SNAP
Im Haus des Bösen
Drei Personen saßen in der großen, schwach beleuchteten Bibliothek in der Villa, die einsam und verlassen am Riverside Drive 891 in New York City stand. Zwei von ihnen saßen in Sesseln vor einem prasselnden Kaminfeuer. Die eine war Special Agent A. X. L. Pendergast, der lustlos in einem Katalog mit Futures auf Bordeaux-Weine blätterte. Ihm gegenüber hatte sein Mündel Constance Platz genommen, vertieft in eine Abhandlung mit dem Titel Trepanation im Mittelalter: Werkzeuge und Techniken.
Die dritte im Raum anwesende Person ging in gereizter Stimmung auf und ab. Der merkwürdige, komisch wirkende Mann war von kleiner Statur und trug einen Frack mit Schwalbenschwanz, dazu allerlei seltsame Amulette und Reliquien an silbernen Halskettchen, die bei jeder Bewegung klirrten und klimperten. Beim Gehen stützte er sich auf einen knüppelähnlichen Gehstock, dessen Griff zu einem grinsenden Totenschädel geschnitzt war. Hin und wieder war zu hören, wie sein leerer Magen rumorte. Dies war Monsieur Bertin, Pendergasts alter Lehrer, der ihn in der Kindheit in Naturgeschichte, Zoologie sowie in unkonventionelleren Fächern unterrichtet hatte. Er weilte in New York zu Besuch bei seinem früheren Zögling.
»Das ist ja ungeheuerlich!«, rief er quer durch die Bibliothek. »Fou, très fou! Also in New Orleans hätte ich das Abendessen bereits vor Stunden beendet. Aber schauen Sie – es ist praktisch Mitternacht!«
»Es ist noch nicht einmal halb neun, maître«, sagte Pendergast mit leisem Lächeln.
Eine Gestalt erschien im Durchgang zur Bibliothek. Pendergast blickte hinüber. »Ja, Mrs. Trask?«
»Es geht um Cook«, antwortete die Haushälterin. »Sie hat mich gebeten, Ihnen auszurichten, dass das Abendessen sich um eine halbe Stunde verzögert.«
Bertin machte ein angewidertes Geräusch.
»Leider hat sie die Pasta zu lange gekocht«, fuhr Mrs. Trask fort, »und muss einen neuen Teig herstellen.«
»Richten Sie ihr aus, sich deswegen keine Gedanken zu machen«, erwiderte Pendergast. »Wir sind nicht in Eile.«
Mrs. Trask nickte, drehte sich um und entschwand.
»Nicht in Eile!«, rief Bertin. »Das ist Ihre persönliche Meinung. Und wer denkt an mich? Ich bin zu Gast in Ihrem Haus – und hungrig wie ein Gefangener in der Bastille. Nach heute Abend wird meine Verdauung nicht mehr die gleiche sein.«
»Glauben Sie mir, maître, es lohnt sich zu warten. Tagliatelle al tartufo bianco ist ein sehr einfaches Gericht und dennoch von großem Raffinement.« Pendergast hielt inne, als schmeckte er in Gedanken bereits die bevorstehende Mahlzeit. »Zubereitet wird es aus den besten frischen weißen Trüffeln, dünn geschnitten, Butter und Tagliatelle-Nudeln. Cook verwendet dafür natürlich Trüffel aus Alba im Piemont. Es sind die besten der Welt – nach Gewicht berechnet sind sie beinahe so teuer wie Gold.«
»Pah!«, sagte Bertin. »Diese Vorliebe von euch Yankees für halbgare Pasta wird mir ewig ein Rätsel bleiben.«
Jetzt meldete sich Constance erstmals zu Wort. »Das ist keine Vorliebe nur von ›Yankees‹. Auch die Italiener essen ihre Pasta am liebsten fest: al dente – mit Biss.«
Die Erklärung schien Bertin nur zu erzürnen. »Nun, ich mag meine Spaghetti weich, genauso wie meinen Reis und meine Maisgrütze. Aber das macht mich wohl zu einem Philister, oui? Al dente – bäh! Fragen Sie Ihren Vormund doch einmal nach den dents. Also das wäre eine gute Geschichte, um sich die Zeit zu vertrieben, während man vor Hunger halb umkommt.«
Und damit zog er beleidigt ab. Sein Gehstock klapperte auf dem Boden des angrenzenden Empfangszimmers, bis das Geräusch allmählich verklang.
Einen Moment lang war es still in der Bibliothek. Constance sah hinüber zu Pendergast. Sein Blick ruhte auf dem Durchgang, durch den Bertin soeben das Zimmer verlassen hatte, dann wandte er sich zu Constance um. »Bertin ist durchaus ein Schlemmer. Beachte ihn nicht, sind wir erst einmal beim Hauptgang angekommen, wird seine gute Laune schon zurückkehren.«
»Was hat er eigentlich damit gemeint – mit dieser Geschichte über ›dents‹?«, fragte Constance.
Pendergast zögerte. »Es wird dich nicht interessieren, sie zu hören. Da bin ich sicher. Es ist keine schöne Geschichte. Außerdem … handelt sie von meinem Bruder.«
Ein kurzer, undurchdringlicher Ausdruck zog über Constances Gesicht. »Das weckt mein Interesse nur noch mehr.«
Eine Zeitlang sagte Pendergast kein Wort. Sein Blick ging in weite Ferne. Constance wartete geduldig. Schließlich seufzte Pendergast und begann zu erzählen.
»Du kennst doch die Kinderfabel von der Zahnfee?«
»Selbstverständlich. Als ich klein war, haben meine Eltern mir im Austausch für einen ausgefallenen Milchzahn einen Penny unter das Kopfkissen gelegt – das heißt, wenn sie einmal Geld hatten.«
»Also gut. Im Französischen Viertel in New Orleans, wo ich einen großen Teil meiner Kindheit verbracht habe, kannten wir diese sonderbare Legende auch. Nur haben wir uns eine zusätzliche oder vielmehr Parallel-Legende erzählt, die damit verbunden war.«
»Wieso parallel?«
»Einige der kleinen Kinder in unserer Nachbarschaft glaubten an das übliche Märchen, wie du es gerade eben beschrieben hast. Aber die Mehrheit glaubte etwas ganz anderes – nämlich dass die Zahnfee keinesfalls ein Fabelwesen sei, das nachts in die Häuser komme. Nein, die Zahnfee des Französischen Viertels lebte ganz in der Nähe und sie war niemand anders als ein Mann, den wir alle den alten Dufour nannten.«
»Dufour … ein französischer Name: ›vom Ofen‹. Die Entsprechung im Englischen wäre wohl ›Baker‹.«
»Sein vollständiger Name lautete Maurus Dufour. Er war ein uralter Einsiedler schwer bestimmbaren Alters, der in einer heruntergekommenen Villa ein paar Häuserblocks entfernt wohnte, in der Montegut Street. Er war wohl in fünfzig Jahren kein einziges Mal aus dem Haus gegangen. Ich habe keine Ahnung, wie es ihm gelungen ist, sich zu ernähren. Als Kinder haben wir nachts manchmal seinen gebeugten Schatten gesehen, wie er sich hinter den schwach beleuchteten Fenstern seines Domizils bewegte. Natürlich haben sich die Kinder aus der Nachbarschaft allerlei wilde Schauermärchen über ihn erzählt – dass er ein Axtmörder sei, Menschenfleisch esse, kleine Tiere quäle. Manchmal sind die älteren Rabauken nachts zu dem Haus gegangen und haben ein, zwei Steine in seine Fenster geworfen, bevor sie wegrannten – aber weiter war es sogar mit ihrer Courage nicht her. Niemand hätte jemals den Mut aufgebracht, beim alten Dufour zu klingeln.« Pendergast machte eine Pause. »Es handelte sich um eine der alten, im kreolischen Stil erbauten Villen, jedoch mit einem Mansardendach und Erkerfenstern. Ein fürchterlicher Kasten, die meisten Fenster waren zerbrochen, die Dachschindeln locker, die Veranda stand kurz davor abzufallen, der Vordergarten war mit absterbenden Palmettopalmen überwuchert.«
Constance beugte sich vor. In ihr Gesicht trat ein Ausdruck wachsenden Interesses.
»Wie diese besondere Zahnfee-Legende in die Welt gekommen ist, wusste kein Mensch. Ich kann dir nur sagen, dass es sie so lange gab, wie wir Kinder uns erinnern konnten. Und weil Dufour ein Einsiedler und auch ein Kinderschreck war, konnte ihn niemand fragen, was er womöglich über den Ursprung der Legende wusste – oder von einem solch absurden Märchen hielt. Du weißt ja, wie es ist, Constance: Diese Geschichten entstehen manchmal ganz plötzlich unter Kindern und entwickeln ein Art Eigenleben, werden von einer Generation zur nächsten weitergereicht. Was insbesondere auf einen Ort wie das Französische Viertel zutrifft, das – obwohl es mitten in einer Großstadt liegt – extrem isoliert und provinziell war. In den alten Familien wurde immer noch Französisch gesprochen, und viele Einwohner verstanden sich nicht einmal als Amerikaner. In vielerlei Hinsicht war das Viertel von der Außenwelt abgeschnitten, so dass der kreolische Aberglaube sowie andere seltsame Weltanschauungen – von denen viele sehr alt waren – gedeihen, sich ausbreiten und schwären konnten.« Pendergast deutete zum leeren Durchgang in die Bibliothek. »Nimm zum Beispiel unseren ausgehungerten Freund. Er ist das perfekte Produkt dieser Isolation. Hast du die seltsamen Dinge gesehen, die er am Hals trägt? Das sind keine exzentrischen Schmuckstücke, sondern Amulette, Glücksbringer und Zaubermittel. Sie sollen das Böse fernhalten, Geld anlocken und vor allem dabei helfen, jenseits der Lebensmitte nicht die sexuelle Potenz zu verlieren.«
Constance verzog leicht angewidert das Gesicht.
»Bertin glaubt an und praktiziert Obeah, Rootwork und Voodoo.«
»Wie absonderlich.«
»Nicht für ihn, wenn man bedenkt, in was für einer Umgebung er aufgewachsen ist. Er wurde genauso geachtet wie sonst ein Arzt in einer anderen Gemeinde.«
»Erzähl weiter.«
»Wie gesagt, die meisten kleinen Kinder haben den alten Dufour für die Zahnfee gehalten. Und so hat sich das Ganze abgespielt: Hatte man einen Zahl verloren, musste man bis zum nächsten Vollmond warten. Dann, unmittelbar vor der Zubettgehzeit, schlich man hinüber zur Dufour-Villa und hinterlegte den Zahn an einem speziellen Ort auf der Vorderveranda.«
»Was für ein Ort?«, fragte Constance.
»Es handelte sich um einen hochgestellten Holzkasten oder eine Art Gestell, kunstvoll geschnitzt, mit einer Öffnung obendrin, wobei in dem Kasten ein kleines Kupfergefäß befestigt worden war. Ich würde meinen, dass er ursprünglich als eine Art großer Aschenbecher diente, vielleicht auch als Spucknapf oder Speischale. Er stand am Rand der Veranda, direkt neben den durchgesackten Vorderstufen. Man schlich ganz leise zur Veranda hinauf, ließ den Zahn da hineinfallen und lief dann so schnell wie möglich wieder weg.«
»Und die Belohnung?«, fragte Constance. »Was hat man denn für den Zahn bekommen?«
»Nichts. Keine Belohnung.«
»Aber warum haben die Kinder das getan? Wäre es nicht besser gewesen, den Zahn unters Kopfkissen zu legen, um ein bisschen Geld dafür zu bekommen?«
»O nein. Weißt du, man musste ihn dem alten Dufour geben. Denn«, und hier senkte Pendergast die Stimme ein wenig, »wenn du der Fee deinen Zahn nicht geschenkt hast, dann ist er mitten in der Nacht zu dir nach Hause gekommen und … hat ihn sich geholt.«
»Was geholt?«
»Seinen Anteil.«
Constance lachte kurz auf. »Was für eine gruselige Geschichte! War sich Monsieur Dufour eigentlich bewusst, was da vor sich ging?«
»Er war sich dessen voll und ganz bewusst. Wie du gleich hören wirst.«
»Die Kinder haben also im Grunde den bösen Dufour abgewehrt, indem sie ihm ihre Zähne daließen?«
»Genau. Zu wissen, dass einem die Zahnfee nicht mitten in der Nacht einen furchterregenden Besuch abstattet, übertraf bei weitem den Wert eines Zehn- oder Fünfundzwanzigcentstücks oder was immer sonst man vielleicht bekam, wenn man einen Zahn unter das Kopfkissen gelegt hatte.« Pendergast hielt erneut inne, erinnerte sich. »Zu jener Zeit, in der meine Geschichte spielt, war ich gerade neun geworden. Natürlich habe ich die Fabel von der Zahnfee – Dufour hin oder her – für blanken Unsinn gehalten. Diejenigen, die daran glaubten, betrachtete ich mit Geringschätzung, ja Verachtung. Es war Ende August, die letzten Tage eines langen, heißen Sommers. Meine Mutter war an Malaria erkrankt und lag im Krankenhaus; mein Vater war fort, geschäftlich unterwegs in Charleston. Ein entfernter Verwandter, ein Nachfahre von Erasmus Pendergast, hatte sich bei uns in der Dauphine Street einquartiert und kümmerte sich um uns. Sein Name war Everett Judgement Pendergast – Onkel Everett. Er war ein Brandy-und-Soda-Mann, der sich an seine Bücher hielt und uns weitgehend uns selbst überließ. Wie du dir vorstellen kannst, hat uns das sehr gefallen.«
Pendergast veränderte seine Sitzhaltung und schlug die Beine übereinander. »Mein Bruder Diogenes war gerade sechs geworden. Das war, bevor verschiedene – wie soll ich sagen? – anomale Interessen von ihm Besitz ergriffen. Er war noch ein formbares Kind und, vielleicht zu seinem Unglück, extrem frühreif. Irgendwie hatte er den verschlossenen Bibliotheksschrank unseres Urgroßvaters aufbekommen und jede Menge alter Bücher gelesen, die er besser nicht gelesen hätte – Bände über Dämonologie, Hexenkunst, die Inquisition, abwegige Bräuche aller erdenklichen Art, Alchemie. Bücher, von denen ich glaube, dass sie sich später im Leben nachteilig auf ihn ausgewirkt haben. Auch hatte er die Gewohnheit, die Gespräche zwischen den Hausbediensteten zu belauschen. Schon mit sechs Jahren war er ein verschlossener, durchtriebener kleiner Junge.
In der fraglichen Nacht – es war der fünfundzwanzigste August – habe ich gesehen, wie Diogenes auf verdächtige Weise am Hinterausgang herumschlich und dabei etwas in der Hand hielt. Ich fragte ihn, was er da tue. Da er sich weigerte, es mir zu verraten, habe ich seine Hand ergriffen und versucht, seine Faust zu öffnen. Wir rauften. Er war erst sechs und unterlag. In seiner Hand lag ein schmuddeliger Milchzahn, mit getrocknetem Blut daran, offenbar erst vor kurzem abgestoßen. Ich habe die Geschichte aus Diogenes herausgepresst. Der Zahn war ihm zwei Tage zuvor ausgefallen, und er hatte bis zum Vollmond gewartet. In dieser Nacht wollte er mit dem Zahn zur Montegut Street schleichen und ihn in den Kupfertopf auf der Veranda des alten Dufour legen. Er hatte große Angst, dass, wenn er’s nicht täte, Dufour ihn in der Nacht abholen würde. Denn der Alte musste ja seinen Anteil bekommen.«
Pendergast hielt inne. Inzwischen stand ein ernster, ja schmerzlicher Ausdruck in seinem Gesicht.
»Ich war Diogenes ein schrecklicher älterer Bruder. Ich habe ihn wegen seiner Angst verhöhnt. Habe sie verachtet. Wenn man schon an die Zahnfee glaubte, dann sollte man, fand ich, wenigstens an die traditionelle Legende glauben, nicht an irgendeine lächerliche Geschichte, die sich Hausangestellte hinter vorgehaltener Hand über einen jämmerlichen Alten in der Nachbarschaft zuflüsterten. Es ärgerte mich, dass mein eigener Bruder, ein Pendergast, einer derart schwachsinnigen Vorstellung zum Opfer gefallen war. Ich wollte das einfach nicht zulassen.
Also habe ich mit ihm gestritten. Ich habe ihm gesagt, dass er den Zahn nicht zu Dufours Haus bringen dürfe, sondern tun solle, was normale Kinder in seinem Alter täten, und den Zahn unter sein Kopfkissen legen. Notfalls würde ich ihn dazu zwingen. Ich habe die Legende verunglimpft, sie verspottet und gesagt, dass jemand, der mein Bruder sein will, auf so einen Humbug nicht hereinfallen dürfe. Aber Diogenes war starrköpfig, und während ich meine hitzigen Einwände vorbrachte, entwand er mir den Zahn. Wieder rauften wir darum, aber diesmal riss er sich von mir los und rannte zum Hintereingang hinaus … und hinein in die dunkle Nacht.
Ich lief hinter ihm her, konnte ihn jedoch nicht finden – schon damals besaß er erstaunliches Geschick im Verstecken. Ich streifte durch die Nachbarschaft und wurde dabei immer wütender. Schließlich, als ich ihn nicht ausfindig machen konnte, tat ich das Nächstbeste: Ich bin zur Montegut Street gegangen, zur Dufour-Villa, habe mich zwischen den wuchernden, halb abgestorbenen Palmettopalmen versteckt, die im verlassenen Vordergarten vor der Veranda wuchsen, und auf das Eintreffen meines Bruders gewartet.
Es war, wie ich mich erinnere, eine stürmische Nacht. Während ich wartete, frischte der Wind auf, in der Ferne war leises Donnergrollen zu hören. Im Haus, hoch oben im Erkerfenster, brannte eine einzelne trübe Lampe, die kaum Licht spendete. Etliche der Straßenlaternen in der Nähe waren kaputt. Der Vollmond stand auf der anderen Seite der Villa, so dass die Veranda im Dunkeln lag. Ausgeschlossen, dass Diogenes mich entdeckte. Und so wartete ich dort. Es schien, als wartete auch das alte Dufour-Haus. Obgleich ich den törichten Aberglauben meines Bruders verachtete, wurde mir, während die Minuten verstrichen, doch ausgesprochen unbehaglich zumute, als ich mich dort im Schatten dieses verfallenen alten Kastens versteckte. Ich spürte etwas, eine Präsenz, die sich wie ein Gifthauch um die Villa zusammenzog. Zudem war die schwüle Wärme in dem Dickicht absterbender Palmettopalmen unerträglich, und das Haus schien einen Geruch zu verströmen, einen widerwärtigen Gestank, der mich an die tote Katze erinnerte, die ich einige Monate zuvor in einem dunklen Winkel unseres Gartens gefunden hatte.
Um half elf tauchte Diogenes endlich auf. Leise schlich er aus den Schatten auf der anderen Seite des Hauses, um seinen Zahn zu hinterlegen. Verstohlen schaute er in beide Richtungen. Ich sah sein blasses, ängstliches Gesicht in der Dunkelheit. Dann richtete er den Blick auf die Gruppe Palmen, in denen ich mich versteckt hielt. Eine Sekunde lang fürchtete ich, entdeckt worden zu sein. Aber nein, Diogenes schlich sich an die alte Villa heran, blickte sich erneut um, und dann stahl er sich unendlich vorsichtig die Stufen hinauf und ließ den Zahn in die dort stehende alte Speischale fallen. Ich hörte das leise Klimpern, als der Zahn in der kleinen Kupferschale umherrollte. Dann drehte sich Diogenes um, schlich die Stufen hinunter und ging die Straße entlang, wobei seine kleinen Schritte kaum zu hören waren. Fast augenblicklich war es wieder still. Noch heute, wenn ich zurückblicke, wundere ich mich, dass ein so junger Mensch in der Lage war, sich dermaßen verstohlen zu bewegen. Im späteren Leben hat Diogenes dieses Talent dann ins Unermessliche gesteigert.
Ich wartete zehn Minuten, dann fünfzehn. Ich hatte Angst, die Verandatreppe hochzugehen. Und ich machte mir Sorgen, Diogenes, der ein von Natur aus misstrauisches Wesen hatte, könnte zurückgekommen sein und sich in der Nähe versteckt halten, um nachzuschauen, ob ich mich hier aufhielt. Aber alles war grabesstill. Schließlich nahm ich meinen ganzen Mut zusammen, verließ mein Versteck und schlich zwischen den Palmettopalmen auf die Verandastufen zu. Das trockene Rascheln und dieser zunehmende Geruch nach Fäulnis und Verwesung sind mir noch gut in Erinnerung. Ich bin die Stufen förmlich hochgeglitten. Dort stand das hölzerne Gestell, früher reich verziert, jetzt aber furchtbar marode, die Farbe weitgehend verblasst, das Holz verwittert und gesplittert. Mit angehaltenem Atem steckte ich meine Hand in den Topf, tastete auf dem Boden nach dem Zahn, ergriff ihn und holte ihn heraus. Ich wunderte mich, dass nur dieser eine Zahn in dem Gefäß lag. Und während ich in dem trüben Licht auf den Zahn starrte – auf meiner Handfläche lag ein kleiner mittlerer Schneidezahn, weiß, mit einer karmesinroten Schliere an der Wurzel –, sah ich, dass es sich tatsächlich um den von Diogenes handelte. Ich erschrak bei dem Gedanken, dass sich Dufour womöglich wirklich seines ›Status‹ bewusst war und die hinterlegten Zähne regelmäßig eingesammelt hatte. Aber dann tat ich das als Hirngespinst ab. Offenbar hatte das Hausmädchen oder jemand anders im Haus den Topf vor kurzem gereinigt; das war die naheliegende Erklärung. Einen Moment lang blickte ich zu der alten Villa hoch. Alles war still. Bis auf den warmen Lichtschein in einem der oberen Fenster waren keine Anzeichen von Leben zu erkennen. Ich rannte den Gehweg hinunter auf die Montegut Street, blieb an der Ecke zur Burgundy stehen und dachte nach.«
Pendergast zögerte, ein neuer Ausdruck – Entsetzen? Selbstvorwürfe? – huschte über sein Gesicht.
»Wie gesagt, ich hatte die Absicht, Diogenes den Zahn unters Kopfkissen zu legen, während er schlief, und anschließend meinen Onkel zu bitten, ihn durch ein Geldstück zu ersetzen. Aber ich war immer noch wütend auf meinen Bruder. Und ich hatte Angst, Diogenes könnte aufwachen, wenn ich ihm den Zahn unters Kopfkissen schob, oder auf andere Weise von meinem Täuschungsmanöver erfahren. In dem Fall hätte er den Zahn vermutlich unter dem Kopfkissen hervorgeholt und zur Veranda des alten Dufour zurückgebracht, was meinen Plan, ihm eine Lektion zu erteilen, vereitelt hätte. Plötzlich wallte wieder ein Gefühl von Verärgerung in mir auf. Warum glaubte mein Bruder nur so einen Unsinn? Und wieso verschwendete ich meine Zeit damit und hockte stundenlang in der Dunkelheit? Ich würde ihm zeigen, wie töricht er gewesen war. Und so warf ich in einem kindlichen Anfall von Trotz den Zahn in einen Gully an der Ecke Montegut und Burgundy.
Da bemerkte ich aus dem Augenwinkel in dem kaputten Erkerfenster oben in der Villa einen flackernden Lichtschein. Als hätte sich das Licht einer Sturmlampe kurz in der kaputten Fensterscheibe gebrochen. Außerdem sah ich – oder glaubte zu sehen – eine Bewegung, einen Schatten, der sich unvermittelt rührte und davonhuschte. Aber als ich genauer hinschaute, konnte ich nichts Weiteres erkennen. keinen Schatten, keine Bewegung, nur denselben trüben Lichtschein. Ich hatte mir alles nur eingebildet. Niemand hatte mich gesehen, weder, als ich den Zahn entwendet, noch als ich ihn weggeworfen hatte. Meine Phantasie war mit mir durchgegangen.
Ich ging nach Hause, so schnell ich konnte. Als ich dort ankam, lag Diogenes wach und wartete auf mich. Er sah mich an, sein junges Gesicht wirkte faltig vor Skepsis und Misstrauen. Triumphierend erzählte ich ihm, was ich getan hatte und warum. Noch einmal schalt ich ihn wegen seines lächerlichen und kindischen Aberglaubens. Ich sagte ihm, ich hoffe, die Sache werde ihm eine Lehre sein.
Ich habe mich ganz schrecklich benommen und schäme mich noch heute bei dem Gedanken daran. Die tragische Entwicklung, die Diogenes genommen hat, muss ich zum Teil auf meine Schultern nehmen.«
Pendergast schwieg einen langen Augenblick, dann fuhr er fort: »Diogenes bekam einen Anfall, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. ›Der alte Dufour wird kommen!‹, rief er in panischer Angst, während ihm Tränen in die Augen schossen. ›Du hast seinen Zahn gestohlen, und jetzt wird er kommen – um mich zu holen!‹
Zwar war ich bestürzt, hielt aber die Attitüde des überlegenen, älteren und klügeren Bruders aufrecht. Dufour werde ganz bestimmt nicht kommen, erwiderte ich. Er habe keine Ahnung, dass man ihn für die Zahnfee halte, und habe weder ihn noch mich gesehen. Außerdem sei er sich nicht mal bewusst, dass ihm jemand einen Zahn dagelassen habe. Aber Diogenes glaubte mir kein Wort; er bestand darauf, dass sich in Dufours Leben alles um Zähne drehe, dass er jede Nacht auf diese warte, er sie horte und mit Sicherheit alles mitbekommen habe, was er, Diogenes, und ich in dieser Nacht angestellt hatten.
Sein ungewöhnlich heftiger Gefühlsausbruch – der so ungewöhnlich für ihn war – schockierte mich. Und da ist mir klargeworden, dass ich etwas Unrechtes getan hatte – etwas sehr Unrechtes. Ich habe mich schuldig gefühlt und geschämt. Mir ging auf, dass ich mich grausam verhalten hatte. Diogenes schwankte zwischen kindlichen Wutanfällen und Weinkrämpfen – das einzige Mal in meiner Erinnerung, dass er geweint hat. Und deshalb habe ich mich entschuldigt. Auf meine jugendliche Art habe ich versucht, darauf hinzuweisen, wie unbegründet seine Ängste seien. Ich versprach ihm, ihn zu beschützen. Nichts half. Am Ende frustrierten mich seine hysterischen Anfälle, und ich bin auf mein Zimmer gegangen.
Der alte Dufour hat ihn in dieser Nacht nicht geholt. Am Morgen, am Frühstückstisch, war Diogenes schweigsam und verdrießlich. Wieder habe ich ihn darauf hingewiesen, dass seine Ängste völlig unbegründet seien. Aber noch während ich ihm das erklärte, wurde mir unbehaglich zumute bei der Erinnerung an die leere Speischale und daran, dass keine weiteren Zähne darin gelegen hatten. Im Französischen Viertel lebten Dutzende, ja Hunderte Kinder; die Zähne hätten sich doch stapeln müssen. Wo befanden sie sich also? Warum hatten nicht wenigstens noch ein paar andere in der Schale gelegen? Aber ich verdrängte diesen Gedanken, so gut es ging.
Beim Mittagessen war Diogenes immer noch wie am Morgen – erregt, trotzig und aufgebracht. Irgendwann am Nachmittag ist er dann verschwunden. Er ist oft einfach so weggegangen, ohne jemandem zu sagen, wohin er ging oder wo er gewesen war. Deshalb war ich sogar unter diesen Umständen nicht besonders beunruhigt. Ich nahm an, dass er sich mit einem seiner verbotenen Bücher in ein Zimmer zurückgezogen hatte oder im riesigen Keller unseres Hauses irgendein kindliches Experiment durchführte.
Zum Abendessen war er immer noch nicht zurück. Onkel Everett war beunruhigt, bis ich ihm versicherte, dass Diogenes oft einfach so verschwinde und er sich keine Sorgen machen solle. Nach dem Essen, bei Brandy und Zigarre, beschwerte sich Onkel Everett über ›die unschicklichen nächtlichen Wanderungen des jungen Mannes‹, aber ich versicherte ihm noch einmal, dass Diogenes bald wieder auftauchen werde. Damit gab er sich zufrieden und ging zu Bett.
Am nächsten Morgen war Diogenes noch immer verschwunden, und nun war man im Hause doch beunruhigt. Onkel Everett hielt mir eine ausgesprochen deutliche Gardinenpredigt, weil ich ihn im Glauben gelassen hätte, die ganze Sache stelle kein Problem dar. Ich litt Höllenqualen und fragte mich, ob ich ihm erzählen sollte, was tags zuvor geschehen war. Aber ich war immer noch ziemlich sicher, dass Diogenes – wütend darüber, was ich getan hatte – schmollend davongelaufen war und sich gesund und munter irgendwo versteckte. Nachdem eine gründliche Suche im Haus nichts ergeben hatte, rief Onkel Everett die Polizei. Doch alle Versuche, meinen Bruder ausfindig zu machen, erwiesen sich als fruchtlos. Verschiedene anrüchige Lokale im Französischen Viertel wurden durchsucht, die Gleisanlagen im Hafengebiet, die Piers an der Canal Street und der Woldenburg Park durchkämmt. Schließlich, um vier Uhr nachmittags am siebenundzwanzigsten August, als mein Onkel sich dafür einsetzte, das Wasser im Hafengebiet abzusuchen, bin ich zusammengebrochen und habe ihm erzählt, was zwei Tage zuvor passiert war. Zwar hatte ich zu diesem Zeitpunkt Angst bekommen, bezweifelte aber im Grunde immer noch, dass Diogenes recht gehabt und der alte Dufour ihn geholt hatte.
Mein Onkel reagierte äußerst skeptisch, gelinde gesagt. Mit einer solchen Geschichte könne er unmöglich zur Polizei gehen, sagte er – sie sei allzu offensichtlich absurd. Dennoch: Er machte sich große Sorgen und hatte vor allem Angst, dass unser Vater, der ein jähzorniger und sogar gewalttätiger Mann war, ihm bei seiner Rückkehr die Schuld am Verlust seines Sohnes geben könnte und ihn vielleicht sogar verprügeln würde. Schließlich seufzte er, wischte sich das Gesicht und sagte: ›Man muss wohl alle Wege probieren. Ich geh jetzt zu Monsieur Dufour und statte ihm einen Besuch ab.‹
Nachdem er aus dem Haus gegangen war, schaute ich vom Fenster des vorderen Salons zu, wie er die Straße hinunterging, in Richtung Montegut Street. Ich rechnete damit, dass er nach einer Stunde wieder zurück sein würde. Stattdessen blieb er fast vier Stunden fort. Aber dann endlich – es war fast Mitternacht, und ich saß auf der großen Treppe, weil ich nicht einschlafen konnte – hörte ich, wie sich im Schloss der Haustür ein Schlüssel drehte. Und da stand Onkel Everett mit Diogenes an seiner Seite. Mein Bruder war aschfahl, sein Gesicht wie versteinert. Sofort und ohne ein Wort zu sagen ist er auf sein Zimmer gegangen, hat die Tür abgesperrt und ist erst mehrere Tage später wieder herausgekommen.«
Pendergast hielt inne. In der Villa am Riverside Drive war es ganz still geworden. Das Kaminfeuer war heruntergebrannt, leise knisterten die Kohlen auf dem Rost. Die Fenster waren fest verschlossen, die dicken Vorhänge zugezogen, kein Verkehrsgeräusch drang in die Stille der Bibliothek. Nach einer Weile fuhr Pendergast fort.
»Aber mein Onkel sah schrecklich aus, ja abscheulich. Er war – ganz untypisch für ihn – auf seltsame Weise zerzaust, die Augen waren stark blutunterlaufen. Sein Gesicht wirkte völlig derangiert: Der Kiefer war heruntergeklappt, die Wangen waren hohl, die Lippen zitterten wie bei einer Lähmung, und die untere Gesichtshälfte war dick geschwollen, als hätte er Wasser im Mund. Und seine Gesichtshaut war karmesinrot, fast violett, und er hatte eine Platzwunde auf der Wange. Er starrte mich mit furchterregender Miene an – der Mund zusammengepresst, ein hartes Glitzern in den Augen –, wie ich sie bei ihm noch nie gesehen hatte. Ich meinte, Blutflecken auf seinem Hemdkragen zu erkennen.
Er ging in den rückwärtigen Teil des Hauses und rief nach der Haushälterin. Seine Stimme schockierte mich. Sie war völlig verändert – verwaschen und belegt, als wäre er betrunken. Ich konnte das Gespräch zwar nur undeutlich verstehen, aber offenbar fragte mein Onkel nach, ob mein Vater am morgigen Tag zurückkehren werde. Er müsse gleich noch einmal aus dem Haus gehen, fuhr er fort, und vertraue mich und Diogenes ihrer Obhut an.
Nachdem er die erwünschte Bestätigung bekommen hatte, ging er ins Arbeitszimmer. Noch immer saß ich vollkommen verängstigt auf der Treppe und belauschte alles. Da hörte ich das Kratzen eines Füllfederhalters. Und dann kam Onkel Everett wieder aus dem Zimmer. Obwohl es eine schwüle Nacht war, hatte er ein weißes Leinensakko angezogen. Die eine Hand steckte tief in einer der Jacketttaschen; ich konnte die weißen Knöchel der Hand sehen, die einen Pistolengriff umfasst hielten. Er schien mich nicht zu bemerken, als er die Haustür öffnete und in der Dunkelheit verschwand.
Ich wartete auf seine Rückkehr, aber er kam nicht wieder. Diogenes verbarrikadierte sich nach wie vor hinter seiner verschlossenen Tür und weigerte sich, auf mein Klopfen und meine Bitten zu antworten. Die Nacht verging, ohne dass Onkel Everett zurückkehrte. Der nächste Tag kam, und ich wartete immer noch. Der Morgen wich dem Mittag und dann dem Nachmittag. Und noch immer versteckte sich Diogenes in seinem Zimmer, und noch immer war Onkel Everett nicht zurückgekehrt. Ich fühlte mich ganz krank vor Angst.
Am Abend kam mein Vater dann zurück, mit grimmiger Miene. Von meinem Zimmer aus hörte ich im Erdgeschoss gemurmelte Gespräche. Schließlich, so gegen neun Uhr, rief er mich in sein Arbeitszimmer. Wortlos reichte er mir einen hastig geschriebenen Brief. Noch heute erinnere ich mich an den Inhalt, Wort für Wort.
Lieber Linnaeus,
heute Abend habe ich M. Dufour in der Montegut Street aufgesucht. Ich bin ahnungslos und törichterweise ohne Vorkehrungen dorthin gegangen. Doch meinen zweiten Besuch werde ich ihm in anderer Manier abstatten. Zwar könnte ich mich mit der Angelegenheit an die Polizei wenden, aber – aus Gründen, die vielleicht irgendwann deutlich werden oder auch nicht – handelt es sich hier um etwas, das ich persönlich erledigen möchte. Wärest Du in jenem Haus gewesen, Linnaeus, so würdest Du mich verstehen. Dieser abscheuliche Mensch, der sich Maurus Dufour nennt, hat sein Recht auf Leben verwirkt.
Weißt Du, Linnaeus, mir blieb keine andere Wahl. Dufour glaubte, dass man ihn beraubt habe. Und so habe ich ihn beschwichtigt. Anderenfalls hätte er den Jungen nicht freigelassen. Schreckliche Riten wurden durchgeführt. Ihr Mal wird mir für den Rest meines Lebens eingeprägt sein.
Sollte ich von meinem Besuch bei M. Dufour nicht zurückkehren, können die Jungen Diogenes und Aloysius Dich mit allen weiteren Einzelheiten in dieser Angelegenheit versorgen.
Adieu, Cousin. Ich verbleibe mit freundlichen Grüßen,
Dein Everett
Als ich den Brief zurückgab, hat mein Vater mich streng angeschaut. ›Würdest du mir erklären, was das alles zu bedeuten hat, Aloysius?‹ Sein Stimme klang sanft und doch so angespannt wie eine stählerne Falle.
Stockend – mit einer Mischung aus Verlegenheit, Scham und Angst – habe ich ihm alles erzählt, was vorgefallen war. Er hörte aufmerksam zu, stellte keine einzige Frage und unterbrach auch nicht den Fluss meiner Erzählung. Als ich fertig war, setzte er sich in seinem Stuhl zurück. Er zündete sich eine Zigarette an und rauchte sie nachdenklich, noch immer schweigend. Als sie fast nur noch ein Stück Asche zwischen seinen Fingerspitzen war, ließ er sie in einen Aschenbecher fallen, beugte sich vor und las den Brief meines Onkels noch einmal. Dann holte er tief Luft, stand auf, strich seine Hemdbrust glatt, öffnete eine Schublade, zog einen Revolver heraus, prüfte ihn, um zu sehen, ob er geladen war, und steckte ihn sich hinter den Hosenbund.
›Was hast du vor, Vater?‹, fragte ich, obwohl ich es nur allzu leicht erraten konnte.
›Nachsehen, was aus deinem Onkel Everett geworden ist‹, antwortete er und durchmaß das Arbeitszimmer in Richtung Haustür.
›Lass mich mitkommen‹, platzte ich heraus.
Er sah mich an, mit vor Erstaunen leicht zusammengekniffenen Augen. ›Das geht nicht, mein Sohn.‹
›Aber es ist meine Schuld. Ich muss mitkommen. Verstehst du denn nicht?‹ Ich packte seinen Ärmelaufschlag. Ich flehte. Ich insistierte. Ich bettelte.
Schließlich nickte er langsam. ›Also gut. Vielleicht wird es – was immer es ist – dir eine Lehre sein.‹ Kurz bevor er die Tür öffnete, wandte er sich um, als sei ihm etwas eingefallen, griff sich eine Sturmlampe und ging hinaus in die Nacht.
Erst einige Abende zuvor war ich die Dauphine Street entlanggegangen und in die Montegut abgebogen, so wie wir es jetzt taten. Damals hatte ich gedacht, was für ein Narr mein Bruder doch gewesen war, und war sehr verärgert darüber, dass ich ihn zur Räson bringen musste. Jetzt aber – als mein Vater und ich uns der dunklen und stillen Dufour-Villa näherten – wurde mir ganz schwer ums Herz. Es war eine stürmische Nacht, sehr viel stürmischer als bei meinem vorhergehenden Ausflug; die Bäume raschelten und ächzten, als der Wind an ihnen rüttelte, die Straßenlaternen warfen wirbelnde Schatten auf die Straße. In den Häusern, an denen wir vorbeikamen, brannte kein Licht, alle Fensterläden waren geschlossen zum Schutz vor dem aufziehenden Gewitter. Als ich zum Himmel blickte, sah ich Wolkenfetzen vor einem dicken gelben Vollmond dahinziehen. Obwohl mein Vater neben mir ging, ergriff mich eine Seelenpein, eine derartige Todesangst, wie ich sie wohl weder vorher noch nachher jemals empfunden habe.«
Pendergast verfiel in Schweigen. Nach einigen Augenblicken stand er auf und ging in der Bibliothek auf und ab, ungefähr so, wie Monsieur Bertin es eine Dreiviertelstunde zuvor getan hatte. Er blieb stehen und stocherte mit einem Schürhaken im Kaminfeuer, wodurch die heruntergebrannten Kohlen aufloderten und das Zimmer in ein flackerndes Licht getaucht wurde. Nachdem er erneut einige Schritte auf und ab gegangen war, begab er sich zum Sideboard und schenkte sich einen großen Brandy ein. Er kippte ihn hinunter, füllte das Glas nach und kehrte zu seinem Stuhl zurück. Constance wartete, dass er weitererzählte.
»Das Haus lag wie beim vorherigen Mal vollkommen dunkel und still. Ich blickte zu dem Erkerfenster hoch, aber in dieser Nacht war es ebenfalls dunkel. Der Wind hatte eine zerschlissene Spitzengardine durch die zerbrochene Fensterscheibe nach draußen gesaugt, und die Gardine flatterte im Wind. Sie kam mir vor wie ein gefangenes Nachtgespenst, das verzweifelt um Hilfe gestikuliert.
Wir stiegen die Treppe zur Veranda hoch – die Stufen knarrten unter unserem Gewicht – und gelangten zur Tür. Ich versuchte, den Blick abwenden, was mir aber nicht gelang: Das seltsame Gestell mit dem Kupfergefäß stand noch immer da; die Öffnung war dunkel.
Die Tür hatte keine Klingel, keinen Klopfer. Mein Vater reichte mir die nicht angezündete Sturmlampe, zog den Revolver hinter dem Hosenbund hervor und versuchte, die Tür zu öffnen. Sie war unverschlossen, nicht einmal verriegelt, und nach einem kleinen Stoß schwang sie auf in die gähnende Dunkelheit. Es schien, als schlüge uns aus dem Dunkel ein Geruch entgegen, ein feuchtkalter Gestank nach Tierkadavern, vergammeltem Fleisch, faulen Eiern.
Wir betraten das Haus. Drinnen war es stockfinster. Als mein Vater erfolglos an der Wand entlang tastete, um einen Lichtschalter zu finden, erfasste eine Windböe die Haustür, so dass sie hinter uns zuschlug. Der Knall ließ mich zusammenfahren, und während ich am ganzen Leib zitternd in der Dunkelheit stand, schallte das Echo aus den hinteren Räumen des Hauses zu uns zurück.
›Aloysius‹, hörte ich meinen Vater aus der Finsternis heraus sagen, ›reich mir die Sturmlampe herauf.‹
Dass seine Stimme so ruhig und gelassen klang, wunderte mich. Ich hielt die Lampe hoch über meinen Kopf. Eine für mich unsichtbare Hand ergriff sie. Einen Moment lang war alles still. Dann das Ritsch eines Streichholzes, gefolgt vom Aufflammen eines gelben Lichtscheins in der Lampe. Ich hörte ein Quietschen, als mein Vater den Docht regulierte und der Lichtschein heller wurde, bis wir … den Raum um uns herum sahen.«
Pendergast nippte an seinem Brandy, dann noch einmal, ehe er das Glas wieder abstellte. »Wir standen im Eingangsbereich des Hauses. Die Lampe schien zwar nicht besonders hell, spendete aber genügend Licht, dass wir so gerade eben die Einzelheiten um uns herum erkennen konnten. Zunächst bot sich unseren Blicken nichts Ungewöhnliches: eine typische Villa aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg, erbaut im Mississippi-Delta-Stil. Links führte eine doppelflügelige Tür in den großen Salon, rechts mündete eine weitere Doppeltür ins Esszimmer. Geradeaus schwang sich eine große Treppe in elegantem Bogen ins Obergeschoss, unter der Treppe führte ein Flur nach hinten, aus unserem Blickfeld.«
Pendergast holte tief Luft und atmete langsam aus.
»Allmählich stellten sich meine Augen auf den schwach beleuchteten Raum ein, und es wurde deutlicher, wie schäbig er war. Auf dem Boden lag ein Perserteppich, fadenscheinig und von Mäusen angenagt. Die Bilder an den Wänden waren so alt und eingedunkelt, dass die Motive darauf nicht zu erkennen waren. Ein Abschnitt des Treppengeländers fehlte, beidseits der Treppe standen mehrere vertrocknete Pflanzen in Übertöpfen. Aber dann fiel mir etwas anderes auf, etwas höchst Sonderbares. Die Oberflächen des Zimmers – die Wände, die Möbel – wirkten nicht ganz so regelmäßig und flach, wie sie eigentlich hätten sein müssen. Es schien, als hätten sie … Dichte und Struktur. Als mein Vater, die Sturmlampe vor sich herhaltend, vorsichtig weiter in die Mitte des Raumes ging, sah ich es auf der Tapete und anderswo blinken und blitzen, wobei die unzähligen kleinen Lichtpunkte komplizierte Muster aus Schnörkeln und Linien formten. Ich starrte ungläubig darauf, außerstande zu begreifen, was diesen seltsamen Effekt hervorrief.
Mein Vater erkannte es schneller. Ich hörte ihn kurz nach Luft schnappen, dann blieb er wie angewurzelt stehen und hielt die Lampe vor ein besonders kompliziertes Muster in der Tapete.
Und da wurde mir klar, dass die Muster gar nicht Teil der Tapete selbst waren, sondern von winzigen, schimmernden Objekten herrührten, die an der Wand befestigt waren. Während ich weiterhin darauf starrte, trat mein Vater einen Schritt vor, und mir wurde klar, worum es sich bei diesen schimmernden kleinen Dingen handelte.
Es waren Zähne. Winzige, weiße, polierte Zähne. Ich bekam kein Wort heraus, mein Vater auch nicht. Aber uns fiel noch etwas anderes auf – nämlich dass diese Schnörkelmuster überall waren. Sie verliefen entlang den Zierleisten, ringelten sich auf der Täfelung, rankten sich in Schleifen und Spiralen um die Türrahmen. Sie zogen sich in Linien das Treppengeländer empor, verzierten die vergoldeten Rahmen der Bilder an den Wänden. Zähne … Wohin ich auch sah, starrten mir kleine Schneide- und Backenzähne entgegen. Wirbel, geformt aus Backenzähnen von Kindern, zeichneten die Konturen des Zimmers in getüpfelten Linien nach, minutiös arrangiert, auf unheimliche Weise regelmäßig. Manche Zähne waren mit der Bissfläche an den Wänden befestigt, so dass die gebogenen Wurzeln in ekelerregender Weise hervorragten; andere waren andersherum angebracht, die gelblichen und weißen Zähne aufgereiht, als wollten sie im nächsten Moment die Luft anknabbern. Ich sah Kringel und Spiralen, die mich an die mit Kaurischnecken besetzten Halsketten aus der Südsee erinnerten, und grazile Spritzmuster, ähnlich wie ein explodierendes Feuerwerk am Himmel. Und andere, dichtere Gestaltungsmuster, zum Beispiel grinsende Gesichter mit schlitzartigen Augen und weitaufgerissenen Mündern, die uns von den Wänden entgegenzuschreien schienen.
Mein Vater sagte nichts. Ich glaube, sein Schweigen verunsicherte mich mehr, als wenn er vor Ekel aufgeschrien hätte. Langsam ging er zur nächstgelegenen Wand und hielt die Lampe in die Höhe, wobei er sie hin und her schwenkte. Der sich bewegende Lichtschein warf unzählige winzige Schatten und Schemen auf die Oberflächen, wie in einer alptraumhaften Laterna-magica-Schau. Die … die Präzision, die phantastische Handwerkskunst, wenn du so willst, hatte etwas Diabolisches.
Trotz meines Schocks und obwohl ich beinahe betäubt war vor Angst, formte sich doch irgendwo tief in mir – während ich mich mit weitaufgerissenen Augen im Schein der Lampe umblickte – die Frage, wie lange das hier schon vor sich ging; wie viele Kinder wie viele Jahre lang ihre Zähne für dieses schauderhafte ›Werk‹ hergegeben hatten. Der alte Dufour musste in der Tat sehr, sehr alt sein, dass er so viele Zähne anhäufen konnte.
Quälend langsam ging mein Vater an allen vier Wänden des Zimmers entlang, hielt dabei seine Sturmlampe von sich gestreckt und spähte auf die Zahn-›Werke‹. Warum er es für notwendig hielt, sich das alles genau anzusehen, es zu inspizieren, weiß ich nicht. Ich habe meine ganze Kraft darauf verwendet, meine Augen vor dem abscheulichen Anblick abzuwenden.
Ich war dermaßen erschrocken, dass ich, ohne zu überlegen, einige Schritte nach hinten machte und dabei den Halt verlor; instinktiv streckte ich meine Hand nach hinten aus, um nicht zu fallen. Sie berührte die Wand … und da spürte ich eine eklig kalte, harte Unebenheit. Mit einem Aufschrei riss ich meine Hand von den scharfkantigen Zähnchen weg, fast so, als hätte ich sie mir verbrannt, und taumelte vor Angst keuchend wieder noch vorn.«
Pendergast hielt inne. Schließlich ging seine Atmung, die sich während dieser letzten Erinnerung beschleunigt hatte, wieder langsamer. Nach einer Weile erzählte er weiter.
»Als mein Vater sich zu mir umwandte, erblickte ich einen seltsamen, hohlen Ausdruck in seinem Gesicht. ›Geh mal raus auf die Straße‹, sagte er. ›Ich muss Everett suchen.‹
Aber ich gehorchte nicht. Ich hatte große Angst, von ihm getrennt zu sein. Als er sich anschickte, das Zimmer durch einen Durchgang im rückwärtigen Teil zu verlassen, rannte ich ihm hinterher. Ohne mich zu beachten, ging er mit gezücktem Revolver weiter über einen langen Flur. Wir gelangten in eine Küche, gefliest, sämtliche Oberflächen aus Marmor, aber alles mit Rattenkot und Schimmel übersät. Auch in dem schäbigen Wohnzimmer, in dessen Sofas und Stühlen sich Nager eingenistet hatten, fanden sich Hinweise weder auf meinen Onkel noch auf Maurus Dufour.
Doch ganz hinten im Haus, in einem kleinen Raum, der zu einem ehemaligen Garten hinausging, fanden wir … eine Werkstatt. Ich sah einen Zahnarztstuhl, eine Antiquität aus dem späten neunzehnten Jahrhundert: nachgedunkeltes Holz, rissiges Leder und poliertes Messing, der Sitz von Ratten angenagt, die Füllung hervorquellend. Auf einem alten Tablett aus Stahl und Messing neben dem Stuhl lagen diverse rostige Dentalinstrumente mit Elfenbeingriffen.
Und dort sahen wir, militärisch präzise auf dem Tablett ausgelegt, noch etwas anderes. Zähne, zweiunddreißig an der Zahl. Aber das waren keine Milchzähne, o nein, sondern alles Erwachsenenzähne. Und sie waren feucht, ihre Wurzeln blutig, manche derart gewaltsam gezogen, dass noch Teile des umgebenden Kieferknochens daran hafteten. Sie waren alle frisch gezogen worden.«
»Frisch gezogen«, wiederholte Constance mit dumpfer Stimme und zitierte dann: »›Ich habe ihn beschwichtigt.‹«
»Everett hat sich immer sehr präzise ausgedrückt. Und er hat den alten Dufour in der Tat beschwichtigt. Welch gespenstische Konfrontation sich da abgespielt haben muss.«
»Und was ist mit ihm passiert?«
»Wir haben Onkel Everett nie mehr wiedergesehen. Die Polizei hat das Haus durchsucht und noch einmal durchsucht. Sowohl Dufour als auch mein Onkel waren verschwunden, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Es gab diejenigen, die sagten, sie hätten in der Nacht Schreie gehört; dass sie eine dunkle Gestalt gesehen hätten, die einen Schrankkoffer runter zu den verlassenen Piers an der Saint Peter Street schleppte. Aber natürlich blieben diese Geschichten Gerüchte.«
»Und was ist mit dem, äh, Ablegen der Zähne vor dem Dufour-Haus? Hat sich die Zahnfee-Tradition fortgesetzt?«
»Du weißt ja, wie Kinder sind, meine liebe Constance. Kindliche Rituale sterben nicht aus; sie werden beharrlicher weitergegeben als jede Erwachsenentradition. Die Tradition setzte sich sogar auch dann noch fort, als das Dufour-Haus immer mehr verfiel. Und dann brannte es in einer dunklen Nacht nieder. Das geschah ungefähr drei Jahre nach den geschilderten Ereignissen. Niemanden hat das sonderlich überrascht; in leerstehenden Häusern entwickeln sich eben leicht Brände. Aber ich persönlich habe mich lange gefragt, ob mein Bruder Diogenes wohl auf irgendeine Weise dafür verantwortlich war. Später erfuhr ich, dass er großen Gefallen an Feuern fand. Je größer, desto besser.«
Im Durchgang zur Bibliothek erschien die rundliche Gestalt von Mrs. Trask. Cook, freute sie sich anzukündigen, habe eine zweite Portion Tagliatella-Pasta zubereitet, das Essen sei angerichtet, und die tartufo bianco seien geradezu himmlisch. Und in der Tat, der wundervolle Duft hatte sich in der Küche ausgebreitet und wehte jetzt in die Bibliothek.
»Und … ist die Pasta auch al dente?«, fragte Constance.
»Auf den Punkt«, erwiderte Mrs. Trask.
Bertin trat hinter der Haushälterin hervor. So wie Pendergast vorausgesagt hatte, war die Laune des alten Mannes wiederhergestellt. »Fabelhaft, ich kann einfach nicht mehr warten!«, sagte er und rieb sich die Hände. »Haben Sie schon einmal so exquisite truffes gerochen? Bitte, lassen Sie uns ohne Umschweife ins Esszimmer gehen.«
Pendergast erhob sich und blickte zu Constance hinüber. »Wollen wir?«
»Al dente«, wiederholte Constance bei sich. »Ja, man muss seine Pasta al dente essen. Irgendwie, Aloysius, finde ich, dass deine Geschichte meinen Appetit in ganz außerordentlichem Maße gesteigert hat.«
Und mit dieser Bemerkung gingen die drei ins Esszimmer, um zu Abend zu essen.