Vier

Cranston und Athelstan beendeten die Sitzung, und die Seeleute kehrten auf ihre Posten zurück. Der Admiral führte die beiden auf dem Schiff umher und zeigte ihnen das breite Deck, den höhlenartigen, stinkenden Laderaum, der in einzelne Kammern aufgeteilt war, die primitiven Unterkünfte für Mannschaft und Bogenschützen, die Waffenkammer und die kleine, muffige Kombüse. Alles war sauber und aufgeräumt, obgleich Athelstan jedesmal zusammenzuckte, wenn hin und wieder eine dunkle, pelzige Ratte über das Deck huschte oder zwischen den Spanten umherkrabbelte.

»War irgend etwas nicht so, wie es sein sollte, als das Schiff inspiziert wurde?«

Crawley schüttelte den Kopf. »Sogar die Kombüse war in Ordnung. Die Trinkbecher waren sauber abgewaschen, die Fleischmesser hingen an den Haken.« Crawley rieb sich die Wange. »Als ob ein Teufel an Bord gekommen wäre und die drei Männer fortgeholt hätte.«  

»Und seitdem gibt es keine Spur von ihnen?«

»Keine.« 

Crawley führte sie zurück an Deck und rief ein Ruderboot herbei. Der Coroner und Athelstan verabschiedeten sich und kletterten die Leiter hinunter, wobei Sir John brummte, er sei nun noch kein bißchen klüger als zuvor.

»Wo soll es jetzt hingehen?« fragte Athelstan, als er sich neben Cranston im Heck niederließ.

Während sie sich über die rauhe Themse nach Queen’s Hithe zurückrudern ließen, betrachtete der Coroner den dunkler werdenden Himmel.

»Es ist schon spät«, murmelte er, »aber vielleicht sollten wir Kapitän Roffels Leichnam untersuchen, ehe das Requiem gesungen und er ins Grab gelegt wird.«

Sie fanden die Kirche von St. Mary Magdalene an der Ecke der Milk Street ins Dunkel gehüllt. Der Pfarrer, Pater Stephen, hatte vor einem tosenden Feuer im Priesterhaus geschlafen und begrüßte sie mit Eulenaugen; sein altes Gesicht war schlaftrunken, aber er zeigte sich freundlich. Er hielt die Laterne hoch und spähte dem Coroner ins Gesicht.

»Gott segne meine Titten!« sagte er. »Das ist ja Sir John!«

Cranston schob sein Gesicht näher heran. »Aber das ist Stephen Grospetch!«

Die beiden Männer schüttelten einander herzlich die Hände.

»Kommt herein! Kommt herein!« lud der Priester sie ein. »Ich habe von Euren Großtaten gehört, Sir John, aber für alte Freunde seid Ihr ja viel zu beschäftigt.«

Cranston klopfte ihm liebevoll auf die Schulter und schmatzte.

»Ja, Sir John, ich habe Rotwein.« Grospetch zog zwei Schemel vor das Feuer. »Setzt Euch! Setzt Euch! Bruder Athelstan?«

Der Priester ergriff Athelstans Hand, als der Coroner sie miteinander bekanntgemacht hatte.

»So, so, so - Cranston und ein Dominikaner. Ihr habt mir immer gesagt, Ihr könnt Ordensbrüder nicht ausstehen, Sir John.« Pater Stephen zwinkerte Athelstan boshaft zu.

»Ihr seid ein verlogener Straßenköter!« erwiderte Cranston und tat, als ärgere er sich. Er ließ sich auf einen Schemel sinken und spreizte die großen Hände vor dem Feuer. Pater Stephen lief geschäftig umher und brachte Becher mit Rotwein herüber. Für Athelstan war es ein Wunder, daß der Priester nirgends aneckte, denn der Raum war in Dunkelheit getaucht, abgesehen vom Licht einer einzelnen Kerze auf einem Ständer und dem Schein des tosenden Feuers.      

Der alte Priester setzte sich auf einen Stuhl. Er trank Cranston und Athelstan zu und schlürfte fröhlich aus seinem Becher.

»Grospetch«, erklärte Cranston, zu Athelstan gewandt, »war Kaplan im Gefolge des Prinzen Edward. Er konnte die Messe schneller lesen als sonst jemand, und manchmal mußte er es auch. Die Franzosen waren Drecksäcke«, fügte der Coroner finster hinzu. »Sie ließen uns nie Zeit, unsere Gebete zu Ende zu sprechen.«

Eine Zeitlang tauschten Pater Stephen und Cranston Artigkeiten und Neues von alten Kameraden aus. Dann stellte der alte Priester seinen Becher auf den Boden und rieb sich die Hände.

»Alsdann, Sir John. Ihr seid nicht gekommen, um mir mein hübsches Gesicht zu küssen. Es ist etwas Amtliches, nicht wahr?«

»Kapitän William Roffel«, sagte Cranston.

»Heimgegangen zum Herrn«, sagte der Priester. »Und wohin dann, das liegt beim Lieben Gott.«

»Warum sagt Ihr das, Pater?«

»Nun, er gehörte zu meiner Gemeinde, aber ich habe nie gesehen, daß er oder seine Frau meine Kirche verdunkelt hätten. Sie war gestern bei mir. Sie wollte ein christliches Begräbnis für ihren Mann und hat für eine Messe bezahlt. Gestern abend habe ich den Leichnam in einem Zedernholzsarg in Empfang genommen. Er liegt jetzt vor dem Hochaltar und wird morgen begraben.«

»Ihr wißt also nichts über die Roffels?«

»Kein bißchen. Die Frau war ganz ruhig. Sie behauptete, andere Verpflichtungen hätten sie von der Kirche ferngehalten.«

»Sie war also keine trauernde Witwe?«

»Jetzt seid nicht zu hart, Sir John. Sie war sehr aufgewühlt.« Der alte Priester zuckte die Achseln. »Aber ich erhalte viele solcher Ersuchen. Und Ihr kennt ja das Kirchenrecht. Solange jemand nicht öffentlich exkommuniziert wurde, muß ein christliches Begräbnis so schnell wie möglich gewährt werden.«

»Hat sie Klagehelfer beauftragt? Ihr wißt schon, Leute, die die Totenwache halten?«

»Sie und ihre Zofe waren dabei, als der Tote in die Kirche kam. Dann gingen sie fort. Mistress Roffel kehrte kurz vor Mitternacht zurück, und ich erlaubte ihr, bis zum Morgengrauen hierzubleiben.«

Cranston schaute dem alten Priester über die Schulter und zwinkerte Athelstan zu. Aber Pater Stephen war flinker, als er aussah, und bemerkte den Blick.

»Kommt schon, alter Gauner, was wollt Ihr?«

»Pater, ist es möglich, daß wir uns die Leiche ansehen?«

Der Priester rieb sich den Mund. »Das ist gegen das Kirchenrecht«, antwortete er langsam. »Wenn ein Verstorbener einmal verhüllt im Sarg liegt …«

»Gott würde es so wollen«, unterbrach Athelstan ihn leise. »Pater Stephen, ich schwöre Euch als ein Bruder im Amt, es sind vielleicht schreckliche Verbrechen begangen worden.«

»An Roffel?«

»Ja«, antwortete Athelstan knapp. »Er ist möglicherweise ermordet worden.«

Pater Stephen stand auf und griff nach seinem Mantel. Dann zündete er eine Laterne an und gab sie Athelstan.

»Als ich Cranston vor mir sah«, murrte er, »da wußte ich gleich, es gibt Ärger, verdammt.«

Cranston und Athelstan knurrten Entsprechendes zurück und folgten dem alten Priester hinauf auf den kalten, windigen Kirchhof. Pater Stephen schloß die Kirchentür auf, und sie traten ein. Athelstan schwor später, er werde niemals den Anblick vergessen, der ihn erwartete. Im Kirchenschiff war es finster und kalt. Als sie zum Altar gingen, ließ das Flackerlicht der Laterne alles nur noch gespenstischer erscheinen. Alle drei blieben stehen, als ein loser Fensterladen zuschlug, und Cranston fluchte.

»Das dürfte nicht sein«, flüsterte Pater Stephen. Er nahm Athelstan die Laterne ab und ging an den Säulen vorbei in den Transept. Dort blieb er stehen und schaute hinauf zu dem Laden, der gegen das Mauerwerk schlug. »Die habe ich alle zugemacht«, erklärte Pater Stephen über die Schulter, und seine Stimme hallte hohl durch die Kirche. »Hier gibt es kein Glas; also kann jeder herein.«

Athelstan ging zu ihm, nahm ihm die Laterne ab und hielt sie dicht über den Boden. »Ob es Euch gefällt oder nicht, Pater: Ihr habt ungebetenen Besuch gehabt. Seht Ihr die Lehmspuren und die Reste von trockenem Laub?« Er bewegte die Laterne. »Da, ein verblaßter Fußabdruck.«

»Oh nein«, stöhnte Pater Stephen. »Sagt nicht, sie haben mir wieder den Altar geplündert.« Im Laternenschein sah sein Gesicht gespenstisch aus. »Oder Schlimmeres«, flüsterte er. »Die Herren der Kreuzwege, die Schwarzen Magier, sind stets auf der Suche nach geweihten Gefäßen für ihre blasphemischen Rituale. Kommt schon! Kommt!«

Sie eilten durch die Kirche; Athelstans Sandalen klatschten auf dem Steinboden, als sie durch den Lettner traten.

Nicht so großartig wie meine Kirche, dachte Athelstan, aber dann betete er hastig um Vergebung für solche kindischen Gedanken. Pater Stephen schob sich langsam vorwärts, und der Lichtkreis der Laterne ging ihm voraus.

»Ich kann nichts Ungewöhnliches entdecken«, rief er.

Athelstan erkannte die undeutlichen Umrisse des Sarges und der sechs großen violetten Kerzen, die darumstanden. Sie gingen näher heran. Athelstan schnappte nach Luft - der Sarg stand zwar noch auf seinen Böcken, aber der Deckel war aufgeklappt. Und der Sarg war leer. Die weißen Leintücher schimmerten im matten Licht.

»Bei den Zitzen der Hölle!« flüsterte Cranston.

Pater Stephen eilte zum Altar und zündete mit einem Kienspan die Kerzen an. Athelstan schaute sich im Altarraum um.

»Oh Gott, sieh dir das an!« rief Cranston.

Athelstan spähte in die Richtung, in die der Coroner deutete. Auf dem schweren, geschnitzten Apsisstuhl hing der Leichnam Kapitän Roffels. Seine Kehle war durchgeschnitten, und jemand hatte ihm ein Stück Pergament an die Brust gesteckt und mit Blut das Wort MÖRDER daraufgeschrieben.

Bei diesem Anblick war Pater Stephen so überwältigt, daß er schluchzend auf die Altarstufen sank. Cranston und Athelstan nahmen zwei Kerzen vom Altar und näherten sich behutsam der grausigen Leiche, die in grotesker Haltung schlaff auf dem Stuhl saß. Man hatte die Pennys weggenommen, die auf Roffels Lidern gelegen hatten, und seine Augen waren halb offen. Der Kinnriemen war entfernt worden, und die Wunde am Hals war ein dunkelroter Schnitt. Cranston schaute den Pergamentfetzen an und erkannte, daß der Urheber dieser Freveltat seinen Finger zum Schreiben benutzt hatte.

Da sie sahen, wie überwältigt Pater Stephen war, legten sie den Toten behutsam wieder in seinen Sarg. Cranston flüsterte, er habe in Frankreich beim Füllen der Massengräber Schlimmeres gesehen. Athelstan hingegen, obwohl er schon so manchen Todesfall erlebt hatte, zitterte, als er den kalten Leichnam berührte, und erwartete halb, er würde gleich zum Leben erwachen. Sie legten den Toten so schicklich wie möglich in den Sarg. Erst jetzt betrachtete Athelstan das harte Gesicht, die hohen Wangenknochen, die dünnen, blutlosen Lippen und den schmalen, totenschädelähnlichen Kopf von Kapitän William Roffel.

»Furchtbar im Leben, furchtbar im Tode«, murmelte Athelstan. 

Er schlug ein Kreuz über dem Toten, öffnete dann ohne weitere Umstände die Knöpfe an seinem Wams, schlug das leinene Hemd zurück und betrachtete aufmerksam den Oberkörper. Jemand hatte den Bauch aufgestochen, damit er nicht anschwoll, aber Athelstan sah auch ein paar verräterische, mattrote Flecken. Der Ordensbruder lächelte befriedigt und bat Cranston mit einem Seufzer der Erleichterung, ihm zu helfen, den Deckel zu schließen.

Cranston deutete auf das Stück Pergament.

»Sollten wir das nicht abnehmen?«

Athelstan zuckte die Achseln. »Gott verzeih mir, Sir John, aber darin sehe ich wenig Sinn. Es ist ja die Wahrheit. Kapitän Roffel war ein Mann des Teufels. Es war ein Akt der Rache, seine Totenruhe zu stören und seine Kehle durchzuschneiden.« Sie hatten den Deckel geschlossen. »Aber ich sage Euch, er wurde ermordet. Sein Bauch zeigt die verräterischen Spuren des Giftes.«

Sie vergewisserten sich, daß die Kirche abgeschlossen war, und führten den noch immer zitternden Pater Stephen in sein Haus zurück. Athelstan schenkte ihm einen Becher Wein ein, sah, daß er versorgt war, und ging hinaus zu Cranston.   

»Mein verdammter Weinschlauch ist leer!« schimpfte der Coroner. »Mir ist gleich, was du sagst, Athelstan - ich jedenfalls brauche nach diesem Anblick dringend was zu trinken.«

Der Bruder hakte sich beim Coroner unter und führte ihn zurück in die inzwischen verlassene Cheapside; sorgfältig steuerte er ihn an Müllbergen vorbei zum »Heiligen Lamm Gottes«. Zwei Schluck Rotwein, und Cranston entspannte sich und strahlte in die Runde der übrigen Gäste.

Athelstan war ernster. Er packte das Handgelenk des fetten Coroners. »Wir wissen jetzt, daß Roffel ermordet wurde, aber von wem, wie und warum, das ist ein Geheimnis. Zudem müssen wir der Möglichkeit ins Auge sehen, daß den Ersten Maat und seine beiden Kameraden ein ähnliches Schicksal ereilt hat.«

»Glaubst du, Osprings Tod hängt auch damit zusammen?«

Athelstan schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Bei Ospring handelt es sich um ein Verbrechen aus Leidenschaft. Ein Mord, der ohne einen Augenblick des Nachdenkens begangen wurde. Dort liegt auch ein Geheimnis. Aber das Geheimnis, das wir aufzuklären haben, Sir John, ist die Frage, was auf dieser Reise geschehen ist - wie drei kerngesunde Seeleute nachts von ihrem Schiff verschwinden konnten, obwohl nach Auskunft des Admirals noch kurz vor Eintreffen des Matrosen und seines Mädchens Signale von der God’s Bright Light übermittelt wurden.«

»Du bist der Student der Logik«, murmelte Cranston. »Welche Möglichkeiten gibt es denn? Man hat uns gesagt, es wäre kein Boot gesehen worden, das zu den Schiffen fuhr.«

»Was ist mit Schwimmern?« fragte Athelstan.

Cranston schüttelte den Kopf. »Bruder, stell dir eine Gruppe von sechs bis zehn Mann vor. Sie erreichen das Schiff, klettern an Bord, ohne von der Wache bemerkt zu werden, und erledigen drei Mann, ohne daß Alarm gegeben wird. Sie hinterlassen keine Spur von Gewalt und verschwinden wieder. Aber wir haben keine Ahnung, warum sie gekommen sein sollten. Niemand hat sie gesehen, und es werden immer noch Lichtzeichen und Parole weitergegeben. Ich kann mir nur eine Möglichkeit denken: Die drei Matrosen sind über Bord gesprungen.« Cranston blähte die Wangen auf. »Aber da bleiben immer noch zwei Probleme. Niemand hat die drei verschwinden sehen, und die Signale wurden weiterhin gegeben. Wenn sie das Schiff verlassen haben, müssen sie es fast im selben Augenblick getan haben, als der Matrose und seine Dirne kamen, aber das wäre bemerkt worden.« Cranston schob seinen Becher von sich. »Ich bin müde, Bruder.«   

»Meint Ihr, wir sollten nach Hause gehen?«

»Nein.« Cranston raffte seinen Mantel zusammen. »Wir müssen noch einen weiteren Besuch machen: bei Roffels kleiner Hure oder Mätresse. Vielleicht kann sie ein wenig Licht ins zunehmende Dunkel bringen.«

Während Athelstan und Cranston im »Heiligen Lamm Gottes« saßen, bewegte sich ein von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleideter Mann leise durch den Korridor eines Hauses an der Ecke Lawrence Lane und Catte Street. Seine Bewegungen waren geschmeidig, und die Lumpen, die um seine Lederstiefel gewunden waren, machten seine Schritte unhörbar. Seine Faust umklammerte einen Ledersack, und durch die Augenlöcher seiner Maske spähte er aufmerksam zu den kostbaren Kerzenleuchtern hinüber, die er auf einem Tisch am Ende des Ganges sehen konnte. Silbernes Filigran glänzte im Dunkeln.

Der Dieb lächelte zufrieden. Wie immer hatte er alles sorgfältig geplant. Der alte Trottel Cranston würde nie herausfmden, wie es ihm gelang, in die verlassenen Herrschaftshäuser zu kommen, ohne eine Spur von gewaltsamem Eindringen zu hinterlassen. Er blieb vor dem Tisch stehen, nahm die Kerzenleuchter und steckte sie vorsichtig in seinen Ledersack. Verstohlen ging er weiter und kam an einer Tür vorbei, die sich in diesem Moment öffnete. Eine junge Magd mit schlaftrunkenen Augen kam heraus. Offenbar spürte sie, daß etwas nicht stimmte, denn sie fuhr herum und erblickte den Dieb im Schein der Kerze, die sie trug. Sie ließ die Kerze fallen und öffnete den Mund, um zu schreien, aber der Mann stürzte sich auf sie. Er drückte ihr die Hand auf den Mund und rammte ihr ein dünnes Stilett in die Brust. Die Augen des Mädchens weiteten sich vor Entsetzen und Schmerz. Sie sträubte sich, aber der Dieb preßte sie an die Wand. Er zog den Dolch heraus und stach noch einmal zu. Das Mädchen hustete. Er fühlte, wie ihr heißes Blut durch seinen Handschuh drang. Dann sank sie gegen ihn und sackte langsam zu Boden.

Sir John und Athelstan klopften an die Tür des Hauses in der Poultney Lane neben der Schenke »Zum Löwenherz«. Niemand antwortete, und so klopfte Cranston noch einmal. Diesmal hörten sie schnelle Schritte. Eine zarte, ziemlich hübsche Stimme fragte: »Wer ist da?«

»Sir John, Coroner der Stadt London, und Bruder Athelstan, sein Secretarius.«

Schlüssel drehten sich, Riegel wurden zurückgeschoben. Eine junge rothaarige Frau in einem maulbeerfarbenen Kleid stand im Türrahmen. Sie hielt ein Laternenhorn in die Höhe und streckte ihnen ein schmales, blasses Gesicht entgegen.

»Was wollt Ihr? Was kann ich für Euch tun?«

»Ihr kanntet Kapitän William Roffel?«

Die von schwarzer Schminke umringten Augen blinzelten. Athelstan war fasziniert von den rot bemalten Lippen, die sich grell von der bleichen Haut der Frau abhoben.

»Euer Name ist Bernicia?« fragte er. »Dürfen wir hereinkommen?«

Das Mädchen nickte und winkte sie herein. Durch einen gemauerten Gewölbegang kamen sie in eine behagliche kleine Stube. Sie hieß die beiden willkommen und schenkte ihnen zwei Becher Wein ein, während Cranston und Athelstan sich im Zimmer umschauten. Alles war hübsch und ordentlich; auf kleinen, blanken Tischen lagen Leinendecken, der Boden war mit osmanischen Teppichen bedeckt, und am Kamin blinkten Feuerzangen hell im Licht der Flammen. Die Luft war schwer von einem Moschusparfüm, vermischt mit dem Duft der Kerzen und der kleinen, geschlossenen Kohlenbecken, von denen eins in jeder Ecke des Zimmers stand.

»Ihr lebt recht behaglich, Miss Bernicia.«

Die junge Frau zuckte die Achseln und lächelte. Cranston musterte sie eingehend. Jede ihrer Bewegungen war elegant. Sie schwenkte die Hüften, während sie in ihren hochhackigen Pantoffeln umherging. Als sie sich hinsetzte und die Beine übereinanderschlug, zog sie ihr Kleid herunter, aber nicht so weit, daß sie damit die elfenbeinweißen Unterröcke und die scharlachrot und golden gewirkten Strümpfe verborgen hätte. Sie beugte sich vor.

»Was kann ich also für Euch tun, Ihr Herren?«

Cranston hörte, wie weich und voll ihre Stimme klang.

»Ihr wart…?« begann er zögernd.

»Ich war William Roffels Paramour.« Bernicia hob die Hand und kicherte leise hinter beringten Fingern. Ihre Nägel waren dunkelviolett bemalt.

»Ah ja.« Cranstons Unbehagen wuchs. »Und er hat Euch oft besucht?«

Sie spreizte die Hände und schaute sich im Raum um.

»Kapitän Roffel hat die Gunst, die ich ihm schenkte, großzügig erwidert.«

»Und habt Ihr ihn geliebt?« fragte Athelstan.

Wieder das gezierte Kichern und die schnelle Handbewegung.

»Aber Pater, seid nicht albern. Wie kann man jemanden wie Kapitän Roffel lieben? Einen Schurken von Kindsbeinen an! Er war großzügig, und ich war zu haben.« Sie schürzte die Lippen. »Ihr wißt, daß er ein ehemaliger Priester war?«

»Was?«

»Ja.« Sie lachte fröhlich. »Roffel war einmal Kurat in einer Gemeinde bei Edinburgh. Er geriet in irgendeine unangenehme Sache und mußte seine Pfarrei ziemlich überstürzt verlassen.«

»Was war das für eine Sache?«

»Das weiß ich nicht.«

»Und wo habt Ihr ihn kennengelernt?« wollte Cranston wissen.

»In einer Schenke.«

»In welcher?«

Sie hob die Schultern. »Ich kann mich nicht erinnern.«

»Habt Ihr je seine Gemahlin kennengelernt?«

»Oh je, dieses sauertöpfische Biest. Nein, niemals.«

»Habt Ihr Kapitän Roffel etwas gegeben, bevor er auf seine letzte Reise ging?«

»Einen schönen, dicken Kuß.«

»Und findet Ihr seinen Tod irgendwie verdächtig?«

»Nein. Der widerliche Schurke hatte immer schon einen schwachen Magen.« Bernicia zuckte die Achseln. »Jetzt ist er dahin« - sie flatterte mit den Wimpern - »und ich bin wieder zu haben.«

»Wißt Ihr etwas über seine letzte Reise?«

»Nein. Ich war an Bord, aber sie wollten mich nicht einmal in seine Kajüte lassen, und da bin ich wieder an Land gegangen.«

»Hatte Roffel Feinde?«

Bernicia schüttelte sich vor Lachen. »Ich glaube, Sir John, die Frage sollte lauten: ›Hatte er Freunde?‹ Feinde hatte er überall entlang der Themse. Roffel mag ein Kapitän des Königs gewesen sein, aber er war außerdem ein übler Pirat.« Bernicia senkte die Stimme. »Ihr habt doch sicher die Geschichten gehört? Roffel war es zuzutrauen, daß er jedes Schiff angriff. So manche einsame Seemannswitwe verflucht ihn des Nachts vor dem Einschlafen.«

»Wart Ihr an seinem Sarg in St. Mary Magdalene?« fragte Athelstan. Er hatte Cranstons Unbehagen bemerkt und musterte die Frau aufmerksam.

»Nein, das habe ich nicht getan, und ich habe es auch nicht vor.«

Vielleicht war es die Art, wie sie es sagte und dabei den Kopf zur Seite drehte. Vielleicht hatte Cranston im Feuerschein auf ihrer Oberlippe ein Haar schimmern sehen, das von der weißen Schminke nicht ganz verdeckt wurde. Jedenfalls beugte sich der Coroner plötzlich vor und packte sie beim Knie.

»Na, du bist aber hübsch!« knurrte er. »Wie heißt du denn wirklich, Bernicia?«

Sie versuchte, sich loszureißen. Sir Johns Hand wanderte weiter an ihrem Oberschenkel hinauf. Athelstans warnenden Blick beachtete er nicht.

»Ich habe von deinesgleichen schon gehört«, sagte er. »Ich frage mich nur, was ich wohl finden werde, wenn ich meine Hand weiter hinauf zu deinem süßen Geheimnis bewege?«

Er legte die Hand auf ihre ziemlich flache Brust, und seine Finger drückten auf den Musselin. »Bernicia, die Hure«, sagte er. »Du bist keine Frau. Du bist ein Mann!«

Athelstans Unterkiefer klappte herunter. Er glotzte erst Bernicia, dann Sir John an. Bernicia sträubte sich immer noch gegen Sir Johns Griff.

»Die Wahrheit«, verlangte der Coroner. »Sonst lasse ich die Büttel rufen und dich ausziehen. Dann kannst du nicht mehr verbergen, was Gott dir geschenkt hat.« Er beugte sich weiter vor und berührte Bernicias Haar. »Ich weiß, wo du Roffel kennengelernt hast«, fuhr er fort. »In der Schenke »Zur Meerjungfrau‹, unten bei St. Paul’s Wharf. Wie heißt du wirklich? Komm schon, wie heißt du?«   

»Mein Name ist Rogeratte-Southgate.«

Athelstan bekam den Mund nicht mehr zu.

»Ich habe früher als Kajütenjunge bei Roffel gedient. Ich war und bin eine Frau in einem Männerkörper.« Bernicia schaute ins Feuer. »Ich habe die Huren immer beneidet - wie sie sich bewegten, die Kleider, die sie tragen konnten, die Erregung, die sie bei den Matrosen hervorriefen. Und dann, eines Nachts, stellte ich fest, daß es noch andere wie mich gab.«

»Wenn die Sheriffs dir auf die Spur kommen«, warnte Cranston, »dann werden sie dich wegen Sodomie in Smithfield verbrennen! Ist es nicht so, Pater?«

Athelstan war sprachlos. Er schaute Bernicia genauer an und sah den Ausdruck von Verlorenheit und Niedergeschlagenheit in ihrem Blick. Athelstan blinzelte. Er betrachtete sie immer noch als Frau, ganz gleich, was Sir John oder sie selbst sagen mochte. Eine Woge des Mitgefühls durchströmte ihn. In seiner Zeit als Novize und in den Feldlagern in Frankreich war er Männern begegnet, denen es gefiel, sich als Frauen benutzen zu lassen, aber nie hatte er einen getroffen, der sich verkleidete und die Rolle so überzeugend spielte. 

»Dein Geheimnis ist bei uns sicher«, sagte er sanft. »Sir John und ich sind nicht gekomen, um dir Schmerzen zuzufügen, auch wenn du in eine schwerwiegende Sünde verwickelt bist.«

»Tatsächlich, Pater? Mit einem Mann wie Roffel? Die Sorte kenne ich, soweit ich mich zurückerinnern kann. Es macht ihnen Spaß, mich wie eine Frau zu benutzen; warum wirft man mir vor, was andere aus mir gemacht haben? Oh ja, und Priester waren auch darunter. Solch sonderbare Bettvergnügen gefielen ihnen sehr.«

Athelstan hob die Hand. »Ich bin weder dein Richter noch dein Beichtvater.«

»Das hätte auch wenig Sinn«, sagte Bernicia. »Ich brauche sie beide nicht. Einen Gott gibt es nicht, und wenn doch, so hat er uns vergessen.« Bernicia verlagerte ihr Gewicht auf dem Stuhl. »Roffel brachte mir immer kostbare Geschenke - Finger mit Ringen daran, und einmal auch ein Ohr mit einem kleinen Goldreifen. Er saß dann da, wo Ihr jetzt sitzt, Pater, und prahlte mit seinen Taten. Wie er seine Mannschaft betrogen hatte, seinen Geschäftspartner Ospring, sogar seine langweilige Frau.«   

»Warst du gestern abend noch einmal auf dem Schiff?« fragte Cranston unvermittelt.   

Bernicia wandte den Blick ab.

»Lüg jetzt nicht! Warst du noch einmal da?«

»Ja. Na ja, zumindest am Kai. Ich wollte nachsehen, ob Roffel Wertsachen zurückgelassen hatte. Er hatte stets eine volle Geldbörse und einen kleinen Koffer mit Flitterkram. Ich dachte, der Erste Maat würde mich vielleicht noch einmal an Bord lassen.«

»Und warum bist du nur bis zum Kai gekommen?« fragte Cranston.

»Weil kein Boot da war, das mich zum Schiff übersetzen konnte. Ich habe allerdings hinübergerufen.«

»Und?«

»Einer von der Wache muß mich gehört haben, denn der Erste Maat kam.«

»Um welche Zeit war das?« fragte Athelstan.

»Oh, das war gegen Mitternacht. Ich dachte, da sei es ungefährlich. Der Kai ist um diese Zeit meistens menschenleer - alle Nachtschwärmer sind nach Hause gegangen oder zu betrunken, um sich noch um mich zu kümmern.«

»Und was geschah?«

»Der Maat kam an die Reling. Er war betrunken, schwenkte nur seinen Becher und schrie: ›Verpiß dich!‹«

»Seltsam«, meinte Cranston nachdenklich. »Das nächste Schiff war das des Admirals, die Holy Trinity, und er hat uns nichts von irgendeiner Störung erzählt.«

»Ich berichte nur, was ich gesehen habe.« Bernicia zog ein Gesicht. »Aber etwas war schon merkwürdig.«

»Was denn?« fragte Athelstan.

»Na ja, ich stand am Kai; es war einsam, kalt und windig. Mir wurde klar, wie töricht es gewesen war, dort auch nur hinzugehen. Als ich mich nun abwandte, sah ich - da gibt es keinen Zweifel - eine Gestalt im Torbogen eines der Lagerhäuser stehen. Sie hatte sich bewegt.«

»Da bist du sicher?«

»Oh ja. Man hörte die üblichen nächtlichen Geräusche am Kai - das Geraschel der Ratten, das Plätschern des Wassers …, aber ich hörte ein Scharren, als habe jemand ein Schwert gezogen oder trage sonst etwas Metallenes bei sich. Und ich bin sicher, wer immer sich da versteckte, wollte das Schiff beobachten. Ich rief, aber niemand antwortete, und so lief ich hastig weg.«

»Und das ist alles, was du gesehen und gehört hast?«

»Ja, ja, das ist alles.«

»Hast du jemals jemanden von Roffels Mannschaft kennengelernt?

»Oh, ich kannte sie nur aus der Distanz. Wenn sie den Kapitän an Land begleiteten, hielt Rolfel mich meist von ihnen fern.«

»Und Sir Henry Ospring?«

»Nein. Aber Roffel bekam Briefe von Ospring, in denen dieser ihn beschuldigte, einen Teil des Gewinns zu unterschlagen.«

»Und Osprings Knappe, ein Mann namens Ashby?«

Bernicia schüttelte den Kopf.

Cranston sah Athelstan an und verdrehte die Augen. Er nahm einen Schluck Wein, aber der schmeckte ihm bitter. Er verzog den Mund und stand auf.

»Du weißt also überhaupt nichts?«

»Nein, ich weiß nichts, Sir John«, flehte Bernicia, »Ihr werdet mein Geheimnis doch bewahren?«

Der Coroner nickte.

»Ich habe noch eine letzte Frage.« Athelstan nahm die Tasche mit dem Schreibzeug und barg sie an seiner Brust. »Heute abend waren wir in der Kirche von St. Mary Magdalene. Jemand war dort eingebrochen, hatte Roffels Leichnam aus dem Sarg gerissen, ihm die Kehle durchgeschnitten und ihn in den Apsisstuhl gesetzt. An seiner Brust steckte ein Stück Pergament mit dem Wort MÖRDER, geschrieben mit seinem eigenen Blut. Wer hat den Kapitän so gehaßt, daß er so etwas tun würde?«

Bernicia verzog verächtlich das Gesicht. »Sir Henry Ospring mit Sicherheit.«

»Der ist tot. Ebenfalls ermordet.«

Bernicia lächelte. »Roffel wird sich freuen, daß er in der Hölle Gesellschaft hat.«

»Wer noch?« Cranston blieb hartnäckig. »Von wem hat Roffel wütend oder erbost gesprochen?«

»Ihr solltet noch einmal zur Flotte gehen, Sir John. Fragt den Admiral, Sir Jacob Crawley. Roffel hat immer gesagt, er hasse ihn.«

»Wieso sollte Roffel denn Crawley hassen?«

»Nein, anders herum. Crawley konnte unseren guten Kapitän nicht ausstehen. Ich glaube, es gab böses Blut zwischen ihnen. Roffel sagte einmal, Crawley habe ihn bezichtigt, ein Schiff versenkt zu haben, wobei ein Verwandter Crawleys zu Tode gekommen sei. Roffel meinte, er würde niemals mit einem Admiral essen oder trinken und ihm auch nie den Rücken zuwenden.«

»Wenn das so ist, Mistress…« Cranston grinste säuerlich. »Jawohl, ich werde dich so nennen. Wenn das so ist, sagen wir Gute Nacht.«

Als sie vor dem Haus standen, brach Cranston in ein brüllendes Gelächter aus, das wie eine große Glocke durch die enge Gasse hallte. Gegenüber öffnete jemand ein Fenster und verlangte laut nach Ruhe. Cranston bat um Entschuldigung, raffte den Mantel um sich und führte Athelstan zurück zur Cheapside.

»So, so, so«, murmelte er. »Da hätten wir noch ein Geheimnis. Ein Mann, der sich wie eine Frau kleidet, behauptet, die Hure des toten Kapitäns gewesen zu sein.« Er gähnte, streckte sich und schaute zum Nachthimmel hinauf. »Morgen machen wir weiter«, sagte er. »Man spricht ja von den Rätseln der Meere. Aber ich sage dir, Bruder, was gestern nacht auf der God’s Bright Light geschehen ist, das ist ein Rätsel, das mit jeder Stunde unergründlicher wird.« Er klopfte dem Ordensbruder auf den Rücken. »Nun komm, Bruder, ich begleite dich noch bis zur London Bridge und erzähle dir eine sehr komische Geschichte über den Bischof, den Pfarrer und jemanden wie unsere junge Bernicia.«