Britton starrte ihn entgeistert an. »Sie meinen Bestechungsgeld?« Glinn machte eine beruhigende Handbewegung. »Andere Länder, andere Sitten.« McFarlane fragte sich, ob Britton und Glinn das kleine Wortgefecht wohl vorher abgesprochen hatten. Glinn wandte sich wieder dem Zollchef zu, der die Szene mit verschlagenem Grinsen verfolgt hatte, und fragte auf Spanisch: »Besteht die Möglichkeit, die ordnungsgemäße Schürflizenz hier zu erwerben?« »Das ist möglich, aber sehr teuer.« Glinn schniefte laut, griff nach seiner schäbigen Aktentasche und legte sie auf den Tisch. In den Augen des Leiters der Zollstation und seiner beiden Mitarbeiter flackerte unverhohlene Gier. Glinn löste die Verschluss-Schnallen und klappte die Tasche so auf, dass die mit Gummiband zusammengehaltenen Zwanzig-Dollar-Scheine deutlich zu sehen waren. Er legte einige Bündel auf den Tisch. »Würde das wohl zur Erledigung der leidigen Angelegenheit beitragen?« Der Zollchef lächelte, lehnte sich zurück und formte aus seinen Fingern ein Zelt. »Ich fürchte, nein, Señor. Schürflizenzen sind nicht billig.« »Also – wie viel?« Der Zollchef stellte rasch eine überschlägige Kalkulation an. »Die doppelte Summe dürfte ausreichen.« Betretenes Schweigen. Glinn langte in die Aktentasche, nahm die restlichen Stapel Geldscheine heraus und legte sie neben die anderen auf den Tisch. McFarlane spürte, wie sich die Atmosphäre schlagartig entspannte. Der Zollchef raffte die Geldbündel an sich. Die beiden Zöllner auf der Bank grinsten zufrieden. Britton wirkte verärgert, hatte aber offenbar klein beigegeben. Alles hätte in bester Ordnung sein können, wenn nicht während des Feilschens ein Neuankömmling den Raum betreten hätte – ein groß gewachsener, schlanker Mann mit scharf geschnittenen Zügen, kalten schwarzen Augen und großen, spitzen Ohren, die ihm etwas Diabolisches verliehen. Er trug eine saubere, aber schon abgetragene chilenische Marineuniform mit ein paar Goldlitzen auf den Achseln. McFarlane fiel auf, dass seine linke, steif vors Koppel gehaltene Hand verkümmert war. Der Blick des Uniformierten wanderte vom Zollchef zu Glinn und dann weiter zu dem Geld, das mittlerweile in vier gleich hohe Stapel aufgeteilt war. »Wie wäre es mit einer Quittung?«, fragte Britton spitz. Der Zollchef spreizte bedauernd die Hände. »Das ist leider bei uns nicht üblich.« Er ließ einen der Geldstapel in der mittleren Schublade seines Schreibtisches verschwinden, legte je einen für die beiden Männer auf der Bank zurecht und hielt dem Marineoffizier den vierten Stapel hin. Der legte die gesunde Hand über die verkümmerte und machte keine Anstalten, nach dem Geld zu greifen. Dann sagte er laut und scharf: »Nada!« Er pflanzte sich so neben dem Schreibtisch auf, dass er die Rol-vaag-Gmppe fest im Visier hatte. In seinen Augen funkelte Hass. »Ihr Amerikaner meint wohl, ihr könnt alles kaufen«, sagte er in akzentfreiem Englisch. »Aber da irrt ihr euch. Ich bin kein korrupter Beamter wie die hier. Behaltet euer Geld.« Der Zollchef wedelte mit den Geldscheinen und sagte in ebenso scharfem Ton: »Nimm’s schon, du Idiot.« »Nein.« Der Marineoffizier sprach jetzt Spanisch. »Das ist ein falsches Spiel, und das wisst ihr auch. Die wollen uns doch nur berauben.« »Berauben?«, fragte der Zollchef. »Wie meinst du das?« »Glaubst du etwa, die Amerikaner kämen hierher, um Eisenerz zu schürfen? Dann bist du der Idiot. Die sind doch hinter was ganz anderem her!« »Und was sollte das sein, du Schlauberger von comandante?« »Es gibt kein Eisenerz auf der Isla Desolación. Also können sie nur aus einem Grund hier sein: Gold.« Der Leiter der Zollstation starrte ihn verdutzt an, dann fing er kehlig an zu lachen und wandte sich an Glinn. »Gold? Sind Sie deswegen hier? Sind Sie hier, um Chile Gold zu stehlen?«

Zu seinem Schrecken las McFarlane in Glinns Miene so deutlich Schuldgefühle und kalte Angst, dass selbst der einfältigste Zöllner den Braten riechen musste. »Wir sind hier, um Eisenerz zu schürfen«, brachte Glinn nach einer Weile heraus, was sich allerdings nicht sehr überzeugend anhörte. »Ich muss Sie daraufhinweisen, dass eine Lizenz zum Abbau von Gold erheblich teurer wäre«, sagte der Zollchef. »Aber wir wollen ja nur Erz schürfen.« »Ach, kommen Sie«, versuchte der Zollchef ihn aufs Glatteis zu führen, »lassen Sie uns offen darüber reden und keine unnötigen Schwierigkeiten heraufbeschwören. Dieses Märchen von einer Erzader ...« Er lächelte wissend. Wieder langes, betretenes Schweigen, gefolgt von einem Hustenanfall, und dann sagte Glinn: »Nun, unter diesen Umständen wäre vielleicht eine Gewinnbeteiligung angebracht. Vorausgesetzt, es gibt keine weiteren Probleme wegen der Papiere.« Der Leiter der Zollstation wartete lauernd. Glinn klappte abermals die Aktentasche auf, nahm ein paar Unterlagen heraus und verstaute sie in seiner Jacke. Dann versenkte er die Hand tief in der Tasche, suchte eine Weile und hatte schließlich die Sperrvorrichtung des doppelten Bodens gefunden. Ein kurzes Klicken, dann tauchte Glinns Hand auf – und mit ihr etwas, das in so grellem Gelb strahlte, dass sich der Glanz auf dem verblüfften Gesicht des Zollchefs widerzuspiegeln schien. »Madre de Dios«, hauchte er. »Das ist für Sie und Ihre Mitarbeiter«, sagte Glinn. »Fürs Erste. Bei unserer Rückkehr – wenn wir uns offiziell beim chilenischen Zoll abmelden ... und alles gut gelaufen ist natürlich ... bekommen Sie noch mal doppelt so viel. Falls aber unwahre Gerüchte über illegalen Goldabbau auf der Isla Desolación nach Punta Arenas dringen oder ungebetene Besucher bei uns auftauchen, so dass wir die Abbauarbeiten abbrechen müssen – also, dann ist das natürlich hinfällig.« Darauf musste er urplötzlich so gewaltig niesen, dass die Rückseite der Aktentasche mit feinen Tröpfchen besudelt war. Der Zollchef zuckte zurück. »Ja, ja. Ich sorge dafür, dass alles klar geht.« Der chilenische Comandante rief wütend: »Schaut euch doch an! Scharwenzelt um ihn herum wie ein Haufen Rüden um eine läufige Hündin!« Die beiden Zöllner drückten sich von der Bank hoch, kamen nach vorn, redeten halblaut auf den Marineoffizier ein und deuteten immer wieder auf die Aktentasche. Aber der Comandante schob sie ärgerlich beiseite. »Ich schäme mich, mit euch dieselbe Luft zu atmen. Ihr würdet glatt eure eigene Mutter verkaufen.« Der Leiter der Zollstation sagte in eisigem Ton: »Ich glaube, du solltest jetzt lieber wieder auf dein Schiff gehen.« Vallenar maß einen nach dem anderen mit einem verächtlichen Blick, dann drehte er sich um und verließ in militärisch steifer Haltung die Zollstation. »Was ist mit ihm?«, fragte Glinn. »Haben Sie Nachsicht mit dem Comandante«, sagte der Zollchef, zog die Schreibtischschublade auf, nahm einige Vordrucke und den Dienststempel heraus und stempelte die Papiere so zügig ab, als habe er es eilig, seine Besucher loszuwerden. »Er ist der letzte Idealist in einem Land voller Pragmatiker. Aber er ist eben nur ein Nichts. Es wird keine Gerüchte geben und keinerlei Störung Ihrer Arbeit, Sie haben mein Wort darauf.« Er streckte Glinn die Papiere und die Pässe hin. Glinn nahm alles an sich, wandte sich zum Gehen und blieb dann doch noch einmal stehen. »Noch etwas. Wir haben einen Mann namens John Puppup angeheuert. Haben Sie eine Ahnung, wo wir ihn finden könnten?« »Puppup?« Der Zollchef starrte ihn entsetzt an. »Diesen Greis? Wofür denn das?« »Er wurde uns als guter Kenner der Kap-Hoorn-Inseln empfohlen.«

»Ich verstehe nicht, wie Ihnen jemand so einen Unsinn weismachen konnte. Nun, zu Ihrem Pech hat er vor ein paar Tagen von irgendwoher Geld bekommen. Das bedeutet, dass er sich nur im ›E1 Picoroco‹ herumtreiben kann. Versuchen Sie’s am besten dort, in der Callejon Barranca.« Der Zollchef sah ihn mit süßlichem Lächeln an. »Im Übrigen wünsche ich Ihnen viel Glück auf der Isla Desolación. Hoffentlich finden Sie auch Ihr Eisen.«

  

  

 

Puerto Williams

  

11.45 Uhr

    

Nachdem sie die Zollstation verlassen hatten, stiegen sie N den Hügel zum Barrio de los Indios hinauf. Der in der Karte als Straße eingetragene Weg erwies sich bald als teils verschneite, teils mit gefrorenem Matsch bedeckte Schlammpiste. Alle paar Meter war quer über den Weg ein Knüppeldamm errichtet worden, damit der nächste Regenguss nicht alles wegschwemmte. Die Hütten links und rechts hatten mit Sicherheit nie einen Bauplan gesehen, jeder zimmerte sich seine Behausung aus dem Material zusammen, das gerade zur Hand war, und zog einen windschiefen Zaun herum. Eine Schar kichernder Kinder folgte den Fremden. Einmal kam ihnen ein schwer mit Holz beladener Esel entgegen, McFarlane musste sich durch einen beherzten Sprung zur Seite retten, sonst wäre er in einer Schlammpfütze gelandet. Er fragte Glinn mit gesenkter Stimme: »Wie viel von der Dressurnummer beim Zoll war eigentlich geplant?« »Alles, bis auf den Auftritt von Comandante Vallenar und Ihrem kleinen Ausrutscher ins Spanische«, erwiderte Glinn. »Ich würde sagen: improvisiert, aber erfolgreich.« »Erfolgreich? Obwohl die jetzt glauben, dass wir Gold suchen? So was nenne ich eher ein Desaster.« Glinn lächelte nachsichtig. »Es hätte nicht besser laufen können. Irgendwann wäre ihnen sowieso klar geworden, dass eine amerikanische Abbaugesellschaft keinen Frachter bis ans Ende der Welt schickt, um Erz zu schürfen. Vallenars wütende Attacke kam mir wie gerufen. Ich dachte schon, ich müsste die Zöllner persönlich mit der Nase drauf stoßen.« McFarlane schüttelte den Kopf. »Bedenken Sie, was jetzt für Gerüchte kursieren werden.« »Gerüchte gibt’s immer. Nur, nachdem wir unseren drei Schlaumeiern vom Zoll das Maul mit so viel Gold gestopft haben, werden sie alle Gerüchte im Keim ersticken und wenn nötig die Insel sogar zum Sperrgebiet erklären. Schließlich winkt ihnen ja auch noch eine Erfolgsprämie.« »Und Comandante Vallenar?«, fragte Britton. »Ich hatte nicht den Eindruck, dass er einfach alles schluckt.« »Es gibt immer Leute, die sich nicht bestechen lassen. Aber er hat wohl zum Glück nicht viel Einfluss. Wenn ein Marineoffizier auf einen so lausigen Außenposten versetzt wird, muss er irgendwo Dreck am Stecken haben. Und die Leute vom Zoll werden alles daransetzen, Vallenar auf Kurs zu bringen. Als einfachstes Mittel bietet sich dafür eine angemessene Zahlung an. Wir haben den Zöllnern so viel gegeben, dass sie ruhig etwas abzweigen können.« Glinn schürzte nachdenklich die Lippen. »Dennoch wäre es sinnvoll, ein wenig mehr über diesen Comandante Vallenar in Erfahrung zu bringen.« Am Ende des steilen Aufstiegs, kurz nachdem sie ein Rinnsal aus seifigem Wasser überquert hatten, fragte Glinn einen Vorbeikommenden nach dem Weg und bog dann, der Beschreibung des Einheimischen folgend, in eine enge Seitengasse ab. Über der Ansiedlung lag schmutziger, feuchtkalter Dunst, es roch nach Fisch und Abfall. An fast jeder Hütte hing ein handgemaltes Reklameschild, auf dem Fanta oder chilenisches Bier angepriesen wurde. McFarlane fühlte sich in die Zeit vor fünf Jahren zurückversetzt. Damals hatten Masangkay und er, mit den schweren Atakamiten beladen, zweimal vergeblich versucht, argentinisches Gebiet zu erreichen, und waren am Schluss in Bolivien gelandet, in Ancuaque: einem Nest, das – bei allen äußeren Unterschieden – denselben Geist atmete wie dieses Barrio de los Indios. Glinn blieb stehen. Am Ende der Gasse duckte sich ein halb eingefallenes Gebäude unter sein rotes Schindeldach. Über dem Schild EL PICOROCO – CERVEZA MAS FINA blinkte unablässig eine nackte blaue Glühbirne. Aus der offenen Tür drang rhythmische Ranchero-Musik.

McFarlane pfiff leise durch die Zähne. »Ich glaube, allmählich komme ich hinter Ihr System. Hat der Bursche auf der Zollstation nicht was davon gesagt, dass jemand diesem Puppup Geld geschickt hat? Könnte es zufällig sein, dass Sie das waren?« Glinn sah ihn nur schief an, sagte aber nichts. Britton musterte das »El Picoroco« abschätzig. »Ich glaube, ich warte lieber draußen.« McFarlane folgte Glinn in den dämmerigen Schankraum: ein mit Schrunden und Kratzern übersäter Bartresen, ein paar seit ewigen Zeiten nicht mehr sauber gewischte Holztische, an der Wand ein Dartboard mit längst verblichenen Zahlen und eine Hand voll Gäste, die sie neugierig anstarrten. Die rauchige Luft roch, als stünde sie schon Gott weiß wie lange unter der niedrigen Decke. Glinn ließ sich an der Bar nieder und bestellte zwei Bier, die der Wirt ihnen brachte, warm und mit tropfendem Schaum. »Wir suchen Señor Puppup«, sagte Glinn. Der Wirt ließ grinsend sein lückenhaftes Gebiss sehen und deutete mit dem Daumen auf einen Vorhang aus Perlenschnüren. »Puppup? Der ist da hinten.« Sie folgten ihm in ein kleines Hinterzimmer. Auf dem wackeligen Tischchen stand eine leere Flasche De-war’s, auf der Bank an der Wand lag ein hagerer alter Mann, dessen Kleidung vor Schmutz starrte. Ein schütteres Bärtchen im Fu-Manchu-Stil zierte seine Oberlippe und das Kinn. Die allem Anschein nach aus Teppichresten zusammengenähte Mütze war ihm im Schlaf vom Kopf gerutscht. »Schläft er oder ist er betrunken?«, wollte Glinn wissen. Der Wirt brach in schallendes Gelächter aus. »Beides.« »Wann ist er wieder nüchtern?« Der Wirt beugte sich über Puppup, kramte aus dessen Taschen ein kleines Bündel schmutziger Geldscheine hervor, zählte sie und steckte sie dem Betrunkenen wieder in die Tasche. »Ich schätze, nächsten Dienstag müsste es so weit sein.«

»Aber er hat auf unserem Schiff angeheuert.« Der Wirt lachte abermals, diesmal ein bisschen hämisch. Glinn dachte einen Augenblick nach, zumindest tat er so. »Wir haben den Auftrag, ihn an Bord zu bringen. Wir müssen ihn also irgendwie zum Hafen runter bugsieren. Könnten Sie vielleicht zwei Ihrer Gäste dazu bringen, uns behilflich zu sein?« Der Wirt nickte, verschwand kurz im Schankraum und tauchte mit zwei stämmigen Männern wieder auf. Ein paar Geldscheine wechselten den Besitzer, und schon hoben die beiden Puppup von der Bank und legten sich seine Arme um die Schultern. Und da hing er dann, kaum mehr als Haut und Knochen, mit nach vorn gekipptem Kopf wie ein Häufchen Elend zwischen den beiden Muskelprotzen. McFarlane atmete dankbar tief durch, als sie wieder draußen waren. Hier stank es zwar auch, aber zumindest erträglicher als in der Bar. Britton, die ein Stück abseits neben einer Hausmauer auf sie gewartet hatte, kam zu ihnen herüber. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, als sie Puppup sah. »Im Augenblick macht er nicht viel her«, sagte Glinn entschuldigend, »aber er wird einen erstklassigen Hafenlotsen abgeben. Er kreuzt seit fünfzig Jahren mit seinem Kanu durch die Gewässer um die Kap-Hoorn-Inseln und kennt sich mit Wind, Wetter, Gezeiten, Strömungen und Untiefen aus.« Britton zog die Augenbrauen hoch. »Dieser alte Mann?« Glinn nickte. »Wie ich Lloyd heute Morgen schon gesagt habe: Er ist Halb-Yaghan, ein Abkömmling der Ureinwohner und wahrscheinlich der Letzte, der ihre Sprache, ihre Gesänge und ihre Legenden kennt. Die meiste Zeit paddelt er zwischen den Inseln hin und her. Wenn Sie ihn fragen, wird er vermutlich behaupten, die Kap-Hoorn-Inseln gehören ihm.« »Wie anrührend«, meinte McFarlane. Glinn drehte sich zu ihm um. »Ja. Im Übrigen war er es, der den Leichnam Ihres Partners gefunden hat. Und um die ganze Wahrheit zu sagen: Er hat Masangkays Ausrüstung und seine Gesteinsproben an sich genommen und in Punta Arenas verkauft.«

McFarlane blieb abrupt stehen und starrte auf den Betrunkenen. »Das ist also der Mistkerl, der meinem Partner alle Geräte geklaut hat!« Glinn legte ihm die Hand auf den Arm. »Er ist bettelarm, da ist es doch verständlich, wenn er sich die Gelegenheit nicht entgehen lässt, die Sachen eines Toten zu Geld zu machen. Er hat sich nichts dabei gedacht. Wenn er nicht wäre, hätte nie jemand erfahren, dass Ihr Freund tot auf der Isla Desolación liegt, und Sie hätten keine Gelegenheit, sein Werk zu Ende zu führen.« McFarlane wandte sich stumm ab, obwohl er sich im Stillen eingestehen musste, dass Glinn Recht hatte. »Glauben Sie mir, er wird uns von großem Nutzen sein«, fuhr Glinn fort, während sie den steilen, schlammigen Weg zum Hafen hinunterstiegen. »Und das Beste ist: Er kann nicht in Puerto Williams herumlungern und den Gerüchten, die dort vermutlich bald die Runde machen werden, durch ein paar Schauergeschichten über seine Erlebnisse auf der Isla Desolación neue Nahrung geben.«

  

  

  

 

Rolvaag

  

14.50 Uhr

  

Als das Boot den Beagle-Kanal verlassen hatte und sich der Rolvaag näherte, lag der Nebel so schwer und kalt über dem Meer, dass die kleine Gruppe im Ruderhaus Zuflucht suchte. Britton und Glinn ließen sich auf einem Stapel Schwimmwesten nieder und nahmen dabei Puppup in ihre Mitte, der weiter kein Anzeichen von Bewusstsein zeigte. Von Zeit zu Zeit musste einer von ihnen zupacken, wenn der spindeldürre Alte von seiner wackeligen Unterlage zu rutschen und seitlich wegzukippen drohte. Das Einzige, was Britton ein wenig stutzig machte, war, dass er sich meistens ihre Seite aussuchte und jedes Mal versuchte, sich eng an ihren Kolani zu kuscheln. »Ich glaube, der Bursche simuliert nur«, sagte sie, als sie wieder einmal die Hand des alten Mannes vom Schoß schieben musste. Glinn lächelte amüsiert. Und erst da fiel McFarlane auf, dass er, seit sie die Zollstation verlassen hatten, nicht mehr von Hustenattacken geschüttelt wurde. Glinn paffte auch keine Zigaretten mehr, seine Augen sahen nicht mehr gerötet aus, er wirkte auf wundersame Weise wieder fit und dynamisch. Vor ihnen tauchten gespenstisch die Umrisse des Ice Ship aus der rauen See auf. Das Boot legte längsseits an und wurde von den Davits hochgehievt. Als sie an Bord waren, zeigte Puppup die ersten Lebenszeichen. Mit McFarlanes Hilfe kam er schließlich schwankend auf die Beine. »John Puppup?«, fragte Glinn freundlich und streckte ihm die Hand hin. »Ich bin Eli Glinn.« Puppup schüttelte stumm die angebotene Hand und dann, weil er gerade dabei war, sämtliche Hände, deren er im näheren Umkreis habhaft werden konnte: die des Bootsführers, des Stewards und zweier verdutzter Matrosen. Captain Britton schüttelte er besonders hingebungsvoll die Hand. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Glinn. Puppup sah sich mit plötzlich wieder klarem Blick um und fuhr sich nachdenklich über den spärlichem Oberlippenbart. Die fremde Umgebung schien ihn weder zu überraschen noch zu beunruhigen. Er zog nur seine schmutzigen Geldscheine aus der Hosentasche, zählte sie und steckte sie zufrieden wieder weg. »Sie werden sich möglicherweise wundern, Mr. Puppup, wie Sie hierher kommen«, fuhr Glinn fort. »Mr. Davies ...« – er deutete auf den Steward – »... wird Ihnen Ihre Kabine zeigen. Dort können Sie sich waschen; frische Kleidung zum Wechseln liegt ebenfalls bereit.« Der alte Mann sah ihn nur stumm an. »Vielleicht spricht er kein Englisch«, murmelte McFarlane. Da kam er bei Puppup schlecht an. »Das sprech ich genauso gut wie der König, Kumpel – kapiert?« Er hatte einen hohen, melodiösen Tonfall, in den sich alle möglichen Akzente mischten, eindeutig dominiert von Cockney-Englisch. »Wenn Sie sich eingerichtet haben, will ich gern alle Fragen beantworten, die Sie eventuell haben«, fuhr Glinn fort. »Wir treffen uns morgen früh in der Bibliothek, wenn’s recht ist.« Er gab Davies einen Wink. Puppup drehte sich wortlos um und folgte dem Steward. Und während die anderen sich noch fragend ansahen, erwachte plötzlich mit krächzendem Knacken der Schiffslautsprecher zum Leben, kurz darauf hörten sie Victor Howell mit blechern verzerrter Stimme sagen: »Kapitän auf die Brücke«. »Was ist da los?«, wollte McFarlane wissen. Britton zuckte gelassen die Achseln. »Das wird sich gleich herausstellen.«

Vor den großen Fenstern der Brücke waberte undurchdringliches Grau, es war praktisch nichts zu erkennen, nicht einmal das Deck des eigenen Schiffes. McFarlane spürte sofort die knisternde Atmosphäre. Statt der üblichen, auf zwei, höchstens drei Mann beschränkten Brückenwache drängte sich jetzt gut ein halbes Dutzend Schiffsoffiziere um den Kommandostand. Aus dem Funkraum hörte man hektisches Getippe auf einer Tastatur. »Was liegt an, Mr. Howell?«, fragte Britton ruhig. Howell blickte von einem der Bildschirme auf. »Radarkontakt«, meldete er. »Unbekanntes Schiff. Antwortet nicht auf unsere Signale. Nach Geschwindigkeit und Radarquerschnitt vermutlich ein Kriegsschiff.« Er beugte sich zur Seite, drückte kopfschüttelnd einige Schalter: »Ist zu schnell, unser FLIR zeigt kein klares Bild.« »Wie weit weg?«, wollte Britton wissen. »Sie scheinen zu kreisen, als suchten sie was. Augenblick mal – der Kurs hat sich stabilisiert. Acht Meilen, Peilung eins sechs null konstant, näher kommend. Das ESM zeigt Radarortung an, sie haben uns erfasst.« Captain Britton trat neben ihn und beugte sich über die Radarhaube. »Die sind auf CBDR. Zeit für CPA?« McFarlanes Blick huschte ratlos zwischen Britton und Howell hin und her, er wurde aus dem Buchstabensalat nicht schlau. »Kollisionskurs«, sagte Howell leise. Britton fragte den Dritten Offizier am Kommandostand: »Machen wir Fahrt?« Der Offizier nickte. »Beide Maschinen Volldampf voraus, Ma’am. Wir machen Fahrt.« »Anweisung an Maschinenraum: Fahrt drosseln.« »Aye, aye, Ma’am.« Der Offizier griff nach einem der schwarzen Telefone. Ein leichtes Beben lief durch den Schiffsrumpf, als die Maschinen umsteuerten. Sirenengeheul signalisierte Anti-Kollisions-Alarm. McFarlane schluckte schwer. »Können wir nicht auf Ausweichkurs gehen?« Britton schüttelte den Kopf. »Dafür sind wir zu groß, sogar bei voller Maschinenkraft rückwärts. Wir können ihnen nur Warnzeichen geben.«

Hoch über ihnen, am Radarmast, stieß das Nebelhorn sein ohrenbetäubendes Heulen aus. »Kurs unverändert«, sagte Howell, den Kopf tief unter der Radarhaube. »Ruder bestätigt«, meldete der Dritte Offizier. »Ruder mittschiffs«, ordnete Britton an und stieß die Tür zum Funkraum auf. »Was Neues, Banks?« »Nein, Ma’am, keine Antwort.« McFarlane starrte aus den Bugfenstern. Die Wischerblätter schoben unermüdlich einen Film aus Nebel und Schnee beiseite, der sich im nächsten Moment aber nur umso dicker auf die Scheiben legte. Irgendwo weit hinten versuchten ein paar verlorene Sonnenstrahlen beharrlich, die dicke graue Suppe zu durchdringen. »Können die uns nicht hören?«, fragte McFarlane. »Doch, sicher«, antwortete Glinn leise, »die Burschen wissen ganz genau, dass wir hier sind.« »Kurs unverändert«, murmelte Howell unter der Radarhaube. »Kollision in neun Minuten.« »Leuchtkugeln in Richtung auf das unbekannte Schiff«, ordnete Britton an. Howell gab den Befehl weiter. Britton wandte sich an den Wachoffizier. »Wie reagiert das Ruder?« »Bei der Geschwindigkeit, Ma’am? Wie ein voll gefressenes Hängebauchschwein.« »Fünf Minuten«, meldete Howell. »Abstand verringert sich immer schneller.« »Mehr Leuchtkugeln«, befahl Britton, »diesmal auf das Schiff halten. Schalten Sie mich auf ICM-Frequenz.« Sie griff nach dem Mikro. »Hier spricht der Tanker Rolvaag. Nicht identifiziertes Schiff eine Seemeile achteraus backbord meiner Position: Ändern Sie Ihren Kurs um zwanzig Grad steuerbord, um eine Kollision zu vermeiden. Ich wiederhole: Kurs um zwanzig Grad steuerbord ändern.« Sie wiederholte die Aufforderung auf Spanisch und drehte dann die Lautstärke des Empfängers auf.

Alle auf der Brücke hielten den Atem an, doch bis auf das statische Rauschen war nichts zu hören. Britton sah den Rudergänger an, dann Howell. »Drei Minuten«, meldete der Erste Offizier. Britton griff wieder zum Mikro. »An alle, hier spricht der Kapitän. Vorbereiten auf Kollision Bug steuerbord.« Mitten in das Heulen des Nebelhorns hinein schrillte die Alarmanlage los, auf der Brücke blinkten sämtliche Lichter. »Steuerbord unmittelbar vor dem Bug!«, rief Howell. »Feuerlösch- und Rettungstrupps fertig machen!«, ordnete Britton an, zog einen Handlautsprecher aus der Halterung, rannte zu der Tür, die zum Steuerbord-Brückennock führte, und riss sie auf. Glinn und McFarlane folgten ihr. Dichter, eiskalter Nebel hüllte sie ein. McFarlane hörte von den unteren Decks aufgeregte Rufe und hastige Schritte. Captain Britton war bis ans hintere Ende des Nocks gelaufen und lehnte sich, den eingeschalteten Handlautsprecher vor dem Mund, über die Reling. Gut dreißig Meter unter ihr tobte die aufgewühlte See. Plötzlich riss der Nebel auf, er schien in zwei getrennten Schwaden achtern über das Hauptdeck zu driften. McFarlane hatte allerdings den Eindruck, dass er sich steuerbord umso dichter und finsterer vor dem Bug der Rolvaag ballte. Und dann tauchte auf einmal ein Wald von Antennen aus der dicken Suppe auf und die halb vom Nebel verschluckten roten und grünen Ankerlichter eines Schiffs. Das Nebelhorn der Rolvaag heulte wieder seine Warnung, doch das fremde Schiff hielt bei unverminderter Fahrt mit schäumender Bugwelle weiter auf sie zu. Allmählich zeichneten seine Umrisse sich klarer ab. Es war ein Zerstörer – ein uraltes, von Rost angefressenes Kriegsschiff. Chilenische Flaggen flatterten auf dem Brückendeck und am Heck, aus den Geschützständen am Vor- und Achterdeck starrten die Mündungen der Zehn-Zentimeter-Geschütze bösartig zu ihnen herüber. Britton schrie etwas in ihre Flüstertüte. Alarmsirenen schrillten. McFarlane glaubte zu spüren, wie die Platten des Brückennocks unter seinen Füßen bebten, als die Maschinen gegensteuerten, um dem Schiff einen Ausweichkurs aufzuzwingen. Aber die Rolvaag war viel zu groß, um schnell genug zu reagieren. Er stemmte die Füße fest auf den Boden, klammerte sich mit beiden Händen an der Reling fest und wartete auf die unvermeidliche Kollision. Im letzten Augenblick drosselte der Zerstörer seine Fahrt, wich nach Backbord aus und glitt – höchstens sechs, sieben Meter vor ihrem Bug – an ihnen vorbei. An der Reling der Brücke stand in voller Uniform, mutterseelenallein, der Comandante der chilenischen Marine, dem sie heute Morgen in der Zollstation begegnet waren. Der Wind zauste an den goldenen Abzeichen seiner Offiziersmütze. Er schien zum Greifen nahe zu sein, sogar die Gischtspritzer auf seinem Gesicht konnte Mc-Farlane sehen. Vallenar schenkte ihnen keine Beachtung. Er stützte sich auf ein an der Reling montiertes Maschinengewehr Kaliber 50, aber die Lässigkeit, mit der er das tat, war nur vorgetäuscht. Die Mündung des schweren MG war direkt auf sie gerichtet, genau wie seine schwarzen Augen, und in beidem las McFarlane eine unverhohlene Todesdrohung. Dann fiel der Zerstörer achtern zurück und wurde vom Nebel verschluckt, der Spuk war vorüber. Die plötzliche Stille hatte etwas Unheimliches, McFarlane spürte, wie ihm ein kalter Schauder über den Rücken lief.

 

  

  

  

Rolvaag

  

13. Juli, 6.30 Uhr

  

McFarlane wälzte sich unruhig im Bett seiner Luxuskabine. Die Laken hatten sich zu einem Knäuel verheddert, das Kopfkissen war nass geschwitzt. Er rutschte zur anderen Betthälfte hinüber, um aus alter Gewohnheit Malous tröstliche Wärme zu suchen. Aber seine Hand tastete ins Leere, es gab keine Malou mehr. Er setzte sich auf und wartete, bis sein Herzschlag sich so weit beruhigt hatte, dass er die Bilder seines Albtraums von einem Schiff in schwerer See verbannen konnte. Als er sich mit der Hand über die Augen fuhr, merkte er, dass doch nicht alles nur geträumt war: die Rolvaag schlingerte tatsächlich, es war nicht das sanfte Wiegen wie sonst, eher ein bockiges Stampfen. Er schob die Bettdecke weg, ging zum Fenster und zog den Vorhang zurück. Im Dämmerlicht kurz vor dem Morgengrauen sah er Schneeregen gegen die Scheibe klatschen, am unteren Fensterrahmen hatte sich eine Eisschicht gebildet. Die dunkle Kabine bedrückte ihn, er zog sich rasch an. So scheußlich das Wetter auch sein mochte, es drängte ihn an die frische Luft. Verschlafen stolperte er die Stufen zum Hauptdeck hinunter; wegen der Schlingerbewegungen suchte er vorsichtshalber am Handlauf des Niedergangs Halt. Als er das Schott aufdrückte, blies ihm ein eisiger Wind ins Gesicht. Der kalte Schwall war ein richtiger Muntermacher, außerdem trieb er ihm die Flausen aus. Im Halbdunkel konnte er erkennen, dass die luvwärts gelegenen Luken, die Davits und Container mit Eis überzogen waren, auf dem Deck lag dünner Schneematsch. Deutlich hörte er die schweren Brecher, die das Schiff backbord trafen, und das irgendwie bedrohlich klingende Stampfen der Maschinen. Ein Stück weiter vorn lehnte sich jemand über die Backbordreling, den Kopf weit nach vorn gebeugt. Als er näher kam, sah er, dass es Amira war, in ihren einige Nummern zu großen Parka gemummt. »Was machen Sie denn hier?«, fragte er. Sie wandte sich um. Kein besonders schöner Anblick: Ihr Teint hatte sich leicht ins Grünliche verfärbt, ein paar nasse Strähnen hingen ihr wirr ins Gesicht. »Ich versuche zu kotzen«, sagte sie. »Und was hat Sie aus dem Bett getrieben?« »Ich konnte nicht schlafen.« Amira nickte. »Ich hoffe, der verdammte Zerstörer taucht noch mal auf. Wäre mir ein Vergnügen, diesem aufgeblasenen Comandante den Inhalt meines Magens über den Kopf zu kippen.« McFarlane ging nicht darauf ein. Die Begegnung mit dem chilenischen Kriegsschiff und die Spekulationen über das Motiv des Comandante waren das Thema Nummer eins beim Abendessen gewesen. Lloyd hatte, als er von dem Zwischenfall hörte, vor Wut getobt. Nur Glinn schien keinen Anlass zu sehen, sich wegen Vallenar Sorgen zu machen. »Nun sehen Sie sich das an!«, riss ihn Amira aus seinen Gedanken. McFarlane folgte ihrem Blick und sah im Dunkeln die Gestalt eines nur mit einem grauen Trainingsanzug bekleideten Joggers an der Backbordreling entlangtraben. Und dann erkannte er in der Gestalt Sally Britton. »Typisch. Nur sie ist Manns genug, bei diesem Wetter joggen zu gehen«, stichelte Amira. »Ja, sie ist ziemlich hart im Nehmen.« »Ich würde das eher verrückt nennen«, meinte Amira boshaft. »Sehen Sie, wie es unter dem Sweatshirt hüpft und wogt?« McFarlane sagte nichts. Er fühlte sich ertappt, weil er auch gerade hingestarrt hatte. »Nicht, dass Sie mich missverstehen, ich registriere das aus rein wissenschaftlichem Interesse. Weil ich mich nämlich frage, wie man bei derart eindrucksvollen Brüsten zu einer brauchbaren statischen Berechnung kommen soll.« »Was für eine statische Berechnung denn?« »Die Lieblingsbeschäftigung aller Physiker. Man berücksichtigt dabei alle physischen Gegebenheiten eines Objekts -Temperatur, Druckverhältnisse, Dichte, Elastizität...« »Schon gut«, fiel ihr McFarlane ins Wort, »das war anschaulich genug formuliert.« Amira wechselte rasch das Thema. »Sehen Sie mal, dort drüben liegt wieder ein Wrack.« In der kalten Winterluft konnte McFarlane in einiger Entfernung die Umrisse eines großen Schiffes ausmachen, dessen Heck offenbar an einem Felsen zerschellt war. »Wie viele sind’s jetzt – vier?«, rätselte Amira. »Ich glaube, das ist das Fünfte.« Auf der Fahrt von Puerto Williams nach Kap Hoorn waren sie immer häufiger an gestrandeten Schiffen vorbeigekommen, einige davon fast so groß wie die Rolvaag. Irgendwie erinnerte die Route fatal an einen Schiffsfriedhof. »Ah, man gibt sich die Ehre«, murmelte Amira. Brittons Schritt verlangsamte sich, sie joggte auf der Stelle. Der vom Schneeregen durchweichte Trainingsanzug klebte ihr hauteng auf dem Körper. McFarlane musste unwillkürlich an Amiras statische Berechnung denken. »Guten Morgen«, grüßte Britton. »Dann kann ich Sie ja gleich informieren: Ich habe vor, ab neun Uhr das Betreten des Decks ohne Schwimmweste zu verbieten.« »Warum das?,« fragte McFarlane. »Ein Sturm kommt auf.« »Kommt auf?« Amira lachte trocken. »Ich würde sagen, wir sind mitten drin.« Britton beachtete sie gar nicht, sie sah weiter McFarlane an. »Sobald wir aus dem Lee der Isla Navarino sind, müssen wir mit starken Böen rechnen – daher die Schwimmwesten.« Sie nickte McFarlane zu und trabte weiter. »Danke für die Warnung«, rief er ihr nach, wandte sich, als sie außer Hörweite war, zu Amira um und fragte: »Was haben Sie eigentlich gegen unseren Kapitän?« Amira zögerte. Erst nach einer Weile erwiderte sie: »Irgendwas an dieser Sally Britton ärgert mich. Sie ist zu perfekt.« »Ich nehme an, das gehört dazu, wenn jemand das ausstrahlt, was im Allgemeinen mit dem Begriff ›Führungsqualitäten‹ bezeichnet wird.« »Und dann die Sache mit den Getränken. Sie hat ein Alkoholproblem, und alle anderen müssen dafür büßen. Ich finde das nicht fair.« McFarlane fühlte sich verpflichtet, das zurechtzurücken. »Die Anordnung war Glinns Entscheidung.« Sie sah ihn verdutzt an, dann schüttelte sie seufzend den Kopf. »Ja, das sieht Eli wieder mal ähnlich, finden Sie nicht? Ich wette, wenn er die Entscheidung getroffen hat, gibt es irgendwelche zwingend logischen Gründe dafür. Aber die will er natürlich keinem auf die Nase binden.« Der Wind frischte auf, McFarlane fröstelte. »Also, ich habe für eine Weile genug frische Luft geschnappt. Wollen wir mal probieren, ob wir schon Frühstück bekommen?« Amira stöhnte gequält auf. »Gehen Sie schon voraus, ich warte lieber noch ein bisschen. Sie wissen ja: Mir liegt was im Magen; aber irgendwann muss es ja rauskommen.«

Nach dem Frühstück machte McFarlane sich auf den Weg zur Bibliothek, Glinn hatte ihn gebeten, sich dort mit ihm zu treffen. Der Raum war riesig, wie alles auf dem Tanker. Die Fensterfront, die sich über die ganze Längswand erstreckte, war mit Schnee bestäubt. Dahinter schien sich – endlos weit – eine schwarze Wasserwüste zu dehnen, über der eine Wand aus Schneegriesel fast waagerecht auf sie zutrieb. Die Regale enthielten ein breit gefächertes Büchersortiment: nautische Fachliteratur, Enzyklopädien, halb vergessene Bestseller und Lesestoff à la Reader’s Digest. Während er – um sich die Zeit zu vertreiben, bis Glinn kam – die Reihen überflog, merkte er, wie sich Unruhe in ihm breit machte. Je näher sie der Isla Desolación kamen – dem Ort, an dem Masangkay gestorben war –, desto aufgewühlter fühlte er sich. Und sie hatten es nicht mehr weit. Noch heute wollten sie das Hoorn umrunden, danach konnte es nicht mehr lange dauern, bis sie irgendwo zwischen den Inseln Anker warfen. Seine Finger machten bei einem schmalen Band mit dem Titel »Die denkwürdigen Erlebnisse des Arthur Gordon Pym« Halt – das Buch, von dem Brambell am ersten Abend auf See gesprochen hatte, beim Abendessen. Neugierig griff er danach und setzte sich damit auf ein Sofa. Es roch gut nach Buchbinderleinwand und altem Papier.

Mein Name ist Arthur Gordon Pym. Mein Vater genoss in

Nantucket, wo ich geboren bin, als Makler für

Schifffahrtspapiere einiges Ansehen. Mein Großvater

mütterlicherseits war Anwalt mit einer florierenden Kanzlei.

Was er auch anfing, er hatte mit allem Glück, zum Beispiel

auch – das war jedenfalls die offizielle Lesart – bei der

erfolgreichen Spekulation mit Wertpapieren der Edgarton

New-Bank. McFarlane fand den Anfang enttäuschend trocken und war daher erleichtert, als die Tür aufging und Glinn eintrat. Hinter ihm kam höflich lächelnd und mit angedeuteten Verbeugungen Puppup herein, das lange graue Haar zu einem Zopf gebunden und das schüttere Bärtchen frisch gebürstet. Eine Ähnlichkeit mit dem Trunkenbold, den sie gestern Nachmittag an Bord geschleppt hatten, war kaum noch zu erkennen. »Entschuldigung, dass Sie warten mussten«, sagte Glinn. »Ich hatte eine kurze Unterredung mit Mr. Puppup. Er scheint bereit zu sein, uns zu unterstützen.« Puppup grinste und begann sofort wieder mit Händeschütteln, wobei McFarlane überrascht feststellte, dass seine Hand sich erstaunlich trocken und kühl anfühlte. Glinn winkte McFarlane zur Fensterfront. Durch die wabernden Nebelschwaden konnten sie nordöstlich eine kahle Insel aus dem Wasser ragen sehen, kaum mehr als der zerklüftete, von weißer Brandung umtoste Gipfel eines vom Meer verschlungenen Berges.

»Das ist die Isla Barneveit«, sagte Glinn. Gleich darauf enthüllte urplötzlich, als wäre über dem vom Sturm gepeitschten Meer ein Vorhang aufgerissen worden, ein Streifen Licht am Horizont die Konturen einer Insel, um deren schroffe Berge Nebel und stiebender Schnee wallten: »Und das dort hinten ist die Isla Deceit, die östlichste der Kap-Hoorn-Inseln.« Gerade als sich, wiederum dahinter und mehr zu ahnen als zu sehen, die Umrisse anderer Berggipfel abzuzeichnen begannen, war der Lichtstreif wie eine Fata Morgana verschwunden, schwarze Nacht hüllte das Schiff ein. Glinn riss sich von dem Anblick los und zog ein Papier aus der Tasche. »Diese Nachricht habe ich vor einer halben Stunde erhalten.« Er hielt McFarlane das gefaltete Blatt hin. Neugierig faltete er den Bogen auf. Ein knapp gehaltener Funkspruch: Zielinsel auf keinen Fall betreten, bevor Sie nicht weitere Instruktionen von mir erhalten haben. Lloyd. McFarlane gab das Papier Glinn zurück, der es sofort wieder einsteckte. »Lloyd hat mich nicht über seine Pläne informiert. Was hat das Ihrer Meinung nach zu bedeuten? Warum hat er nicht zum Telefon gegriffen oder eine E-Mail geschickt?« Glinn zuckte die Achseln. »Vielleicht hatte er gerade kein Telefon zur Hand.« Er fasste McFarlane am Arm. »Haben Sie Lust, mit auf die Brücke zu kommen? Von oben ist die Aussicht noch spektakulärer.« Glinn hatte Recht, der Anblick des aufgewühlten Meeres machte einem hier noch mehr Angst. Schwarze Wellenberge schienen wütend übereinander herzufallen, als wollten sie einander verschlingen, während zugleich der Sturm über ihnen heulte und ihnen tiefe Furchen in die Kämme grub. Vor McFarlanes Augen kippte der Bug der Rolvaag in einen schier bodenlosen Abgrund zwischen zwei Wellenbergen, um sich im nächsten Moment wieder nach oben zu kämpfen und sich, von Kaskaden ablaufenden Meerwassers umspült, der nächsten Herausforderung zu stellen.

Britton wandte sich zu ihnen um, ihr Gesicht sah im gedämpften Schein des künstlichen Lichts verklärt aus. »Wie ich sehe, haben Sie unseren Lotsen mitgebracht.« Der Blick, mit dem sie Puppup musterte, strahlte nicht allzu viel Vertrauen aus. »Ich bin gespannt, welche Fahrrinne er uns empfiehlt, wenn wir so weit sind, das Hoorn zu umrunden.« Victor Howell, der neben ihr stand, fuhr plötzlich kerzengerade hoch. »Da ist es schon.« Vor ihnen blitzte – nur wenige Sekunden, so lange der Sturm Atem holte – über der von Brandung umtobten, zerklüfteten Spitze eines gewaltigen Felsmassivs in der Ferne ein kreisender Lichtstrahl auf. »Cabo de Hornos«, murmelte Glinn. Dann wandte er sich an Captain Britton. »Aber ich bin wegen etwas anderem gekommen. Wir sollten darauf gefasst sein, dass wir jeden Augenblick Besuch bekommen ...« »Captain!«, rief der über den Radarschirm gebeugte Dritte Offizier dazwischen, »das Slick 32 meldet Radarkontakt mit einem Flugobjekt, Annäherung von Nordosten.« »Kurs?« »Null vier null konstant, Ma’am. Direkt vor uns.« Die Luft auf der Brücke war spannungsgeladen. Victor Howell eilte zum Radarschirm und sah dem Mann über die Schulter. »Entfernung und Geschwindigkeit?«, wollte Britton wissen. »Sechzig Kilometer, nähert sich mit etwa hundertsiebzig Knoten, Ma’am,« meldete Howell. »Ein Aufklärungsflugzeug?« Howell richtete sich auf. »Bei diesem Wetter?« Wie zur Bestätigung schleuderte ihnen eine Sturmböe prasselnden Regen gegen die Scheiben. »Nun, ein Hobbyflieger mit einer Cessna wird es sicher nicht sein«, murmelte Britton. »Könnte es sich um ein vom Kurs abgekommenes Verkehrsflugzeug handeln?« »Sehr unwahrscheinlich. Gewöhnlich sind hier nur alte Mühlen im Charterdienst unterwegs. Und die bleiben bei so einem Sauwetter wohlweislich am Boden.« »Eine Militärmaschine?« Keine Antwort, alle schwiegen vor sich hin. »Kurs?«, fragte Captain Britton noch einmal, diesmal sehr leise, als ahne sie die Antwort schon. »Hält weiter direkt auf uns zu, Ma’am.« Britton nickte zögerlich. »Also gut – akustischen Alarm vorbereiten, Mr. Howell.« Ehe Howell reagieren konnte, steckte Banks, der Funkoffizier, den Kopf aus der Tür des Funkraums. »Dieser Vogel da draußen – das ist ein Helikopter der Lloyd Holdings.« »Sind Sie sicher?«, vergewisserte sich Britton. »Ich habe sein Anrufzeichen verifiziert.« »Nehmen Sie Kontakt mit dem Hubschrauber auf«, wies Britton ihn an. Glinn ließ den zusammengefalteten Bogen mit dem Funkspruch, den er schon in der Hand hielt, wieder in der Tasche verschwinden. Er hatte sich die ganze Zeit über nicht von der plötzlichen Hektik anstecken lassen und wirkte auch jetzt gelassen und ruhig. »Ich denke«, sagte er leise zu Britton, »Sie sollten vorsichtshalber den Landeplatz vorbereiten lassen.« Britton fuhr herum und starrte ihn an. »Bei dem Wetter?« Und in dem Moment kam Banks wieder aus dem Funkraum geschossen. »Der Helikopter bittet um Landeerlaubnis, Ma’am.« »Ist denn das zu fassen?«, empörte sich Howell. »Wir haben Windstärke acht!« »Ich glaube, es bleibt uns nichts anderes übrig«, sagte Glinn. Während der nächsten Minuten herrschte auf dem Deck hektische Betriebsamkeit. Wer nicht unbedingt an anderer Stelle gebraucht wurde, half bei den Vorbereitungen für die Hubschrauberlandung mit. Als sich McFarlane und Glinn Seite an Seite dem zum hinteren Teil des Decks führenden Schott näherten, versperrte ihnen ein grimmig dreinblickendes Besatzungsmitglied den Weg und hielt ihnen wortlos Schwimmwesten hin. McFarlane streifte die unförmige Weste über und hakte die Halteriemen fest. Der Matrose zog kurz daran, brummte zufrieden und entriegelte das Schott. Die Windböe traf McFarlane so jäh und heftig, dass er fürchtete, über die Reling getrieben zu werden. Wie alle auf Deck beschäftigten Besatzungsmitglieder hakte er deshalb die Sicherungsleine seiner Weste an der Laufreling fest und kämpfte sich, gegen den Sturm gestemmt, langsam auf den Landeplatz zu. Obwohl die Maschinen so weit gedrosselt waren, dass das Schiff auch in schwerer See gerade noch Kurs halten konnte, schwankte das Deck bedrohlich hin und her. Der Landeplatz wurde von starken Scheinwerfern angestrahlt, die grell rot gestrichene Fläche war sogar im fast waagerecht einfallenden Schneeregen noch deutlich zu erkennen. »Da ist er!«, schrie jemand. McFarlane starrte mit zusammengekniffenen Augen in den Schneesturm. In einiger Entfernung zeichneten sich die Umrisse einer riesigen Chinook ab, die Positionslichter schienen gespenstisch aus der Dunkelheit zu ihnen herüber zu blinzeln. Sooft eine Böe den Hubschrauber traf, fing er regelrecht zu trudeln an. Plötzlich heulte irgendwo eine Sirene, blinkende Warnleuchten warfen einen orangefarbenen Schimmer auf die Aufbauten der Rolvaag. McFarlane hörte am lauten Klopfen der Rotoren, wie schwer der Hubschrauber gegen den Sturm ankämpfen musste. Howell stand breitbeinig am Rand des Landeplatzes; er hatte zwar immer noch das Funkgeschirr umgeschnallt, vertraute aber wohl unter den gegebenen Umständen eher dem Handlautsprecher, durch den er dem Hubschrauberpiloten unablässig irgendwelche Kurskorrekturen zurief. Die Chinook schwebte in Landeposition über ihnen, die kreisenden Rotoren ließen unbarmherzig nassen Schnee über der Besatzung der Rolvaag niedergehen. Der Bauch des Hubschraubers näherte sich schlingernd dem von einer Seite auf die andere schwankenden Deck. Einen bangen Augenblick lang glaubte McFarlane, der Pilot würde es nie schaffen, dann setzte die Maschine nach einem missglückten ersten Landeversuch auf. Ein paar Matrosen huschten geduckt zu der Chinook, um die Reifen mit Holzkeilen zu sichern. Die Ladetür glitt auf, ein Dutzend mit Gepäck und Bürogeräten beladene Männer und Frauen kletterten stolpernd ins Freie. Und dann kam er – unverwechselbar, in Stiefeln, den vom Sturm geblähten Südwester auf dem Kopf, in gefüttertes Regenzeug gemummt: Palmer Lloyd. Als er Glinn und McFarlane entdeckte, winkte er ihnen enthusiastisch zu. Ein Besatzungsmitglied rannte herbei, um ihm eine Schwimmweste und die Sicherungsleine anzulegen, aber Lloyd winkte ab. Er wischte sich den Schneeregen aus dem Gesicht, stürmte auf Glinn und McFarlane zu und fasste sie an den Händen. »Gentlemen«, schrie er mit strahlendem Siegerlächeln gegen den Sturm an, »ich gebe eine Runde Kaffee aus.«

 

Rolvaag

11.15 Uhr

McFarlane drückte den Knopf für das mittlere Brückendeck. Er war oft dort vorbeigekommen und hatte sich immer gefragt, warum Glinn die Räume dort nicht nutzte, ja sie sogar wie eine Art verbotene Zone behandelte. Jetzt, als der Lift ihn lautlos nach oben trug, war ihm die Antwort klar: Glinn hatte die ganze Zeit über gewusst, dass Lloyd nachkommen würde. Die Tür glitt auf, McFarlane stolperte mitten in ein Szenario hektischer Aktivität: Telefone klingelten, Faxgeräte ratterten, Drucker keuchten, Sekretärinnen aus Lloyds persönlichem Arbeitsstab wieselten hin und her, hingen am Telefon, tippten mit flinken Fingern etwas ins Keyboard – kurzum, sie trugen unermüdlich dazu bei, den Profit der Lloyd Holdings zu mehren. Ein Mann in hellem Sommeranzug bahnte sich seinen Weg durch das Chaos. Übergroße Ohren, schlaffer Mund, geschürzte Lippen – McFarlane wusste sofort, dass er Penfold vor sich hatte, Lloyds persönlichen Assistenten. Und Penfold hatte ihn offenbar ebenfalls erkannt und kam auf ihn zu. Das heißt, streng genommen kam er nie auf jemanden zu, das wäre ihm viel zu plump erschienen; er näherte sich seinem Ziel vielmehr stets in einem irreführenden Zickzackkurs an. »Dr. McFarlane?«, fragte Penfold in seinem nervösen, hohen Singsang. »Hier entlang, bitte.« Er führte McFarlane in das kleine, mit schwarzen Ledersofas und einem goldgefassten Glastisch ausstaffierte Besucherzimmer. Aus dem Büro nebenan dröhnte Lloyds sonore Bassstimme. »Bitte, nehmen Sie Platz«, bat Penfold, »Mr. Lloyd wird gleich hier sein.« Er zog sich zurück, McFarlane ließ sich auf einem knarrenden Sofa nieder und blätterte in den ausliegenden Magazinen – Scientific American, New Yorker und New Republic, jeweils die neueste Ausgabe. Aber er nahm den Text und die Fotos gar nicht richtig wahr, weil ihm etwas ganz anderes durch den Kopf ging. Weshalb war Lloyd so plötzlich gekommen? War etwas schief gegangen? »Sam!« Lloyd stand unter der Tür, groß und massig und gut gelaunt – eine geballte Ladung Selbstvertrauen. McFarlane erhob sich höflich, Lloyd kam mit ausgestreckten Armen auf ihn zu, fasste ihn an den Schultern und drückte ihn herzlich. »Es ist schön, Sie wieder in meiner Nähe zu haben. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie aufregend es für mich ist, hier zu sein. Kommen Sie, gehen wir rein zu mir.« McFarlane folgte Lloyds breitem, mit feinem Valentino-Zwirn bekleideten Rücken. Das Chefbüro war recht spärlich ausgestattet: eine Fensterfront, durch die das klare Licht der Antarktis hereinfiel, zwei schlichte Schwingsessel, auf dem Schreibtisch ein Telefon, ein Laptop, zwei leere Gläser und eine zum Atmen geöffnete Flasche Chateau Margaux. Lloyd deutete auf die Flasche. »Lust auf ein Glas?« McFarlane nickte grinsend. Lloyd schenkte ihnen ein, ließ sich in den Sessel hinter dem Schreibtisch fallen und hob sein Glas. »Cheers!« Sie stießen an, McFarlane nahm einen Schluck. Er war kein Weinkenner, aber bei diesem rubinroten Tropfen merkte selbst ein ungeübter Gaumen, dass ihm Gutes widerfuhr. »Ich hasse Glinns Geheimniskrämerei«, beklagte sich Lloyd ungehalten. »Warum sagt er mir nicht, dass auf der Rolvaag Alkoholverbot herrscht? Und lässt kein Wort über Brittons Vergangenheit fallen? Ich verstehe nicht, wie er so jemandem die Führung der Rolvaag anvertrauen kann. Er hätte mich unbedingt in Elizabeth darüber informieren müssen. Gott sei Dank, dass es bisher keine Probleme gegeben hat.« »Sie ist ein ausgezeichneter Kapitän«, sagte McFarlane. »Man merkt ihr die Erfahrung an. Sie kennt ihr Schiff in- und auswendig, das trägt ihr bei der Mannschaft großen Respekt ein. Ihr macht so schnell keiner ein X für ein U vor.« Lloyd hörte ihm aufmerksam zu. »Nun, das höre ich gern ...« Weiter kam er nicht, das Telefon klingelte. »Was gibt’s?«, raunzte er ungehalten in den Hörer. »Ich bin in einer Besprechung.« Er lauschte seiner Sekretärin einen Augenblick. McFarlane nutzte die Pause, um über Lloyds letzte Bemerkung nachzudenken. In gewisser Weise hatte Lloyd Recht, die Geheimniskrämerei war Glinn zur zweiten Natur geworden. Oder es steckte instinktives Misstrauen dahinter. »Ich rufe den Senator zurück«, sagte Lloyd. »Und jetzt bitte keine Anrufe mehr.« Er stand auf, ging zum Fenster, verschränkte die Hände auf dem Rücken und blickte auf das von Schneeregen verschleierte Panorama, das sich ihm bot. »Gigantisch«, murmelte er fast ehrfürchtig. »Mein Gott, Sam, in spätestens einer Stunde sind wir da!« Er riss sich von dem Anblick los. »Ich habe einen Entschluss gefasst. Eli muss ich es noch sagen, aber Sie sollen es zuerst erfahren.« Einen Atemzug lang Schweigen. »Ich habe vor, die Fahne zu hissen.« McFarlane starrte ihn an. »Sie haben was vor?« »Ich werde heute Nachmittag als Erster meinen Fuß auf die Isla Desolación setzen.« McFarlane spürte ein beunruhigendes Kribbeln im Magen. »Ganz allein? Nur Sie?« »Ja, nur ich. Und diese komische Nummer Puppup, natürlich. Er muss mich zu dem Meteoriten führen.« McFarlanes ungutes Gefühl verstärkte sich. »Nur Sie?«, wiederholte er. »Sie wollen bei der Entdeckung des Meteoriten niemanden dabeihaben?« »Nein, keinesfalls. Warum auch, zum Teufel? Peary hat es bei seinem letzten Vorstoß zum Pol genauso gemacht. Glinn wird das wahrscheinlich nicht passen, aber es ist nun mal meine Expedition. Ich gehe allein, das muss er verstehen.«

McFarlane saß wie angewurzelt da. Und dann sagte er in sonderbar ruhigem Ton: »Nein. Sie gehen nicht allein.« Lloyd starrte ihn an. »Ich lasse mich nicht ausbooten«, erklärte McFarlane. Lloyds Blick nagelte ihn fest. »Sie?« McFarlane erwiderte den durchdringenden Blick stumm. Lloyd stieß ein schepperndes Lachen aus. »Ich erkenne Sie kaum wieder, Sam. Wenn ich daran denke, wie Sie sich bei unserer ersten Begegnung in der Kalahari hinter einem Busch verkrochen haben – da hätte ich wirklich nicht gedacht, dass Ihnen solche Dinge etwas bedeuten.« Plötzlich erstarrte sein Lächeln. »Was machen Sie, wenn ich Nein sage?« McFarlane stand auf. »Ich weiß nicht. Wahrscheinlich irgendeine übereilte Dummheit.« Lloyds massige Gestalt schien noch mehr in die Höhe und Breite zu wachsen. »Soll das eine Drohung sein?« McFarlane hielt seinem Blick Stand. »Ich denke, ja.« Lloyd sah ihn unverwandt an. »Soso.« »Sie haben mich ausgesucht. Sie wussten, wovon ich mein Leben lang geträumt habe.« McFarlane suchte Lloyds Miene nach Spuren von Veränderungen ab. Der Mann war es nicht gewöhnt, dass jemand sich ihm widersetzte. »Ich war da draußen in der Kalahari, um die Vergangenheit abzuschütteln. Und dann sind Sie gekommen und haben mich an meinen Traum erinnert. Sie haben ihn mir hingehalten, wie man einem Kaninchen eine Karotte hinhält. Und Sie wussten, dass ich anbeißen würde. Nun bin ich hier und lasse mich nicht beiseite schubsen. Ich will dabei sein, genau wie Sie.« Die beiden starrten sich stumm an. Die Luft schien elektrisch geladen zu sein. Draußen läutete ein Telefon, jemand hackte auf den Tasten eines Keyboards herum. Lloyds Züge entspannten sich. Er fuhr sich mit der Hand über den kahlen Schädel, dann spielten seine Finger mit dem Kinnbärtchen. »Wenn ich Sie mitnehme, was ist dann mit Glinn? Oder mit Amira? Oder Britton? Dann will jeder dabei sein.«

»Nein, es geht nur um uns beide. Sie und ich – wir beide haben es uns verdient. Ein Wort von Ihnen genügt, dann ist die Sache entschieden.« Lloyds Augen ließen ihn nicht los. »Ich glaube, der McFarlane, den ich bisher noch nicht kannte, gefällt mir. Ich habe Ihnen die Nummer mit dem harten Zyniker nie so ganz abgekauft. Aber eines sage ich Ihnen, Sam: Wehe, wenn hinter Ihrem Interesse abartige Überlegungen stecken. Muss ich noch deutlicher werden? Ich will nicht, dass noch einmal so was passiert wie bei dieser Tornassuk-Sache.« McFarlane spürte Wut in sich hochkochen. »Diese Bemerkung will ich lieber nicht gehört haben.« »Sie haben sie aber gehört. Spielen Sie hier nicht den Zimperlichen.« McFarlane wartete ab. Sollte Lloyd ruhig ins Leere laufen. Und tatsächlich, nach ein paar Sekunden lächelte Lloyd ein wenig gequält. »Es ist schon einige Jahre her, dass mir jemand so die Stirn geboten hat. Irgendwie erfrischend. Der Teufel soll sie holen, Sam – aber gut, wir gehen gemeinsam. Nur, es ist Ihnen sicher klar, dass Glinn alles versuchen wird, um uns einen Strich durch die Rechnung zu machen.« Er warf rasch einen Blick auf die Uhr und trat wieder ans Fenster. »Bei so was kann er störrisch sein wie ein Bock.« Als hätten sie den Auftritt abgesprochen – was wohl, wie McFarlane allerdings erst später klar wurde, tatsächlich der Fall war –, kam plötzlich Glinn herein, gefolgt von Puppup, der offenbar Freude an der Rolle des stummen, allzeit auf den Spuren seines Herrn wandelnden Vasallen gefunden hatte. Wie immer dienerte er geflissentlich nach allen Seiten, dann hielt er sich, zwei Finger auf den Mund gelegt, stumm im Hintergrund. Das vergnügte Glitzern in seinen schwarzen Augen verriet eine verstohlene Vorfreude, deren Grund vermutlich nur er kannte. »Pünktlich auf die Minute, wie immer«, dröhnte Lloyd, als er Glinn die Hand schüttelte. »Hören Sie, Eli, ich habe eine Entscheidung getroffen. Es wäre mir recht, wenn sie Ihre Billigung fände, aber ich habe da meine Zweifel. Deshalb will ich Sie lieber gleich vorwarnen: Ich lasse mich von keiner Macht im Himmel und auf Erden umstimmen – ist das klar?« »Aber sicher doch«, sagte Glinn und machte es sich in einem der Schwingsessel bequem. »Es hat keinen Sinn, darüber mit mir zu diskutieren. Meine Entscheidung ist unwiderruflich.« »Wunderbar. Ich wollte, ich könnte mitkommen.« Einen Augenblick lang starrte Lloyd ihn an, als habe es ihm die Sprache verschlagen. Dann funkelte helle Wut in seinen Augen. »Sie verdammter Mistkerl! Sie haben das Schiff mit Wanzen gespickt!« »Machen Sie sich nicht lächerlich. Ich wusste von Anfang an, dass Sie darauf bestehen würden, dem Meteoriten als Erster Ihre Aufwartung zu machen.« »Das kann nicht sein. Ich habe es ja bis heute selbst nicht gewusst.« Glinn winkte ab. »Hören Sie, wenn wir die Erfolgsaussichten und Misserfolgsrisiken einer Aktion abwägen, analysieren wir natürlich auch die Persönlichkeitsprofile der Hauptbeteiligten. Verlassen Sie sich drauf, wir wissen, was jeder Einzelne von Ihnen tun wird. Und zwar noch, bevor er’s selber weiß.« Er schielte zu McFarlane hinüber. »Sam hat sicher darauf bestanden, Sie zu begleiten?« Lloyd nickte verblüfft. »Ich verstehe. Das Boot am Achtersteven dürfte am geeignetsten sein, es ist klein und wendig. Ich habe mit Mr. Howell abgesprochen, dass er Sie übersetzt. Wasserdichte Beutel mit dem Nötigsten sind bereits gepackt – Nahrungsmittel, Wasser, ein Benzinkocher, Zündhölzer, Taschenlampen, Leuchtraketen, Gegensprech-Funkgeräte und so weiter. Ich vermute, Sie wollen Puppup als Führer mitnehmen?« »Stets zu Diensten, Chef«, erbot sich Puppup wie ein englischer Butler an. Lloyd ließ seinen Blick von Glinn zu Puppup und wieder zurück schweifen. Ein paar Sekunden verstrichen, dann zog er eine Grimasse. »Ich hab’s nicht gern, wenn jemand in mir liest wie in einem aufgeschlagenen Buch. Gibt es überhaupt etwas, das Sie überraschen kann?« »Sie bezahlen mich nicht dafür, dass ich mich überraschen lasse, Mr. Lloyd. Ihnen bleiben nur ein paar Stunden Tageslicht, Sie müssen also ablegen, sobald die Rolvaag den Franklin-Kanal erreicht hat. Es gilt zu überlegen, ob Sie nicht lieber bis morgen früh warten wollen.« Lloyd schüttelte den Kopf. »Nein, meine Zeit hier unten ist knapp bemessen.« Glinn nickte, als habe er auch damit gerechnet. »Puppup hat mir von einer Bucht mit Kieselstrand auf der Leeseite der Insel erzählt. Sie können mit dem Motorboot direkt auf dem Kies aufsetzen und mühelos wieder ablegen.« Lloyd seufzte. »Sie verstehen sich wirklich darauf, dem Leben auch den letzten Hauch Romantik zu nehmen.« »Nein.« Glinn stand auf. »Ich nehme ihm nur ein paar Unsicherheiten.« Er trat ans Fenster. »Wenn Ihnen nach Romantik zumute ist, werfen Sie einen Blick nach draußen.« Gerade in dem Moment, als Glinn und McFarlane sich zu ihm gesellten, tauchte vor ihnen eine kleine, trostlos düstere Insel auf– schwärzer als das Meer, das sie umgab. »Das, Gentlemen, ist die Isla Desolación.« McFarlanes erwartungsvolle Neugier wurde zunehmend von Beklommenheit verdrängt. Ein schmaler Streifen Licht wanderte über die schroffen Felsen, verschwand und tauchte, in Nebelschwaden gehüllt, als Phantom wieder auf. Unablässig schlugen gewaltige Brecher gegen das felsige Ufer. An der Nordspitze der Insel sah er zwei schmale, spitz zulaufende Felsen: das typische Merkmal eines vulkanischen Kamins. Nach Süden erstreckte sich ein tiefes Schneefeld. Das vom ständigen Wind glatt polierte, vereiste Zentrum funkelte wie ein riesiger Türkis. Lloyd sagte ergriffen: »Mein Gott, da ist sie. Unsere Insel am Ende der Welt, Eli. Unsere Insel – und mein Meteorit.« McFarlane hörte hinter sich unpassendes leises Gekicher. Als er sich umdrehte, sah er, dass Puppup hinter ihnen stand und sich, als wolle er sie versiegeln, wieder zwei Finger über die Lippen gelegt hatte. »Was ist los?«, fragte Lloyd scharf. Aber Puppup gab ihm keine Antwort. Er kicherte nur weiter vor sich hin, als er sich, den Blick fest auf Lloyd gerichtet, unter ständigem Katzbuckeln rückwärts durch die Tür drückte.

 

Isla Desolación

12.45 Uhr

Vor knapp einer Stunde hatte der Tanker seinen mächtigen Rumpf in den Franklin-Kanal geschoben, der eigentlich eher eine zergliederte, von schroffen Felsen umschlossene Bucht war. Und nun saß McFarlane in einem offenen Boot und hielt sich mit beiden Händen krampfhaft am Dollbord fest. Der bullige Parka und die darüber geschnallte Rettungsweste ließen ihn ein wenig wie einen plumpen Maikäfer aussehen. Die schwere See, die sogar die Rolvaag zum Schlingern gebracht hatte, warf das Motorboot wie eine Nussschale hin und her. Victor Howell, der Erste Offizier, stand am Ruder. Sein Gesicht spiegelte die Anstrengung wider, die es ihn kostete, das Boot auf Kurs zu halten. John Puppup war nach vorn in den Bug gekrochen, und dort kauerte er nun – schneebestäubt, die Hände um die Klampen geklammert, den Blick der Insel zugewandt, wie ein aufgeregter kleiner Junge, der einem Abenteuer entgegenfiebert. Er hatte, als die Rolvaag in den Kanal eingelaufen war, als Lotse fungiert und mit seinen spärlichen, gemurmelten Anweisungen das ohnehin risikoreiche Manöver zu einem wahren Vabanquespiel gemacht. Das Boot bockte und wurde hin und her geworfen, aber je näher sie in den Windschatten der Isla Desolación kamen und je mehr die Brandung abebbte, desto schwächer wurden die Schlingerbewegungen. Die drohend aufragenden Klippen machten dem Namen der Insel alle Ehre: Trostlose schwarze Felsen ragten wie bizarr verkrümmte Finger aus den weißen Schneeverwehungen. Eine kleine, in den Schatten des Riffs geschmiegte Bucht kam in Sicht. Puppup bedeutete Howell, darauf zuzuhalten. Drei Meter vor dem groben Kiesstrand stellte Howell den Motor ab und riss die Propellerwelle hoch, das Boot setzte mit leisem Knirschen auf. Puppup sprang wie ein Kletteraffe heraus, McFarlane folgte ihm, drehte sich um und hielt Lloyd die Hand hin. »Gott im Himmel, so alt bin ich nun auch wieder nicht«, wehrte Lloyd ab, griff nach dem Packsack und sprang an Land. »Ich bin um drei wieder da«, schrie Howell ihnen zu, ließ den Motor aufheulen und steuerte das Boot rückwärts aus der Bucht. McFarlane sah ihm nach, wie es sich – auf den Wellen tanzend

– immer weiter entfernte. Dabei bemerkte er, dass eine zinkfarbene Schlechtwetterfront auf sie zutrieb. Eine böse Vorahnung beschlich ihn, er mummte sich fester in seine Jacke. Die Rolvaag ankerte zwar nicht einmal einen Kilometer entfernt, das wusste er, trotzdem hätte er sie lieber in Sichtweite gehabt. »Also, Sam – wir haben zwei Stunden«, rief ihm Lloyd mit breitem Grinsen zu. »Machen wir das Beste daraus. Zuerst soll Puppup mal ein Foto von uns schießen, wie wir die Insel in Besitz nehmen.« Er kramte eine kleine Kamera aus der Tasche und sah sich suchend um. »Nanu, wo ist er denn hin?« McFarlanes Blick suchte den schmalen Strand ab – keine Spur von dem Alten. Lloyd formte aus den Händen einen Trichter und rief laut nach ihm. »Hier oben, Chef«, kam es aus den Klippen. Und tatsächlich, als McFarlane den Kopf in den Nacken legte, sah er die schmächtige Gestalt, eingerahmt vom sich dunkel verfärbenden Himmel, hoch oben in den Felsen kauern. Puppup winkte ihnen zu und deutete mit der anderen Hand auf einen schmalen Pfad in den Felsen. »Er ist schon ein wunderlicher Knirps«, murmelte Lloyd kopfschüttelnd. »Wenn er sich bloß noch daran erinnert, wo mein Meteorit liegt.« Sie staksten über den groben Kies auf die Klippen zu. Der Strand war mit großen, vom Sturm auf die Küste geworfenen Eisbrocken bedeckt. Die Luft roch nach Salz und fauligem Moos. McFarlanes Blick nahm skeptisch an der steilen schwarzen Basaltwand Maß. Er atmete tief durch, dann begann er mit dem Aufstieg durch den schmalen, schluchtartigen Pass. Die Kletterpartie war schwieriger, als es von unten ausgesehen hatte; festgefrorener Schnee machte den Fels tückisch glatt, die letzten fünf Meter führten über pures Eis. Ein Stück unter sich hörte er Lloyds keuchende Atemzüge, aber für einen Mann von sechzig Jahren hielt er sich wacker, und so kamen sie schließlich beide fast gleichzeitig oben an. »Gut«, rief Puppup, »sehr gut« – und kasperte applaudierend auf den Felsen herum. McFarlane ging in die Hocke und stützte die Hände auf die Knie. Die kalte Luft brannte ihm in den Lungen, unter dem Parka war er schweißgebadet. Neben ihm ruhte sich Lloyd keuchend von der Strapaze aus, die Kamera und das geplante Siegerfoto hatte er völlig vergessen. McFarlane stemmte sich hoch und sah, dass vor ihnen eine von Steinen übersäte Hochebene lag. Rund hundert Meter dahinter begann das Schneefeld, das sich bis zur Mitte der Insel erstreckte. Der Himmel war mittlerweile von düsteren Wolken verhangen, der Schneefall wurde stärker. Ohne ein Wort zu sagen, richtete Puppup sich plötzlich auf und marschierte schnellen Schritts weiter. Lloyd und McFarlane hatten, als sie dem Alten folgten, alle Mühe, den Anschluss nicht zu verlieren. Innerhalb weniger Minuten wurde aus dem Schneefall dichtes Schneegestöber, das die Landschaft vor ihnen in eine weiße Wüste verwandelte. Puppup konnten sie, obwohl er gerade mal sechs, sieben Meter entfernt war, nur noch verschwommen erkennen – eine kleine, auf und ab hüpfende Gestalt. Je weiter sie vorankamen, desto eisiger wurde der Wind, der Schnee trieb nahezu horizontal auf sie zu. McFarlane war nachträglich froh, dass Glinn darauf bestanden hatte, sie mit Polarstiefeln und dick gefütterten Parkas auszustaffieren. Schließlich erreichten sie den Kamm der Hochebene. Der Wind hatte sich gedreht – und mit ihm die Schneefront, so dass sie nun einen Blick in das Tal und auf das Schneefeld werfen konnten. Es sah von hier oben viel größer aus: eine geschlossene, verlockend schöne blau-weiße Fläche wie ein riesiger Gletscher. Hinter dem von Hügeln umgebenen Tal ragten die beiden vulkanischen Felskegel wie die Fänge eines urzeitlichen Fabeltiers auf. »Tolle Aussicht, was, Chef?«, fragte Puppup. »Ja«, bestätigte Lloyd. »Sagen Sie – dieses große Schneefeld, hat das einen Namen?« »Sicher.« Puppup nickte eifrig. »Sie nennen es ›Das, was Hanuxa erbrochen hat. ‹« »Sehr malerisch«, murmelte Lloyd, während er versuchte, sich die dünne Eisschicht abzureiben, die sich auf seinem Spitzbart abgesetzt hatte. »Und die beiden Felskegel?« »Das sind Hanuxas Klauen.« »Einleuchtend. Aber wer ist Hanuxa?« »Eine Legendenfigur der Yaghan-Indianer«, antwortete Puppup, offenbar nicht bereit, mehr preiszugeben. McFarlane musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. Er erinnerte sich, in Masangkays Tagebuch etwas von alten Yaghan-Legenden gelesen zu haben. Ob wohl eine davon Masangkay hierher gelockt hatte? »Alte Legenden haben mich schon immer fasziniert«, sagte er möglichst beiläufig. »Würden Sie uns etwas mehr darüber erzählen?« Puppup zuckte die Achseln, nickte wieder auf seine drollige Art und antwortete grinsend: »Ich hab’s nicht mit dem alten Aberglauben, ich bin Christ.« Dann drehte er sich abrupt um und marschierte in solchem Tempo auf das Schneefeld zu, dass Lloyd und McFarlane in leichten Trab verfallen mussten, um mit ihm Schritt halten zu können. Das Schneefeld lag, am Rand von zerbrochenen Findlingen und Felsschutt begrenzt, in einer tiefen Bodenfalte. Als sie es erreichten, wurde der Wind zum Sturm. Er blies so heftig, dass sie sich tief gebeugt gegen ihn anstemmen mussten. »Kommt endlich!«, hörten sie Puppup rufen. Er führte sie parallel an dem Schneefeld entlang, das wie eine mannshohe Verwehung neben ihnen aufragte. Hin und wieder blieb er stehen, um die Schneewand aus der Nähe zu betrachten. Schließlich schien er die richtige Stelle gefunden zu haben. »Hier«, sagte er zufrieden, schlug mit der Stiefelspitze eine Stufe in die senkrechte Schneemauer, fing ein Stück weit zu klettern an und trat die nächste Stufe in den Schnee. McFarlane folgte ihm, hangelte sich vorsichtig von einem Tritt zum nächsten und versuchte dabei, das Gesicht möglichst nicht dem immer schneidenderen Wind auszusetzen. »Puppup soll langsamer machen!«, japste Lloyd hinter ihm. Aber Puppup schritt nur umso schneller aus und fing dabei plötzlich in hohem, singendem Tonfall zu erzählen an. »Hanuxa war der Sohn von Yekaijiz, dem Gott des Nachthimmels. Yekaijiz hatte zwei Söhne, Hanuxa und dessen Zwillingsbruder Haraxa, den der Vater besonders ins Herz geschlossen hatte. Da konnte es nicht ausbleiben, dass Hanuxa immer eifersüchtiger auf seinen Bruder wurde. Er sann auf einen Weg, wie er dessen Kraft und Einfluss erlangen könnte.« »Aha«, warf Lloyd schnaufend ein, »die alte Geschichte von Kain und Abel.« Im Zentrum des Feldes glitzerte blankes, blaues Eis, der Schnee war wohl vom Wind weggefegt worden. Es ist schon seltsam, hier, mitten im Nichts, auf der Suche nach einem riesigen, mysteriösen Felsen und dem Grab seines früheren Partners und Freundes durch eine Winterlandschaft wie aus Kinderträumen zu wandern und dabei einem alten Mann zuzuhören, der Legenden über die Isla Desolación erzählt, ging es McFarlane durch den Kopf. »Die Yaghan glauben nämlich, dass das Blut die Quelle des Lebens und der Kraft ist«, fuhr Puppup fort. »Und so tötete Hanuxa eines Tages seinen Bruder. Er schlitzte Haraxa die Kehle auf und trank sein Blut – ja, so war es. Und da nahm seine Haut die Farbe des Blutes an, und Haraxas Kraft ging auf ihn über. Aber Yekaijiz, der Vater, kam ihm dahinter und beschloss, Hanuxa ins Innere der Insel zu verbannen. Er schloss ihn in einem unterirdischen Kerker ein. Und wenn sich in stürmischen Nächten, in denen die Brandung gischtend tobt, jemand zu nahe an die Insel heranwagt, kann er grelle Lichtblitze zucken sehen und hören, wie Hanuxa mit wütendem Heulen versucht, aus seinem Kerker zu entkommen.« »Wird er je entkommen?«, fragte Lloyd. »Weiß ich nicht, Chef. Aber wenn, wär’s ein Unheil.« Das Schneefeld fiel nun leicht ab und endete schließlich an einer Wechte. Sie mussten sich – einer nach dem anderen – fast zwei Meter abwärts hangeln und die restliche Strecke rutschend und schlitternd zurücklegen, bis sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten. Der Wind schwächte allmählich ab, der Schnee fiel jetzt in dicken, weichen Flocken, die aber nicht liegen blieben. In etwa hundert Meter Entfernung machte McFarlane einen großen Findling aus. Plötzlich fing Puppup zu rennen an, genau auf den Findling zu, Lloyd folgte ihm. McFarlane zögerte, und als er endlich losging, bewegte er sich, als habe er auf einmal schwere Gewichte an den Beinen. Hinter dem Findling sah er eine verkrumpelte Decke auf dem Boden liegen, nicht weit davon verstreute Tierknochen, darunter auch zwei Schädel, um einen war noch das von Wind und Wetter zerschlissene Seil geschlungen. Ein paar Blechdosen lagen herum, eine große Segeltuchplane, ein durchnässter Schlafsack und zwei zerborstene Packgeschirre. Und auch unter der Segeltuchplane beulte sich irgendetwas. McFarlane lief ein kaltes Schaudern über den Rücken. »Mein Gott«, sagte Lloyd leise und deutete mit dem Kopf auf die Tierknochen, »das müssen die Maulesel Ihres ehemaligen Partners gewesen sein. Sie waren an dem Felsen festgebunden und sind verhungert.« Er wollte nach dem Segeltuch greifen, aber McFarlane fiel ihm in den Arm und hielt ihn zurück. Er bückte sich und hob es selber an, schüttelte den Schnee ab und riss es mit einem Ruck beiseite. Aber es waren nicht Masangkays sterbliche Überreste, die zum Vorschein kamen, sondern nur ein paar Werkzeuge, Kleidungsstücke und etwas Proviant, wahrscheinlich der Inhalt der beiden zerborstenen Packgeschirre. McFarlanes Blick blieban einigen Blechdosen mit Ölsardinen hängen. Sie waren aufgeplatzt, überall lagen gefrorene Fische herum. Und dabei hat Nestor die verdammten Dinger so gemocht, ging ihm durch den Kopf. Und plötzlich holte ihn die Erinnerung an eine Episode ein, die sich vor fünf Jahren etliche tausend Meilen nördlich von hier abgespielt hatte ... Nestor und er kauerten mit ihren bis zum Rand mit Atakamiten voll gestopften Rucksäcken in einem tiefen Abwassergraben neben einer unbefestigten Landstraße. Knapp zwei Meter von ihnen entfernt rumpelten Militärlastwagen mit schwer bewaffneten Suchtrupps vorbei und deckten sie mit einem Hagel aus Schotter und Splitt zu. Dennoch fühlten sie sich im Bewusstsein des nahen Erfolgs wie berauscht, sie alberten übermütig herum und schlugen sich triumphierend auf die Schultern. Obwohl sie halb verhungert waren, trauten sie sich nicht, ein Feuer zu entzünden; sie hatten Angst, entdeckt zu werden. Masangkay langte in seinen Rucksack, kramte eine Büchse Sardinen heraus und bot McFarlane etwas davon an. »Soll das ein Witz sein?«, flüsterte McFarlane angeekelt. »Dieses Zeug schmeckt doch noch scheußlicher, als es riecht.« »Deshalb bin ich ja so scharf darauf«, flüsterte Masangkay zurück. »Anoy ekk yung kamay mo!« McFarlane verstand kein Wort, aber statt ihm das Kauderwelsch zu erklären, fing Masangkay an zu lachen, erst leise, dann immer lauter und rebellischer. Und irgendwie war sein Lachen in dieser mit Ängsten und Hoffnungen überfrachteten Situation unwiderstehlich ansteckend. Auf einmal – er wusste nicht, warum – brach auch McFarlane in schallendes Gelächter aus. Und so saßen sie da, hielten ihre Rucksäcke mit der wertvollen Beute fest umklammert und wollten sich schier ausschütten vor Lachen, während die Armeelastwagen auf der Suche nach ihnen die staubige Landstraße auf und ab patrouillierten. McFarlane gab sich einen Ruck und kehrte zurück in die Gegenwart. Aber was war das für eine Gegenwart? Er kauerte inmitten aufgeplatzter Ölsardinendosen und allem möglichen Krempel im Schnee und fühlte sich hundeelend. Rings um ihn sah es aus wie auf einer Müllhalde. Ein trostloser Ort – zu trostlos, als dass hier ein Mensch einsam und allein sterben durfte. Er spürte ein leichtes Brennen in den Augen und kurz darauf den salzigen Geschmack einer Träne im Mundwinkel. »Also, wo ist denn nun der Meteorit?«, hörte er Lloyd ungeduldig fragen. »Der – was?«, fragte Puppup zurück. »Mann – das Loch, das Masangkay gegraben hat.« Puppup deutete vage in das Schneegestöber. »Bring mich hin, verdammt noch mal!« Lloyd und Puppup stapften los, McFarlane stemmte sich hoch und trottete hinter ihnen her. Nach einem Kilometer machte Puppup Halt und deutete nach vorn. McFarlane trat ein paar Schritte vor und starrte in die Grube, die Masangkay ausgehoben hatte. Komisch, irgendwie hatte er sie sich größer vorgestellt. Die Seitenwände waren eingebrochen, Schnee war in das Loch geweht. Lloyd griff nach seinem Arm und drückte ihn. »Stellen Sie sich mal vor, Sam«, hörte McFarlane ihn flüstern, »hier liegt er, direkt unter unseren Füßen.« Und nachdem er gegen den Kloß im Hals angeschluckt hatte: »Wenn wir ihn nur sehen könnten.« McFarlane hatte das Gefühl, dass er es Lloyd schuldig gewesen wäre, diese Empfindungen zu teilen. Aber wenn er in sich hineinhorchte, waren da nur Trauer und eine lähmende, gespenstische Stille.

Lloyd nahm den Rucksack ab, öffnete ihn und zog eine Thermosflasche und drei Plastikbecher heraus. »Einen Schluck Kakao?« »Warum nicht.« Lloyd grinste schief. »Eli, der verdammte Geizkragen, hätte uns ruhig eine Flasche Cognac einpacken können. Aber was soll’s, das Zeug ist wenigstens schön heiß.« Er schenkte drei Becher voll, gab jedem einen und hielt seinen hoch. »Auf den Desolación-Meteoriten!«, sagte er mit belegter Stimme. »Masangkay«, murmelte McFarlane. »Wie?« »Den Masangkay-Meteoriten.« »Das ist gegen die Spielregeln«, widersprach Lloyd. »Meteoriten werden immer nach dem Ort benannt, an dem sie ...« Die lähmende Stille, die McFarlane gerade noch in sich gespürt hatte, war plötzlich wie weggewischt. »Scheiß drauf, was üblich ist. Er hat ihn gefunden, nicht Sie oder ich. Und es hat ihn das Leben gekostet.« Lloyd sah ihn nur groß an. Ein bisschen spät, sich auf ethische Grundsätze zu besinnen, las McFarlane in seinem Blick. Und hörte Lloyd sagen: »Reden wir später drüber und trinken erst mal auf den Meteoriten, egal, wie das Ding nun heißt.« Sie stießen an und tranken ihre Becher in einem Zug aus. Das Licht fing schon zu verblassen an, am Rand ihrer kleinen Welt mischte sich Grau in das alles beherrschende Weiß. McFarlane spürte, wie sich Friede und wohlige Wärme in ihm ausbreiteten; er musste wohl seinen Ärger mit heruntergeschluckt haben. Irgendwie hatte die kleine Zeremonie etwas rührend Unbeholfenes an sich gehabt, aber das war wohl mit allen feierlichen Augenblicken so. Und dies war ein großer Moment gewesen, trotz des Umstandes, dass sie bis jetzt nirgendwo Masangkays Leiche entdeckt hatten. Eine unerklärliche Scheu hielt ihn ab, die Augen zu heben und die Umgebung abzusuchen, und er schreckte auch davor zurück, Puppup zu fragen, wo der Tote gelegen habe.

Lloyds forsche Stimme riss ihn aus seinem Grübeln. »So, jetzt muss Puppup aber endlich das Foto von uns schießen!« McFarlane baute sich brav neben Lloyd auf, der Alte ließ sich die Kamera in die Hand drücken. Als der Verschluss klickte, reckte sich Lloyd plötzlich und richtete den Blick starr auf den kleinen Hang vor ihnen. »Dort drüben«, flüsterte er McFarlane zu und deutete über Puppups Schulter auf einen graubraunen Fleck im Schnee, etwa dreißig Meter von ihnen entfernt. Sie gingen stumm darauf zu und starrten auf die schneebedeckten Reste eines Skeletts und einzelne Knochen, die verstreut herumlagen. Das Einzige, woran McFarlane den Toten wiedererkannte, war der wie zu einem Grinsen nach oben geschobene Unterkiefer. In der Nähe lag eine Schaufel, der Stiel fehlte. Ein Fuß steckte noch im Stiefel. »Masangkay«, flüsterte Lloyd mit tonloser Stimme. McFarlane sagte nichts. Er und Masangkay hatten so viele schöne und schwere Stunden geteilt. Und nun war von seinem einstigen Freund und Schwager nur ein Haufen Knochen in der Einöde geblieben. Woran mochte Masangkay gestorben sein? An Erschöpfung? An einem Herzanfall? Verhungert konnte er kaum sein, bei den Mauleselskeletten lagen ja genug Nahrungsmittel herum. Doch wieso waren die Knochen in der Gegend verstreut? Waren das Vögel gewesen? Oder Raubtiere? Die Insel schien durch und durch lebensfeindlich zu sein. Und Puppup hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, Masangkay zu begraben. Lloyd drehte sich zu Puppup um. »Haben Sie eine Ahnung, was ihn getötet hat?« Puppup zog nur schniefend die Nase hoch. »Lassen Sie mich raten – Hanuxa.« »Wenn Sie an Legenden glauben, ja. Aber wie gesagt, Chef, ich tue das nicht.« Lloyd sah ihn einen Moment streng an, dann wandte er sich seufzend ab und legte den Arm um McFarlane. »Es tut mir sehr Leid, Sam. Das muss furchtbar für Sie sein.« Sie standen noch eine Weile in stillem Gedenken da, dann wurde Lloyd unruhig. »Wird langsam Zeit loszugehen. Drei Uhr hat Howell gesagt. Ich würde die Nacht nicht gern auf dieser trostlosen Insel verbringen.« »Augenblick noch«, sagte McFarlane. »Wir müssen ihn erst beerdigen.« Lloyd stutzte, dann nickte er. »Natürlich.« Er übernahm es, die Knochen zusammenzutragen, McFarlane suchte inzwischen mit klammen Fingern im Schnee nach Steinen und Felsbrocken, die sie dann gemeinsam über Masangkays sterblichen Überresten aufschichteten. Puppup hielt sich abseits und sah ihnen nur stumm zu. »Wollen Sie nicht mithelfen?«, fuhr Lloyd ihn an. »Nein, Chef. Ich bin, wie schon gesagt, Christ. Und in der Bibel steht geschrieben: Lasset die Toten die Toten begraben.« »Aber so sehr Christ, dass Sie ihm nicht die Taschen geleert hätten, sind Sie nun auch wieder nicht, wie?«, fragte McFarlane scharf. Puppup verschanzte sich – ein albernes, schuldbewusstes Grinsen auf den Lippen – hinter seinen verschränkten Armen. Eine Viertelstunde später waren sie fertig. McFarlane bastelte aus zwei Stöcken ein schlichtes Kreuz, steckte es bedächtig in den Steinhügel, trat einen Schritt zurück, stäubte sich den Schnee von den Handschuhen und murmelte fast lautlos: »Canticum graduum de profundis clamavi ad te Domine. Ruhe in Frieden, alter Freund.« Dann nickte er Lloyd zu. Sie wandten sich, während der Himmel immer dunkler wurde und die ersten Böen an ihnen zerrten, nach Osten, auf das Schneefeld zu.

 

Isla Desolación

16. Juli, 8.42 Uhr

McFarlane ließ den Blick über die neue Schotterstraße schweifen, die sich wie eine schwarze Schlange durch den frisch gefallenen Schnee wand. Kopfschüttelnd rang er sich ein bewunderndes Lächeln ab. In den drei Tagen, die seit seinem ersten Besuch vergangen waren, hatte sich die Insel bis zur Unkenntlichkeit verändert. Es gab einen harten Stoß, der heiße Kaffee schwappte auf seine wattierten Hosen. »Himmeldonnerwetter!«, schrie er, hielt den Schaumstoffbecher so weit wie möglich von sich weg und wischte an der Hose herum. Der Fahrer, ein stämmiger Bursche namens Evans, grinste ihn aus der Fahrerkabine an. »Tut mir Leid. Diese Cats sind manchmal ziemlich bockig.« Obwohl der Caterpillar 785 mit seinem bulligen gelben Gehäuse und den übermannsgroßen Reifen von außen wie ein Ungetüm aussah, war in der Kabine nur Platz für einen, und so hatte sich McFarlane wohl oder übel mit verschränkten Beinen auf die Abdeckplatte daneben quetschen müssen, unmittelbar über dem fauchenden Dieselmotor. Nicht, dass es ihm etwas ausgemacht hätte – nein, heute konnte ihm nichts die gute Laune verderben. Denn heute würden sie den Meteoriten freilegen. Er ließ die vergangenen zweiundsiebzig Stunden im Geiste Revue passieren. Vom Augenblick der Landung an, noch in der Nacht, hatte Glinn nach dem von ihm ausgeklügelten Drehbuch Regie geführt, und daraus war ein wahres Feuerwerk von Aktivitäten geworden. Alles lief so reibungslos und effizient ab, als wäre es wer weiß wie oft geprobt worden. Bis zum Morgengrauen hatten schwere Arbeitsgeräte den nicht für neugierige Augen bestimmten Teil der Ausrüstung und sogar einen Teil der Container-Labors von Bord geschleppt und in Fertigbau-Hangars auf der Insel untergebracht. Gleichzeitig hatte eine EES-Arbeitskolonne unter Leitung von Garza und Rochefort den Strand platt gewalzt, störende Felsen weggesprengt und die breite Schotterstraße angelegt, auf der sie sich jetzt befanden – von der Bucht, um das Schneefeld herum bis dahin, wo der Meteorit lag. Als der Cat 785 das Schneefeld in weitem Bogen umfuhr und sich dem Ort des Geschehens näherte, traute Mc-Farlane seinen Augen nicht. Gut eineinhalb Kilometer vom Fundort des Meteoriten entfernt war eine ganze Heerschar von Arbeitern dabei, mit Hilfe schweren Geräts eine Grube auszuheben. Den ganzen Hügel hinauf schienen über Nacht Dutzende von Baracken aus dem Boden geschossen zu sein. Auf der einen Seite der Grube türmte sich eine Abraumhalde auf, nicht weit davon war die Auffanggrube für das Sickerwasser angelegt worden. »Was machen die denn da drüben?«, schrie McFarlane dem Fahrer zu und deutete auf den Hügel. »Das ist die Abbaustelle.« »Ja, das sehe ich. Aber was wird da abgebaut?« Evans grinste. »Nada.« McFarlane guckte verdutzt, dann fing er zu lachen an. Wer immer die Aktivitäten auf dem Hügel beobachtete, musste glauben, dass sie tatsächlich hier waren, um nach Erz zu schürfen. Die Erdarbeiten an der Stelle, an der der Meteorit lag, konnten nur eine untergeordnete Bedeutung haben – wahrscheinlich eine aufgegebene Probebohrung. Er blickte nach vorn. Das Hanuxa-Schneefeld war ein funkelndes Wintermärchen. Man hätte glauben können, es habe alles Licht in sich aufgesogen und in eine Farbkomposition aus Blau und Türkis verwandelt. Dahinter ragten Hanuxas Klauen auf; unter der frischen Schneeschicht sahen sie freilich nicht ganz so bedrohlich aus wie sonst. McFarlane hatte letzte Nacht kein Auge zugetan, trotzdem fühlte er sich hellwach, wie aufgedreht. Noch knapp eine Stunde und sie würden die Antwort auf all ihre Fragen wissen. Dann sahen sie ihn vor sich. Und konnten ihn berühren. Wieder bockte der Cat störrisch. McFarlane hielt sich rasch mit einer Hand am Schutzgitter fest, trank seinen Kaffee aus, zerknüllte den Schaumstoffbecher und ließ ihn in den Taschen seines Parkas verschwinden. Das schwere Arbeitsgerät sah auf den ersten Blick genauso heruntergekommen aus wie die Rolvaag. Aber das war eine gewollte Irreführung, von seinem luftigen Platz auf der Abdeckplatte konnte er deutlich erkennen, dass es eine nagelneue, hochmoderne Maschine war. Der Straßenbelag wurde glatter, der Cat fuhr schneller. Sie kamen an einem anderen Schlepper und einem Bulldozer vorbei, der auf dem Rückweg zur Küste war; die Fahrer winkten Evans wie einem alten Bekannten zu. McFarlane hatte den Eindruck, dass sie nicht zum ersten Mal zusammen arbeiteten. »Steht ihr alle auf Glinns Lohnliste?«, fragte er Evans. Evans nickte. »Einer wie der andere.« Das freundliche Grinsen, mit dem er jeden Satz begleitete, schien ihm zur zweiten Natur geworden zu sein. »Allerdings nicht fest. Ein paar von uns sindÖlbohrarbeiter, andere sind für Brückenbaufirmen tätig – und was weiß ich, wo alles. Wir haben sogar ein Gruppe von der Big Dig in Boston dabei. Aber wenn die EES uns ruft, lässt jeder alles liegen und stehen und kommt angerannt.« »Und warum?« Evans’ Grinsen ging in die Breite. »Ganz einfach, weil sie den fünffachen Lohn zahlen.« McFarlane verzog das Gesicht. »Irgendwie habe ich den Eindruck, dass ich den falschen Arbeitsplatz erwischt habe.« »Och«, machte Evans, »ich glaube nicht, dass Sie zu kurz kommen, Dr. McFarlane.« »Ist das die größte Aufgabe der EES, an der Sie bislang mitgearbeitet haben?« »Ach wo.« Evans gab Gas, der Cat machte einen Satz nach vorn. »Eher eine kleine, allenfalls Mittelklasse.« Sie fuhren auf eine frisch in den gefrorenen Boden gebrochene flache Mulde zu. Das Areal war fast einen halben Hektar groß, an den Seiten ragten riesige Masten auf, an denen nach unten gerichtete Infrarotstrahler montiert waren. Nicht weit davon standen einige Planierraupen, sauber nebeneinander aufgereiht, als warteten sie auf den nächsten Einsatz. Ingenieure und ihre Mitarbeiter beugten sich über Pläne, waren mit irgendwelchen Messungen beschäftigt oder hingen mit einem Ohr am Funkgerät, um Informationen auszutauschen oder Anweisungen entgegenzunehmen. Weiter hinten kroch ein fast wohnwagengroßes Schneemobil mit dicken Schaufelrädern auf das Schneefeld zu, offenbar, um mit Hilfe der an seitlichen Schwenkarmen befestigten hochsensiblen Geräte Bodenmessungen vorzunehmen. Ein Stück abseits war – klein und verloren – der Steinhügel zu sehen, den Lloyd und McFarlane über Masangkays sterblichen Überresten errichtet hatten. Am Rand der Mulde brachte Evans seinen Cat zum Stehen. McFarlane sprang herunter und ging auf eine Baracke zu, in der, wie auf einem Schild zu lesen stand, die Einsatzleitung untergebracht war. In der Baracke waren Lloyd und Glinn an einem Tisch in der Nähe der provisorischen Küchenzeile in eine Diskussion vertieft, aus ihren Bechern stieg verlockender Kaffeduft. In der kleinen Küche lud Amira frisch gebrutzelten Schinkenspeck auf einen Teller. John Puppup hielt, wie eine Katze zusammengerollt, in der Ecke ein Nickerchen. »Wird auch Zeit, dass Sie langsam eintrudeln«, sagte Amira, als sie mit dem Teller aus der Küche kam. »Stundenlang im Bett herumzuliegen! Dabei sollen Chefs ihren Assistentinnen immer ein gutes Beispiel geben.« Sie träufelte Ahornsirup auf ein Stück Schinkenspeck, verteilte ihn mit dem Zeigefinger und schob sich den Happen in den Mund. Lloyd wärmte sich die Hände an seinem Kaffeebecher. »Bei Ihren Essgewohnheiten müssten Sie schon lange tot sein, Rachel«, stichelte er.

Amira lachte. »Das Gehirn verbraucht beim Denken mehr Kalorien pro Minute als der Körper beim Joggen. Was, glauben Sie, hält mich wohl so schlank und sexy?« McFarlane fragte dazwischen: »Wie lange wird es dauern, bis der Meteorit freigelegt ist?« Glinn lehnte sich zurück, zog seine goldene Taschenuhr heraus und ließ den Deckel aufspringen. »Eine halbe Stunde. Wir schaben die Erdschicht fürs Erste nur so weit ab, dass Sie Ihre Tests durchführen können. Dr. Amira wird Ihnen dabei assistieren und bei der Analyse auch.« McFarlane nickte. Das hatten sie schon ausführlich besprochen, aber es gehörte zu Glinns Gewohnheiten, alles noch einmal durchzukauen. Immer misstrauisch, dachte er. »Wir müssen ihn natürlich taufen«, sagte Amira, schob sich noch ein Stück Schinkenspeck in den Mund und fragte kauend: »Hat jemand Champagner dabei?« »Bedauerlicherweise ähnelt dieses Unternehmen eher einem Abstinenzlertreffen als einer wissenschaftlichen Expedition«, murrte Lloyd stirnrunzelnd. McFarlane grinste. »Wie wär’s, wenn Sie Ihre Thermosflasche mit heißem Kakao auf dem Ding zerschellen lassen?« Glinn langte nach seiner Aktentasche, zog eine Flasche Perrier-Jouet heraus und stellte sie auf den Tisch. »Fleur de Champagne«, flüsterte Lloyd ehrfurchtsvoll, »meine Lieblingssorte. Eli, Sie krummer Hund, Sie haben mir mit keinem Wort verraten, dass wir Champagner an Bord haben.« Glinn beschränkte sich auf ein verkniffenes Lächeln. »Apropos Taufe – hat sich schon jemand einen Namen ausgedacht?«, wollte Amira wissen. »Sam möchte, dass wir ihn Masangkay-Meteorit nennen«, antwortete Lloyd. Und fügte nach einer kleinen Kunstpause hinzu: »Ich neige dazu, der üblichen Namensgebung zu folgen und ihn Desolación-Meteorit zu nennen.« Betretenes Schweigen. »Wir brauchen einen Namen«, drängte Amira. McFarlane sah Lloyd fest an und sagte: »Nestor Masangkay hat sein Leben dafür gegeben, diesen Meteoriten zu finden. Ohne ihn wären wir gar nicht hier. Andererseits, Sie finanzieren diese Expedition, also steht Ihnen das Recht zu, dem Gesteinsbrocken einen Namen zu geben.« Lloyd sah sie der Reihe nach an. Dann sagte er ungewohnt ruhig: »Wir wissen ja nicht mal, ob Nestor Masangkay diese Ehrung gewollt hätte. Man sollte an alten Traditionen nicht rütteln, Sam. Nennen wir ihn also den DesolaciónMeteoriten. Aber der Museumssaal, in dem er ausgestellt wird, soll nach Nestor benannt werden. Wir errichten eine Gedenktafel, auf der seine Entdeckung beschrieben wird. Wäre das ein akzeptabler Kompromiss?« McFarlane dachte einen Moment nach, dann nickte er. Glinn reichte die Flasche an Lloyd weiter und stand auf. Sie zogen ihre Parkas über und traten aus der Baracke in die strahlend helle Morgensonne. Unterwegs hielt sich Glinn an McFarlanes Seite. »Es wird Ihnen sicher klar sein, dass wir Ihren Freund irgendwann exhumieren müssen«, sagte er und deutete mit dem Kopf auf den Grabhügel. »Warum?«, fragte McFarlane überrascht. »Wir müssen die Todesursache wissen. Dr. Brambell wird Nestors sterbliche Überreste untersuchen.« »Wozu?« »Tut mir Leid. Es dürfen keine Fragen offen bleiben.« McFarlane widersprach leidenschaftlich, gab seinen Widerstand aber bald auf. Wie üblich war gegen Glinns Logik nichts auszurichten. Schließlich standen sie am Rand des von den Planierraupen umgegrabenen Areals. Nestors Loch war verschwunden, die Planierraupen hatten es zugeschüttet. »Wir haben die Erde bis auf eine Tiefe von etwa einem Meter über dem Meteoriten abgetragen und dabei von jeder Schicht Proben genommen«, erklärte Glinn. »Nun werden wir den verbliebenen Boden abtragen. Das heißt, bei den letzten Zentimetern arbeiten wir mit Besen und Spachteln. Auf die Weise kriegt der Meteorit nicht mal einen Kratzer ab.« Lloyd nickte zufrieden. »Gut so.«

Rochefort, der zusammen mit Garza bei den aufgereihten Planierraupen gestanden hatte, kam zu ihnen herüber. Von der ungewohnten Arbeit in Wind und Wetter hatte er einen krebsroten Kopf. »Fertig?«, fragte Glinn. Rochefort nickte. Die Fahrer hatten ihre Plätze in der Kabine eingenommen, die im Leerlauf arbeitenden Dieselmotore bliesen stinkenden Qualm in die Luft. »Keine Probleme?«, vergewisserte sich Lloyd. »Nein.« Glinn nahm Blickkontakt mit Garza auf und signalisierte ihm mit hochgerecktem Daumen, dass es losgehen könne. Garza beschrieb mit der zur Faust geballten rechten Hand einen Kreis, die Fahrer legten den Vorwärtsgang ein, ließen die Planierraupen langsam vorwärts rollen und senkten die Schaufelblätter so weit ab, dass sie greifen konnten. Einige Männer in weißen Kitteln und mit Beuteln für Bodenproben in der Hand folgten dem Fahrzeug zu Fuß. Von Zeit zu Zeit bückten sie sich, um Proben der gelockerten Erde und des Gesteins zu nehmen. Nach McFarlanes Schätzung wurden beim ersten Durchgang etwa fünfzehn Zentimeter Erde abgetragen. Lloyd verzog gequält das Gesicht. »Ich darf gar nicht daran denken, dass diese riesigen Schaufeln meinem Meteoriten womöglich zu nahe kommen.« »Keine Sorge«, beruhigte ihn Glinn. »Die Schürftiefe ist millimetergenau eingestellt, ihrem Augapfel kann nichts passieren.« Der zweite Durchgang begann. Diesmal gesellte sich Amira zu den Männern, die der Phalanx der Planierraupen folgten. Sie zog ein auf Rädern montiertes Protonenmanometer hinter sich her. Am Ende der Strecke blieb sie stehen, drückte einige Knöpfe auf der Frontplatte des Geräts, riss den schmalen Papierstreifen mit den Messwerten ab und ging damit, ihr Messwägelchen im Schlepptau, zu der Gruppe um Glinn hinüber. Glinn nahm den Ausdruck an sich. »Aha, da haben wir ihn ja«, sagte er und hielt Lloyd den Zettel hin. Lloyd riss ihm den Streifen förmlich aus der Hand, McFarlane drängte sich neben ihn, weil er mitlesen wollte. Eine leicht unregelmäßige Linie zeigte die Oberfläche der Erdschicht an, darunter war ein großer halbkreisförmiger, auffallend dunkler Schatten zu erkennen. Lloyds kräftige Hände fingen zu zittern an. McFarlane konnte es ihm nachfühlen, er hatte es auch nicht glauben wollen. Aber nun gab es keinen Zweifel mehr. Mein Gott, dachte er, da unten liegt tatsächlich etwas. »Noch knapp vierzig Zentimeter«, bemerkte Amira. Glinn nickte. »Wir gehen jetzt wie bei einer archäologischen Ausgrabung vor«, sagte er. Und zu Lloyd und McFarlane gewandt: »Wir haben den Aushub absichtlich nicht an der Stelle vorgenommen, an der Masangkay gegraben hat. Auf diese Weise gewinnen wir nämlich Proben von bisher unberührtem Erdreich.« Die Gruppe folgte ihm über das Feld. Amira druckte an verschiedenen Stellen die Messergebnisse aus, bohrte ein paar Pflöcke in den Boden und verband sie mit weißem Markierband, so dass sich am Schluss ein Muster aus Quadraten von jeweils zwei Metern Seitenlänge ergab. Einige Labormitarbeiter begannen vorsichtig den Boden in diesem Areal mit Spachteln abzutragen. »Wieso ist der Boden nicht gefroren?«, fragte McFarlane. Glinn deutete mit dem Kopf auf die vier Masten. »Wir bestrahlen das Gebiet mit Infrarotlicht.« Lloyd schüttelte staunend den Kopf und meinte anerkennend: »Sie haben wirklich an alles gedacht.« »Dafür bezahlen Sie uns«, erwiderte Glinn trocken. Die Männer in den Laborkitteln hatten inzwischen ein sauber abgegrenztes Viereck ausgehoben, das mit jedem Spatenstich tiefer wurde. Hin und wieder sammelten sie Proben von Mineralien, Steingrieß und Sand ein. Einer von ihnen unterbrach seine Arbeit und hielt ein ausgezacktes Mineral hoch, an dem oben etwas Sand klebte. Glinn war mit einem Schritt bei ihm. »Das ist interessant.« Er wandte sich zu Amira um. »Was ist das?« »Jetzt haben Sie mich kalt erwischt«, antwortete sie. »Seltsam. Ich würde sagen, es sieht wie Glas aus.« »Fulgurit«, warf McFarlane ein. »Was?« »Fulgurit«, wiederholte McFarlane. »Es entsteht, wenn ein schwerer Blitzschlag auf feuchten Sand trifft. Der Sand schmilzt und wird zu Glas.« »Sehen Sie!« Lloyd blickte mit einem triumphierenden Lächeln in die Runde. »Darum habe ich den Mann dabei!« »Hier liegt noch so ein Ding«, rief einer aus der Spatenkolonne. Gemeinsam mit ein paar anderen hob er vorsichtig den Boden rings um die Fundstelle aus und steckte das Stück Glas wie einen Setzling wieder in den Sand. McFarlane ging in die Knie und zog es mit spitzen Fingern heraus. »Meteoriten sind ferromagnetisch«, erklärte er. »Dieser hier scheint eine Menge Blitze angezogen zu haben.« Beim Abtragen des Bodens stießen die Männer auf weitere Stücke Fulgurit, sie wurden in Papiertaschentücher gehüllt und in einer Holzschachtel gesammelt. Amira hatte gerade wieder eine Messung vorgenommen. »Noch fünfzehn Zentimeter«, sagte sie. »Mit den Pinseln weiterarbeiten«, ordnete Glinn an. Zwei Männer kauerten sich an den Rand der ausgehobenen Grube. In dieser Tiefe hatte sich die Erde so mit Wasser voll gesogen, dass sie, statt trockenen Sand wegzufegen, mit dem Pinsel zähen Schlamm beiseite bürsten mussten. Trotzdem wurde das Loch langsam, aber sicher tiefer. Alle hielten den Atem an. »Nächste Messung«, murmelte Glinn. »Noch zweieinhalb Zentimeter«, meldete Amira. McFarlane beugte sich vor. Und da traf einer der groben Plastikpinsel plötzlich auf eine harte Oberfläche. Die beiden Männer stiegen aus der Grube und hoben mit dem Spaten von oben so viel wie möglich von dem zähen Schlamm aus, bis nur noch eine dünne Schicht auf dem Meteoriten lag. »Wegspülen«, ordnete Glinn an. Sogar ihm bebte jetzt vor Aufregung die Stimme. »Na los, beeilt euch!«, schrie Lloyd.

Jemand kam mit einem Schlauch angerannt. Glinn richtete die Düse auf den Meteoriten und drehte sie auf. Und als er sie nach ein paar Minuten wieder zudrehte, war auch der letzte Schlammklumpen weggeschwemmt. Sie standen wie gebannt da, bis zum Anschlag gespannt. Plötzlich landete mit dumpfem Klatschen eine Champagnerflasche in der Grube. Leider eine schlecht gezielte Flasche – sie schlug nicht auf dem Meteoriten, sondern daneben auf, im nassen Erdreich.

 

Isla Desolación

9.55 Uhr

Palmer Lloyd stand am Rand der akkurat in die Erde gestochenen Grube und starrte auf die bloß gelegte Oberfläche des Meteoriten. Einen Moment setzte ihm der Verstand aus, so unglaublich war der Anblick. Erst ganz allmählich kam er wieder zu sich – registrierte den Pulsschlag in den Schläfen, merkte, wie seine Lungen sich füllten, und spürte, wie ihm die kalte Luft auf der Haut brannte. Und doch blieb eine nie zuvor gekannte Verblüffung zurück. Er blickte auf etwas, sah es und konnte es trotzdem nicht fassen. »Margaux«, murmelte er. Seine Stimme verlor sich in der schneebedeckten Einöde. Er hatte die meisten größeren Eisenmeteoriten mit eigenen Augen gesehen, war zum Hoba gepilgert, zum Ahnighito, zum Willamette – und wie sie alle hießen. Und obwohl jeder ein wenig anders geformt war, hatten sie doch eines gemeinsam: die zernarbte schwarz-braune Oberfläche. Alle Eisenmeteoriten sehen einander ähnlich. Dieser Meteorit war dagegen scharlachrot. Nein, korrigierte er sich, nicht scharlachrot, das trifft es nicht. Es war die tiefe, samtene Farbe eines polierten Karneols, nur eine Spur satter. Oder ... und dann hatte er’s auf einmal: Es war genau die Farbe eines guten Bordeaux-Weins. Die des Chateau Margaux zum Beispiel, mit dem er sich auf der Rolvaag leider begnügen musste. Eine Autorität vermittelnde Stimme unterbrach die Stille. »Ich darf alle bitten, vom Rand der Grube zurückzutreten.« Das war Glinn. Lloyd musste sich nicht einmal umdrehen. Doch niemand rührte sich vom Fleck. »Treten Sie zurück!«, wiederholte Glinn die Aufforderung in etwas schärferem Ton. Diesmal wich der Kreis der Neugierigen zögernd ein paar Schritte zurück. Als plötzlich Sonne auf die Grube fiel, konnte Lloyd den Meteoriten im wahrsten Sinne des Wortes in einem neuen Licht sehen. Was ihm abermals den Atem verschlug. Denn jetzt hatte der Meteorit auf einmal eine verblüffende Ähnlichkeit mit Gold. Die ins Scharlachrot spielende glatte Oberfläche schien alles Licht in sich aufzunehmen, so dass der Kontrast mit der dunkleren Umgebung dem Betrachter einen zauberhaft schönen und zugleich unheimlichen Effekt vorgaukelte: die Illusion, der Meteorit leuchte von innen heraus. Ein Zauberstein. Sein Zauberstein. Unbändige Freude durchflutete ihn. Freude darüber, dass dieses einmalige Stück Fels zu seinen Füßen lag. Und darüber, dass die Pfade seines Lebens ihn hierher geführt hatten. Bislang war ihm der Gedanke, den größten Meteoriten aller Zeiten in sein Museum zu schaffen, Anreiz genug gewesen. Aber nun lag die Latte höher. Es war kein Zufall, dass gerade er hier stand. Denn wer außer ihm hätte die visionäre Kraft und die finanziellen Ressourcen gehabt, die Bedeutung dieses einmaligen Steins zu erkennen? »Mr. Lloyd«, hörte er Glinn sagen, »ich habe darum gebeten, vom Rand der Grube zurückzutreten.« Stattdessen schob Lloyd den rechten Fuß ein wenig vor. »Palmer!«, rief Glinn mit erhobener Stimme, »lassen Sie sich ja nicht einfallen ...« Aber Lloyd hatte schon zum Sprung angesetzt. Da stand er dann, die Füße fest auf das Metall gestemmt, breitbeinig auf dem Meteoriten. Um nur einen Atemzug später auf die Knie zu fallen und die Finger fast zärtlich über die Oberfläche gleiten zu lassen. Wären da nicht die dicken Handschuhe gewesen, hätte man denken können, er streichle ihn. Einem plötzlichen Impuls folgend, beugte er sich herab und schmiegte die Wange an den Stein. Atemlose Stille. Bis McFarlane von oben fragte: »Wie fühlt er sich an?«

Lloyd richtete sich auf. »Kalt«, antwortete er und spürte, wie ihm eine Träne über die vor Kälte fast taube Wange rann. »Sehr, sehr kalt.«

 

Isla Desolación

13.55 Uhr

McFarlane starrte auf den Laptop, den er auf den Knien hielt. Der Cursor blinkte ihn ungeduldig von einem fast leeren Bildschirm an. Er seufzte und rekelte sich auf der Suche nach einer bequemeren Sitzposition auf dem Metall-Klappstuhl zurecht. Am einzigen Fenster der Baracke blühten Eisblumen. Das Wetter war schlechter geworden, es schneite. Ein Glück, dass der Kohleofen so viel wohlige Wärme ausstrahlte. Er gab per Mausklick einen Befehl ein, dann klappte er den Laptop fluchend zu. Auf dem Tisch nebenan fing der Drucker an zu rattern. Von innerer Unruhe getrieben, ließ er im Geiste noch einmal die Ereignisse des heutigen Morgens Revue passieren. Der Augenblick ehrfurchtsvoller Stille, als alle staunend in das Loch gestarrt hatten, dann Lloyds impulsiver Sprung und dazu Glinns erschrockener Protest ... Er hatte Lloyd beim Vornamen gerufen; zum ersten Mal, soweit McFarlane sich erinnerte. Danach die triumphale Taufzeremonie, der Schwall von Fragen, mit dem die Mitarbeiter Glinn, Lloyd und McFarlane eindeckten, und das alles beherrschende Gefühl der Ratlosigkeit, weil sie keine Antworten wussten. Am liebsten wäre er Lloyd nachgesprungen. Alles in ihm drängte danach, dieses Gebilde anzufassen, um sich davon zu überzeugen, dass es nicht nur ein Trugbild war. Aber ein wenig hatte er sich auch vor dem Felsen gefürchtet. Etwas, das in so intensivem Rot leuchtete, passte irgendwie nicht in diese eintönige Landschaft. Ein Fremdkörper – abstoßend und faszinierend zugleich. In ihm war eine Hoffnung erwacht, die er längst begraben geglaubt hatte. Die Barackentür flog auf: Amiras – von heulendem Wind und stiebendem Schnee begleiteter – Auftritt. »Fertig mit Ihrem Bericht?«, fragte sie, knöpfte den Parka auf und klopfte den Schnee ab. McFarlane deutete mit dem Kopf auf den Drucker. Amira nahm das frisch ausgedruckte Blatt, warf einen Blick darauf und stieß ein bellendes Lachen aus. »Der Meteorit ist rot«, las sie vor und warf McFarlane das Blatt Papier auf den Schoß. »Das liebe ich an euch Männern – diese lakonische Kürze.« »Warum soll ich einen Haufen Spekulationen anstellen, nur damit das Blatt voll wird? Bevor wir nicht ein Stück davon haben und es untersuchen können, kann ich keine Aussage darüber machen, worum es sich bei dem Gebilde genau handelt.« Amira zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn. Er hatte den Eindruck, dass ihre Nonchalance nur gespielt war; in Wirklichkeit glaubte er ein Lauern in ihrem Blick zu entdecken. »Sie beschäftigen sich seit Jahren mit Meteoriten«, fuhr Amira fort. »Darum bezweifle ich, dass Ihre Spekulationen nutzlos wären.« »Was halten Sie denn davon?«, fragte McFarlane. »Lassen Sie mich Ihnen in die Karten gucken, dann zeige ich Ihnen meine.« Er starrte auf die unregelmäßige Maserung in dem aus Treibholz gezimmerten Tisch und folgte den Linien mit dem Zeigefinger. Es war dieselbe unvollkommene Vollkommenheit wie bei einem Küstenverlauf, einer Schneeflocke oder einer Scheibe Nussbrot, die eine Ahnung davon vermitteln, wie kompliziert alles ist: das Universum, ein Atom, ein Stück Holz. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Amira ein Blechröhrchen aus der Tasche zog, die Kappe aufdrehte und eine halb gerauchte Zigarre herausschüttelte. »Bitte nicht«, sagte er schnell, »ich möchte bei dem Wetter nicht ins Freie flüchten müssen.« Amira schob die Zigarre in das Röhrchen zurück. »Okay«, sagte sie, »Sie wollten wissen, was ich denke? Ich denke, Sie machen aus Ihrem Herzen eine Mördergrube.« McFarlane fuhr verblüfft herum.

»Stimmt doch, oder? Sie hatten mal eine Lieblingstheorie – etwas, woran Sie geglaubt haben, ungeachtet aller Lästereien Ihrer Vorgesetzten und Kollegen. Und als Sie meinten, Sie hätten endlich den Beweis für die Richtigkeit Ihrer Theorie gefunden, da ... nun, sagen wir: da hat Ihnen das eine MengeÄrger eingebracht. Im Überschwang der Gefühle haben Sie Ihre sonst so kühle Besonnenheit verloren und Ihren Freund und Partner hereingelegt. Und am Schluss stellte sich heraus, dass Ihr vermeintliches Beweisstück wertlos war.« McFarlane sah sie groß an. »Ich wusste gar nicht, dass Sie neben all den anderen Studienfächern auch noch Psychiatrie belegt haben.« Amira beugte sich zu ihm hinüber und sagte eindringlich: »Also gut, ich kenne die Story. Aber das Entscheidende ist: Jetzt haben Sie bekommen, wonach Sie all die Jahre gesucht haben. Sie haben nicht nur irgendein Indiz, sondern den Beweis gefunden. Aber Sie wollen es sich nicht eingestehen. Weil Sie befürchten, es könnte wieder eine Bruchlandung werden.« McFarlane erwiderte ihren eindringlichen Blick einige Sekunden lang stumm. Und spürte, wie sein aufkommender Ärger dahinschmolz. Er saß in sich zusammengesunken da, während seine Gedanken sich überschlugen. Konnte es sein, dass sie Recht hatte? Amira lachte. »Nehmen Sie zum Beispiel die Farbe. Sie wissen mit Sicherheit, warum Metalle nie dunkelrot sind?« »Nein.« »Die Farbe von Objekten wird von der Wechselwirkung mit den Photonen des Lichts bestimmt.« Sie kramte in der Tasche ihres Parkas und zog etwas Rundes heraus, das in zerkrumpeltes Zellophanpapier gewickelt war. »Jolly Rancher?« »Was, zum Teufel, ist ein Jolly Rancher?« Sie warf ihm das Bonbon zu, kramte nach einem zweiten für sich und hielt die Pastille zwischen Daumen und Zeigefinger hoch. »Jedes Objekt, wenn es nicht gerade pechschwarz ist, absorbiert bestimmte Wellenlängen des Lichts und streut andere aus. Nehmen Sie dieses grüne Bonbon. Es ist grün, weil es die grünen Wellenlängen des Lichts streut und für das Auge Wellenlängen des Lichts streut und für das Auge sichtbar macht, die anderen dagegen absorbiert. Ich habe ein bisschen nachgerechnet und bin auf kein einziges Metall gestoßen, das rotes Licht weiterleitet. Auch auf keine Legierung. Anscheinend können Metalle oder Legierungen einfach nicht dunkelrot sein. Gelb, weiß, orange, lila, grau – aber nicht rot.« Sie warf sich das grüne Bonbon in den Mund, biss einmal kräftig zu und fing an zu kauen. McFarlane legte seines auf den Tisch. »Und? Was wollen Sie damit sagen?« »Sie wissen genau, was ich sagen will. Das Ding da draußen besteht aus einem fremden Element, das wir noch nie gesehen haben. Spielen Sie uns also nichts vor. Ich weiß, was Sie denken: Das ist er, mein interstellarer Meteorit.« McFarlane hob abwehrend die Hand. »Gut, es stimmt, der Gedanke ist mir durch den Kopf gegangen.« »Und?« »Alle je gefundenen Meteoriten bestehen aus bekannten Elementen – Nickel, Eisen, Kohlenstoff, Silizium. Sie sind alle in unserem eigenen Sonnensystem geformt worden, und zwar aus der primordialen Staubwolke, in die unsere Sonne einst gehüllt war.« Er stockte, offenbar darauf bedacht, jedes Wort sorgfältig zu wählen. »Wie ich sehe, wissen Sie, dass ich früher Spekulationen über die Möglichkeit angestellt habe, dass ein Meteorit von irgendwo außerhalb unseres Sonnensystems kommen könnte. Ein zusammengeballtes Etwas, das zufällig eine Flugbahn eingeschlagen hat, auf der es vom Gravitationsfeld der Sonne eingefangen wurde. Ein interstellarer Meteorit.« Amira lächelte wissend. »Aber die Mathematiker haben Ihnen gesagt, das sei unmöglich. Eins zu einer Quintillion.« McFarlane nickte. »Ich habe das auf dem Schiff nachgerechnet. Die Mathematiker haben sich geirrt, sie sind von falschen Annahmen ausgegangen. Die Wahrscheinlichkeit beträgt eins zu einer Milliarde.«

McFarlane lachte. »Milliarde oder Quintillion – was macht das schon für einen Unterschied?« »Eins zu einer Milliarde – pro Jahr.« McFarlanes Grinsen erlosch. »Sie haben richtig gehört«, sagte Amira. »Über Milliarden von Jahren gerechnet, wird die Chance, dass tatsächlich ein interstellarer Meteorit auf der Erde gelandet ist, größer als eins zu eins. Wir haben es also nicht mit einer Möglichkeit, sondern mit einer Wahrscheinlichkeit zu tun. Ihre hübsche Theorie kann Auferstehung feiern. Und das verdanken Sie mir. Es ist Ihnen hoffentlich klar, dass Sie in meiner Schuld stehen?« Sekundenlang Stille, nur das Heulen und Rütteln des Windes war zu hören. Dann fasste sich McFarlane ein Herz. »Soll das heißen, Sie glauben wirklich, dass dieser Meteorit aus irgendeinem Metall oder einer Legierung besteht, die es in unserem Sonnensystem nirgendwo gibt?« »Aber ja. Und Sie glauben es ebenfalls. Deshalb haben Sie keinen Bericht geschrieben.« Als McFarlane fortfuhr, schien er mehr mit sich selbst als mit Amira zu reden. »Wenn es dieses Metall tatsächlich irgendwo in unserem Sonnensystem gäbe, hätten wir zumindest Spuren davon gefunden. Schließlich haben sich Sonne und Planeten aus demselben Staub geformt. Also muss es aus dem Weltall kommen.« Er sah hoch. »Eine zwingende Schlussfolgerung.« Sie grinste. »Exakt das glaube ich auch.« Eine Zeit lang saßen sie beide stumm da, jeder in seine Gedanken versunken. Dann sagte Amira: »Wir müssen uns eine Probe davon besorgen. Das richtige Werkzeug dafür hätte ich, einen Hochgeschwindigkeitsbohrer, für Diamanten bestimmt. Ich denke, fünf Kilo Gestein wären fürs Erste genug. Das ist ein ganz schöner Brocken, finden Sie nicht?« McFarlane nickte. »Aber wir sollten unsere Vermutung einstweilen für uns behalten. Lloyd und die anderen werden jeden Augenblick zur Tür reinkommen.«

Wie aufs Stichwort hörten sie draußen etwas stampfen, die Tür flog auf, und Lloyd trat ein, in seinem dicken Parka noch bäriger als sonst. Hinter ihm folgten Glinn, Rochefort und Garza. Penfold, Lloyds Assistent, drückte sich als Letzter durch die Tür, zitternd wie Espenlaub, die wulstigen Lippen blau gefroren. »Kalt wie ein Hundearsch da draußen«, dröhnte Lloyd, stampfte ein paarmal mit den Füßen auf und hielt die Hände an den Ofen. Er sah aus wie die gute Laune in Person. Verglichen mit ihm, wirkten die drei Männer vom EES-Team wie verkniffene Buchhalter. Penfold baute sich mit dem Funkgerät in der Hand in einer Ecke der Baracke auf. »Sir«, erinnerte er Lloyd, »wir müssen den Landeplatz festlegen. Wenn der Helikopter nicht innerhalb der nächsten Stunde startet, können Sie nicht mehr rechtzeitig zur Aktionärsversammlung in New York sein.« »Ja, ja – Augenblick noch, ich will erst mal hören, was uns Sam zu sagen hat.« Penfold machte eine Leidensmiene und faselte etwas ins Funkgerät. Glinns ernste graue Augen musterten McFarlane durchdringend. »Ist der Bericht fertig?« McFarlane nickte und deutete mit dem Kopf auf den Ausdruck auf dem Tisch. Glinn warf kurz einen Blick darauf. »Ich bin nicht zum Scherzen aufgelegt, Dr. McFarlane.« Es war das erste Mal, dass Mc-Farlane bei Glinn eine gewisse Irritation beobachtete, was ihn vermuten ließ, dass der Meteorit in gewisser Weise eine böse Überraschung für ihn gewesen war. Und das bei jemandem, der Überraschungen absolut nicht mag, dachte er und sagte: »Mr. Glinn, ich kann einen Bericht nicht lediglich auf Spekulationen aufbauen. Für eine fundierte Aussage müssen wir Untersuchungsergebnisse haben.«

»Ich sage Ihnen hier, was wir müssen«, polterte Lloyd. »Wir müssen zusehen, dass wir das Ding aus dem Boden holen und in internationale Gewässer bringen, bevor die Chilenen Wind von unserer Entdeckung kriegen. Ihre Untersuchungsergebnisse haben Zeit bis später.« McFarlane hatte den Eindruck, dass das so etwas wie der Schlusspunkt einer Diskussion sein sollte, die Glinn und Lloyd geführt hatten. »Dr. McFarlane«, versuchte Glinn zu vermitteln, »möglicherweise kann ich die Sachlage ja etwas vereinfachen. Nur, eines muss ich vorab wissen: Ist der Meteorit gefährlich?« »Wir wissen, dass er nicht radioaktiv ist. Ich vermute, dass er in der einen oder anderen Weise giftig sein könnte. Das ist bei den meisten Metallen so.« »Wie giftig?« McFarlane zuckte die Achseln. »Mr. Lloyd hat ihn angefasst und lebt noch.« »Er war auch der Letzte, der das getan hat«, erwiderte Glinn. »Ich habe strikte Anweisung gegeben, dass niemand mehr in direkten Kontakt mit dem Meteoriten kommen darf – unter keinen Umständen.« Er überlegte einen Moment. »Und sonst? Könnte er Viren in sich tragen?« »Er liegt dort seit Millionen Jahren, somit hätten sich irgendwelche fremden Mikroben längst ausgebreitet. Trotzdem wäre es angebracht, Bodenproben zu nehmen und Moose, Flechten und andere Pflanzen aus der näheren Umgebung zu untersuchen, um zu sehen, ob es auffällige Veränderungen gibt.« »Wonach müsste man dabei suchen?« »Mutationen, vielleicht. Oder Spurenelemente von Toxinen oder Teratogenen.« Glinn nickte. »Ich werde mit Dr. Brambell darüber sprechen. Dr. Amira, fällt Ihnen was ein zur metallurgischen Beschaffenheit? Es handelt sich doch um ein Metall, oder?« Amira zermalmte knirschend ein Stück Bonbon zwischen den Zähnen. »Ja, sehr wahrscheinlich, weil es ferromagnetisch ist. Es oxidiert nicht, genau wie Gold. Nur, ich kann mir nicht erklären, wie ein Metall rot sein kann. Dr. McFarlane und ich haben gerade darüber gesprochen, dass wir eine Probe davon nehmen müssen.« »Ein Probe?«, explodierte Lloyd. Betretenes Schweigen, bis McFarlane sagte: »Natürlich, das ist das übliche Verfahren.« »Sie haben vor, ein Stück aus meinem Meteoriten herauszuschneiden?« McFarlane suchte Blickkontakt mit Glinn. »Gibt es da ein Problem?« »Und ob es da ein Problem gibt!«, polterte Lloyd los. »Es geht um ein Objekt, das für ein Museum bestimmt ist. Wir werden den Meteoriten dort ausstellen. Ich will nicht, dass er zerhackt oder angebohrt wird.« »Es gibt keinen größeren Meteoriten, der nicht zerteilt worden wäre. Wir wollen lediglich eine etwa fünf Kilo schwere Probe aus dem Kern entnehmen, das dürfte Jahre lang für alle nur denkbaren Untersuchungen ausreichen.« Lloyd schüttelte den Kopf. »Kommt nicht in Frage.« »Wir müssen es tun«, beharrte McFarlane vehement. Es gibt keine Möglichkeit, den Meteoriten genau zu analysieren, ohne dass wir Teile davon eindampfen, schmelzen, anschleifen und in ein Ätzbad legen. Gemessen an der Größe des Meteoriten, ist so eine kleine Probe wie ein Tropfen aus einem Fass.« »Und es handelt sich schließlich nicht um die Mona Lisa«, warf Amira halblaut ein. Lloyd fuhr herum und starrte sie böse an. »Das ist ein unsachliches Argument.« Dann lehnte er sich seufzend zurück. »An dem Meteoriten herumzuschnippeln, das ... ja, das ist ein Sakrileg. Können wir ihm nicht sein Geheimnis lassen?« »Auf keinen Fall«, erwiderte Glinn. »Wir müssen mehr über ihn wissen, bevor ich die Genehmigung zum Abtransport gebe. McFarlane hat völlig Recht.« Lloyd lief rot an. »Sie geben die Genehmigung zum Abtransport? Hören Sie gut zu, Eli: Ich bin bisher auf alle Ihre Spielregeln eingegangen und habe mich voll hinter Sie gestellt. Aber eines wollen wir mal klarstellen: Ich bin der Mann, der hier alles bezahlt. Das ist mein Meteorit. Sie haben sich vertraglich verpflichtet, ihn zum Lloyd-Museum zu bringen. Sie brüsten sich doch immer damit, dass Sie nie eine Pleite erleben. Aber wenn dieses Schiff ohne diesen Meteoriten nach New York zurückkehrt, dann ist das eine Pleite – habe ich Recht?« Glinns graue Augen fixierten ihn. Dann sagte er in ruhigem, fast nachsichtigem Ton: »Mr. Lloyd, Sie kriegen Ihren Meteoriten schon. Ich will lediglich dafür sorgen, dass beim Transport niemand unnötige Gesundheitsschäden davonträgt. Und das wollen Sie doch sicher auch nicht?« Lloyd zögerte. »Natürlich nicht.« McFarlane war verblüfft, wie schnell Glinn es geschafft hatte, den Mann in die Defensive zu drängen. »Dann bleibt mir lediglich, alle Beteiligten zu bitten, mit äußerster Vorsicht vorzugehen«, sagte Glinn. Lloyd fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich frage mich, warum sich plötzlich alles so zuspitzt? Weil der Meteorit rot ist? Was haben Sie gegen die Farbe Rot? Mir gefällt sie ausgezeichnet. Das Einzige, was bei unserem Unternehmen Mangelware ist, ist die Zeit. Oder haben Sie alle unseren Freund auf dem Zerstörer vergessen?« »Mr. Lloyd!« Penfold hielt sein Funkgerät hoch, wie ein Bittsteller die Bettelschale. »Der Helikopter – bitte!« »Zum Teufel damit«, schrie Lloyd und kehrte ihm demonstrativ den Rücken zu. Erst nachdem er ein paarmal tief durchgeatmet hatte, sagte er: »Also gut, in Gottes Namen, nehmen Sie Ihre Probe. Aber decken Sie das Loch ab, ich will nicht, dass man etwas sieht. Und beeilen Sie sich. Wenn ich wieder in New York bin, möchte ich hören, dass der gottverdammte Metallbrocken sich bewegt hat.« Damit stampfte er, Penfold im Schlepptau, aus der Baracke, die Tür flog mit einem Knall hinter ihnen ins Schloss. Einen Moment lang saßen alle wie versteinert da. Dann stemmte Amira sich aus ihrem Klappstuhl hoch. »Kommen Sie, Sam, gehen wir das Scheißding anbohren.«

 

Isla Desolación

14.15 Uhr

Nach der Wärme in der Baracke fühlte sich der Wind mes-N serscharf an. McFarlane dachte sehnsüchtig an die heiße Kalahari, als er Amira schlotternd vor Kälte zum Gerätelager folgte. Der Container war länger und breiter als die anderen und machte, so schäbig er auch von außen aussah, innen einen sauberen, tadellos aufgeräumten Eindruck. Gespeist vom Hauptgenerator in der Baracke nebenan, glühten und blinkten die Kontrollanzeigen der Monitore und Diagnosegeräte. Amira steuerte auf einen großen Metalltisch zu, auf dem ein zusammengeklapptes Dreibein und ein offensichtlich für die Entnahme von Gesteinsproben bestimmter Hochgeschwindigkeitsbohrer lagen. Amira fuhr beinahe zärtlich mit der Hand darüber. »Sind solche Hightech-Geräte nicht einfach zum Verlieben? Sehen Sie sich das Riesending an – schon mal so was gesehen?« »Nicht in dieser Größe«, gab McFarlane zu. Amira klappte das Gehäuse auf, überzeugte sich davon, dass alles in Ordnung war, schob den Stecker eines etliche Meter langen Kabels in die Steckdose und überprüfte die Funktionstüchtigkeit mit Hilfe des internen Diagnoseprogramms. »Hier – gucken Sie sich mal das an.« Sie hob ein langes, hinten keulenförmig verdicktes, vorn mit einer Führung versehenes Metallstück an und deutete auf die Aushöhlung. »Allein in der Bohrerspitze stecken zehn Karat Industriediamanten.« Sie schulterte den Bohrer, wandte sich zur Tür und meinte grinsend: »Da juckt’s einen doch in den Fingern, unseren Burschen anzubohren, oder nicht?« Amira ging voran, McFarlane trug das Dreibein und rollte hinter ihnen das Kabel aus. Über der Grube mit dem freigelegten Meteoriten war inzwischen ein provisorischer Sichtschutz errichtet worden, der ein bisschen einer Marktbude glich. Hinter den Brettern tauchten Batterien von Halogenleuchten das Loch in grelles, kaltes Licht. Glinn stand mit dem Funkgerät in der Hand am Rand der Grube und wartete bereits auf sie. Von weißem Licht angestrahlt, leuchtete der Meteorit fast purpurrot; McFarlane musste unwillkürlich an eine frische Wunde denken. Amira streifte die Handschuhe ab, ließ sich von Mc-Farlane das Dreibein geben, klappte es auf und verankerte den Bohrer in der Halterung. Sie zeigte auf den dicht hinter der Spitze des Diamantbohrers eingebauten Filter. »Das Ding hat eine enorme Saugkraft, es filtert sämtliche Staubpartikel heraus. Es kann also nichts passieren, selbst wenn das Metall des Meteoriten gefährliche Substanzen enthalten sollte.« »Trotzdem lasse ich das ganze Gebiet räumen«, sagte Glinn und gab die Anweisung sofort über Funk durch. »Denken Sie daran: Abstand halten. Und dass Sie mir den Meteoriten auf keinen Fall anfassen.« Er steckte den Kopf aus der Bretterbude und scheuchte gestikulierend ein paar Arbeiter weg, die sich noch in der Nähe aufhielten. McFarlane verfolgte, wie Amira den Bohrer einschaltete und das Dreibein fest auf den Meteoriten setzte. »Sieht aus, als hätten Sie Übung damit«, murmelte er. »Das können Sie laut sagen. Eli hat mich durch einige Dutzend Trockenläufe gescheucht.« »Wie – haben Sie das etwa vorgeübt?« »Jeden einzelnen Schritt.« Amira nahm eine Fernbedienung aus der Tasche und stellte sie auf die technischen Daten des Bohrers ein. »Und wir haben nicht nur das geübt. Eli plant alle unsere Projekte, als ging’s um den D-Day. Die Invasion, Sie wissen schon. Alle müssen alles üben, bis es ihnen zum Hals heraushängt, denn im Ernstfall muss es nun mal auf Anhieb klappen.« Sie trat einen Schritt zurück und hauchte sich warmen Atem auf die eisigen Hände. »Mann, Sie hätten mal die riesige Eisenkugel sehen sollen, die wir immer wieder ausgraben und durch die Botanik karren mussten! Dicke Berta haben wir das Ding genannt. Ich kann Ihnen sagen, ich hatte schon im Voraus eine Mordswut auf den Meteoriten.« »Und wo haben Sie das alles geübt?« »Auf der Bar-Cross-Ranch bei Bozeman, oben in Montana. Mal ehrlich, Sie haben doch nicht im Ernst geglaubt, dass Eli uns ohne gründliches Training losschickt, oder?« Sie beugte sich über den Koffer, den Glinn offenbar mitgebracht hatte, nahm eine kleine Blechdose heraus, schraubte den Verschluss auf und beträufelte den Meteoriten mit einer schwarzen, klebrigen Flüssigkeit, die sich langsam auf der roten Oberfläche verteilte. Dann tunkte sie einen Pinsel in die Dose und bestrich die Spitze des Bohrers ebenfalls mit der klebrigen Substanz. Schließlich nahm sie noch eine hauchdünne Lage Gummi aus dem Koffer und presste sie auf die versiegelte Stelle. »Wir wollen vermeiden, dass womöglich Meteoritenstaub in die Luft entweicht«, erklärte sie McFarlane. »Es dauert einen Augenblick, bis der Kleber fest genug ist.« Sie kramte das Röhrchen mit der angerauchten Zigarre aus der Parkatasche, steckte aber angesichts der vorwurfsvollen Blicke, mit denen Glinn und McFarlane ihr Vorhaben stumm kommentierten, das Feuerzeug wieder weg und knackte ersatzweise Erdnüsse auf. McFarlane musterte sie kopfschüttelnd. »Erdnüsse, Bonbons, Zigarren ... Haben Sie noch mehr Gewohnheiten, die Ihre Mutter missbilligen würde?« Ihre Augen blitzten ihn an. »Affengeilen Sex, Rock ’n’ Roll, Extrem-Ski und Blackjack mit hohem Einsatz.« McFarlane lachte. Dann fragte er: »Sind Sie nervös?« »Eher unheimlich aufgeputscht. Und Sie?« Er musste erst nachdenken. Es kam ihm fast so vor, als würde er seine Aufregung langsam zulassen. Vielleicht, damit es ihm leichter fiel zu glauben, dass das, was dort unten in der Grube lag, wirklich genau das war, wonach er all die Jahre gesucht hatte.

»Ja«, sagte er schließlich, »aufgeputscht, so könnte man’s nennen.« Glinn zückte seine goldene Taschenuhr und ließ den Deckel aufspringen. »Es wird Zeit.« Amira wandte sich wieder dem Bohrer zu. Sie drückte zwei, drei Funktionstasten. Ein Rumpeln setzte ein, so tief, dass die Luft in der engen Holzbude zu vibrieren schien. Sie überprüfte die Position der Bohrerspitze, trat einen Schritt zurück und korrigierte den Aufsetzpunkt per Fernbedienung. Aus dem Rumpeln wurde ein Heulton. Wieder fingerte sie auf der Fernbedienung herum, der Heulton schwoll kurz an und gleich darauf auf eine erträgliche Lautstärke ab. »Fünf mal fünf«, sagte sie zu Glinn. Glinn langte in den offenen Koffer, nahm drei Schutzmasken heraus und warf Amira und McFarlane je eine zu. »Wir gehen nach draußen und steuern das Ganze per Fernbedienung.« Mc-Farlane zog sich die Maske über den Kopf, das Gummi klebte widerlich kalt an seinen Wangen. Er hätte sich eine Kapuze gewünscht, der Wind schnitt unbarmherzig in seine Ohren und in seinen Nacken. Hier draußen hörte sich das hohe Wimmern des Bohrers wie ein zorniger Hornissenschwarm an. »Mehr Abstand«, sagte Glinn, »mindestens dreißig Meter.« Sie gingen weiter weg. Schneeflocken wirbelten durch die Luft und deckten den Boden mit einer dünnen weißen Schicht zu. Die Bretterbude ließ sich kaum noch ausmachen, aber das grelle Licht, das aus der offenen Tür drang, war ein untrüglicher Orientierungspunkt. »Falls sich herausstellt, dass das Ding ein Raumschiff ist, könnte jemand da drin mächtig sauer werden, wenn unser Bohrer den Diamantkopf in die Kommandozentrale steckt«, versuchte Amira unter der Schutzmaske zu witzeln. Glinn verzog keine Miene. »Fangen wir an. Sobald der Bohrer einen Millimeter unter der Versiegelung ist, unterbrechen wir und prüfen, ob irgendwelche Gase austreten.« Amira nickte, richtete die Fernbedienung auf den Bretterverschlag und drückte die Starttaste. Der Motor heulte auf, dann war er plötzlich nur noch gedämpft zu hören. Nach einigen Sekunden sagte Amira: »Komisch, ich komme einfach nicht tiefer.« »Bohrer kurz anheben«, ordnete Glinn an. Amira gab das Kommando per Tastendruck weiter, einen Augenblick heulte der Elektromotor auf, dann normalisierte sich das Geräusch. »Scheint in Ordnung zu sein.« »Umdrehungen pro Minute?« »Zwölftausend.« »Auf sechzehntausend erhöhen, Bohrer wieder absenken.« Der Motor des Bohrers heulte kurz auf, dann war wieder das übliche Bohrgeräusch zu hören – dumpf und halb erstickt. Plötzlich ein scharfes Knirschen – und dann nichts mehr. Amira schielte auf die Fernbedienung. Die roten Ziffern auf der LED-Anzeige zeichneten sich deutlich ab. »Der Bohrer hat ausgesetzt«, sagte sie. »Irgendeine Vermutung, warum?« »Scheint sich heiß gelaufen zu haben. Vielleicht ist mit dem Motor was nicht in Ordnung. Obwohl, den haben die Techniker ja gerade erst überprüft.« »Ziehen Sie den Bohrer raus, damit er abkühlen kann. Dann versuchen wir’s noch einmal mit dem doppelten Drehmoment.« Ein paar Minuten untätigen Wartens. McFarlane starrte wie gebannt auf die offene Tür des Bretterverschlags. Amira spielte nervös mit der Fernbedienung herum. Dann wurde es ihr zu dumm, sie richtete die Fernbedienung nach vorn und drückte die Starttaste. Das übliche Wimmern, nur, dass es sich jetzt ein bisschen kehliger anhörte, aber irgendwie ungesund. Dann wurde die Tonlage tiefer, ein Zeichen, dass der Bohrer arbeitete. »Läuft sich schon wieder heiß, das verdammte Ding«, schimpfte Amira und drückte heftig ein paar Tasten. Verbissen versetzte sie der Fernbedienung einen Schlag. Der Heulton veränderte sich abrupt, das dominierende Geräusch war plötzlich ein rätselhaftes Knacken. Durch die offene Tür der Baubude drang ein flackernder roter Lichtschein. Lautes Splittern, als wäre etwas gebrochen. Und dann nur noch unheimliche Stille. »Was ist denn jetzt los?«, fragte Glinn scharf. Amira reckte sich und versuchte, durch die Kunststoffgläser der Schutzmaske etwas zu erkennen. Als sie merkte, dass das nichts brachte, ging sie entschlossen auf den Bretterverschlag zu. Sie kam nur zwei Schritte weit, dann hatte Glinn sie am Arm gepackt. »Nicht, Rachel! Zuerst müssen wir eine Erklärung finden, was da passiert sein kann.« Amira fügte sich seufzend und griff wieder zur Fernbedienung. »Die Leuchtdioden spielen verrückt«, schimpfte sie. »Lauter Symbole und Buchstabengruppen, die ich noch nie gesehen habe. Das heißt – warten Sie mal... Hier steht: Fehlercode 47.« Sie sah auf und schnaubte ärgerlich. »Na wunderbar. Das Handbuch liegt wahrscheinlich in Montana.« Glinn zauberte ein schmales Heft aus einer der vielen Taschen seines Parkas und fing an zu blättern. Plötzlich stutzte er. »Fehlercode 47, haben Sie gesagt?« »Ja.« »Unmöglich.« Amira sah ihn groß an. »Ich erinnere mich nicht, dass ich dieses Wort je aus Ihrem Mund gehört hätte, Eli.« Glinn klappte das Handbuch zu. »Der Bohrer ist durchgebrannt«, sagte er mit belegter Stimme. »Durchgebrannt? Bei der Power, die das Ding entwickelt? Das glaube ich nicht.« »Sollten Sie aber«, sagte er kühl und ließ das Handbuch in den unergründlichen Tiefen seines Parkas verschwinden. Sie sahen sich stumm an. Der Tanz der Schneeflocken kam ihnen auf einmal wie Hohn und Spott vor. »Dann müsste ja der Meteorit härter als Diamant sein«, wandte Amira ein. Es klang wie ein trotziges Aufbegehren. Glinn stapfte wortlos auf die Bretterbude zu. Amira und McFarlane folgten ihm. Gleich hinter der Tür schlug ihnen der Gestank von verbranntem Gummi entgegen. Rings um den Bohrer waberte Qualm, seine Unterseite sah verschmort aus, die Leuchtanzeigen waren erloschen. Amira versuchte, per Hand ein paar der Kontrollanzeigen zu aktivieren, musste aber bald achselzuckend feststellen: »Er reagiert überhaupt nicht mehr.« »Wahrscheinlich ist die Sicherung durchgebrannt«, meinte Glinn. »Versuchen Sie, ihn so rauszuziehen.« McFarlane packte mit zu, Zentimeter um Zentimeter hievten Amira und er den riesigen Bohraufsatz aus dem beißenden Qualm nach oben. Aus der gezahnten Bohrerspitze war ein unförmiger, geschmolzener Metallklumpen geworden. »Heiliger Himmel«, stöhnte Amira, »das war mal ein Fünftausend-Dollar-Diamant-Carborundum-Bohrer!« McFarlane schielte verstohlen zu Glinn hinüber. Doch der schien dem Bohrer keine Beachtung zu schenken; sein Blick verlor sich in ungewisser Ferne. Wie in Trance löste er die Klettverschlüsse der Schutzmaske und streifte sie ab. »Und was jetzt?«, fragte Amira. Glinn gab sich einen Ruck. »Wir nehmen den Bohraufsatz mit aufs Schiff und untersuchen ihn dort gründlich.« Und dann, als wäre er schon wieder weit weg, fügte er wie in einem Selbstgespräch hinzu: »Und da wäre noch etwas, das wir möglichst schnell auf die Rolvaag schaffen sollten.«

 

Isla Desolación

15.05 Uhr

Vor der Bretterbude nahm McFarlane die Schutzmaske ab und legte sich die Kapuze des Parkas wie einen Schal um den Hals. Der Wind fegte eisig über die planierte Fläche und wirbelte den Schnee über den gefrorenen Boden. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, noch eine halbe Stunde, dann war es dunkel. Lloyd befand sich wohl inzwischen auf dem Rückflug nach New York. Schnee knirschte, Glinn und Amira kamen von dem Container zurück, in dem das Gerätelager untergebracht war. Amira trug in jeder Hand eine fluoreszierende Sturmlaterne, Glinn zog einen Aluminiumschlitten hinter sich her. McFarlane sah fragend auf den großen blauen Plastikbehälter, der auf dem Schlitten lag. »Was ist das?« Man merkte Glinn an, dass er die Frage am liebsten ignoriert hätte. »Ein Transportbehälter«, erwiderte er schließlich wortkarg. Fügte dann aber hinzu: »Masangkayssterbliche Überreste müssen in der Pathologie untersucht werden.« McFarlanes Magen krampfte sich zusammen. »Ist das unbedingt notwendig?« »Ich weiß, das ist nicht leicht für Sie. Aber wir haben es hier mit einer unbekannten Größe zu tun. Und wir von der EES mögen nun mal keine Unbekannten.« Als sie sich dem Steinhügel näherten, der Masangkays Grab markierte, ließ das Schneegestöber nach. Hanuxas Klauen zeichneten sich als tiefgraue Finger vor dem fast schwarzen Himmel ab. Dahinter konnte McFarlane gerade noch ein kleines Stück ihrer vom Sturm gepeitschten Landebucht ausmachen. Weit weg, am Horizont, reckten sich die schroffen Felsgrate der Isla Wollaston gen Himmel. Es war kaum zu glauben, wie schnell sich das Wetter hier unten ändern konnte. Der Wind hatte das Grab mit Schnee bedeckt, aus dem Stein-Grabhügel war ein geschlossener weißer Buckel geworden. Glinn zog das Holzkreuz heraus, dann lockerte er mühsam die festgefrorenen Steine und rollte sie beiseite. Er drehte sich kurz zu McFarlane um und sagte: »Ich kann es gut verstehen, wenn Sie lieber nicht dabei sein wollen.« McFarlane schluckte. Er hätte sich gern gedrückt, aber wenn es nun sein musste, wollte er sich auch nützlich machen. »Nein. Ich helfe Ihnen schon.« Den Grabhügel aufzuschichten war viel zeitaufwändiger gewesen, als ihn abzutragen. Es dauerte nicht lange, bis sie auf die ersten Knochen stießen. Glinn arbeitete nun langsamer und vorsichtiger weiter. McFarlane starrte in das Grab – auf den gespaltenen Schädel, die ausgebrochenen Zähne, die an verrottende Seile erinnernden Knorpelreste und das zum Teil schon mumifizierte Gewebe. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass das, was dort unten lag, einmal sein Freund und Partner gewesen war. Etwas schnürte ihm die Kehle zu, er rang nach Atem wie bei einem Erstickungsanfall. Die Dunkelheit senkte sich rasch über die Insel. Als die letzten Steine weggeräumt waren, stellte Glinn die beiden Sturmlaternen links und rechts vom Grab auf, sammelte mit einer Pinzette die Knochen auf und legte sie in den Plastikfächern des Transportbehälters ab. Einige Knochenteile hingen noch aneinander, durch Knorpelgewebe, Hautreste und verkohltes Fleisch zusammengehalten; doch die meisten erweckten den Anschein, als seien sie gewaltsam auseinander gerissen worden. »Ich bin keine Pathologin«, sagte Amira, »aber für mich sieht der arme Kerl aus, als wäre eine Horde Raubtiere über ihn hergefallen.« Glinn sagte nichts, seine Pinzette pendelte, wie von einem Roboterarm geführt, zwischen dem Grab und den Fächern des Transportbehälters hin und her. Und dann erstarrte er plötzlich mitten in der Bewegung. »Was ist los?«, wollte Amira wissen.

Glinn zupfte mit der Pinzette vorsichtig an einem Stück Leder. Es dauerte ein Weile, bis er den Stiefel aus dem gefrorenen Boden befreit hatte und näher inspizieren konnte. »Der ist nicht einfach verrottet«, stellte er fest, »er ist verbrannt. Das ist mir schon an ein paar Knochen aufgefallen. Die haben auch ausgesehen, als wären sie angekokelt.« »Haben Sie den Verdacht, dass er wegen seiner Ausrüstung ermordet wurde?«, fragte Amira. »Ich meine, es wäre ja einfacher gewesen, die Leiche zu verscharren, aber es hat schon genug Mordfälle gegeben, bei denen der Täter versucht hat, sein Opfer zu verbrennen.« McFarlane sagte: »In dem Fall wäre Puppup ein Mörder.« Er merkte selber, wie verbittert sich seine Stimme anhörte. Glinn las mit der Pinzette ein Zehenglied auf und examinierte es im Lichtschein der Sturmlaternen wie ein kleines Juwel. »Sehr unwahrscheinlich«, meinte er. »Aber das ist eine Frage, die uns unser lieber Doktor beantworten muss.« Er legte das Knochenstück in den Plastikbehälter, drehte sich dann abermals zum Grab um und nahm wieder etwas mit der Pinzette auf, ungefähr an der Stelle, an der der Stiefel im Boden gesteckt hatte. Er wischte die Erde und das Eis weg und hielt den Gegenstand ins Licht der Laternen. »Eine Gürtelschnalle«, sagte Amira. »Was?« McFarlane fuhr herum und starrte betroffen auf den purpurfarbenen, in eine teilweise geschmolzene Silberfassung eingelassenen Halbedelstein. Dann wich er zurück. Er konnte es nicht fassen. Hier, ausgerechnet hier musste er sie Wiedersehen ... Vor Jahren, nachdem sie mit den Atakamiten ein Bombengeschäft gemacht hatten, war er auf die Idee gekommen, zur Feier ihres Erfolges zwei silberne Gürtelschnallen anfertigen zu lassen, beide mit einem eingelassenen kleinen Stück Atakamit. Er selbst hatte die Schnalle irgendwann verloren, aber Nestor hatte seine offensichtlich bis zu dem Tag getragen, an dem er gestorben war – trotz allem, was sie später entzweit hatte. McFarlane wunderte sich selbst, wie viel ihm diese kleine Geste bedeutete. Wortlos sammelten sie Masangkays spärliche Habseligkeiten ein, dann klappte Glinn den blauen Transportbehälter zu, Amira nahm die beiden Sturmlaternen, sie stapften durch den Schnee zurück zum Lager. McFarlane blieb noch einen Augenblick, er wollte endgültig Abschied nehmen. Und so stand er da und starrte eine Weile auf den Haufen achtlos beiseite geworfener Steine, die vorher ein Grabhügel gewesen waren. Dann drehte er sich um und folgte Amira und Glinn.

 

Punta Arenas

17. Juli, 8.00 Uhr

Comandante Vallenar stand in seiner Kabine am winzigen Aluminiumwaschbecken, paffte eine puro und seifte sich das Gesicht mit parfümierter Rasiercreme ein. Er verabscheute den billigen Sandelholzgeruch ebenso wie den mit zwei Klingen bestückten gelben Plastikrasierer. Typisch amerikanischer Schund. Wer, außer den Amis, leistete sich die Verschwendung, einen Wegwerfrasierer mit zwei Klingen auszurüsten, wo es doch eine genauso getan hätte? Aber bei der Marine musste man eben nehmen, was einem der Quartiermeister zuteilte. Die Alternative wäre eine Nassrasur mit dem Messer gewesen, und die barg auf einem Schiff gewisse Risiken. Er spülte die Klinge kurz ab, bevor er sie an der linken Wange ansetzte. Weil er mit der verkrüppelten linken Hand Schwierigkeiten hatte, fing er immer mit dieser Seite an, da konnte er die Klinge sicherer führen. Die Almirante Ramirez, in den Fünfzigern billig von der britischen Navy erworben, war der älteste Zerstörer der chilenischen Flotte. Nach Jahrzehnten haarsträubender hygienischer Verhältnisse, rücksichtslosen Gebrauchs chemischer Lösungsmittel, nie sanierter Abwasserrohre und unzähligen Litern verschütteten Dieselöls hatte sie einen unverwechselbaren Gestank angenommen, der vermutlich erst auszurotten war, wenn sie eines Tages unterging. Irgendwo draußen schrillte eine Dampfpfeife, verscheuchte den Vogelschwarm, der schreiend um die Almirante Ramirez kreiste, und übertönte für einen Moment den Lärm des Straßenverkehrs. Vallenar gönnte sich einen Blick durch das rostige Bullauge auf die Piers und die Stadt, die gleich dahinter anfing. Es war ein strahlender, prächtiger Tag, mit einem kristallklaren Himmel und einer steifen kalten Brise von Westen. Der Comandante setzte die Rasur fort. Es war ihm schon immer ein Gräuel gewesen, in Punta Arenas zu ankern. Ein miserabler Liegeplatz, speziell bei Westwind. Wie gewöhnlich wimmelte es rings um den Zerstörer von Fischerbooten, die Schutz in dessen Lee suchten. Typisch südamerikanische Disziplinlosigkeit. Kein Funken Respekt vor der Würde eines Kriegsschiffs. Es klopfte an der Kabinentür. »Comandante?« Die Stimme von Timmer, seinem Fernmeldeoffizier. »Herein!«, rief Vallenar, ohne sich umzudrehen. Im Spiegel sah er Timmer hereinkommen, gefolgt von einem Mann in Zivil: wohlgenährter Schmerbauch, dickes Portemonnaie, die Selbstzufriedenheit in Person. Vallenar nahm sich Zeit, die Klinge ein paarmal übers Kinn zu führen, dann erst wandte er sich um und sagte verbindlich lächelnd: »Danke, Mr. Timmer, Sie können gehen. Und sind Sie so freundlich, einen der Männer vor der Tür zu postieren.« Nachdem Timmer weg war, musterte Vallenar seinen Besucher ausgiebig. Sein lässiges Lächeln zeugte von argloser Ahnungslosigkeit. Aber wovor sollte er sich auch fürchten?, dachte Vallenar ohne Bitterkeit. Vor einem Mann, der sich zwar Comandante schimpfte, jedoch das älteste Kriegsschiff der Flotte kommandierte, das im abgelegensten Hafen Chiles stationiert war? Kein Wunder, dass der Zivilist mit frech gerecktem Kinn und stolz geschwellter Brust vor ihm stand und sich einem Comandante ohne Machtbefugnisse haushoch überlegen fühlte. Vallenar nahm einen letzten Zug an seiner Zigarre und warf die Kippe durch das offene Bullauge. Er legte den Einwegrasierer weg, holte mit der gesunden Hand eine Schachtel Zigarren aus der Schreibtischschublade und bot dem Fremden eine an. Der warf angewidert einen Blick auf die billigen puros und lehnte dankend ab. Vallenar war nicht wählerisch, er nahm eine.

Der Mann grinste herablassend und starrte dreist auf den verstümmelten Arm des Comandante. Vallenar beäugte genauso ungeniert das pomadisierte Haar und die sorgfältig manikürten Fingernägel des Schmerbäuchigen. »Nehmen Sie bitte Platz, mein Freund«, sagte er. »Ich bitte um Nachsicht, wenn ich mich während unserer Unterhaltung weiterrasiere.« Der Mann ließ sich auf dem Besucherstuhl nieder und schlug affektiert die Beine übereinander. »Man hat mir gesagt, dass Sie mit gebrauchten elektronischen Geräten handeln – Computer, Drucker, Kopierer und dergleichen«, begann Vallenar. »Stimmt das?« »Gebrauchte und neue Geräte«, erwiderte der Mann. »Ich nehme die Korrektur zur Kenntnis.« Dann trat eine Pause ein, weil Vallenar sich über der Oberlippe rasierte. »Vor etwa vier oder fünf Monaten, es muss im März gewesen sein, sollen Sie ein Gerät gekauft haben, das gewöhnlich von Goldsuchern und Geologen benutzt wird. Ein tomographisches Echolot mit langen, stangenförmigen Sensoren und einem integrierten Keyboard. Bin ich da richtig unterrichtet?« »Mi Comandante, ich wickle so viele Geschäfte ab, dass ich mich unmöglich an jedes Schrottteil erinnern kann, das mir jemand anschleppt.« Vallenar drehte sich um. »Von Schrott habe ich nichts gesagt. Aber Sie handeln mit solchen Geräten, nicht wahr? Mit gebrauchten und neuen, haben Sie gesagt.« Der Gebrauchtwarenhändler zuckte die Achseln und hob grinsend die Hände. Es war die Art Grinsen, die Vallenar schon zigmal gesehen hatte – bei engstirnigen Bürokraten, Behördenleitern und Geschäftsleuten. Ein Grinsen, das deutlich ausdrückte: Bevor du mir nicht meine mordida hinblätterst, kann ich mich an nichts erinnern. Zuletzt war er damit vor einer Woche auf der Zollstation in Puerto Williams konfrontiert gewesen. Und doch hegte er keinen Zorn auf den Schmerbäuchigen, der tat ihm eher Leid. Er war nicht unmoralisch geboren worden, sondern hatte sich die Spielregeln der Korruption erst im Lauf seines Krämerlebens angeeignet. Ein Symptom für den allenthalben um sich greifenden Verfall der Sitten. Vallenar kam um den Schreibtisch herum und hockte sich auf die Tischkante, dicht neben den Dicken. Beim Versuch, dem Mann zuzulächeln, merkte er, dass ihm der Rasierschaum schon auf der Haut zu trocknen begann. Der Dicke zwinkerte ihm unverfroren zu, legte die manikürten Hände auf die Schreibtischplatte und rieb grinsend Daumen und Zeigefinger aneinander – eine Geste, die überall auf der Welt verstanden wird. Vallenars Hand schoss blitzschnell vor, und ehe der Schmerbäuchige wusste, wie ihm geschah, schnitt schon die Doppelklinge des Rasierers in den halbmondförmigen Nagel seines Mittelfingers. Der Mann japste nach Luft und sah den Comandante erschrocken an. Vallenar erwiderte den Blick mit Unschuldsmiene, bis er plötzlich mit einem kräftigen Ruck am Rasierer den Nagel kappte. Der Mann schrie auf. Vallenar schüttelte den blutigen Fingernagel aus dem Rasierer, kehrte zum Waschbecken zurück und setzte, ungerührt vom lauten Gejammer des Gebrauchtwarenhändlers, in aller Ruhe seine Rasur fort. Es störte ihn nur, dass die Klingen jetzt etwas unregelmäßiger griffen, offenbar hatte sich ein Stück Fingernagel verklemmt. Er spülte den Rasierer aus, trocknete sich die Wangen ab und nahm am Schreibtisch Platz. Der Dicke war aufgesprungen und hielt sich lamentierend den blutenden Finger. Vallenar kramte in der Hosentasche, beugte sich über den Schreibtisch, wickelte dem Mann sein Taschentuch um den Finger und sagte freundlich: »Bitte, setzen Sie sich doch wieder.« Der Dicke ließ sich zitternd und leise wimmernd auf den Besucherstuhl sinken. »Sie tun uns beiden einen Gefallen, wenn Sie meine Fragen präzise und schnell beantworten. Also, haben Sie ein Gerät, wie ich es Ihnen beschrieben habe, verkauft?«

»Ja, Comandante«, antwortete der Gebrauchtwarenhändler hastig. »Und wem?« »Einem amerikanischen Künstler.« Er hielt den verwundeten Mittelfinger umklammert. »Was für einem Künstler?« »Einem Bildhauer. Er wollte eine moderne Skulptur daraus machen und in New York ausstellen. Es war verrostet, man hätte es sowieso nicht mehr gebrauchen können.« Vallenar schmunzelte. »Einem amerikanischen Bildhauer. Wie hieß er?« »Das hat er mir nicht gesagt.« Vallenar nickte grinsend. Der Schmerbäuchige brannte geradezu darauf, die Wahrheit zu sagen. »Natürlich nicht. Und nun erzählen Sie mir bitte, Señor ... ach, ich habe gar nicht nach Ihrem Namen gefragt. Wie taktlos von mir.« »Tornero, mi Comandante. Rafael Tornero Perea.« »Señor Tornero, sagen Sie mir bitte – von wem haben Sie das Gerät gekauft?« »Von einem Mestizen. Wie er heißt, weiß ich nicht.« Vallenar runzelte die Stirn. »Sie wissen nicht, wie er heißt? Es gibt nur noch wenige Mestizen, und in Punta Arenas muss man sie fast mit der Lupe suchen.« »Ehrlich, Comandante, ich kann mich nicht an den Namen erinnern.« In den Augen des Dicken spiegelte sich panische Angst, er kramte so verzweifelt in seinem Gedächtnis, dass ihm Schweißtröpfchen von den pomadisierten Augenbrauen liefen. »Er war nicht aus Punta Arenas, er stammte aus dem Süden. Es war ein ungewöhnlicher Name.« Eine schlagartige Erleuchtung überkam Vallenar. »Hieß er Puppup? Juan Puppup?« »Ja! Danke, Comandante, dass Sie meinem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen haben. Puppup – so hieß er.« »Hat er gesagt, wo er es gefunden hat?« »Ja, auf der Isla de Hornos. Aber das habe ich ihm nicht abgenommen. Wer findet dort schon was Wertvolles?« Er schien es eilig zu haben, sein Wissen an den Mann zu bringen, es sprudelte nur so aus ihm heraus. »Der will nur einen besseren Preis rausschlagen, hab ich mir gedacht.«

Seine Miene hellte sich auf. »Ach – jetzt fällt’s mir wieder ein: Es war auch noch eine Hacke dabei. Und ein merkwürdig geformter Hammer. Die eine Seite des Hammerkopfs war länger und gebogen. Der Amerikaner hat das ganze Zeug aufgekauft. Sogar den Lederbeutel mit Steinen.« Vallenar beugte sich vor. »Haben Sie die Steine mit eigenen Augen gesehen?« »Ja, Sir. Ich habe natürlich nachgeguckt, was in dem Beutel drin ist.« »Haben sie wie Gold ausgesehen?« »Aber nein! Sie waren völlig wertlos.« »So? Müssten Sie nicht Geologe sein, um das beurteilen zu können?« Obwohl Vallenar ganz ruhig mit ihm sprach, fing der Dicke gleich wieder ängstlich zu zappeln an. »Comandante, ich hab sie Señor Alonso Torres gezeigt, der hat in der Galle Colinas einen Laden für Schmucksteine. Ich dachte, es wäre vielleicht ein wertvolles Erz. Aber er hat mir gesagt, sie wären nichts wert, die Steine könnte ich alle wegwerfen.« »Und woher wollte er das wissen?« »Er kennt sich mit so was aus, Comandante. Er ist Experte, wenn es um Steine und Minerale geht.« Vallenar trat an das vom Salzwasser rostig gewordene Bullauge seiner Kabine. »Hat er gesagt, was für Steine es waren?« »Nein. Er hat gesagt, sie hätten keinen Namen.« Der Comandante wandte sich zu dem Schmerbäuchigen um. »Wie haben sie denn ausgesehen?« »Wie Steine eben aussehen: hässlich.« Vallenar schloss die Augen und versuchte, seinen Zorn zu beherrschen. Es wäre ungehörig gewesen, auf dem eigenen Schiff einem Gast gegenüber die Geduld zu verlieren. Tornero murmelte: »Es könnte sein, dass ich noch einen in meinem Geschäft habe.« Vallenar riss die Augen auf. »Ach ja?« »Señor Torres hat einen Stein behalten, er wollte ihn noch genauer untersuchen. Später, nachdem der Amerikaner das Gerät und die anderen Sachen bei mir gekauft hatte, hat er ihn mir wiedergegeben. Ich hab ihn eine Zeit lang als Briefbeschwerer benutzt. Weil ich im Stillen immer noch gehofft habe, er könnte vielleicht doch etwas wert sein – Torres hin oder her. Vielleicht finde ich ihn ja wieder.« Plötzlich verklärte ein Lächeln Comandante Vallenars Gesicht. Er zündete sich vor lauter Begeisterung die Zigarre an, die er sich die ganze Zeit nur zwischen die Lippen gesteckt hatte. »Ich würde den Stein, von dem Sie gesprochen haben, gern erwerben.« »Tja, also ... wenn Sie so daran interessiert sind, wäre es mir eine Ehre, Ihnen den Stein zu geben. Von Kaufen wollen wir dann allerdings nicht reden, Comandante.« Vallenar deutete eine leichte Verbeugung an. »In diesem Fall wäre es mir ein Vergnügen, gleich mit in Ihren Laden zu kommen, um das Geschenk entgegenzunehmen.« Er tat noch einen tiefen Zug an seiner Zigarre und komplimentierte den Gebrauchtwarenhändler mit ausgesuchter Höflichkeit aus seiner Kabine in den stinkenden Hauptflur der Almirante Ramirez.

 

Rolvaag

9.35 Uhr

Der Bohraufsatz lag vor ihnen auf dem Tisch, die verkohlte Spitze war auf eine dicke Lage Plastik gebettet. Die Deckenstrahler tauchten das Metall und die aufgereihten Geräte in bläuliches Licht. McFarlane hatte sich einen Chirurgenkittel übergezogen, nun schob er sich die Maske vors Gesicht. Der Seegang im Kanal war ungewöhnlich ruhig, die Rolvaag machte keine Schlingerbewegungen. Man hätte meinen können, irgendwo in einem fensterlosen Laborraum auf dem Festland zu sein. »Skalpell, Doktor?«, scherzte Amira. McFarlane schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube, wir haben den Patienten verloren, Schwester.« Was sich durch die Gesichtsmaske wie das Menetekel einer Grabesstimme anhörte. Glinn stand mit verschränkten Armen hinter ihnen und verfolgte das Geschehen stumm. McFarlane schwenkte den Arm des biokularen elektronischen Mikroskops über den Tisch. Der Bildschirm der angeschlossenen Workstation zeigte die gigantisch vergrößerte Bohrerspitze: das aus Albträumen geborene Armageddon mit tief eingeschnittenen Schluchten und geschmolzenen Kämmen. Amira legte eine leere CD in das integrierte Aufzeichnungsgerät. McFarlane zog sich einen Drehsessel heran und stellte die beiden Okulare auf seinen Augenabstand ein. Er ließ den stark vergrößerten Bildausschnitt langsam über das Objekt wandern und suchte Millimeter um Millimeter der Bohrerspitze nach winzigen Splittern ab, die möglicherweise von der Oberfläche des Meteoriten stammen konnten. Doch der sehnlich erwartete leuchtend rote Minipartikel wollte sich nirgendwo zeigen, auch nicht, als er auf UV-Licht umschaltete. Mit einem kurzen Seitenblick nahm er wahr, dass Glinn neben ihn getreten war und wie gebannt auf den Bildschirm starrte. Minute um Minute verstrich – nichts. McFarlane seufzte. »Gehen Sie auf hundertzwanzigfach«, murmelte er. Amira stellte die gewünschte Vergrößerung ein. Die Mondlandschaft sprang McFarlane regelrecht an, sie sah nun noch bizarrer aus. Und wieder krochen die Minuten quälend langsam dahin, während er abermals sorgfältig einen Sektor nach dem anderen absuchte. Amira war genauso frustriert wie er. »Irgendwas muss doch hängen geblieben sein!«, sagte sie, als wolle sie den Bildschirm beschwören. »Und wenn’s ein noch so winziger Staubpartikel ist. Bitte!« McFarlane lehnte sich ernüchtert zurück. »Womöglich kann das Mikroskop ihn aus irgendeinem Grund nicht sichtbar machen.« »Was die Vermutung nahe legen würde, dass der Meteorit von einer undurchdringlichen Kristallstruktur überzogen ist«, konstatierte Amira. »Aus gewöhnlichem Metall besteht er jedenfalls nicht, das steht fest.« McFarlane klappte die beiden Okulare zusammen und schob sie in die Halterung. »Was nun?«, fragte Glinn leise. McFarlane schwenkte seinen Sessel herum, zog sich die Gesichtsmaske herunter und dachte nach. Ihm kam ein Gedanke: »Bleibt noch immer die elektronische Mikrosonde.« »Und was ist das?« »Eine beliebte Untersuchungsmethode in der planetarischen Geologie. Wir haben die nötige Ausrüstung an Bord. Man legt eine Materialprobe in eine Vakuumkammer und beschießt sie mit einem extrem schnellen Elektronenstrahl. Gewöhnlich werden die dabei produzierten Röntgenstrahlen gemessen. Man kann den Elektronenstrahl aber auch so stark erhitzen, dass ein Teil der Materialprobe verdampft und als hauchdünner Film auf einer Goldplatte kondensiert. Damit gewinnt man eine kleine, für weitere Untersuchungen jedoch ausreichende Materialprobe.«

»Wer sagt uns, dass der Elektronenstrahl es schafft, das Meteoritengestein zu verdampfen?« »Die aus einer Glühfaser abgefeuerten Elektronen können fast bis auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und mikrometergenau auf das Objekt ausgerichtet werden. Glauben Sie mir, da werden mit Sicherheit ein paar Atome abgesprengt.« Glinn sagte nichts. Man sah ihm förmlich an, wie er die möglichen Risiken und den Informationsbedarf gegeneinander abwägte. »Also gut, probieren wir’s«, gab er schließlich grünes Licht. »Aber denken Sie dran: Niemand darf in direkten Kontakt mit dem Meteoriten kommen.« McFarlane zog die Stirn in Falten. »Das Problem liegt in der praktischen Durchführung. Normalerweise bringt man die Sonde zum Untersuchungsobjekt, aber das Ding wiegt an die dreihundert Kilo, das kann man sich nicht einfach auf den Buckel binden. Außerdem ist es schwierig, eine einwandfrei arbeitende Vakuumkammer über dem Meteoriten zu errichten.« Glinn zog ein Handfunkgerät aus dem Gürtel. »Garza? Ich benötige acht Männer auf dem Hauptdeck, sofort. Und für den nächsten Transport heute Vormittag eine Hebevorrichtung und ein Fahrzeug, jeweils mit dreihundert Kilo Tragkraft.« »Und sagen Sie ihm, dass wir eine starke Stromquelle brauchen«, warf McFarlane ein. »Sorgen Sie dafür, dass ein geerdetes Massekabel zur Verfügung steht. Es muss auf bis zu zwanzigtausend Watt ausgelegt sein«, gab Glinn an Garza weiter. McFarlane nickte und pfiff durch die Zähne. »Das dürfte ausreichen.« »Garza wird gleich hier sein«, sagte Glinn kurz angebunden. »In einer Stunde muss alles für den Transport bereit sein, mehr Zeit kann ich Ihnen nicht geben.« Er drehte sich abrupt um und stürmte aus dem Raum. Obwohl er die Tür sofort hinter sich schloss, schwappte ein Schwall eisige Luft in den Raum.

McFarlane wechselte rasch einen Blick mit Amira. »Er wird wohl langsam nervös.« »Er hasst es, etwas nicht zu wissen«, sagte Amira. »Bei Ungewissheit dreht er durch.« »Sie haben’s nicht leicht mit ihm, wie?« Amira verzog gequält das Gesicht. »Sie ahnen nicht, wie Recht Sie haben.« McFarlane sah sie neugierig an, aber sie zog sich nur die Maske herunter und streifte die Handschuhe ab. »Kommen Sie, fangen wir schon mal an, die Mikrosonde für den Transport zu zerlegen.«

 

Isla Desolación

13.45 Uhr

Bis kurz nach Mittag waren die Vorbereitungen für das Experiment an der Fundstelle des Meteoriten weitgehend abgeschlossen. In der Bretterbude über der Grube hatten die Halogenleuchten die Luft fast unerträglich aufgeheizt. McFarlane stand neben Glinn am Rand und blickte fasziniert auf das satte Rot des Meteoriten, das selbst in dieser grellen Beleuchtung geheimnisvoll zu glühen schien. Die Mikrosonde – ein langer, nahtloser Stahlzylinder – war auf ihrer gefederten Halterung verankert. Auch die dickwandige Vakuumglocke mit der Glühfaser und dem Steckkontakt lag bereit, daneben einige in Plastik eingeschweißte winzige Goldplatten und die für die Bündelung des Elektronenstrahls notwendigen Elektromagneten. McFarlane wandte sich an Glinn. »Ich brauche jemanden, der den Meteoriten auf einer Fläche von vierzig mal vierzig Zentimeter absolut staubfrei säubert, sonst bekommen wir Verunreinigungen.« Glinn nickte. »Wird erledigt. Sagen Sie – wenn Sie Ihre Proben haben, wie geht es dann weiter?« »Dann beginnen wir mit den Tests. Mit etwas Glück müssten wir in der Lage sein, die elektrischen, chemischen und physikalischen Eigenschaften zu bestimmen.« »Wie lange dauert das?« »Achtundvierzig Stunden. Die Zeit, die wir für Ruhepausen und zum Essen brauchen, nicht mitgerechnet.« Glinns Lippen wurden zu einem schmalen Strich. Er warf wie gehetzt einen Blick auf seine goldene Taschenuhr. »Mehr als zwölf Stunden können wir uns nicht leisten«, stellte er fest. »Beschränken Sie sich also auf die unumgänglich notwendigen Tests.« Eine Stunde später waren sie fertig, es konnte losgehen. Die Vakuumkammer war auf der Oberfläche des Meteoriten befestigt worden – ein Arbeitsschritt, der besondere Sorgfalt und Vorsicht erfordert hatte. In dieser Kammer lagen nun, kreisförmig um die Glühfaser angeordnet, auf Unterlegscheiben aus Glas, zehn winzige Goldplättchen, an der Außenseite der Glocke waren mehrere Elektromagneten angebracht. Teile der Stahlummantelung der elektronischen Mikrosonde waren aufgeklappt und ließen das Gewirr aus Drähten und Schläuchen sehen. McFarlane atmete tief durch. »Rachel, bitte schalten Sie die Vakuumpumpe ein.« Ein leises Schwirren zeigte an, dass die Luft aus der Glocke gesogen wurde. McFarlane kontrollierte die Anzeigen der Mikrosonde. »Na, wer sagt’s denn – alles dicht versiegelt. Wir sind schon bei fünf Mikrobar Unterdruck.« Glinn stellte sich neben ihn und verfolgte gespannt die Anzeigen. »Elektromagneten einschalten«, sagte McFarlane. »Eingeschaltet«, bestätigte Amira. »Licht dimmen.« In der Bretterbude wurde es dunkel. Nur durch die Ritzen drang etwas Tageslicht, die LED-Anzeigen der Mikrosonde glühten rot. »Ich gebe jetzt etwas Saft auf den Elektronenstrahl«, flüsterte McFarlane. In der Vakuumkammer war ein schwacher bläulicher Lichtstrahl zu erkennen. Das flackernde, rotierende Spektrallicht, das er auf den Meteoriten warf, ließ die karmesinrote Oberfläche schwarz aussehen. Die Wände des Bretterverschlags schienen plötzlich zu tanzen und zu flirren. McFarlane drehte an zwei Rundskalen der Mikrosonde, die Magnetfelder um die Vakuumglocke veränderten sich. Der Lichtstrahl rotierte und flatterte nicht mehr, er wurde schmaler und heller, bis er schließlich als blauer, mit der Spitze auf den Meteoriten zielender Pfeil erschien.

»Wir sind auf dem Ziel«, sagte McFarlane. »Ich gehe jetzt fünf Sekunden auf volle Leistung.« Er hielt den Atem an. Der Augenblick der Wahrheit. Glinns insgeheime Sorge, dass der Meteorit irgendwie gefährlich sein könnte, war durchaus berechtigt. Wie berechtigt, würde sich jetzt gleich herausstellen. Er drückte den Timer. Ein greller Lichtstrahl leuchtete in der Vakuumglocke auf. An der Stelle, wo er auf den Meteoriten traf, verfärbte er sich ins Violette und tanzte auf und ab. Die fünf Sekunden waren um, rings um sie wurde es wieder dunkel. McFarlane hatte das Gefühl, von einer gewaltigen Anspannung befreit zu sein. »Licht!«, rief er. Als die Lampen angingen, kniete McFarlane am Rand der Grube und starrte gespannt auf die winzigen Goldscheiben. Es verschlug ihm den Atem. Auf jedem Goldplättchen hatte sich ein Hauch Rot abgelagert – so schwach, dass er kaum zu erkennen war. Und das war noch nicht alles. Wo der Elektronenstrahl auf den Meteoriten getroffen war, sah er – oder zumindest glaubte er das – auf der sonst überall glatten Oberfläche eine fast nur zu ahnende Vertiefung. Er richtete sich auf. »Also?«, drängte Glinn. »Was hat sich getan?« McFarlane grinste. »Der Bursche ist doch nicht so hart, wie wir gedacht haben.«

 

Isla Desolación

18. Juli, 9.00 Uhr

Schnee knirschte unter ihren Schritten, als McFarlane und Amira über die planierte Fläche gingen. Alles war wie vorher: die aufgereihten Container, Baracken und Hütten, der unebene, gefrorene Boden. Nur ich bin nicht mehr derselbe, dachte McFarlane. Er war hundemüde und doch in einer Hochstimmung, die ihn innerlich rotieren ließ. Sie gingen schweigend nebeneinander her, in der klaren, kalten Luft schienen alle Geräusche unnatürlich laut widerzuhallen: das Abrollen ihrer Stiefel auf dem frisch gefallenen Schnee, das ferne Rumpeln von Arbeitsgeräten, ihre raspelnden Atemzüge. McFarlane war es recht so, es half ihm, seine Gedanken zu ordnen und die Spekulationen zu verscheuchen, die ihm seit den Experimenten der letzten Nacht durch den Kopf spukten. Er hielt Amira die Tür zum Zentrallabor auf. Drin trafen sie auf Stonecipher, den zweiten Projektingenieur, der sich inmitten fächerförmig ausgebreiteter Disketten und Leiterplatten an einem offenen Computergehäuse zu schaffen machte. Er sah auf. »Mr. Glinn möchte Sie sprechen. Beide.« »Wo ist er denn?«, fragte McFarlane. »Ein paar Stockwerke tiefer. Ich bringe Sie hin.« Nicht weit von dem um den Meteoriten gezogenen Bretterverschlag war eine zweite Hütte errichtet worden, noch windschiefer als die erste. Die Holztür flog auf, Garza kam heraus. Er trug unter der Kapuze einen Schutzhelm und hielt einen Stapel weiterer Helme in den Armen. Als er sie kommen sah, warf er jedem von ihnen einen zu. »Nur hereinspaziert«, sagte er und winkte sie in die halbdunkle Bruchbude. McFarlane sah sich verwundert um – ein Haufen altes Werkzeug und ein paar Holzbehältnisse mit Nägeln, mehr gab es hier nicht. »Was soll das?«, fragte er. Garza grinste. »Das werden Sie gleich sehen.« Er rollte ein paar von den Behältern beiseite, legte eine in den Boden eingelassene Stahlplatte frei und hob sie hoch. McFarlane schnaufte überrascht. Unter der Falltür verbarg sich eine Treppe, die in einen hell ausgeleuchteten, mit stählernen Seitenverschalungen versehenen Tunnel führte. »Wie in so einem Film mit Hauen und Stechen«, murmelte er. Garza lachte. »Nun, die Methode hat sich schon bei Tutanchamun bewährt. Der Tunnel zu seiner Schatzkammer war ebenfalls unter der Hütte eines Arbeiters versteckt.« Sie stiegen, einer hinter dem anderen, die engen Stufen hinunter und kamen in einen von einer Doppelreihe Neonröhren ausgeleuchteten, fachmännisch ausgebauten und mit T-Trägern abgestützten unterirdischen Schacht. Es war so frostig kalt, dass ihr Atem wallende Nebelschwaden hinterließ, als sie hinter Garza hertrotteten. Hier und da hingen Eiszapfen von den Deckenverstrebungen, an den Seitenverkleidungen hatte sich Raureif abgesetzt. McFarlane stockte der Atem, als er plötzlich vor sich etwas Hellrotes leuchten sah. Garza blieb stehen. »Was Sie hier vor sich haben, ist ein kleines Stück von der Unterseite des Meteoriten.« Unter den Meteoriten waren quadratische, an den Seitenverstrebungen und einer Stahlplatte auf dem Boden verschraubte Hebeblöcke geschoben worden. Garza tätschelte einen davon beinahe hebevoll mit der Hand. »Das sind die kleinen Heinzelmännchen, die unseren Meteoriten hochheben werden. Wir warten nur auf das Startzeichen. Zunächst heben sie ihn genau sechs Zentimeter an, dann wird er verkeilt, wir bringen die Hebeblöcke erneut in Position, und danach geht’s weiter. Sobald wir genug Platz haben, fangen wir an, eine Lafette für unseren Burschen zu bauen. Das wird in dem engen Stollen und bei der Saukälte ein hartes Stück Arbeit, aber anders geht es nicht.« Rochefort war dazugekommen. Sein durchgefrorenes Gesicht sah wie marmoriert aus, die Nase hatte einen deutlichen Blaustich. »Wir haben bei den Hebeblöcken fünfzig Prozent Überkapazität einkalkuliert«, erklärte er ihnen. »Die Bodenarmierung ist auf eine höhere Tragfähigkeit als die Erdmasse ausgelegt. Wir sind also auf der sicheren Seite.« Seine verkniffene Miene gab zu verstehen, dass er jeden Zweifel an seinen Berechnungen als persönlichen Affront betrachten würde. Garza führte die kleine Gruppe an der freigelegten Unterseite des Meteoriten entlang, weiter den Tunnel hinunter, bis er sich nach etwa dreißig Metern zu einem großen unterirdischen Depot öffnete, in dem weitere Hebeblöcke, Doppel-T-Träger und Stahlplatten für die Wandverschalung lagerten, alles sorgfältig gestapelt. Ganz hinten in der Lagerhalle stand Glinn und besprach etwas mit einem Techniker. »Du meine Güte«, staunte McFarlane, »ich kann’s gar nicht glauben, dass Sie das alles in so wenigen Tagen ausgebaut und mit schwerem Gerät bestückt haben!« Garza zuckte die Achseln. »Das musste sein. Wir wollten schließlich nicht, dass Unbefugte spitzkriegen, was wir hier alles lagern. Wenn jemand, der etwas von Technik versteht, auch nur einen Blick hier rein wirft, weiß er sofort, dass wir kein Erz abbauen. Und auch kein Gold. In dieser Halle wollen wir, sobald wir die Ausmaße und Konturen unseres Burschen genau genug kennen, die Transportlafette für den Meteoriten bauen. Sehen Sie – dort hinten liegt schon alles bereit: Lichtbogenschweißgeräte, Acetylenleuchten, alles, was wir für Nietverbindungen brauchen ... na ja, und altbewährtes Werkzeug zur Holzbearbeitung natürlich auch.« Glinn kam zu ihnen herüber, er nickte McFarlane zu, dann wandte er sich an Amira. »Setzen Sie sich doch, Rachel. Sie sehen müde aus.« Er deutete auf einen Stapel T-Träger, der etwa die Höhe einer Bank hatte. »Ja, das bin ich allerdings.« Amira lächelte matt. »Aber vor allem verblüfft.«

Eine Bemerkung, die Glinn in seiner Ungeduld schlicht überhörte. »So – und nun bin ich gespannt, was Sie mir zu berichten haben.« »Eine schriftliche Fassung gibt es noch nicht«, sagte McFarlane. »Sie müssen sich also wohl oder übel mit einem mündlichen Briefing zufrieden geben.« Er zog ein zerfleddertes Notizbuch mit Eselsohren aus der Tasche und überflog die Eintragungen. »Ich möchte von vornherein klarstellen, dass wir noch ganz am Anfang stehen. Mehr war in den zwölf Stunden, die Sie uns gegeben haben, nicht machbar.« Glinn nickte wortlos. »Lassen Sie mich noch etwas vorweg sagen: Die Ergebnisse unserer Tests ergeben nicht allzu viel Sinn. Zunächst haben wir versucht, die Haupteigenschaften des Metalls zu bestimmen: Schmelzpunkt, Dichte, elektrischer Widerstand, Wertigkeit und so weiter. Als Erstes haben wir die Materialprobe erhitzt, um den Schmelzpunkt festzustellen. Wir sind auf über fünfzigtausend Grad Kelvin gekommen. Mit dem Resultat, dass sich das Goldsubstrat verflüchtigt hat, die aus dem Meteoriten gewonnene Materialprobe dagegen fest geblieben ist.« Glinn, der mit halb geschlossenen Augen da saß, murmelte vor sich hin: »Aha, deshalb hat er den Aufschlag unbeschadet überstanden.« »Genau«, bestätigte Amira. »Dann wollten wir mit einem Massenspektrometer das Atomgewicht feststellen, was uns aber wegen des hohen Schmelzpunkts nicht gelungen ist. Selbst mit Hilfe der Mikrosonde haben wir’s nicht geschafft, die Materialprobe so lange in gasförmigem Zustand zu halten, bis wir den Test abschließen konnten.« McFarlane blätterte ein paar Seiten weiter. »Ähnlich war es mit dem spezifischen Gewicht. Die Materialprobe war zu klein, um es zu bestimmen. Das Metall scheint chemisch inaktiv zu sein. Wir haben es mit allem beschossen, was wir im Labor finden konnten: mit Lösungsmitteln, Säuren, reaktiven Substanzen, und zwar sowohl bei normaler Raumtemperatur als auch bei extrem hohen Temperaturen – jeweils unter Druck. Das Metall verhält sich absolut reaktionsträge. Wie ein Edelgas. Nur, es ist eben ein Festkörper. Keine Valenzelektronen.« Glinn sagte nur: »Fahren Sie fort.« »Dann haben wir die Materialprobe unter Strom gesetzt, um die elektromagnetischen Eigenschaften zu erforschen. Und dabei sind wir auf etwas Sensationelles gestoßen: Der Meteorit scheint ein Raumtemperatur-Superleiter zu sein. Er leitet Elektrizität ohne jeden Reibungsverlust weiter. Sobald man Strom eingespeist hat, fließt der bis in alle Ewigkeit weiter, es sei denn, man unterbricht den Stromkreislauf.« Glinn verzog immer noch keine Miene. »Dann haben wir ihn mit einem Neutronenstrahl beschossen. Das ist ein Standardtest, wenn man das Material nicht kennt. Die Neutronen veranlassen das Material, Röntgenstrahlen auszusenden, anhand deren wir feststellen können, wie es in seinem Inneren aussieht. Aber in diesem Fall sind die Neutronen einfach verschwunden. Als wären sie verschluckt worden. Und genauso war’s, als wir es mit einem Protonenstrahl versucht haben.« Glinn zog die Augenbrauen hoch – ein erstes Anzeichen von Verblüffung. »Das ist so, als würde man eine 44er Magnum auf ein Stück Papier abfeuern und dann feststellen, dass das Geschoss im Papier verschwunden ist«, meinte Amira. Glinn wandte sich zu ihr um. »Irgendeine Erklärung?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe versucht, die Ursache durch eine quantenmechanische Analyse herauszufinden. Ohne Erfolg. Es scheint schlichtweg unmöglich zu sein.« McFarlane blätterte sich weiter durch sein Notizbuch. »Zuletzt haben wir es mit Röntgenbeugung versucht.« »Erklären«, verlangte Glinn. »Man durchleuchtet das Material, und dann macht man eine Aufnahme von dem Beugungsmuster, das sich ergibt. Eine Computer-Umkehranalyse zeigt die Kristallstruktur, die zu der Beugung geführt hat. Bei uns kam allerdings ein äußerst merkwürdiges Beugungsmuster heraus, regelrecht brüchig. Rachel hat ein Rechenprogramm geschrieben, das uns Aufschluss über die Kristallstruktur geben soll.« »Das Programm läuft noch«, warf Amira ein. »Das heißt, hoffentlich. Möglicherweise hat es sich inzwischen selbst blockiert. Der Rechenvorgang ist ziemlich komplex.« »Und da ist noch etwas«, sagte McFarlane. »Wir haben eine Analyse der Zerfallsprodukte vorgenommen in der Hoffnung, so den im Umfeld des Meteoriten gefundenen Coesit zeitlich bestimmen zu können. Und nun haben wir eine ziemlich genaue Vorstellung, wann der Meteorit auf der Erde aufgeschlagen ist: vor zweiunddreißig Millionen Jahren nämlich.« Glinns Blick huschte über den gefrorenen Boden, als hoffe er, dort die Bestätigung für das zu finden, was er gerade gehört hatte. Schließlich fragte er sehr, sehr leise: »Schlussfolgerungen?« McFarlane zögerte. »Nun, sie können noch nicht als gesichert gelten.« »Das ist mir klar.« McFarlane atmete tief durch. »Sagt Ihnen der Begriff ›Insel der Stabilität‹ im Periodensystem etwas?« »Nein.« »Die Wissenschaft sucht seit Jahren nach immer schwereren, im Periodensystem höher einzuordnenden Elementen. Die meisten, die bisher gefunden wurden, sind sehr kurzlebig. Sie zerfallen bereits nach wenigen milliardenstel Sekunden und gehen in einem anderen Element auf. Aber es gibt eine Theorie, der zufolge weit oben im Periodensystem eine Gruppe von Elementen mit größerer Stabilität existieren könnte. Mit anderen Worten: Elemente, die nicht zerfallen. Die so genannte Insel der Stabilität. Niemand weiß, welche Eigenschaften diese Elemente genau hätten, aber sie wären extrem anders als alle uns bekannten Elemente und überaus schwer. Künstlich lassen sie sich nicht erzeugen, auch mit den modernsten Teilchenbeschleunigern nicht.« »Und Sie meinen, dass wir es hier mit einem solchen Element zu tun haben?« »Ich würde sagen: Ich bin mir ziemlich sicher.« »Wie könnte ein solches Element entstehen?« »Nur bei dem gewaltigsten Ereignis, das es im Universum gibt: einer Hypernova.« »Hypernova?«

»Ja. Sie ist viel größer als eine Supernova. Zu einer Hypernova kommt es, wenn ein gigantischer Stern in ein schwarzes Loch abstürzt. Oder wenn zwei Neutronensterne kollidieren und so ein neues schwarzes Loch bilden. Eine Hypernova erzeugt etwa zehn Sekunden lang so viel Energie wie der gesamte Rest des bekannten Universums zusammengenommen. Und damit könnte sie genug Energie haben, um dieses extrem anders geartete Element hier zu erzeugen. Und ihre Energie könnte auch ausreichen, um diesen Meteoriten mit einer solchen Geschwindigkeit in den Weltraum zu schleudern, dass er durch die unermesslichen Weiten zwischen den Sternen getragen wird und schließlich auf der Erde aufschlägt.« »Also ein interstellarer Meteorit«, murmelte Glinn mit tonloser Stimme. McFarlane entging nicht, dass Glinn und Amira sich durch einen kurzen, aber eindringlichen Blick verständigten. Er wappnete sich innerlich für das, was nun kommen musste. Doch dann nickte Glinn nur und sagte: »Sie haben mehr Fragen aufgeworfen, als Antworten gegeben.« McFarlane zuckte die Achseln. »Weil Sie uns nur zwölf Stunden Zeit gelassen haben.« Ein paar Sekunden Schweigen. Dann fuhr Glinn fort: »Kommen wir auf die wichtigste Frage zurück. Ist der Meteorit gefährlich?« »Es steht nicht zu befürchten, dass sich jemand infizieren könnte«, antwortete Amira. »Er ist weder radioaktiv noch reaktiv, er ist absolut reaktionsträge. Ich halte ihn für ungefährlich. Dennoch würde ich vorsichtshalber keine Experimente mit Elektrizität anstellen. Es handelt sich um einen Raumtemperatur-Superleiter, er dürfte also über gewaltige, für uns fremde elektromagnetische Eigenschaften verfügen.« »Dr. McFarlane?«, fragte Glinn. »Es ist eine in sich widersprüchliche Masse«, sagte McFarlane ausweichend. »Etwas spezifisch Gefährliches haben wir nicht entdeckt. Andererseits auch nichts, worauf wir die Aussage stützen könnten, dass er mit Sicherheit ungefährlich ist. Wir haben zurzeit eine zweite Testreihe laufen. Sollten sich dabei neue Erkenntnisse ergeben, erfahren Sie sofort davon. Aber für eine schlüssige Antwort auf alle offenen Fragen braucht man Jahre, nicht zwölf Stunden.« »Verstehe.« Glinn seufzte, was sich bei ihm eher wie ein schwerer Atemzug anhörte. »Übrigens, auch wir haben zufällig etwas über unseren Meteoriten herausgefunden, was Sie interessieren wird.« »Und das wäre?« »Wir hatten das Volumen ursprünglich auf etwa zwölfhundert Kubikmeter geschätzt, bei einem Durchmesser von gut zwölf Metern. Als Garza und sein Team dann für die Ausschachtungsarbeiten die Ausmaße kartographisch erfasst haben, stellte sich heraus, dass er viel kleiner ist als angenommen. Der Durchmesser beträgt gerade mal sechs Meter.« McFarlane versuchte, die Neuigkeit zu verarbeiten. Irgendwie war er enttäuscht. Mit sechs Metern war ihr Meteorit nicht viel größer als der Ahnighito im Museum von New York. »Die Bestimmung seiner Masse ist derzeit noch ein wenig schwierig«, fuhr Glinn fort. »Aber alle Anzeichen deuten darauf hin, dass sein Gewicht mindestens zehntausend Tonnen betragen dürfte.« McFarlane starrte ihn fassungslos an. »Das würde ja bedeuten, dass sein spezifisches Gewicht ...« »Großer Gott«, rief Amira dazwischen, »das läge ja mindestens bei fünfundsiebzig!« Glinn hob die Augenbrauen. »Und was hieße das?« »Die beiden schwersten bekannten Elemente sind Osmium und Iridium«, sagte Amira. »Beide haben ein spezifisches Gewicht um die zweiundzwanzig. Mit fünfundsiebzig hätte dieser Meteorit die dreifache Dichte.« »Und das ist der Beweis«, murmelte McFarlane. Er spürte, dass sein Puls zu rasen anfing. Glinn sah ihn verwirrt an. »Ich verstehe nicht ganz ...« McFarlane fühlte sich plötzlich wie von einer schweren Last befreit. »Jetzt gibt es keinen Zweifel mehr. Der Bursche ist interstellaren Ursprungs.« Glinns Miene war unergründlich. »Es ist völlig ausgeschlossen, dass etwas mit einer derartigen Dichte aus unserem Sonnensystem stammt. Er muss aus dem Universum kommen, aus einer Region, die völlig anders ist als unser Lebensraum: von einer Hypernova.« Das Schweigen schien sich endlos zu dehnen. Von ferne war gedämpft der Lärm von Presslufthämmern und Schweißgeräten zu hören. Schließlich räusperte sich Glinn und sagte: »Dr. McFarlane ...« Und als wollte er sich korrigieren: »Sam, seien Sie mir nicht böse, wenn ich gewisse Zweifel hege. Wir bewegen uns bei unserer Arbeit abseits der Parameter logisch nachvollziehbarer Modelle. Es gibt keinen Präzedenzfall, an dem wir uns orientieren können. Dennoch bitte ich Sie, mir nach gewissenhafter Abschätzung aus naturwissenschaftlicher und aus humanitärer Sicht zu sagen: Ist das Risiko kalkulierbar, wenn wir weitermachen? Oder sollen wir das Unternehmen lieber abbrechen und den Heimweg antreten?« McFarlane wusste sehr wohl, worauf Glinns Frage abzielte. Und er ahnte auch, dass die Floskel von der »humanitären Sicht« eine versteckte Anspielung auf die Ereignisse von vor fünf Jahren war, als er seinem Freund und Partner Nestor Masangkay genau in diesem Punkt die Wahrheit schuldig geblieben war. Er wählte seine Worte mit Bedacht. »Dieser Meteorit liegt jetzt seit zweiunddreißig Millionen Jahren hier, ohne dass es erkennbare Probleme gegeben hat. Aber die Wahrheit ist: Wir wissen es nicht. So viel steht fest, es handelt sich um eine wissenschaftliche Entdeckung von höchster Bedeutung. Nur, ist sie die Risiken wert, die wir eingehen?« Er sah Glinn fest in die Augen. »Noch nie ist irgendetwas wirklich Wichtiges ohne Risiko vollbracht worden.« Glinns Blick schien sich in weiter Ferne zu verlieren. Seine Miene war undurchdringlich, wie immer, aber McFarlane ahnte, dass er ausgesprochen hatte, was Glinn dachte. Glinn zückte seine Taschenuhr, und nachdem er einen Blick daraufgeworfen hatte, traf er seine Entscheidung. »In dreißig Minuten heben wir den Meteoriten an.« McFarlane fühlte sich plötzlich von Gefühlen überwältigt, bei denen er sich nicht sicher war, ob er sie noch als gespannte Erwartung oder schon als inneren Triumph bezeichnen sollte. »Wir müssen bei den ersten Hebeversuchen auf der absolut sicheren Seite sein«, warf Garza ein. »Wer nicht unbedingt benötigt wird, hat hier unten nichts zu suchen.« Der innere Jubel, der McFarlane eben noch erfüllt hatte, verebbte jäh. »Haben Sie nicht vorhin gesagt, dass es bei dem Hebevorgang keine Risiken gibt?« »Sicher ist sicher«, murmelte Glinn, bedeutete McFarlane, ihm zu folgen, und führte ihn durch den schmalen Tunnel zum Ausgang.

 

Rolvaag

9.30 Uhr

Er warf im Vorbeigehen einen Blick auf den Flur der Krankenstation. Alle Türen standen offen, niemand im Wartezimmer, zehn Betten und alle leer – ein überaus zufriedenstellender Zustand. Im Labor wusch er sich zunächst gründlich die Hände, schüttelte mit kreisenden, an das Zeremoniell eines Priesters erinnernden Bewegungen das Wasser ab und ließ die letzten Tropfen vom Heißluftgebläse trocknen. Sein Blick huschte zu dem Regal mit Fachbüchern hinüber, das heißt eigentlich mehr zu den beiden Bildern, die er darüber aufgehängt hatte. Das eine zeigte eine Christusdarstellung, samt flammendem, von Dornen durchbohrtem Herzen, das andere war ein verblasstes Foto zweier in Matrosenanzüge gesteckter Jungen, die einander glichen wie ein Ei dem anderen. Während ihn das Christusbild an den teils widersprüchlichen Verlauf seines Lebens gemahnte, erinnerte das Foto ihn an seinen in New York von einem Straßengangster ermordeten Bruder Simon. Und es war zugleich eine Rechtfertigung dafür, dass er nie geheiratet und Kinder gezeugt hatte. Er streifte sich Latexhandschuhe über, schaltete mit dem Ellbogen die Ringleuchte ein und zog das Vergrößerungsglas über die Liege. Dann öffnete er den Transportbehälter und starrte missbilligend auf das Durcheinander. Wie er sofort sah, fehlten etliche Knochen, der Rest war ohne jedes Verständnis für Anatomie in den Behälter geworfen worden – wie es gerade kam. Angesichts so viel pietätloser Ignoranz konnte er wirklich nur das ergraute Haupt schütteln. Brambell nahm die Knochen heraus, einen nach dem anderen, identifizierte sie und legte sie so auf die Liege, dass ihre Anordnung der menschlichen Anatomie entsprach. Abgesehen von einigen Nagespuren fand er keine Anzeichen für Schäden, die von hungrigen Tieren angerichtet sein konnten. Doch dann zog er die Augenbrauen hoch. Die Anzahl der perimortalen Brüche war ungewöhnlich, sogar äußerst ungewöhnlich. Und plötzlich hielt er – ein winziges Knochenstück zwischen zwei Fingern – wie erstarrt mitten in der Bewegung inne. Schließlich legte er das Knochenstück behutsam auf der Liege ab, trat einen Schritt zurück, verschränkte die Arme vor dem Bauch und starrte auf die sterblichen Überreste, die von diesem Menschen aus Fleisch und Blut geblieben waren. Seit seinen Kindertagen in Dublin hatte seine Mutter davon geträumt, dass die Zwillinge eines Tages Ärzte würden. Und weil Ma Brambell die unwiderstehliche Überzeugungskraft einer Naturgewalt eigen war, hatten er und sein Bruder Simon tatsächlich Medizin studiert. Simon, der Fleißigere, fand zu Mas Entzücken auf Anhieb eine Anstellung als ärztlicher Leichenbeschauer in New York. Patrick nahm das Studium weniger ernst und verbummelte viel Zeit, weil er sich mehr zur schönen Literatur als zu den Lehrbüchern hingezogen fühlte. Später, nach der Approbation, entdeckte er seine Liebe für Schiffe, insbesondere für große Tanker mit einer kleinen Besatzung und komfortabler Unterbringung. Die Rolvaag hatte seine Erwartungen bisher in jeder Hinsicht erfüllt. Keine gebrochenen Nasen, keine Fieberepidemien, kein Tripper. Von ein paar Patienten, die an Seekrankheit litten, einer Sinusitis und dem Überwachungsauftrag, den Glinn ihm wegen dieses Meteoritenjägers erteilt hatte, einmal abgesehen, hatte er sich ganz der Lektüre seiner geliebten Bücher widmen können. Bis jetzt. Nun aber rührte sich angesichts der vor ihm ausgebreiteten Knochen eine nie gekannte Neugier in ihm. Fröhlich vor sich hin pfeifend, machte er sich zunächst an eine Begutachtung der Effekten: Knöpfe, Kleidungsreste, ein alter Stiefel. Typisch – nur einer, nach dem anderen hatte das Bergungsteam wohl nicht sorgfältig genug gesucht. Dieselbe Schlamperei wie bei dem rechten Schlüsselbein, einem Teil des Darmbeins, der linken Unterarmspeiche, einigen Handwurzelknochen und Karpalgelenken. Im Geist stellte Brambell bereits eine Liste der fehlenden Knochen zusammen. Wenigstens war der Schädel da, wenn auch in mehreren Teilstücken. Er beugte sich tiefer herab. Auch der Schädel war von einem Netz perimortaler Brüche überzogen. Das Joch über der Augenhöhle war kräftig ausgebildet, ebenso wie die Mandibula – eindeutig der Schädel eines männlichen Toten, den Verwachsungslinien der Knochen nach etwa fünfunddreißig, höchstens vierzig. Relativ klein, etwa eins siebzig, aber kräftig gebaut, den Anheftungsstellen nach mit gut entwickelten Muskeln. Kein Zweifel, der Mann hatte viele Jahre mit körperlicher Arbeit im Freien verbracht. Was genau dem Profil des Geologen Nestor Masangkay entsprach, das er aus Glinns Unterlagen kannte. Viele seiner Zähne waren an den Wurzeln abgebrochen. Der arme Kerl war offensichtlich im Augenblick seines Todes einer gewaltigen Erschütterung ausgesetzt gewesen. So gewaltig, dass sie ihm sogar den Kiefer gebrochen hatte. Immer noch die fröhliche Melodie auf den Lippen, widmete er sich dem postkranialen Skelett. Es war wahrhaftig jeder Knochen gebrochen, der nur brechen kann. Er fragte sich, was wohl zu einem so massiven Trauma geführt haben mochte. Der Tote musste einen heftigen Schlag von vorn erhalten haben, und zwar von den Zehen bis zur Korona. Brambell wurde an den armen Fallschirmspringer erinnert, den er während seines Studiums autopsiert hatte. Der Mann hatte seinen Schirm falsch gepackt und war aus knapp über tausend Meter Höhe abgestürzt, mitten auf die Interstate 95. Und auf einmal verkümmerte das Lied auf seinen Lippen. Sein Atem stockte. Da hatte er sich doch tatsächlich so auf die Knochenfrakturen konzentriert, dass ihm die anderen Verletzungsspuren glatt entgangen waren. Als er nun das Versäumte nachholte, sah er sofort, dass die proximalen Finger- und Zehenglieder die flockigen, verschrumpelten Charakteristika einer schweren Verbrennung aufwiesen. Nahezu alle distalen Phalangen fehlten, die Hitze hatte sie weggebrannt. An den Zehen und an den Fingern. Er sah sich die abgebrochenen Zähne genauer an. Wie abgefackelt, sogar der Zahnschmelz war abgesplittert.

Sein Blick kreiste über den Knochen. Schwere Verbrennungen am Scheitelbein, die Knochenstruktur war weich und verschmort. Er beugte sich weiter über die Liege hinunter. Ja, er konnte es sogar riechen. Und was war das? Er fischte die Gürtelschnalle aus den Knochen heraus. Das gottverdammte Ding war geschmolzen. Auch der Stiefel war nicht nur verrottet, er war angesengt. Genau wie die Kleidungsfetzen. Glinn musste das bemerkt haben, aber der Mistkerl hatte kein Wort darüber verlauten lassen. Brambell richtete sich auf. Mit einem gewissen Bedauern stellte er fest, dass es hier kein Geheimnis zu ergründen gab. Es lag auf der Hand, wie der Mann gestorben war. Für ihn war der Fall klar.

 

Isla Desolación

10.00 Uhr

McFarlane schmolz mit der flachen Hand ein Guckloch in das beschlagene Fenster der Kommunikationszentrale. Über Hanuxas Klauen ballten sich die Wolken so dicht, dass die Kap-Hoorn-Inseln in fahles Dunkel gehüllt waren. Hinter ihm saß Rochefort – angespannter, als er ihn je erlebt hatte – an einer Silicon Graphics Workstation und tippte etwas ein. Seit einer halben Stunde herrschte überall hektische Aktivität. Die Sichtblende um den Meteoriten war abgebaut worden, die Erdhobel hatten ringsum die verschneite oberste Erdschicht abgetragen, in der weißen Märchenlandschaft gähnte ein hässlicher schwarzbrauner Fleck. Eine kleine Armee von Arbeitern war ausgeschwärmt, aber für Außenstehende war nicht zu erkennen, was sie eigentlich taten. Da half auch der lebhafte Funkverkehr nicht, das technische Kauderwelsch erinnerte höchstens an die babylonische Sprachverwirrung. Draußen ertönte der schrille Pfiff eines Signalhorns. McFarlane spürte, wie sein Pulsschlag sich beschleunigte. Die Tür der Hütte wurde aufgestoßen. Amira schob sich breit lächelnd herein, ihr folgte Glinn, der sorgfältig die Tür zudrückte und sich hinter Rochefort aufbaute. »Hebesequenz eingegeben?«, fragte er. »Ich bin gerade beim letzten Check.« Glinn hielt sich das Funkgerät vor den Mund. »Mr. Garza? Noch fünf Minuten bis zum Anheben. Bleiben Sie auf dieser Frequenz empfangsbereit.« Er schielte zu Amira hinüber, die sich gerade einen Knopfhörer ins Ohr schob. »Servosteuerung?« »Online«, sagte Amira. »Was kriegen wir eigentlich zu sehen?«, wollte McFarlane wissen. Er malte sich schon aus, wie Lloyd ihn bei der nächsten Videokonferenz mit Fragen löchern

würde. »Nichts«, sagte Glinn. »Höchstens ein paar Risse in der Erde. Wir heben den Burschen ja nur sechs Zentimeter an.« Er nickte Rochefort zu. »Hochfahren auf sechzig Tonnen pro Hebeblock.« Rocheforts Finger flogen über das Keyboard. »Alle Hebeblöcke greifen. Kein Schlupf.« Sie spürten ein lautloses Vibrieren im Boden. Glinn und Rochefort starrten gespannt auf den Bildschirm und verfolgten die Daten, die vor ihren Augen vorbeirollten. Beide machten einen ruhigen, zuversichtlichen Eindruck. Ein paar Eingaben, warten, wieder ein paar Eingaben. Alles sah nach gelassener Routine aus. Ganz anders als bei der Art Meteoritensuche, die McFarlane gewohnt war: verstohlenes nächtliches Buddeln auf dem Grundbesitz eines Scheichs, Herzklopfen bis zum Hals, immer in Sorge, sich bei einem allzu hastigen Spatenstich durch metallisches Klirren zu verraten. »Hebeblöcke hochfahren auf siebzig«, sagte Glinn. »Siebzig haben wir.« Langes, zermürbendes Warten. »Verdammt«, murmelte Rochefort, »da rührt sich nichts. Absolut nichts.« »Gehen Sie auf achtzig.« Rochefort drückte ein paar Tasten, wartete, dann schüttelte er den Kopf. »Rachel?«, fragte Glinn. »Die programmierte automatische Druckregulierung arbeitet einwandfrei.« Glinns Miene verfinsterte sich. »Bei siebenundsechzig Tonnen pro Hebeblock hätte sich etwas bewegen müssen.« Er dachte einen Moment nach. »Hochfahren auf hundert.« Wieder drückte Rochefort ein paar Tasten. McFarlane verfolgte das Mienenspiel der beiden Männer. Kein Zweifel, ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. »Immer noch nichts?« In Glinns Stimme lag zum ersten Mal ein besorgter Unterton. »Der sitzt da unten wie festgewurzelt.« Rochefort sah noch verkniffener aus als sonst.

Glinn stand auf, ging langsam zum Fenster und rieb mit den Fingern den Beschlag weg. Minuten verstrichen, dann endlich drehte er sich um. »Gut. Wir senken die Hebeblöcke ab, überprüfen Sockel und Unterbau und probieren es noch mal.« Plötzlich strich wie aus dem Nichts ein eiskalter Windzug durch den Raum. McFarlane bekam eine Gänsehaut. Rochefort fuhr hoch und starrte wie gebannt auf den Bildschirm. »Abrutsch in Sektor sechs.« Wieder flogen seine Finger über das Keyboard. Das Quietschen verstummte. »Was, zum Teufel, war das?«, fragte McFarlane. Glinn sagte kopfschüttelnd: »Sieht so aus, als hätten wir den Meteoriten in dem Sektor ein, zwei Millimeter angehoben. Aber dann hat er sich wieder abgesenkt und den Hebeblock mit nach unten gedrückt.« »Hier wird wieder eine Verschiebung angezeigt«, rief Rochefort alarmiert. Glinn lief zu ihm hinüber und starrte auf den Bildschirm. »Er gerät in Schieflage. Hebeblöcke absenken, schnell!« Rochefort gab hektisch Befehle ein. Glinn sah ihm stirnrunzelnd über die Schulter. »Und? Tut sich was in Sektor sechs?« »Die Hebeblöcke blockieren bei hundert Tonnen. Sie lassen sich nicht absenken«, sagte Rochefort. »Der Meteorit scheint sich immer mehr in Richtung Sektor sechs zu neigen.« »Analyse?« Rochefort machte eine hilflose Geste. »Demnach ruht zu viel Gewicht auf dieser Seite.« »Alle Hebeblöcke auf null schalten.« McFarlane kam sich vor wie in einem surrealen Film. Es gab kein unterirdisches Rumpeln, die Erde zitterte nicht, die ganze Aufregung schien eigentlich grundlos zu sein. Rochefort brach die Eingaben ab. »Sämtliche Hebeblöcke im Sektor sechs sind blockiert. Offenbar durch das Gewicht, das auf ihnen lastet.«

»Können wir die anderen auf null schalten?« »Wenn ich das tue, wird der Meteorit möglicherweise destabilisiert.« »Destabilisiert?«, wiederholte McFarlane. »Meinen Sie damit, er könnte abkippen?« Glinn drehte sich kurz zu ihm um, dann wandte er sich an Rochefort. »Vorschläge, Mr. Rochefort?«, fragte er kühl. Der Chefingenieur rieb nervös den linken Zeigefinger am rechten Daumen. »Die Hebeblöcke reagieren nicht auf Fernsteuerung. Wir müssen also alles so lassen, wie es ist, und dann so rasch wie möglich an den Notventilen im Sektor sechs das Hydrauliköl ablassen, um die Blockade aufzuheben.« »Wie wollen Sie das machen?« Ein kurzes Zögern, dann sagte Rochefort: »Per Hand.« Glinn griff nach dem Funkgerät. »Garza?« »Roger«, meldete sich Garza. »Haben Sie das Gespräch verfolgt?« »Ja.« »Ihre Meinung?« »Ich stimme Gene zu. Wir haben das Gewicht unseres Burschen wohl gewaltig unterschätzt.« Glinn richtete die grauen Augen wieder auf Rochefort. »Und wer sollte Ihrer Meinung nach die Ventile öffnen?« »Ich. Jemand anderem würde ich das nie zumuten. Sobald wir den Meteoriten wieder in eine stabile Lage gebracht haben, unterfüttern wir ihn mit zusätzlichen Hebeblöcken und versuchen das Ganze noch mal.« »Sie werden einen zweiten Mann brauchen«, mischte sich Garza über Funk ein. »Ich bin dabei.« »Kommt nicht in Frage«, sagte Glinn. »Ich lasse doch nicht meinen Chefingenieur und meinen Chefkonstrukteur unter den Meteoriten kriechen. Mr. Rochefort – die Risikoanalyse.« Rochefort stellte auf seinem Taschenrechner ein paar Berechnungen an. »Die Hebeblöcke sind für sechzehn Stunden Maximalbelastung ausgelegt.« »Und wenn dieses Maximum überschritten wird? Sagen wir – um hundert Prozent?«

»Dann steigt das Risiko einer Störung.« Rochefort nahm abermals ein paar Berechnungen vor. »Innerhalb der nächsten dreißig Minuten liegt die Wahrscheinlichkeit eines Störfalls allerdings unter einem Prozent.« »Das ist akzeptabel«, entschied Glinn. »Mr. Rochefort, suchen Sie sich ein paar Männer für Ihr Team aus.« Er warf einen Blick auf seine Taschenuhr. »Sie haben von jetzt an exakt dreißig Sekunden, keine Sekunde mehr. Viel Glück.« Rochefort stand auf und sah einen nach dem anderen an. Sein Gesicht war leichenblass. Dann wandte er sich an Glinn. »Darf ich Sie daran erinnern, Sir, dass wir uns nie auf unser Glück verlassen? Trotzdem, besten Dank.«

 

Isla Desolación

10.24 Uhr

Das beherrschende Gefühl war Verlegenheit. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie den kurzen Weg vom Kommunikationszentrum zur Fundstelle zurückgelegt hatten. Obwohl weit und breit niemand zu sehen war, glaubte Rochefort die Blicke von Dutzenden Augenpaaren in seinem Nacken zu spüren. Er hatte den Meteoriten mit anderthalbmal so vielen Hebeblöcken abgestützt, wie nach der Berechnung notwendig waren; das entsprach der bei der EES üblichen Vorgehensweise und bot einen ausreichenden Sicherheitsfaktor. Aber seine Berechnung war falsch gewesen. Er hätte sich an Glinns Prinzip von der doppelten Sicherheit orientieren und zweihundert Hebeblöcke setzen sollen. Aber da war ja dieser ständige Zeitdruck. Das dauernde Hin und Her zwischen Glinn und Lloyd musste sich nachteilig auf ihre Arbeit auswirken. Und sein Vorschlag, den Meteoriten mit hundertfünfzig Hebeblöcken abzustützen, war von Glinn anstandslos akzeptiert worden. Nun gut, niemand hatte ihm einen Fehler vorgeworfen, nicht einmal andeutungsweise. Aber das änderte nichts daran, dass es ein Fehler gewesen war. Sein Fehler. Und Rochefort konnte das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, einfach nicht ertragen. Es vergällte ihm das Leben. Als der Abstieg hinter ihnen lag, hastete er durch den Tunnel. Instinktiv zog er unter den tief hängenden Neonleuchten den Kopf ein. Kondensierter Atem schlug sich auf den Trägern und Querverstrebungen in Form von Kristallornamenten nieder. Woher nahm Evans, der pfeifend hinter ihm hertrottete, bloß die Nerven, hin und wieder bewundernd mit dem Finger darüber zu fahren? Rochefort war peinlich berührt, aber er machte sich keine Sorgen. Selbst wenn die Hebeblöcke im Sektor sechs versagten – eine nur minimale Wahrscheinlichkeit –, konnte es äußerstenfalls passieren, dass der Meteorit wieder in die Position absackte, in der er Jahrtausende gelegen hatte. Dafür sorgte schon das Trägheitsgesetz. Mehr als die Möglichkeit, noch einmal ganz von vorn anfangen zu müssen, hatten sie also nicht zu befürchten. Noch einmal ganz von vorn? Sein Mund verzog sich zu einem schmalen Strich. Das bedeutete, verschüttete Schächte freizuschaufeln, womöglich neue graben und armieren zu müssen, bevor sie die Hebeblöcke – und zwar diesmal erheblich mehr – wieder unter dem Meteoriten postieren konnten. Sie erreichten Sektor eins, bogen im rechten Winkel nach links ab, folgten dem Haupttunnel etwa fünfzehn Meter weit und kamen zu dem Seitentunnel, der in einem Bogen um den Meteoriten herum zu dessen Rückseite führte. Rochefort griff zum Funkgerät und gab durch: »Nähern uns Sektor sechs.« »Nach der Computerdiagnose sind in diesem Sektor alle Hebeblöcke außer vier und sechs blockiert«, informierte ihn Glinn. »Wir schätzen, dass die Durchführung des Auftrags sechzehn Minuten in Anspruch nehmen wird.« Zwölf, gab sich Rochefort im Stillen. »Maximal.« Der Seitentunnel teilte sich in drei Arme, die direkt zu dem Meteoriten führten. Rochefort wählte den mittleren. Sekunden später erreichten sie die leuchtend gelben, deutlich gegen den glutroten Meteoriten abgehobenen Hebeblöcke. Alle fünfzehn schienen völlig in Ordnung zu sein. Sie saßen fest auf den krallenförmigen Stützbeinen und waren zusätzlich durch Querverstrebungen mit der Wandarmierung verankert. An den Kabeln war keine Beschädigung zu erkennen. Obwohl das bei einer Hubkraft von hundert Tonnen kaum vorstellbar war, hatten sich die Blöcke aber offensichtlich nicht einen einzigen Millimeter bewegt. Leicht irritiert kauerte sich Rochefort neben den ersten Hebeblock. Über ihm wölbte sich der Bauch des Meteoriten, glatt und so perfekt gerundet, als wäre er mit einer Schleifmaschine bearbeitet worden. Evans kam mit einer Kombizange zu ihm, setzte sie am Hydraulikventil des ersten Hebeblocks an und begann vorsichtig zu drehen. »Keine Angst, da bricht nichts ab«, fauchte Rochefort ihn an. »Legen Sie einen Zahn zu, wir müssen noch zwölf andere Ventile aufdrehen.« Evans wuchtete bei jeder Drehung die Zange um neunzig Grad herum. Unterdessen klopfte Rochefort mit dem Hammer auf der Rückseite des Hebeblocks den Deckel über der Druckanzeige auf. Ein rotes Lämpchen zeigte an, dass das Ventil aufgedreht war; theoretisch hätten sie die Hydraulikflüssigkeit also ablassen können. Ab dem zweiten Hebeblock ging Evans die Sache weniger vorsichtig an. Er und Rochefort arbeiteten jetzt Hand in Hand, wie ein eingespieltes Team. Beim letzten Hebeblock nahm sich Rochefort Zeit für einen Blick auf die Armbanduhr. Sie hatten es in acht Minuten geschafft. Jetzt mussten sie auf dem Rückweg zum Hebeblock eins nur noch per Knopfdruck ein Ventil nach dem anderen öffnen. Auch dabei waren keine Komplikationen zu erwarten, die eingebaute Sicherheitsvorrichtung würde dafür sorgen, dass die Hydraulikflüssigkeit trotz des enormen Drucks langsam und stetig abfloss. Gleichzeitig veranlasste die Kommunikationszentrale computergesteuerte gleichmäßige Absenkung aller übrigen Hebeblöcke, und damit war wieder der Zustand wie vor Beginn des Hebeprozesses hergestellt. Sobald sie dann den Meteoriten durch zusätzliche Hebeblöcke abgestützt hatten, konnten sie einen neuen Versuch starten. Allerdings würde es mindestens einen Tag dauern, bis sie die Blöcke von der Rolvaag hierher gebracht, in den Tunnel geschafft, an Ort und Stelle installiert und per Diagnoseprogramm überprüft hatten. Und sie würden wohl auch zusätzliche Tunnels brauchen ... Rochefort schüttelte verärgert den Kopf.

Verdammt, er hätte von Anfang an mit zweihundert Hebeblöcken arbeiten sollen. Oder noch besser mit dreihundert. »Ganz schön heiß hier unten«, schnaufte Evans und schob die Kapuze seiner Jacke zurück. Rochefort sagte nichts. Hitze oder Kälte, das war ihm eins. Sie gingen den Weg zurück, machten an jedem Hebeblock kurz Halt, schoben die Sicherheitsabdeckung hoch und drückten den Knopf zum Ablassen des Hydrauliköls. Als sie etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten, stutzte Rochefort und blieb stehen. Ein leises Geräusch irritierte ihn. An sich wäre es wichtig gewesen, den Hydraulikdruck möglichst gleichmäßig abzusenken; aber dieses Geräusch eben war sehr ungewöhnlich gewesen. Sein Blick huschte auf der Suche nach der Ursache an der Reihe von Hebeblöcken entlang. Es musste von einem der vorderen Blöcke gekommen sein. Und da war es wieder: ein leises Zischen, ein halb ersticktes Knacken. Er kniff die Augen zusammen. Beim Hebeblock eins schien etwas nicht zu stimmen, er hing merkwürdig schief unter dem Meteoriten. Rochefort verlor keine Zeit. »Raus!«, schrie er. »Sofort!« Sie rannten zum Seitentunnel, Rochefort voran, Evans dicht auf seinen Fersen. Schlagartig war ihm klar, dass mehr Gewicht auf den Hebeblöcken lasten musste, als sie bei ihren pessimistischsten Annahmen vermutet hatten – wesentlich mehr. Von der Frage, wie viel mehr, hing es ab, ob sie noch rechtzeitig hier wegkamen. Er hörte hinter sich Evans’ stampfende Schritte und sein kehliges Keuchen. Sie sahen den Seitentunnel bereits vor sich, als der erste Hebeblock mit einem scharfen Knacken wegsackte. Und dann ein zweiter, ein dritter – und schließlich einer nach dem anderen. Für Sekundenbruchteile herrschte Stille, gefolgt von stotternden Knalllauten, die entfernt an unregelmäßiges Maschinengewehrfeuer erinnerten. Rochefort konnte sich gerade noch bewusst machen, dass nun alle Hebeblöcke weggebrochen waren. Dann blendete ihn plötzlich siedend heißes Hydrauliköl, das von allen Seiten auf ihn einströmte, seine Kleidung zerfaserte und ihm die Haut versengte. Ein hässliches, schrilles Knirschen wie von einer großen Sägemaschine, als das System der Stützpfeiler und Verstrebungen im Tunnel einstürzte. Er rannte blindlings weiter, wohl wissend, dass seine Überlebenschancen mit jeder Sekunde dramatisch kleiner wurden. Dass sie auf null geschrumpft waren, wurde ihm klar, als der Meteorit sich mit dumpfem Dröhnen zur Seite neigte, Stahlträger wie Streichhölzer knickte, Erde, Eis und Schlamm vor sich her schob und jede optische Wahrnehmung in leuchtendem, erbarmungslosem Rot erstickte.

 

Rolvaag

mittags

Als McFarlane in die Bibliothek der Rolvaag kam, fand er dort eine Hand voll verstörter Menschen vor: unter Schock und völlig mutlos. Garza stand an der breiten Fensterfront und starrte reglos über den Franklin-Kanal auf die Isla Deceit. Amira saß, die Knie unters Kinn gezogen, in einem Sessel in der Ecke. Britton und Howell flüsterten leise miteinander. Sogar Brambell war aus seiner Einsiedelei aufgetaucht; er trommelte mit zwei Fingern auf der Sessellehne herum und sah immer wieder ungeduldig auf die Armbanduhr. McFarlane nahm Platz, und genau in diesem Augenblick kam Glinn herein, mit einer dünnen Aktenmappe unter dem Arm. Puppup wieselte wie gewöhnlich dicht hinter ihm her. Auf die Insel mochte der Yaghan keinen Fuß mehr setzen, aber auf dem Schiff folgte er seinem Herrn auf Schritt und Tritt. Alle Augen richteten sich auf Glinn, als er sich in der Mitte der Bibliothek aufbaute. McFarlane fragte sich, wie abgebrüht jemand sein musste, wenn er nach den Ereignissen des Vormittags so einfach zur Tagesordnung übergehen konnte. Glinn hatte zwei Mitarbeiter verloren, darunter seinen Chefingenieur, trotzdem wirkte er innerlich so unberührt wie immer. Er ließ seine grauen Augen über die Gruppe schweifen. »Gene Rochefort war von Anfang an bei der EES. Frank Evans ist erst vor relativ kurzer Zeit zu uns gestoßen, aber auch sein Tod ist ein herber Verlust für die Firma. Uns alle hat diese Tragödie erschüttert. Aber ich bin nicht gekommen, um der beiden Toten ehrend zu gedenken. Weder Gene noch Frank hätten das gewollt. Wir haben eine wichtige Entdeckung gemacht, auch wenn wir einen hohen Preis dafür bezahlen mussten. Der Deso-lación-Meteorit ist erheblich schwerer, als jemand von uns vorhersehen konnte. Nach gründlicher Analyse der Ursachen für das Versagen der Hebeblöcke und einer auf Feinmessungen basierenden Gewichtsanalyse können wir nun die Masse des Meteoriten neu und genauer bestimmen und kommen zu dem Ergebnis, dass sein Gewicht fünfundzwanzigtausend Tonnen beträgt.« McFarlane überlief es kalt. Bei überschlägiger Berechnung kam er auf ein spezifisches Gewicht von rund einhundertneunzig – einhundertneunzigmal dichter als Wasser! Dann musste ein Kubikmeter Meteoritengestein – Gott im Himmel – ungefähr achtzehn Tonnen wiegen! Aber es gab zwei Tote. Zwei weitere Tote, korrigierte er sich, als sich ihm wieder der schreckliche Anblick der verstreuten Knochen seines Freundes und Expartners aufdrängte. »Doppelte Vorsicht ist bekanntlich die Devise der EES«, fahr Glinn fort. »Wir hatten vorsorglich alle errechneten Daten verdoppelt – die Kosten und die Arbeitsstunden ebenso wie die Masse des Meteoriten. Das bedeutet, dass unsere Planung bereits an einem Gewicht orientiert war, das annähernd dem jetzt errechneten entspricht. Wir können also im Prinzip an unserer Planung festhalten. Wir haben die Mittel, den Meteoriten zu heben, zum Schiff zu bringen und im Tankraum zu verstauen.« McFarlane stutzte. Irgendwie hörte sich das unterschwellig nach Triumph an. »Moment mal«, sagte er. »Immerhin sind zwei Männer gestorben. Es gehört zu unserer Verantwortung ...« »Die Verantwortung liegt nicht bei Ihnen, sondern bei uns«, unterbrach ihn Glinn. »Und wir sind gut versichert.« »Ich rede nicht von Versicherungspolicen, sondern von zwei Menschen, die bei dem Versuch, den Meteoriten zu heben, ihr Leben lassen mussten.« »Wir haben jede nur denkbare Vorsicht walten lassen. Die Fehlerwahrscheinlichkeit lag bei unter einem Prozent. Wie Sie neulich selbst gesagt haben, gibt es überall Risiken. Was die Verluste angeht, liegen wir im Rahmen unserer Planung.«

»Im Rahmen Ihrer Planung?« McFarlane traute seinen Ohren nicht. Seine Augen suchten Amiras Blick, dann Garzas, aber er fand in beiden Gesichtern keine Spur eines ähnlichen Zorns, wie er ihn empfand. »Was, zum Teufel, soll das heißen?« »Bei der Realisierung komplexer technischer Vorhaben treten nun eben Verluste ein, selbst wenn man noch so viel Sorgfalt walten lässt. Bis zum gegenwärtigen Stadium der Expedition hatten wir zwei Verluste eingerechnet.« »Mein Gott, das ist die kaltschnäuzigste Kalkulation, von der ich je gehört habe.« »Absolut nicht«, sagte Glinn, ohne die Stimme zu heben. »Beim Bau der Golden Gate Bridge kalkulierte man, dass drei Dutzend Menschen ihr Leben lassen würden. Das war weder kaltblütig noch herzlos, es war einfach Teil einer sauberen Planung. Kaltschnäuzig heißt für mich, Menschen in Gefahr zu bringen, ohne vorher eine Risikoabschätzung vorzunehmen. Rochefort und Evans kannten die Risiken und hatten sie akzeptiert.« Sein Blick fixierte McFarlane. »Ich versichere Ihnen, dass auch ich um beide trauere. Nur, ich tue es auf eine Weise, die Sie sowieso nicht verstehen. Ich kann mir keine persönlichen Empfindungen leisten, die mir den Blick für Gegebenheiten trüben oder mich in meiner Entschlossenheit wankelmütig machen könnten.« Zur allgemeinen Überraschung ergriff Britton das Wort. »Würden Sie mir verraten, Mr. Glinn, wie viele Menschenleben Sie noch einkalkuliert haben, bis wir den Meteoriten zu seinem Bestimmungsort gebracht haben?« Mit einem Querschuss von dieser Seite hatte Glinn offensichtlich nicht gerechnet. Einen Moment lang sah es aus, als habe seine beherrschte Gelassenheit einen Knacks abbekommen. Dann erwiderte er kühl: »Soweit es in unserer Macht liegt, werden wir alles tun, um zu verhindern, dass irgendjemand verletzt wird oder ums Leben kommt. Ihre angedeutete Vermutung, dass wir stillschweigend eine bestimmte Zahl von Toten einkalkuliert hätten, beweist nur, dass Sie nichts von Risikoabschätzung verstehen. Der Punkt ist: Egal, wie sorgsam Sie vorgehen, Verluste kann es immer geben. Nehmen Sie zum Beispiel den Flugverkehr. Trotz des technischen Fortschritts kommt es zu Abstürzen. Die Wahrscheinlichkeit lässt sich für jeden einzelnen Flug berechnen. Aber wir steigen dennoch weiter in Flugzeuge. Deswegen bedeutet die Entscheidung, weiter Flüge durchzuführen, natürlich nicht, dass die Zahl der Flugtoten als akzeptabel betrachtet wird. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?« Captain Britton sah ihn nur groß an und sagte von nun an nichts mehr. Glinn rang sich zu einem versöhnlichen Ton durch. »Ich verstehe Ihre Besorgnis. Ich spüre, dass sie echt ist, und weiß das zu schätzen.« Als er sich an McFarlane wandte, schwang wieder ein scharfer Unterton mit. »Nur, Dr. McFarlane, wenn wir zaudernd und halbherzig vorgehen, wird es uns nicht gelingen, den Meteoriten zu bergen.« McFarlane lief rot an. »Ich will nicht, dass noch mehr Menschen zu Schaden kommen. Das war von jeher mein Grundsatz bei meiner Arbeit.« »Das kann ich Ihnen nicht versprechen«, sagte Glinn. »Sie wissen besser als jeder andere, dass dieser Meteorit etwas Besonderes ist. Etwas Einzigartiges. Sie können seinen Wert nicht in Dollar und nicht in Menschenleben messen. Und damit läuft alles auf die Frage hinaus, die ich Ihnen als dem Repräsentanten des Lloyd-Museums jetzt in aller Form stellen muss: Wollen Sie ihn weiterhin haben?« McFarlane merkte, dass ihn alle gespannt ansahen. Und die erwartungsvolle Stille, die über dem Raum lag, verhalf ihm zu der Erkenntnis, dass er sich zu keiner klaren Antwort durchringen konnte. Nach ein paar Sekunden nickte Glinn bedächtig. »Wir werden die beiden Leichen bergen und ihnen, wenn wir wieder in New York sind, ein ehrenvolles Begräbnis zuteil werden lassen.« Brambell räusperte sich und sagte in seinem harten irischen Akzent: »Ich fürchte, Mr. Glinn, Sie werden nicht mehr als zwei Schachteln feuchte Erde zu begraben haben.« Glinn musterte ihn mit eisigem Blick. »Noch irgendwelche substanziellen Beiträge, Doktor?« Brambell schlug in aller Seelenruhe die Beine übereinander und erwiderte gelassen: »Ja. Ich kann Ihnen sagen, wie Dr. Masangkay gestorben ist.« Alle hielten den Atem an. Schließlich fragte Glinn: »So? Wie denn?« »Er wurde von einem Blitz getroffen.« McFarlane starrte Brambell entsetzt an. Von einem Blitz getroffen? Im Augenblick seiner sensationellsten Entdeckung? Das hörte sich an wie in einem Schundroman. Andererseits, ganz so abwegig war es nicht. Die röhrenförmig verschmolzenen Sandkörner, die er am Rand der Fundstelle gesehen hatte, sprachen für Brambells Annahme. Und vor allem: Der Meteorit war nun mal ein gigantischer Blitzableiter.« »Woraus schließen Sie das?«, wollte Glinn wissen. »Die Art der Knochenverbrennungen entspricht dem Bild, das wir von Blitzschlägen kennen. Ich habe das schon mehrmals gesehen. Nur ein elektrischer Schlag von der Stärke eines Blitzschlags führt zu solchen Abschälungen und Zertrümmerungen der Knochenstruktur. Sehen Sie, ein Blitz versengt nicht nur die Knochen, er bringt auch das Blut zum Kochen, setzt eine ungeheure Menge Dampf frei und führt zu Muskelkontraktionen, bei denen die Knochen zermalmt werden. Die auf den Körper einwirkende Kraft kann mit der Wucht beim Zusammenprall mit einem schweren Truck verglichen werden. Dr. Masangkays Körper ist regelrecht explodiert.« Das Wort »explodiert« sprach er so genüsslich aus, dass McFarlane ein Schaudern überlief. »Danke, Doktor«, sagte Glinn trocken. »Ich möchte schnellstmöglich Ihre Analyse der Biota in der Umgebung des Meteoriten haben. Ich lasse Ihnen die achtzig Beutel mit Erdproben, die wir entnommen haben, noch heute zukommen.« Er schlug seine Aktenmappe auf. »Wenn der Meteorit Blitze anzieht, ist das ein Grund mehr, ihn nicht zu rasch dort unten rauszuholen.

Wie ich schon sagte, bleibt es grundsätzlich bei unseren Planungen, wir müssen allerdings ein paar Anpassungen vornehmen. Zum Beispiel die, dass wir den Meteoriten wegen seines enormen Gewichts auf dem kürzesten Weg zum Schiff bringen müssen – also durch das Schneefeld, nicht darum herum. Dazu brauchen wir eine gerade, leicht geneigte Gefällestrecke. Das erfordert umfangreiche Erdarbeiten. Außerdem hat Captain Britton mich davon unterrichtet, dass sich ein Wintersturm auf uns zu bewegt. Wenn er seinen derzeitigen Kurs beibehält, müssen wir auch diesen Faktor berücksichtigen. In gewisser Weise kommt es uns also recht, dass der Meteorit vorläufig noch da unten liegt.« Er stand auf. »Ich werde Kondolenzbriefe an die Familie von Gene Rochefort und an die Witwe von Frank Evans vorbereiten. Falls jemand einige persönliche Zeilen hinzufügen möchte, übergeben Sie mir die Schreiben bitte, bevor wir in New York anlegen. Und nun noch ein letzter Punkt.« Er sah McFarlane an. »Sie sagten, der Coesit und die Aufschlagspuren seien vor zweiunddreißig Millionen Jahren entstanden?« »Richtig«, bestätigte McFarlane. »Dann möchte ich, dass Sie Proben vom Flutbasalt und vom Pfropf des Vulkans nehmen und sie ebenfalls zeitlich bestimmen. Wir müssen unbedingt mehr über die Geologie dieser Insel herausfinden. Hat Ihre zweite Testreihe neue Erkenntnisse gebracht?« »Nur neue Rätsel.« »In diesem Fall müssen wir uns erst recht mit der geologischen Beschaffenheit der Insel beschäftigen.« Er sah kurz in die Runde. »Sonst noch was, ehe wir an die Arbeit gehen?« »Ja, Chef«, meldete sich Puppup und schnalzte wie ein ungeduldiger Erstklässer mit den Fingern. »Ja?«, fragte Glinn kurz angebunden. »Sie haben gesagt, bis jetzt wären zwei gestorben, und es könnte sein, dass noch mehr sterben.« »Unsinn, ich habe nichts dergleichen gesagt«, fuhr ihm Glinn ungehalten in die Parade. »Gut, wenn wir dann fertig sind ...«

»Und wie wär’s, wenn wir alle sterben?«, fiel ihm Puppup mit unerwartet kräftiger Stimme ins Wort. Alle starrten ihn verdutzt an. »Verdammter Idiot«, murmelte Garza vor sich hin. Puppup deutete nur stumm auf die Fenster. Alle Blicke folgten seinem ausgestreckten Arm. Vor der felsigen Küstenlinie der Isla Deceit kaum zu erkennen, schob sich, die Geschütze auf den Tanker gerichtet, etwas Dunkles auf sie zu: der stählerne Bug eines Zerstörers.

 

Rolvaag

12.15 Uhr

Glinn zog ein Fernglas aus der Tasche und musterte den Zerstörer. Er hatte geahnt, dass Vallenar noch etwas im Schilde führte. Britton fuhr aus ihrem Sessel hoch und ging zum Fenster. »Der will uns wohl versenken.« Glinn richtete das Glas auf die Masten, danach auf die Zehn-Zentimeter-Geschütze. Schließlich setzte er es ab. »Das ist ein Bluff.« »Woher wollen Sie das wissen?« »Checken Sie Ihr Slick 32.« Britton drehte sich fragend zu Howell um. »Slick registriert kein aktives Feuerleitradar.« Glinn reichte Captain Britton das Glas. »Er hat zwar die Kanonen auf uns gerichtet, aber nicht die Absicht, sie abzufeuern. Sehen Sie selbst – das Feuerleitradar rotiert nicht.« »Ja, stimmt.« Sie gab ihm das Fernglas zurück. »Mr. Howell, Posten aufstellen, auf dem Vorschiff und achtern.« »Und Sie, Mr. Garza, sorgen bitte dafür, dass im Empfangsraum alles fertig ist. Nur für alle Fälle.« Glinn steckte das Glas weg und wandte sich zu Puppup um. Der Mestize lümmelte in einem Sessel und spielte lässig mit seinem zotteligen Bart. »Mr. Puppup, ich habe vor, mich ein bisschen auf Deck umzusehen. Wären Sie so freundlich, mich zu begleiten?« Puppup stand mit unbewegter Miene auf und folgte Glinn. Draußen peitschte ein eisiger Wind die Bucht, das Meer gischtete, Eisbrocken wurden auf das Deck geschleudert. Glinn schritt rasch aus, der kleine alte Mann folgte ihm dicht auf den Fersen bis zum Bug, wo Glinn, an eine Ankerwinde gelehnt, den Zerstörer am besten im Blick behalten konnte. Nachdem der Comandante seinen ersten Zug getan hatte, kam es nun darauf an, möglichst schnell seine weiteren Absichten zu durchschauen, und dabei setzte Glinn seine Hoffnung auf Puppups Insiderwissen. Das Problem war nur, dass er immer noch nicht recht wusste, wie er den Yaghan einschätzen sollte. »Hätten Sie ’ne Zigarette?«, fragte Puppup. Glinn zog eine frische Packung aus der Tasche – Marlboros, eine Rarität in dieser Einöde – und hielt sie Puppup hin. Der riss die Schachtel auf und klopfte eine Zigarette heraus. »Auch ’n Streichholz?« Glinn gab ihm Feuer. »Danke, Chef.« Puppup nahm einen tiefen Zug. »Ziemlich frisch hier draußen heute, wie?« »Ja, allerdings.« Und nach einer Weile: »Wo haben Sie eigentlich Englisch gelernt, Mr. Puppup?« »Na, von den Missionaren, wo sonst? Das bisschen, was ich weiß, haben die mir beigebracht.« »Stammte einer von ihnen zufällig aus London?« »Ja, alle beide, Sir.« Glinn ließ eine Weile verstreichen. Der Mann war wirklich ein Buch mit sieben Siegeln für ihn, und das konnte nicht nur an der unterschiedlichen kulturellen Herkunft liegen. Ein schillernderes Individuum als Puppup war ihm nie begegnet. Er versuchte es mit einem kleinen Umweg. »Ein hübscher Ring«, sagte er und deutete auf Puppups kleinen Finger. Puppup reckte grinsend den Finger hoch. »Finden Sie auch, wie? Pures Gold, eine Perle, zwei Rubis und was weiß ich, was sonst noch alles.« »Ein Geschenk der Königin Adelaide, nehme ich an?« Einen Augenblick lang zitterte die Zigarette zwischen Puppups Lippen, aber er hatte sich schnell wieder im Griff. »Ja, richtig geraten.« »Und was ist aus der Krone der Königin geworden?« Puppup sah ihn misstrauisch an. »Die ist zusammen mit ihr beerdigt worden. Scheint ein alter Brauch zu sein.« »War Fuegia Basket demnach Ihre Urururgroßmutter?« Puppups Blick blieb verschleiert. »Ja, so in etwa.« »Dann stammen Sie also aus einer berühmten Familie.« Glinn behielt Puppups Augen fest im Blick. Als sie flackernd auswichen, wusste er, dass seine Bemerkung die gewünschte Wirkung gehabt hatte. Trotzdem musste er weiter äußerst behutsam und feinfühlig vorgehen. Bei einem Mann wie John Puppup bekam man nur einmal die Chance, ihn für sich zu gewinnen. »Ihre Frau muss schon vor langer Zeit gestorben sein.« Puppup gab keine Antwort. »An den Blattern?« Puppup schüttelte den Kopf. »Masern.« »Ah«, machte Glinn, »mein Großvater ist auch an den Masern gestorben.« Was tatsächlich der Wahrheit entsprach. Puppup nickte stumm. »Und das ist nicht das Einzige, was uns verbindet«, fuhr Glinn fort. Puppup sah ihn mit schiefem Blick an. »Mein Urururgroßvater war Captain Fitzroy.« Eine Lüge, die ihm glatt über die Lippen kam. Puppup wandte das Gesicht dem Meer zu, aber Glinn sah trotzdem, dass er irgendwie unsicher geworden war. Es sind immer die Augen, die einen Menschen verraten, dachte er. Es sei denn, er ist ein abgebrühter Lügner, was freilich langjährige Übung voraussetzt. »Es ist seltsam, wie die Wege von Familien sich mitunter kreuzen«, sagte Glinn bedächtig. »Ich habe einen Holzschnitt, der Ihre Urururgroßmutter als kleines Mädchen zeigt, er hängt bei mir zu Hause im Wohnzimmer.« Wenn er der ethnographischen Literatur trauen konnte, hatten familiäre Bindungen bei den Yaghan einen hohen Stellenwert. Puppups Schultern verkrampften sich ein wenig. »John, darf ich den Ring noch mal sehen?« Ohne Glinn anzuschauen, hielt ihm Puppup die Hand hin. Glinn ergriff sie und hielt sie sanft fest, so wie man eine Kinderhand festhält, wenn man sie wärmen will. Der Ring war ihm gleich bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen, im Hinterzimmer der Kneipe in Puerto Williams. Es hatte allerdings ein paar Tage gedauert, bis seine Leute in New York ihm sagen konnten, woher der Ring stammte und was für eine Bewandtnis es damit hatte. »Das Schicksal geht oft verschlungene Wege, John. Mein Urururgroßvater, Captain Fitzroy, hat Fuegia Basket, Ihre Urururgroßmutter, auf seiner HMS Beagle nach London entführt, um sie der Queen vorzustellen.« In jenen Tagen war es üblich gewesen, »Eingeborene« aus den entlegensten Winkeln der Welt an den britischen Hof zu bringen. Fuegia Basket hatte erst Jahre später nach Feuerland zurückkehren dürfen, von der Queen mit der Krone und dem Ring beschenkt. Sie reiste übrigens wieder mit der Beagle, gemeinsam mit einem Passagier namens Charles Darwin. »Und nun habe ich Sie entführt«, fügte Glinn lächelnd hinzu. »Ironie des Schicksals, nicht wahr? Aber mit dem Unterschied, dass ich Sie nicht nach England verschleppe. Sie werden in wenigen Tagen wieder zu Hause sein.« Puppup sah ihn immer noch nicht an. Dennoch glaubte Glinn zu spüren, dass die Tür zu Puppups Ich nicht mehr so fest verriegelt war. »Was wird aus diesem Ring werden?«, fragte Glinn. »Ich werd ihn mit ins Grab nehmen.« »Keine Kinder?« Eine scheinheilige Frage, Glinn wusste längst, dass Puppup der letzte Yaghan war. Puppup schüttelte den Kopf. Glinn hielt die Hand noch immer in der seinen. »Gar keine Nachkommen oder nahe Verwandte?« »Ein paar Mestizen. Aber ich bin der Einzige, der noch unsere Stammessprache spricht.« »Das muss Sie sehr traurig machen.« »Es gibt eine alte Yaghan-Legende, und je älter ich werde, desto fester glaube ich, dass sie auf mich gemünzt ist.« »Und was ist das für eine Legende?« »Wenn für den letzten Yaghan die Stunde des Todes gekommen ist, wird Hanuxa ihn zu sich unter die Erde holen, und aus seinen Knochen wird ein neues Geschlecht erwachsen.« Glinn ließ Puppups Hand los. »Und wie holt sich Hanuxa den letzten Yaghan?«

Puppup winkte ab. »Das ist doch sowieso nur dummer Aberglaube. Ich hab die Einzelheiten vergessen.« Glinn wusste, dass es keinen Zweck hatte, ihn zu bedrängen. Er würde wohl nie herausfinden, ob er wirklich näher an den alten Mann herangekommen war. »Etwas anderes noch, John«, sagte er. »Ich brauche Ihre Hilfe. Es geht um den Comandante. Dass er hier aufgetaucht ist, könnte unseren Auftrag gefährden. Wissen Sie was über ihn?« Puppup schüttelte noch eine Zigarette aus der Packung. »Comandante Emiliano Vallenar ist vor fünfundzwanzig Jahren in unsere Gegend gekommen, nach dem Pinochet-Putsch.« »Warum?« »Sein Vater war während eines Verhörs aus dem Hubschrauber gestürzt. Ein Allende-Mann. Sein Sohn auch. Darum wurde Vallenar hier unten stationiert, damit sie ihn vom Hals hatten.« Glinn nickte. Das erklärte vieles. Nicht nur, dass der Comandante beim Flottenkommando in Ungnade gefallen war, sondern auch seinen Hass auf die Amerikaner und vielleicht sogar, weshalb er sich schämte, Chilene zu sein. »Warum darf er trotzdem einen Zerstörer kommandieren?« »Er weiß gewisse Dinge über gewisse Leute, verstehen Sie? Und er ist ein guter Offizier. Widerspenstig, aber auch sehr vorsichtig.« Glinn nickte. »Verstehe. Wissen Sie noch mehr über ihn? Ist er verheiratet?« Puppup leckte das Ende der Zigarette ab und schob sie sich zwischen die Lippen. »Der Comandante ist ein Doppelmörder.« Glinn ließ sich seine Verblüffung nicht anmerken. »Er hatte seine Frau nach Puerto Williams geholt. Kein Ort, an dem Frauen sich wohl fühlen. Da ist nichts los, kein Tanz, keine Fiestas. Während des Falkland-Kriegs wurde der Comandante in den Estrecho de Magallanes geschickt. Er sollte dort die argentinische Flotte binden, den Engländern zuliebe. Bei seiner Rückkehr kam er dahinter, dass seine Frau einen Liebhaber hatte.« Puppup nahm einen tiefen Zug. »Der Comandante war schlau. Er wartete, bis er sie auf frischer Tat ertappte. Seiner Frau hat er die Kehle durchgeschnitten. Und dem Mann muss er, nach allem was ich gehört habe, noch Schlimmeres angetan haben. Er ist auf dem Weg ins Krankenhaus von Punta Arenas verblutet.« »Warum wurde er nicht ins Gefängnis gesteckt?« »Ach, wissen Sie, hier unten sagt man einem Rivalen nicht einfach, er soll abhauen. Die Chilenen haben einen alten Ehrenkodex.« So wie Puppup das darstellte, hörte es sich nach einer Selbstverständlichkeit an. »Wenn er sie nicht gleich im Schlafzimmer getötet hätte, wäre es vielleicht etwas anderes gewesen, aber so ...« Er zuckte die Achseln. »Jeder verstand, dass ein Mann, der seine Frau bei so was erwischt, genau das tut, was der Comandante getan hat. Und dass er sogar sein Kommando behalten hat, nun, dafür gibt’s einen anderen Grund. Er ist das, was man einen Mann für alle Fälle nennt.« Glinn blickte stumm auf den Zerstörer, der jenseits des Kanals reglos im Dunkel zu lauern schien. »Es gibt noch etwas, das ich Sie fragen muss«, sagte er schließlich, ohne den Blick von dem Kriegsschiff zu wenden. »Dieser Händler in Punta Arenas, dem Sie Masangkays Ausrüstung verkauft haben – würde der sich an Sie erinnern? Könnte er Sie identifizieren, falls es jemand verlangt?« Puppup dachte einen Augenblick nach, dann antwortete er: »Das weiß ich nicht. Es war ein großer Laden. Andererseits, es gibt nicht viele Yaghan-Indianer in Punta Arenas. Und die Nachfrage nach Sonderangeboten war in letzter Zeit groß.« Glinn nickte. »Danke, John. Sie haben mir sehr geholfen.« »Nicht der Rede wert, Chef«, sagte Puppup, und in seinen Augen funkelte wieder vergnügte Bauernschläue. Glinn zögerte kurz, dann gab er sich einen Ruck. Manchmal wirkte es Wunder, wenn man sich demonstrativ als ehrliche Haut verkaufte und zu einem Schwindel bekannte. Wenn man es richtig anging, konnte es sogar wider alle Vernunft ein Vertrauensverhältnis begründen. »Ich fürchte, ich war vorhin nicht ganz ehrlich zu Ihnen. Ich habe mich nur über Captain Fitzroy schlau gemacht, aber er war kein Vorfahre von mir.« Puppup kicherte boshaft. »Natürlich nicht. So wenig, wie Fuegia Basket meine Vorfahrin war.« Glinn sah ihn verdutzt an. »Wie sind Sie dann zu dem Ring gekommen?« »Ach, wenn so viele sterben wie bei uns Yaghan, bleibt eben eine Menge am letzten Erben hängen. Auf die Weise habe ich alles Mögliche bekommen, auch die Krone und den Ring.« »Und was ist aus den Sachen geworden?« »Das meiste hab ich verkauft und das Geld dann versoffen.« In genau dem Augenblick begriff Glinn, dass keines der vielen Rätsel, die der kleine alte Mann ihm aufgab, gelöst war. »Wenn das hier alles vorbei ist«, fügte Puppup hinzu, »müssen Sie mich wohl mitnehmen, egal, wohin Sie fahren. Heim kann ich jedenfalls nicht mehr.« »Warum nicht?«, fragte Glinn leichthin, obwohl er die Antwort nur zu gut kannte.

 

Rolvaag

23.20 Uhr

McFarlane ging den mit blauem Teppichboden ausgelegten Flur des unteren Brückendecks hinunter. Obwohl er todmüde war, konnte er nicht schlafen. Zu viel war an diesem Tag geschehen: die aufregenden Entdeckungen, die jeder physikalischen Lehre widersprachen, der Tod von Rochefort und Evans und schließlich das erneute Auftauchen des Zerstörers. Seit er die Hoffnung auf Schlaf endgültig aufgegeben hatte, war er ruhelos von Deck zu Deck gewandert. Schließlich hatten seine Füße – wie von selbst – den Weg hierher gefunden. Aber als er nun an der Tür zu Amiras Kabine stand, musste er sich überrascht eingestehen, dass er insgeheim ihre Nähe suchte. Vielleicht aus der Ahnung heraus, dass ihr zynisches Lachen genau das Aufputschmittel war, das er jetzt brauchte. In ihrer Gegenwart blieben ihm zumindest das laienhafte Geschwätz und die ermüdenden Erklärungen der anderen erspart. Wer weiß, vielleicht hatte sie ja Lust auf einen Kaffee im Kasino oder eine Runde Billard. Er klopfte. »Rachel?« Keine Antwort. Ob sie schlief? Bestimmt nicht. Sie hatte ihm schließlich selbst erzählt, dass sie in den letzten zehn Jahren nie vor drei Uhr nachts zu Bett gegangen sei. Er versuchte es noch einmal. Und war verblüfft, als sich die Tür wie von Geisterhand öffnete. Wahrscheinlich hatte sie sie nicht fest genug zugezogen. »Rachel? Ich bin’s, Sam.« Von Neugier getrieben, trat er zögernd ein. Er war noch nie in ihrer Kabine gewesen. Anstatt eines ungemachten Betts, mit dem er gerechnet hatte, verstreuter Zigarrenasche und nicht aufgeräumter Kleidungsstücke erwartete ihn eine geradezu mustergültige Ordnung. Einen Augenblick fragte er sich, ob sie die Kabine überhaupt bewohnte. Bis er die Erdnussschalen unter dem Computertisch entdeckte. Er konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Doch das verkümmerte rasch, als sein Blick zufällig auf den Bildschirm fiel und an seinem Namen hängen blieb. Im Drucker lagen zwei ausgedruckte Seiten. Er fischte die obere heraus und begann zu lesen.

EES VERTRAULICH

Von: R. Amira 

An: E. Glinn

Betrifft: S. McFarlane

Seit dem letzten Bericht haben der Meteorit und die durch die Testergebnisse aufgeworfenen Fragen den Beobachteten immer mehr in ihren Bann gezogen. Er hat weiterhin Vorbehalte gegenüber dem Projekt, ebenso gegenüber Lloyd selbst. Trotz dieser Ambivalenz scheinen die Probleme, vor die der Meteorit uns stellt, eine zunehmende Faszination auf ihn auszuüben. Es gibt kaum noch ein anderes Gesprächsthema zwischen uns, zumindest seit den Ereignissen des heutigen Vormittags. Ich bin nicht sicher, ob er mir rückhaltlos alles sagt, was ihn innerlich bewegt, muss aber bekennen, dass mich die Aufgabe, ihn auszuhorchen, zunehmend bedrückt. Kurz nachdem der Meteorit freigelegt worden war, habe ich ein Gespräch auf seine frühere Theorie über interstellare Meteoriten gelenkt. Er wollte sich anfänglich bedeckt halten, hat sich jedoch immer mehr in Eifer geredet und mir dargelegt, dass und warum die Theorie durch diesen Meteoriten und seine Beschaffenheit auf verblüffende Weise bestätigt wird. Er wollte jedoch, dass das unter uns bleibt, und hat mich ausdrücklich gebeten, anderen gegenüber nichts von seinen Vermutungen verlauten zu lassen. Wie Sie sicher bei der Diskussion heute Vormittag selbst bemerkt haben, sieht er sich in seiner Überzeugung, dass wir es mit einem Meteoriten interstellarer Herkunft zu tun haben, inzwischen weiter bestärkt.

Eine Tür schlug, McFarlane hörte tiefe Atemzüge, er drehte sich um. Amira war zurückgekommen, anscheinend vom Abendessen. Sie trug ein knielanges Kleid, hatte sich aber für den Rückweg vom Speisesaal den Parka über die Schultern gehängt. Sie stand mit dem Rücken zu ihm an der Tür, hatte ihn also noch nicht bemerkt. Dann wandte sie sich um. Ein paar Sekunden lang starrten sie sich nur stumm an. McFarlane fühlte sich wie betäubt. Es war, als hätten all die Schocks, die er heute durchlebt und durchlitten hatte, in ihm keinen Platz mehr für irgendwelche Emotionen gelassen. »Nun«, brachte er schließlich heraus, »ich scheine nicht der einzige Judas auf diesem Schiff zu sein.« Amira war kreidebleich geworden, hielt aber seinem Blick Stand. »Dringen Sie immer in fremde Räume ein und lesen die Privatpost anderer Leute?«, konterte sie. McFarlane lächelte kühl und legte den Ausdruck auf den Computertisch. »Tut mir Leid, aber dafür bekommen Sie ein Ungenügend. Es heißt Ambivalenz, nicht velenz. Ich fürchte, da wird Eli hinter Ihrem Namen heute kein Sternchen ins Personalbuch eintragen.« Er ging auf die Tür zu. »Lassen Sie mich bitte vorbei.« Amira senkte verunsichert die Augen, rührte sich aber nicht von der Stelle. »Moment.« »Machen Sie bitte den Weg frei.« Sie deutete mit dem Kopf auf den Drucker. »Nicht, bevor Sie den Rest gelesen haben.« Er funkelte sie zornig an, hob, offenbar entschlossen, sie grob beiseite zu schieben, die Hand, besann sich aber eines Besseren. »Danke, ich habe genug gelesen. Und nun machen Sie endlich Platz.« Amira versperrte ihm weiter den Weg. »Lesen Sie erst den Rest, dann können Sie gehen.«

Sie maßen sich lange stumm mit Blicken. Schließlich wandte er sich wortlos um und nahm das zweite Blatt aus dem Drucker.

Ich bin übrigens der gleichen Meinung wie er. Überzeugende, nicht zu widerlegende Indizien sprechen dafür, dass der Meteorit nicht aus unserem Sonnensystem stammt. Ich kann keine Anzeichen dafür erkennen, dass Sam McFarlane sich in eine fixe Idee verrannt hätte oder aus irgendeinem anderen Grund eine Gefahr für diese Expedition darstellen sollte. Im Gegenteil, der Meteorit hat den Wissenschaftler in ihm geweckt. Von den sarkastischen, auf Blockade und mitunter auf reine Geschäftsinteressen ausgerichteten Zügen, die anfangs zu beobachten waren, ist nichts mehr zu merken. Stattdessen sind seine Antriebsfedern nun wissenschaftliche Wissbegier und der tiefe Wunsch, mehr über dieses bizarre Meteorgestein herauszufinden. Und so wird dieser dritte Bericht mein letzter sein; ich kann guten Gewissens keine weiteren mehr schreiben. Für den Fall, dass sich ein Problem abzeichnet, so werde ich das – schon aus Loyalität gegenüber der Geschäftsführung der EES – selbstverständlich sofort melden. Fakt ist, dass dieser Meteorit fremdartiger ist, als jemand hätte vorhersehen können; er ist vielleicht sogar gefährlich. Fakt ist aber auch, dass ich McFarlane nicht beobachten und gleichzeitig mit ihm zusammenarbeiten kann. Sie haben mich gebeten, als seine Assistentin zu fungieren. Genau das und nichts anderes möchte ich von nun an sein – zu seinem, meinem und zum Besten unserer Mission.

McFarlane zog den Drehstuhl vor dem Computertisch ein Stück zurück und setzte sich. Ihm zitterten so die Hände, dass das Blatt Papier leise raschelte. Sein Zorn war verflogen, nur so etwas wie ein Aufruhr verwirrter Gefühle war geblieben.

Keiner von beiden sagte ein Wort. Aus der Ferne drangen das Rauschen der Brandung und das gedämpfte Dröhnen der Schiffsmaschinen heran. Schließlich hob McFarlane den Kopf und sah Amira fragend an. »Es war Elis Idee«, sagte sie. »Sie waren Lloyds Mann, nicht einer von uns. Und es gab ein paar Schwachstellen in Ihrer Vorgeschichte. Dazu kam die Sache mit dem Sandwich, bei der ersten gemeinsamen Besprechung, Sie wissen schon ... das roch ein bisschen nach Unberechenbarkeit. Und Leute, die er nicht berechnen kann, machen Eli nervös. Deshalb wollte er, dass ich Sie beobachte und regelmäßig Berichte über Sie schreibe.« McFarlane sah sie stumm an. »Mir hat die Idee nicht gefallen. Obwohl, anfangs hat mich am meisten gestört, dass ich Ihre Assistentin spielen sollte. Die Berichte – mein Gott, ich habe gedacht, das ist eben eine lästige Pflicht. Nur, da hatte ich noch keine Ahnung, wie sehr mir das tatsächlich zur Qual würde. Ich kam mir jedes Mal beschissen vor, wenn ich so einen Bericht tippen musste.« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Aber während der letzten Tage ... ich weiß nicht, wie ich’s erklären soll. Und als ich heute den letzten Bericht getippt habe, da wurde mir plötzlich klar, dass ich das nicht mehr über mich bringe. Nicht mal ihm zuliebe.« Sie starrte auf den Teppichboden. Obwohl sie sich Mühe gab, es zu verbergen, sah er, dass ihr die Lippen zitterten. Und er sah auch die eine Träne, die sich Zickzack einen Weg über ihre Wange bahnte. McFarlane stand auf, ging zu ihr und wischte die Träne weg. Sie schlang die Arme um ihn, zog ihn fest an sich, barg das Gesicht an seinem Hals und flüsterte mit tonloser Stimme: »Ach Sam, es tut mir so Leid.« »Ist schon gut.« Als ihr die zweite Träne über die Wange lief und McFarlane sich nach vorn neigte, um sie wegzuwischen, drehte sie ihm mit einer raschen Kopfbewegung ihr Gesicht zu, so dass ihre Lippen sich trafen.

Er hörte sie stöhnen und merkte, wie sie ihn noch fester an sich zog und die Arme um seinen Nacken geschlungen, langsam rückwärts auf das Sofa drängte. Er spürte den Druck ihrer Brüste und den ihrer Beine an seinen Hüften. Einen Augenblick war er unschlüssig, ob er nicht doch lieber ... Aber es war ohnehin zu spät. Weil es nicht nur ihre Hände gab, die zärtlich seinen Nacken kraulten, und nicht nur ihre Schenkel, die sich um ihn schlossen, sondern inzwischen auch sein wildes Begehren – eine Flutwelle, gegen die er nicht ankonnte und wollte. Er schob die Hände unter ihr Kleid, zog sie an sich und ließ seine Finger über die Innenseite ihrer Schenkel gleiten. »Ach, Sam«, hörte er sie wieder seufzen, und dann küsste sie ihn wild.

 

Isla Desolación

19. Juli, 11.30 Uhr

McFarlane blickte auf die schwarzen Lavasäulen, die wie gewaltige Fangzähne vor ihm aufragten. Aus geologischer Sicht handelte es sich dabei um die Überbleibsel eines klassischen vulkanischen Doppelschlotes, von dem nur noch die beiden Basaltkamine Zeugnis ablegten, die Lavahänge hatten Wind und Wetter in Jahrhunderten abgetragen. Er warf einen Blick nach hinten. Tief unter ihnen und etliche Kilometer entfernt befand sich die Aufschlagstelle – eine flache, schneebedeckte, mit dunklen Flecken gesprenkelte Mulde. Die breiten, für Schwertransporte gebauten Straßen sahen von hier wie Bindfäden aus. Garza leitete die Aufräumarbeiten, unterstützt von Stonecipher, dem zweiten Ingenieur, der auch seinem verklemmten Wesen nach Rocheforts würdiger Nachfolger war. Rachel schloss zu ihm auf, ihr Atem stand weiß in der eiskalten Luft. Sie blickte stirnrunzelnd auf die beiden Gipfel. »Wie hoch müssen wir noch klettern?« »Ich will bis zu dem schwarzen Streifen auf halber Höhe. Das Material stammt wahrscheinlich von der letzten Eruption, es kann uns also Aufschluss geben, wann zum letzten Mal Lava ausgetreten ist.« Ruhelos suchte er den Hang nach einer geeigneten Route, möglichen Hindernissen, Steilstrecken und Geröll ab. Schließlich stapften sie weiter, langsam und stetig, wie geübte Wanderer und traten mit ihren Schneeschuhen eine tiefe Spur in das frisch gefallene Weiß. Als sie sich dem unteren Rand der beiden Kamine näherten, blieb McFarlane bei einem Stein stehen, der ihm irgendwie sonderbar vorkam. Er schlug mit dem Gesteinshammer zwei kleine Stücke los, legte sie in seinen Probenbeutel und machte sich eine Notiz über den Fundort. »Steinchen sammeln!«, lästerte Amira. »Ihr Männer seid doch alle große Kinder.« »Deshalb bin ich ja Geologe geworden. Was hast du denn als Kind gesammelt? Barbie-Puppen?« Rachel schnaubte verächtlich. »Ich? Mein Lieber, ich hatte eine irre Sammlung: Vogelnester, Schlangenhäute, Skorpione, verdorrte Taranteln, Knochen, einen toten Uhu und alles, was mehr als zwei Beine hatte und tot auf der Straße herumlag.« »Verdorrte Taranteln?« »Ja. Ich bin in Portal in Arizona aufgewachsen, am Fuß der Chiricahua Mountains. Im Herbst sind dort die männlichen Taranteln zur Paarung auf die Straßen gekrochen, und da hat sie’s dann erwischt. Ich hatte ungefähr dreißig davon, alle auf ein Brett genagelt. Eines Tages hat unsere verdammte Hündin sie alle aufgefressen.« »Und? Ist sie daran gestorben?« »Leider nicht. Sie hat sie mitten in der Nacht wieder ausgekotzt, mitten aufs Bett meiner Mutter. Das war sehr lustig.« Sie kicherte, als sie sich daran erinnerte. McFarlane blieb stehen. Der Anstieg wurde steiler, der Schnee war durch den ständigen Wind stark verharscht. »Komm, wir schnallen die Schneeschuhe ab.« Ihm war trotz der Minustemperaturen heiß geworden, und so öffnete er den Reißverschluss seines Parkas. »Ich schlage vor, wir halten auf den Sattel zwischen den beiden Kaminen zu.« Er befestigte Steigeisen an seinen Stiefeln. Und als sie weitergingen, fragte er: »Was lag denn da alles tot auf der Straße herum?« »Hauptsächlich herpetologisches Viehzeug, Kriechtiere und Amphibien.« »Und was hat dich an denen gereizt?« Rachel schmunzelte. »Dass sie schön trocken, platt und leicht aufzubewahren waren. Ich hatte ein paar ganz ausgefallene Exemplare.«

»Da war deine Mutter sicher hellauf begeistert.« »Sie hat nichts davon gewusst.« Sie gingen schweigend weiter. Als sie nach ein paar Minuten den Sattel erreichten, legte McFarlane wieder eine Pause ein. »Drei Wochen auf dem verdammten Schiff haben mir die ganze Kondition versaut«, japste er. »Davon war heute Nacht nichts zu merken«, meinte Rachel grinsend. Dann lief sie plötzlich rot an und sah weg. Er sagte nichts. Rachel war ihm immer eine gute Partnerin gewesen, er hatte trotz ihres anfänglichen Doppelspiels das Gefühl, ihr bedingungslos vertrauen zu können. Die Sache von heute Nacht machte die Dinge allerdings komplizierter. Und Komplikationen konnte er jetzt am wenigsten brauchen. Sie ruhten sich ein paar Minuten aus, die Feldflasche mit Wasser wanderte zwischen ihnen hin und her. Weit hinten am westlichen Horizont zog eine dunkle Wolkenbank auf, der Vorbote eines nahenden Sturms. »Du kommst mir irgendwie anders vor als die Übrigen in eurem Team«, sagte McFarlane. »Warum nur?« »Weil ich anders bin. Und das ist kein Zufall. Bei der EES sind alle extrem vorsichtig, einschließlich Glinn. Also brauchte er jemanden, der keine Risiken scheut. Und für den Fall, dass es dir entgangen sein sollte: Ich bin auf meinem Fachgebiet ein Ass.« »Ich hab’s bemerkt«, sagte McFarlane, schnallte sich den Rucksack um und maß den Steilhang vor ihnen mit kritischem Blick. »Sieht ein bisschen tückisch aus. Am besten, ich gehe voraus und ...« Aber Rachel kletterte schon auf das Schneefeld zu, das sich bis zum Fuß der beiden Kamine erstreckte und nicht nur immer steiler, sondern auch, wie an der bläulichen Färbung abzulesen war, immer vereister wurde. »Gehen wir es langsam an!«, rief er ihr nach. Er wandte sich um. Die Sicht über die zerklüfteten Inseln war von hier oben atemberaubend. Sogar die Berge von Feuerland konnte er in der Ferne ausmachen. Die Rolvaag nahm sich im schwarzen Wasser der Bucht wie ein Spielzeugschiff aus. Von dem Zerstörer war nur der Bug zu erkennen, den Rest verdeckten die Felsklippen irgendeiner kleineren Insel. Die dunkle Sturmfront zog immer schneller auf sie zu, sie bedeckte nun schon einen Großteil des kristallklaren Himmels. Als er nach vorn schaute, erschrak er, wie weit Rachel schon gekommen war. »He!«, rief er, »warum rennst du denn so?« »Sag mir lieber, warum du so trödelst?« Und dann passierte es – ein Stein rollte den Hang herunter ... und Sekunden später der nächste, der McFarlane nur um Haaresbreite verfehlte. Und gleich darauf rutschte mit lautem Getöse ein Teil des Steilhangs hinter Rachel weg. Auf einmal gähnte im Schnee ein schmutziges Loch. Rachel lag bäuchlings auf dem Boden und versuchte strampelnd, irgendwo Halt zu finden und sich mit den Beinen abzustemmen. »Bleib ganz ruhig liegen!«, brüllte McFarlane und kletterte, so schnell er konnte, hinter ihr her. Ein, zwei Minuten später hatte er den breiten Felssims direkt unter ihr erreicht. Er stemmte sich hoch, langte über die Kante, tastete blind nach Rachel und erwischte ihren Unterarm. »Ich hab dich«, keuchte er, »lass dich fallen.« »Ich kann nicht!« Er spürte, wie sie sich vor Angst verkrampfte. »Alles in Ordnung«, redete er ihr beruhigend zu, »ich hab dich ja.« Mit einem Seufzer ließ sie sich nach unten rutschen. Er fing sie auf, drehte sich, als er ihr Gewicht spürte, um die eigene Achse und bugsierte sie so nach unten, dass ihre Füße festen Halt fanden. Sie landete hart auf dem Fels und brach zitternd auf die Knie. »Du meine Güte«, sagte sie mit brüchiger Stimme, »ich wäre beinahe abgerutscht.« »Ja, aber nicht sehr weit. Anderthalb Meter, schätze ich, bis zu der Schneewehe da drüben.« »Wirklich?« Sie sah nach unten und schnitt eine Grimasse. »Und ich dachte, der ganze Hang rutscht ab. O Mann, da hab ich dich für meinen Lebensretter gehalten, und nun stellt sich heraus ... Na ja, trotzdem vielen Dank.« Sie reckte sich und gab ihm rasch einen Kuss auf den Mund, fast nur hingehaucht. Dann überlegte sie sich’s anders, küsste ihn noch einmal, diesmal mit mehr Hingabe. Als sie spürte, dass er den Kuss nicht erwiderte, löste sie sich von ihm. Mit ihren großen dunklen Augen sah sie ihn prüfend an. Er erwiderte ihren Blick stumm, während ein paar hundert Meter unter ihnen sich die ganze Welt erstreckte. »Traust du mir immer noch nicht, Sam?«, fragte sie leise. »Doch, ich vertraue dir.« Sie schmiegte sich an ihn, die Augenbrauen irritiert zusammengezogen. »Was ist es dann? Gibt es eine andere? Die charmante Lady mit dem Kapitänspatent vielleicht? Sogar Eli...« Sie brach abrupt ab und senkte verlegen die Augen. Mc-Farlane fielen viele Antworten ein, aber die meisten hätten sich belehrend angehört, ein paar sogar frivol. Und so beließ er es bei einem einfältigen Grinsen, schulterte den Rucksack und sagte: »Ich glaube, ich habe da drüben interessantes Gestein entdeckt...« Rachel starrte zu Boden und murmelte: »Geh die Proben holen. Ich warte hier.« Er zögerte einen Augenblick, dann kletterte er los. Es war eine Sache von Minuten, bis er den etwas dunkler gefärbten Basaltwulst erreicht und ein paar Proben abgeschlagen hatte. Als er zurückkam, wartete Rachel schon abmarschbereit auf ihn. Ohne ein Wort setzten sie die Klettertour zum Sattel zwischen den beiden Kaminen fort. Schließlich hielt McFarlane das Schweigen nicht mehr aus. Sie mussten weiter eng zusammenarbeiten, und das ging nur, wenn sie sich aussprachen Er fasste sie am Ellbogen. »Rachel, das heute Nacht war wunderschön. Aber belassen wir’s dabei. Jedenfalls fürs Erste.« Sie sah ihn scharf an. »Was heißt das?« »Das heißt, wir haben einen Job zu erledigen. Gemeinsam. Und das ist auch so schon kompliziert genug. Darum sollten wir uns lieber ein wenig zurückhalten. Okay?« Sie zuckte fast unmerklich zusammen. Dann nickte sie. »Okay.« Sie brachte sogar ein kleines Lächeln zu Stande, aber das sollte nur ihre Enttäuschung verbergen. Und ihren Schmerz. McFarlane nahm sie in die Arme. Wegen des dicken Parkas, den sie trug, meinte er, ein Michelin-Männchen zu umschlingen. Dann legte er ihr den in einen gefütterten Handschuh verpackten Zeigefinger unters Kinn und hob ihren Kopf. »Ist es wirklich okay?« Sie nickte tapfer. »Es ist nicht das erste Mal, ich kenne das schon. Wird mit jedem Mal leichter.« »Was soll das heißen?« Sie zuckte die Achseln. »Nichts weiter. Ich vermute, ich bin in solchen Dingen nicht besonders gut, das ist alles.« Sie hielten sich fest in den Armen, vom eiskalten Wind gezaust. Und dann gab sich McFarlane einen Ruck und stellte ihr die Frage, die ihm seit der Nacht in ihrer Kabine nicht mehr aus dem Kopf gegangen war. »War mal was zwischen dir und Glinn?« Sie löste sich aus seinen Armen, in ihrem Blick lag plötzlich vorsichtige Wachsamkeit. Dann seufzte sie, die Spannung fiel von ihr ab. »Ach, zum Teufel, warum soll ich’s dir nicht erzählen? Ja, es stimmt, Eli und ich hatten mal was miteinander. Es ist schon ziemlich lange her. Und es war nur eine kleine Affäre. Aber trotzdem ganz nett, denke ich.« Das Lächeln, das um ihre Lippen spielte, war schnell wieder erloschen. Sie wandte sich um, setzte sich, die Beine lang ausgestreckt, in den Schnee und ließ die Augen auf der weißen Landschaft tief unter sich ruhen. McFarlane setzte sich neben sie. »Was ist passiert?« Sie sah ihn schief an. »Muss ich dir das wirklich erst sagen? Eli hat mit mir Schluss gemacht.« Sie lächelte kalt. »Und weißt du was? Es hatte toll zwischen uns geklappt. Es gab keine Probleme. Ich war in meinem Leben nie glücklicher gewesen.« Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: »Ich glaube, das war’s, was ihm Angst gemacht hat. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass es immer so weitergeht. Darum hat er auf einmal Schluss gemacht, aus heiterem Himmel, einfach so. Denn wenn alles großartig läuft, kann’s bekanntlich nicht mehr besser werden. Und das wäre dann ja so was wie Versagen gewesen, nicht wahr? Und ein Mann wie Eli Glinn darf eben nicht versagen.« Ihr Lachen klang eine Spur zu schrill. »Aber in eurem Denken seid ihr euch in gewisser Weise ähnlich«, sagte McFarlane. »Zum Beispiel gestern, in der Bibliothek. Ich dachte, du würdest ihm widersprechen. Als es um Rocheforts und Evans’ Tod ging, meine ich. Hast du aber nicht. Heißt das, dass du ihren Tod ganz in Ordnung findest?« »Bitte, Sam! Wenn jemand umkommt, ist das nie in Ordnung. Aber so lange ich bei der EES arbeite, hat es bei fast jedem Projekt Tote gegeben. Das liegt bei unserem Job in der Natur der Sache.« Sie saßen noch eine Weile stumm nebeneinander, jeder wich dem Blick des anderen aus. Dann stemmte Rachel sich hoch, klopfte sich den Schnee von der Kleidung und sagte in einem Ton, der keine Gemütsregung verriet: »Komm. Wer zuletzt unten ankommt, muss die Teströhrchen reinigen.«

 

AImirante Ramirez

14.45 Uhr