf packte die Leiche an den Schultern und zog sie aus dem seichten Wasser auf die Kieselsteine am Ufer. Vom linken Arm des Mannes hing etwas herab, ein Stück Stoff, auf das eines der Symbole eingestickt war, welches von heidnischen Angelsachsen immer noch verehrt wurde. Eadulf erkannte es auf der Stelle als ein Symbol der Hwicce.

Nun hörte er knirschende Schritte auf dem Kieselstrand und blickte hoch. Osric eilte auf ihn zu. Seine beiden Krieger bewachten das kleine Boot, jeden Moment bereit, es bei Gefahr sofort ins Wasser zu schieben und zu ihrem Schiff zu rudern.

»Hast du irgend etwas damit zu tun?« fragte Osric Eadulf wütend und deutete auf die Landspitze, hinter der das feindliche Schiff verschwunden war. Er hatte das Schwert gezogen. »Du hast behauptet, daß sich keine Krieger der Welisc in der Nähe aufhalten.«

»So ist es«, sagte Eadulf. »Mich hat das Auftauchen dieses Schiffes ebenso überrascht wie dich.« Er zeigte auf den Toten. »Hast du irgend etwas damit zu tun?«

»Du hast doch auch gesehen, wie die Welisc die Leichen von Bord geworfen haben, oder? Warum sollte ich etwas damit zu schaffen haben?« erwiderte Osric.

»Schau dir mal den Fetzen an, der um den Arm des Mannes gewickelt ist.«

Osric beugte sich vor. »Beim Blute Wotans!« fluchte er. Dann schaute er Eadulf an. »Was hat das zu bedeuten?«

»Das bedeutet«, antwortete Eadulf ruhig, »daß jeder, der sich die Leichen genauer ansieht, vermuten wird, daß sie von der Hand der Hwicce starben.«

Osric schwieg. Eadulf ging zu dem anderen Toten, der im flachen Wasser trieb, und zog ihn ebenfalls an Land. Auch er war ein Mönch, nicht so jung wie der erste. Tief in seinem Rücken steckte ein Dolch der Hwicce. Er ließ ein Stöhnen hören.

»Deus miseretur!« rief Eadulf und neigte sich zu ihm herunter. »Der ist noch am Leben.«

Osric trat heran und hockte sich neben Eadulf. »Nicht mehr lange, mein Freund«, murmelte er. »Ich habe solche Verletzungen schon des öfteren gesehen, die überlebt keiner. Halt!« Eadulf wollte gerade den Dolch aus dem Rücken des Mönchs ziehen. »Wenn du ihn herausziehst, stirbt er gleich. Drehe den armen Kerl ein wenig, vielleicht sagt er noch etwas.«

Eadulf lagerte den Mann vorsichtig auf die Seite.

»Kannst du mich verstehen, Bruder?« fragte er auf Kymrisch.

Die Augenlider des Mannes zuckten, und er stöhnte leise.

»Kannst du sprechen?« fragte Eadulf. »Wer hat dir das angetan?«

Der Sterbende schien etwas sagen zu wollen. Eadulf hielt das Ohr dicht an seinen Mund.

»Brich … brich die Bronze auf … die Bronzeschlange, die Moses schuf«, flüsterte er gequält.

Eadulf verstand nicht. »Wer hat dir das angetan?« flüsterte er noch einmal.

»Das Böse unter uns … Die Kreatur der Verdammten, die böse Spinne … wirft ihr Netz … Hat uns alle eingewickelt … Er war einer … von uns!« Dann quoll Blut aus dem Mund des Mönchs, und er verstummte.

»Er ist tot, mein Freund. Hast du etwas von ihm erfahren können?« fragte er.

Eadulf schüttelte den Kopf. »Ich glaube, er hat nur phantasiert. Vielleicht hatte er Fieber.« Er richtete sich auf. »Osric, kennst du das Schiff, das euch angegriffen hat?«

»Aber ja«, erwiderte der junge Graf, »es war das Schiff von Morgan, eben jenes, daß wir von der Mündung des Flusses Saeferne die ganze Küste dieser Königreiche entlang verfolgt haben.«

»Sie hätten euch vernichten können.«

»Stimmt, das hätten sie tun können. Das könnten sie immer noch tun, wenn sie den Mut hätten, sich mit uns zu messen.«

Eadulf rieb sich nachdenklich die Wange. »Ich glaube nicht, daß es ihnen an Tapferkeit mangelt. Doch ich verstehe nicht, warum sie euch verschont haben. Und warum haben sie nur die Leichen über Bord geworfen?«

»Was sind das für Leute?«

»Mönche. Ich habe den Verdacht, daß sie der vermißten Klostergemeinschaft von Llanpadern angehören. Doch ich begreife den Sinn des Ganzen nicht.«

»Ich auch nicht.«

»Ich nehme jedoch an, daß, wer immer dieses rote Drachenschiff befehligt – du sagst, Morgan heißt er? –, daß derjenige versucht, dir die Schuld am Tod all der Mönche zuzuschieben. Neben den Leichen, die man an der Küste fand, vor der ihr neulich geankert habt, lagen Waffen der Hwicce. Warum macht sich jemand die Mühe, solche falschen Fährten zu legen?«

Osric lachte grimmig. »Es ist nicht das erstemal, daß die Hwicce von den Welisc angegriffen wurden, und es ist nicht das erstemal, daß wir Christen der Welisc ermordet haben. Also kann es uns gleich sein, wem man die Schuld am Tod dieser Mönche anlastet.«

»Warum sollte man die Schuld den Angelsachsen anlasten?« fragte Eadulf nachdenklich. »Um Feindseligkeit zu schüren? Allein das Wort ›Angelsachse‹ reicht doch hier schon aus, um Haß zu erwecken, ob bei Christen oder Heiden. Steckt vielleicht noch etwas anderes dahinter?«

»Was geht mich das an, Eadulf, der Christ. Ich bedaure nur, daß mein Schiff nicht klar war, sonst hätte ich das Drachenschiff aus Gwent vernichtet. Jetzt hat es sich wahrscheinlich irgendwo an der Küste aufwärts ein Versteck gesucht.«

Eadulf blickte zu Osrics Schiff hinüber. »Wie lange dauert es, dein Schiff wieder seetauglich zu machen?«

»Das haben wir in einer Stunde geschafft. Sobald der Mast richtig steht, werde ich die Ruder ausfahren lassen und die Küste entlang weitersegeln, falls die feindlichen Krieger wieder auftauchen und uns angreifen wollen. Die Takelage reparieren wir auf See.« Er zögerte. »Aber was ist mit dir? Du bist doch von nun an nicht mehr sicher in diesem Königreich.«

Innerlich stimmte Eadulf ihm zu, laut sagte er jedoch: »Ich muß nach Llanwnda zurück. Ehe ich in meine Heimat zurückkehren kann, habe ich hier noch ein paar Dinge zu erledigen.« Während er sprach, hatte er mit den Augen den Strand und die Klippen dahinter abgesucht. Dabei hatte er mehrere dunkle Öffnungen entdeckt. »Diese Höhlen könnten sich als sehr nützlich erweisen«, sagte er auf einmal.

»Nützlich wofür?«

»Die Leichen der Mönche wurden offenbar nur zu einem Zweck über Bord geworfen: Jene, die die Toten finden, sollen glauben, deine Leute hätten sie umgebracht. Es könnte sein, daß die Welisc nun an der ganzen Küste entlang Alarm schlagen. Und dann kommen sie vielleicht zurück, um euch zu vernichten.«

»Dafür brauchten sie keine Rechtfertigung«, entgegnete Osric.

»Das weiß ich auch«, erwiderte Eadulf, »aber Tatsache ist, daß das alles ziemlich geplant aussieht. Wem es jedoch als Rechtfertigung gelten soll, das ist es, was wir nicht wissen.«

»Was willst du damit sagen, gerefa?«

»Bis ich herausgefunden habe, was dahintersteckt, würde ich noch etwas Zunder ins Feuer werfen.«

»Wie willst du das anstellen?« fragte Osric.

»Vielleicht könnte ich mir zwei deiner Leute nehmen, um die Leichen, die noch im Wasser treiben, an Land zu bringen. Sie könnten mir auch dabei helfen, die Toten in einer dieser Höhlen zu verstecken. So entdeckt man sie nicht gleich, und das könnte den Plan der Welisc zunichte machen, was immer sie vorhaben.«

Osric grinste und schlug sich auf die Schenkel. »Du sprichst wie ein Mann der Tat und wie ein wahrer gerefa, Eadulf, der Christ. Ich habe stets angenommen, alle Leute des neuen Glaubens reden nur von Frieden, Liebe und Aufrichtigkeit. Doch du bist ein Mann, der sich einreihen darf bei jenen, die Tiw, dem mächtigen Gott des Krieges und der Kriegskunst, dienen.«

Eadulf nahm das Kompliment ohne Widerrede an. Schließlich war es gar nicht so lange her, daß er Wotan, Tiw, Thunor, Frigg und den ganzen Kreis der sächsischen Götter anbetete.

Osric erteilte seinen Männern ein paar Befehle, und sie ruderten mit dem Boot auf die im Wasser treibenden Toten zu, die sich langsam Richtung Ufer bewegten.

Osric kehrte zu Eadulf zurück. »Ich werde dir hier helfen.«

Zusammen hoben sie den ersten Toten hoch und kletterten mühsam zum Fuß der Klippen, dort legten sie ihn ab. Eadulf untersuchte die verschiedenen Höhleneingänge. Er wählte jenen, wo einem, der nur flüchtig hineinblickte, die Leichen verborgen blieben. Osric und Eadulf trugen den ersten Toten hinein. Als sie den zweiten holen wollten, waren Osrics Männer schon mit dem nächsten eingetroffen und holten auch noch die beiden anderen Leichen. Eadulf sorgte inzwischen dafür, daß es keinerlei Spuren gab, die Fremde zu der Höhle locken könnten.

»Was machen wir jetzt, Eadulf, der Christ?«

»Jetzt werde ich nach Llanwnda zurückkehren und versuchen, auf diese oder jene Weise herauszufinden, was hinter alldem steckt.«

Osric schüttelte den Kopf und lächelte. »Du bist ein mutiger Mann, daß du unter diesen Barbaren bleibst.«

»Hast du jemals darüber nachgedacht, Osric«, erwiderte Eadulf lächelnd, »wie verrückt die Welt ist, wenn ein Volk das andere jeweils für barbarisch hält?«

»Eines Tages werde ich möglicherweise Zeit haben, mich näher mit deinem christlichen Glauben zu beschäftigen, Eadulf. Wer weiß, vielleicht können wir davon noch etwas lernen?«

»Vielleicht«, stimmte ihm Eadulf feierlich zu.

Der junge Adlige hob zum Abschied die Hand und lief zum Strand hinunter zu seinem Boot. Eadulf ging raschen Schrittes den Weg zu den Klippen hinauf, dorthin, wo sein Pferd angebunden war. Als er zurückblickte, bemerkte er, daß der neue hohe Mast aufgerichtet war. Es würde nicht mehr lange dauern, bis Osrics Schiff aus der Bucht herausfuhr.

Er stieg auf sein Pferd und ritt in raschem Galopp Richtung Llanwnda.

 

»Du bist aber lange fort gewesen! Ich habe auf dich gewartet!«

Eadulf hatte gerade die kleine Brücke über den Fluß erreicht, der die Grenze von Llanwnda bildete. Fidelma saß auf einem umgefallenen Baumstamm, ihr Pferd hatte sie in der Nähe angebunden.

Eadulf hielt an und saß ab. »Es ist etwas Ungewöhnliches passiert, das hat mich aufgehalten«, erwiderte er.

»Möchtest du mir davon erzählen?« fragte sie.

Er blickte auf die Häuser des Ortes, die offenbar immer noch verlassen waren. »Wo sind sie alle hin?«

»Sie halten sich irgendwo versteckt, schätze ich. Sie trauen den Sachsen nicht. Ich habe einem von Gwndas Leuten gesagt, daß sie nichts zu befürchten hätten, doch er hat mir wohl nicht geglaubt.«

Die Pferde am Zügel haltend, gingen sie über die Brücke nach Llanwnda hinein. Eadulf berichtete ihr rasch alles, was geschehen war und was er getan hatte.

Fidelma dachte ein ganze Weile nach. »Das ist ziemlich raffiniert«, sagte sie schließlich.

Eadulf zog eine Augenbraue hoch. »Raffiniert würde ich es nicht gerade nennen.«

»Man kann diese Vorkommnisse mit keinem anderen Wort beschreiben. Sag mir – und laß dich nicht von einem falschen Gefühl der Verbundenheit zu deinen Landsleuten leiten –, traust du diesem Osric?«

Eadulfs Gesicht verfinsterte sich sofort. »Was meinst du mit trauen?«

»Glaubst du seine Geschichte? War es wirklich das Schiff dieses Morgan von Gwent, welches er verfolgte und welches später in die Bucht gesegelt kam?«

»Soweit es meine Fähigkeit betrifft, jene zu erkennen, die es nicht so genau mit der Wahrheit nehmen, kann ich sagen, daß er die reine Wahrheit sprach. Er hat auch nicht verstanden, warum das rote Drachenschiff ihn und seine Mannschaft nicht vernichtet hat, als es die Möglichkeit dazu hatte.«

Fidelma nickte rasch. »Das ist höchst seltsam. Sicher, wer immer Kapitän auf dem Schiff ist, er hätte gewußt, daß Osric nicht noch einmal darauf warten würde, sich angreifen zu lassen, oder? Warum haben sie die Chance nicht genutzt? Du meinst, dieser Morgan wollte einfach nur die Leichen in der Bucht abladen? Daß die Sachsen für das Gemetzel verantwortlich gemacht werden sollen, liegt klar auf der Hand. Doch aus welchem Grund?«

»Das habe ich mich auch schon mehrere Male gefragt.«

»Wenn es sich bei den Leichen um die Mönche aus Llanpadern handelt und wenn es nicht Osrics Männer waren, die das Kloster überfallen haben, warum sollte es Morgan gewesen sein? Und warum will er den Angelsachsen dafür die Schuld zuschieben?«

»Ich bin mir sicher, daß wir den Namen Morgan erst vor kurzem irgendwo gehört haben, und ich versuche mich zu erinnern, wo es war.«

»Du hast recht, Eadulf. Corryn hat den Namen letzte Nacht erwähnt. Doch handelt es sich um den gleichen Morgan?«

»Gute Frage. Es hängt von uns ab, eine gute Antwort darauf zu finden.«

»So ist es«, sagte Fidelma munter.

Sie standen gerade unweit von Iorwerths verlassener Schmiede. Da sie nun schwiegen, konnten sie Pferdegetrappel hören. Mindestens drei oder vier Pferde schienen sich ihnen zu nähern.

Instinktiv winkte Fidelma Eadulf zu, ihr rasch zu folgen und mit seinem Pferd ebenfalls hinter einem benachbarten Gebäude Schutz zu suchen.

»Was ist das?« fragte Eadulf.

Fidelma legte einen Finger an die Lippen.

Das Pferdegetrappel war verstummt. Fidelma spähte um die Ecke. Eadulf war überrascht, daß sie sich sofort wieder zurückzog.

»Clydog!« flüsterte sie erschrocken.

Eadulf sah sich nach einem besseren Versteck oder einer Fluchtmöglichkeit um.

»Warte!« flüsterte Fidelma und schaute wieder vorsichtig um die Ecke. »Er sitzt noch auf dem Pferd. Bei ihm sind noch zwei Leute.«

Zu ihrer Überraschung hörten sie, wie die Tür von Iorwerths Schmiede aufging und eine wohlbekannte Stimme Clydog begrüßte. Es war Iestyn.

»Du bist ein Narr, dich an diesem Ort mit mir zu treffen!« fuhr der Bauer Clydog an.

Clydogs boshaftes Lachen war zu hören. »Begrüßt ein Gastgeber so einen Reisenden, Freund Iestyn?«

»Gwnda und die anderen könnten jeden Moment zurückkehren. Und diese lästige Gwyddel und ihr Kumpan, der Angelsachse, vielleicht auch.«

»Ah, die würde ich gern wiedersehen. Sie schulden mir noch die Genugtuung, mich an ihnen zu rächen«, sagte Clydog nun.

»Sie sind dir schon einmal entwischt, nicht wahr?« spottete Iestyn. »Unser gemeinsamer Freund Corryn hat mir haarklein davon erzählt. Unterdessen haben deine groben Fehler fast alles ruiniert. Die beiden stellen zu viele Fragen und kommen der Wahrheit näher und näher.«

»Was bist du da beunruhigt? Artglys von Ceredigion wird dir allzeit Schutz gewähren.«

»Jede Minute, die sich die Gwyddel und der Angelsachse in Llanwnda aufhalten, gefährdet unser Vorhaben. Deshalb solltest du dich um sie kümmern.«

»Keine Sorge. Das werde ich tun. Doch zuvor sind wichtigere Dinge zu erledigen. Wir haben reichlich Zeit.«

»Wann gibt man uns das Zeichen?« fragte Iestyn.

»Sobald wir hören, daß Gwlyddien nach Osten marschiert.«

»Ich kann nicht länger bleiben. Es war dumm von dir, hierherzukommen. Warum hast du mich herbestellt?«

»Um dir zu sagen, daß Morgan seinen Auftrag erfüllt hat. Nun mußt du deinen erfüllen«, sagte Clydog.

»Keine Sorge. Ich werde das Meinige tun, daß Gwlyddien von den letzten Ausschreitungen der Angelsachsen erfährt. Ist sonst alles nach Plan gelaufen?«

»Bisher ja.«

»Ich bleibe dabei, diese Gwyddel und ihr Gefährte könnten unsere Pläne durchkreuzen.«

»Keine Angst, Iestyn. Bald geht es los. Das Volk von Dyfed traut den Angelsachsen doch alles zu. Ich habe einen meiner Männer mit der Nachricht von den sächsischen Überfällen zur Abtei Dewi Sant geschickt. Wenn das keine Wirkung tut bei dem alten Narren Gwlyddien und er nicht in den Krieg zieht, dann werden seine Leute die Dinge selbst in die Hand nehmen. Ganz gleich, wie, wir werden die Sieger sein. Sorge du nur dafür, daß ein paar Leute von hier die Leichen und das sächsische Schiff bald in Augenschein nehmen.«

»Was ist, wenn es nicht klappt?«

»Es wird klappen. Sobald Gwlyddien gezwungen ist, gegen die Sachsen anzutreten, wird Artglys von Ceredigion von Süden in das Königreich einfallen und innerhalb von ein, zwei Tagen werden wir zu dem neuen König aufschauen.«

»Vergiß nicht das alte Sprichwort, Clydog: Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben«, erwiderte Iestyn pessimistisch.

»Sorge du nur dafür, daß genug Leute das Schiff und die Leichen sehen«, fuhr ihn Clydog barsch an, gab seinem Pferd die Sporen und ritt seinen Männern voran über die Brücke in die Wälder zurück.

Fidelma und Eadulf warteten, bis Iestyn die Schmiede verlassen hatte und in Richtung seines Bauernhofes verschwunden war. Eadulf stieß einen Pfiff aus.

»Nun kapiere ich gar nichts mehr«, gestand er und trat aus ihrem Versteck hervor.

Fidelma schüttelte den Kopf. »Ganz im Gegenteil, jetzt treten die Dinge klar zutage.«

»Klar?«

»Jetzt ist klar, daß Prinz Cathens Vermutung in bezug auf Dyfeds Nachbar, König Artglys von Ceredigion, Hand und Fuß hat. Ceredigion versucht, eine Lage zu schaffen, die Gwlyddien und seine Truppen dazu bringen soll, die Hwicce anzugreifen. Sind die Krieger erst einmal fort, will Artglys in Dyfed einmarschieren und eine Marionette als Herrscher einsetzen, der ihm hörig ist.«

»Meinst du damit Clydog?«

»Das ist schon möglich.«

»Du gehst also davon aus, daß die Vorgänge in Llanpadern inszeniert wurden, um Gwlyddien herauszufordern? Daß Morgan in Llanpadern eingerückt ist, weil Gwlyddiens Sohn Rhun Mönch dieses Klosters ist?«

»So ist es.«

»Ganz begreife ich das immer noch nicht … Warum hat man alle Mönche des Klosters verschleppt und dann ein, zwei Tage gewartet, ehe man ein paar von ihnen umbrachte? Und all das mit viel Aufwand, um es so aussehen zu lassen, als handele es sich um einen Überfall der Hwicce?«

Fidelma nickte nachdenklich.

»Ich glaube, das läßt sich erklären. Man hatte nicht damit gerechnet, daß Bruder Cyngar und Idwal an jenem Morgen in Llanpadern vorbeischauen würden. Wer immer für den Überfall verantwortlich ist, er hat nicht einmal gewußt, daß Bruder Cyngar und Idwal in Llanpadern waren und entdeckten, daß das Kloster verwaist lag. Warum zögerten diejenigen, die das Kloster überfielen, es hinaus, ihre Gefangenen umzubringen? Weil man erst auf das sächsische Schiff warten mußte, ehe man den ersten ›Angriff‹ inszenieren konnte. Cyngar und Idwal haben den Plan ganz unerwartet durchkreuzt, da sie zu früh auf der Bildfläche erschienen sind.«

»Was hat das aber mit der Ermordung von Mair zu tun?«

»Das müssen wir in unser Mosaik noch einpassen.« Fidelma wollte jetzt weg von hier. »Es gibt zwei Leute, die wir noch befragen müssen, dann sehen wir vielleicht klarer. Komm.«

Sie liefen weiter, die Pferde ließen sie zurück. Ein paar Bewohner waren schon in ihre Häuser zurückgekehrt; man hatte ihnen versichert, daß das sächsische Schiff weitergesegelt war.

»Sollten wir Iestyn davon abhalten, mit Leuten aus dem Ort ans Meer zu gehen, um das Auslaufen des Schiffes der Hwicce zu beobachten?« fragte Eadulf.

»Bist du sicher, daß ihr die Leichen der Mönche gut verborgen habt?« Eadulf nickte. »Dann überlassen wir die Sache eine Weile sich selbst und verfolgen lieber unsere Absichten.«

Sie waren an ein kleines Haus gelangt, vor dem sich eine Steinskulptur befand, die eine Frau mit einem Korb voll Früchten auf einem Pferd darstellte. Das war die alte heidnische Pferdegöttin Epona, die früher als Symbol der Fruchtbarkeit und Gesundheit galt. Das Haus gehörte dem Apotheker von Llanwnda. Hinter den dicken undurchsichtigen Fensterscheiben brannte Licht, und es war offenbar jemand zu Hause.

Fidelma trat ein. Eadulf folgte ihr leicht irritiert. Ein älterer Mann saß auf einer Bank und tat getrocknete Kräuter in einen Mörser mit einem hölzernen Stößel. Er schaute auf.

»Ah, du bist die dálaigh aus Cashel, nicht wahr? Aufregende Zeiten, wie? Zum erstenmal mußten wir alles stehen- und liegenlassen und in die Wälder fliehen. Ich habe schon öfter erlebt, daß die Ceredigion in die Bucht eingefahren sind, ganz zu schweigen von den Sachsen.« Der Alte war zweifellos eine redselige Natur.

»Ich vermute, daß du Elisse, der Apotheker, bist?« fragte Fidelma.

»So ist es. Worum geht es?«

»Hat dich Bruder Meurig aufgesucht, ehe er umgebracht wurde?«

»Ach, eine traurige Sache dieser Tod. Und noch trauriger ist, daß die Leute außer Rand und Band gerieten und den jungen Burschen ermordeten. Gerechtigkeit sollte nicht ein bloßer Racheakt sein.«

»Hat dich Bruder Meurig nach deiner Meinung über Mairs Tod gefragt?«

Der Apotheker schüttelte den Kopf. »Nein, aber man hat mir berichtet, daß er mit mir sprechen wollte.«

»Ich glaube, ich weiß, was er dich fragen wollte.«

Der Apotheker sah sie erwartungsvoll an. »Ganz zu deinen Diensten, Schwester. Frag nur los«, forderte er sie auf.

»Man hat dich gerufen, um Mairs Leiche zu untersuchen, nicht wahr?«

Elisse nickte. »Traurig, wenn ein so junger Mensch aus dem Leben scheidet. Sehr traurig.«

»Was war die Todesursache?«

»Ich würde sagen, daß Mair zuerst erwürgt wurde. Die blauen Flecke und die Abschürfungen an ihrem Hals wiesen darauf hin.«

»Zuerst erwürgt?« erkundigte sich Fidelma.

»Die anderen Wunden wurden ihr nach ihrem Tod zugefügt, wie in einem Anfall von Wahnsinn.«

Fidelma beugte sich neugierig vor. »Die anderen Wunden? Was für andere Wunden?«

Überrascht musterte Elisse sie eine Weile. »Man hat dir doch sicher von den Messerstichen berichtet, wie?«

Fidelma schaute zu Eadulf. »Davon haben wir nichts gehört. Aber an ihren Unterkleidern soll sich Blut befunden haben. Und man sagte uns, daß dies auf eine Vergewaltigung hindeute und sie noch Jungfrau gewesen sei.«

»Nein, das war allein Gwndas Schlußfolgerung. Er und Iorwerth haben behauptet, daß Mair vor ihrem Tod vergewaltigt worden sein muß. Iorwerth hat geglaubt, seine Tochter sei noch Jungfrau gewesen.«

»Was genau willst du damit sagen? Daß sie nicht mehr Jungfrau war?«

»Ich fürchte nein. Ich habe mir Mairs Leiche sehr gründlich angesehen. Meine Frau säuberte Mair für das Begräbnis, und sie machte mich besonders auf die Wunden am inneren Oberschenkel aufmerksam. Mir sind zwei längliche Stiche aufgefallen, die wohl von einem breiten Messer stammten. Daher rührte die starke Blutung.«

Fidelma schwieg, sie dachte über seine Worte nach.

»Ich habe erklärt …« – der Apotheker zuckte verlegen mit den Schultern –, »daß es keinerlei Hinweise für sexuelle Gewalt gab. Und ich lege meine Hand dafür ins Feuer, daß sie keine virgo intacta war.«

»Hast du das selbst festgestellt?«

»Das hat meine Frau gemacht. Sie sagte mir auch, es überraschte sie nicht weiter, denn vor einem Jahr hätte sich Mair an sie gewandt und gefragt, wie sie verhindern könne, schwanger zu werden. Ich spreche gewagte Dinge aus, Schwester, doch du mußt wissen, wie Frauen solches Wissen weitergeben.«

»Mair hat deine Frau danach gefragt?«

»Du kannst selber mit ihr sprechen.« Der Apotheker wollte nach seiner Frau rufen, doch Fidelma hielt ihn zurück.

»Das ist nicht nötig. Dein Wort als Apotheker genügt uns völlig. Das ist alles, was ich wissen will. Es erklärt eine Menge.«

Sie verließen das Haus des Apothekers. Eadulf fiel auf, daß Fidelma leichtfüßig einherlief und selbstvergessen vor sich hin lächelte. Auf der Straße herrschte inzwischen reges Treiben. Offenbar waren alle Bewohner des Ortes zurückgekehrt. Zu Eadulfs Überraschung bewegte sich Fidelma erneut auf Iorwerths Schmiede zu.

»Wohin wollen wir jetzt?« fragte er.

Sie zeigte auf die Schmiede am Ende der Straße, wo ihre Pferde standen. »Ein letzter Stein fehlt noch in unserem Mosaik«, sagte sie rätselhaft.

Noch ehe sie angelangt waren, konnten sie hören, daß Iorwerth bei der Arbeit war. Er fachte das Feuer neu an, der Blasebalg knarrte tüchtig. Sie holten ihre Pferde aus dem Versteck und banden sie am Zaun vor der Schmiede fest. Als sie eintraten, sah Iorwerth mürrisch auf.

»Was denn nun schon wieder?« fragte er unfreundlich. »Werden uns deine angelsächsischen Freunde angreifen?«

»Es gibt immer noch ein paar Dinge, die wir klären müssen«, erwiderte Fidelma.

Iorwerth legte den Blasebalg beiseite und verschränkte die Arme. Seine Augen funkelten herausfordernd, er blickte von einem zum anderen. »Gwnda behauptet, daß du kein Recht hast, mich zum Tod meiner Tochter zu verhören. Ich sage nichts mehr.«

»Das ist in Ordnung«, stimmte ihm Fidelma zu.

»Wenn es nicht um den Tod meiner Tochter geht, um was dann?« fragte Iorwerth erstaunt.

»Gestern hattest du Besuch in deiner Schmiede.«

»Viele Leute kommen zur Schmiede. Das ist mein Geschäft.«

»Dein Besuch war ein Krieger und, wie man mir sagte, fremd in dieser Gegend.«

Der Schmied runzelte die Stirn. »Gewöhnlich kommen hier keine Krieger vorbei …« Er verstummte, und sein Gesichtsausdruck verriet ihnen, daß er sich an den Mann erinnerte. »Warum erkundigst du dich nach ihm?«

»Was weißt du über ihn?«

»Wie du schon sagtest, er war ein Fremder, ein Krieger. Bei seinem Pferd war ein Hufeisen locker. Ich habe es festgemacht.«

»Und du hast ihn vorher noch nie gesehen?«

»Nein. Er hielt sich hier nur kurz auf. Er bat um Met, den hat er auch bezahlt; und während ich das Hufeisen befestigte, haben wir uns ein wenig unterhalten. Das war alles.«

»Sag mir«, forderte ihn Fidelma eindringlich auf, »ist Elen, Gwndas Tochter, zu diesem Zeitpunkt hier vorbeigekommen?«

»Woher weißt du das?« erwiderte Iorwerth baß erstaunt. »Ja, sie ist hier vorbeigekommen. Ich erinnere mich daran, weil mich der Krieger nach ihr fragte.«

»Du hast ihm natürlich gesagt, wer sie ist, nicht wahr?«

»Ich sagte, sie sei die Tochter von Gwnda, dem Fürsten von Pen Caer.«

»Hat er dir verraten, warum er das wissen wollte?«

»Ich glaube, er äußerte etwas wie: ›Da geht ein hübsches Mädchen vorbei. Wer ist das?‹«

»Sonst habt ihr euch über nichts weiter unterhalten?«

Iorwerth schüttelte den Kopf. »Nein, soweit ich mich erinnere. Er vertrieb sich die Zeit, während ich mit dem Hufeisen beschäftigt war. Das ist alles.«

»Hat er zufällig seinen Namen genannt?«

Wieder machte Iorwerth eine verneinende Geste.

»Auch nicht, woher er kam?«

»Nein, obwohl ich das erraten habe.«

»Wirklich? Und was hast du erraten?«

»Er stammte entweder aus Ceredigion oder einem Ort an der Grenze zu Ceredigion.«

»Wie kommst du darauf?«

»Wir Schmiede stehen in Verbindung miteinander. Es ist leicht, die Herkunft bestimmter Arbeiten auszumachen. An seinem Pferd und seinen Waffen erkannte ich, und das kann ich beschwören, daß sie in Ceredigion hergestellt waren.«

»Sehr gut.«

»Warum erkundigst du dich nach dem Fremden?«

»Aus reiner Neugier.« Fidelma lächelte. »Ich will dich noch etwas anderes fragen. Bist du jemals ein Krieger gewesen?«

Iorwerth war erstaunt. »Nie im Leben. Ich war immer nur Schmied.«

»Wie ich weiß, hast du dein Handwerk in Dinas erlernt, war es nicht so?«

Iorwerth fühlte sich getroffen und kniff die Augen zusammen. Dann sagte er langsam: »Es ist viele Jahre her, daß ich das letztemal in Dinas war.«

»Zwanzig Jahre?«

»Das ist ungefähr richtig. Woher weißt du das alles?«

Fidelma hatte etwas aus ihrem marsupium geholt und hielt es ihm hin. Es war die Kette aus Rotgold mit dem mit Edelsteinen verzierten Hasenanhänger.

»Hast du das schon einmal gesehen?« fragte sie.

Iorwerth starrte auf die Kette und den Anhänger, und Blässe breitete sich auf seinem Gesicht aus.

»Wo hast du das her?« fragte er langsam.

»Erkennst du sie?« erkundigte sie sich noch einmal.

»Die habe ich vor zwanzig Jahren zum letztenmal gesehen. Wo hast du sie her?«

»Iolo, der Schäfer, hat sie vor seinem Tode Idwal gegeben. Iolo sagte dem Jungen, die Kette hätte seiner Mutter gehört.«

Iorwerth schreckte zurück. Seine Augen weiteten sich, der Mund stand leicht offen. Dann gewann er offenbar die Fassung wieder, seine verzerrten Gesichtszüge glätteten sich.

»O mein Gott!« rief er.

Ehe Eadulf und Fidelma noch etwas tun konnten, packte er die Mähne seines ungesattelten Pferdes, schwang sich hinauf und ritt in wildem Galopp über die Brücke in den Wald hinein.