»Einfach so. Ihre Theorie mit dem Boston Strangler? Auch wenn es mir das Herz bricht: Vergessen Sie’s! Rufen Sie besser den Gouverneur an. Rufen Sie Scotland Yard an. Beraumen Sie lieber eine Pressekonferenz an. Denn Ihr internationaler Fall war bereits überall in den Nachrichten. Und England hat mit der ganzen Sache nichts zu tun, außer dass das Königreich eine nette junge Frau an ein paar Drecksäcke von der Mafia verlor, die zufällig ihre Nachbarn waren, als sie ein Jahr in den Staaten verbrachte. Blind wäre sie besser dran gewesen.«

»Und das entdeckte damals niemand? Dass sie nicht blind war?«, fragt Lamont.

»Manche vermuteten es. Vielleicht fragte keiner nach, oder es war den Leuten egal, oder sie hielten es für unwichtig. Und dann natürlich noch der Vertuschungsfaktor. Allem Anschein nach arbeitete die Polizei mit der Mafia zusammen.«

»Wenn sie nicht blind war, warum sollte sie dann mit denen arbeiten wollen?«, fragt Lamont.

»Mit den Blinden, meinen Sie?«

»Warum? Wenn sie doch nicht blind war.«

»Janie Brolin hatte eine Krankheit, unter der sie jeden Tag litt. Die ihr Leben veränderte. Es in vielerlei Hinsicht auch einschränkte. Aber Janie wurde hartnäckiger, mutiger. Wunder, Hand des Midas und so weiter. Doch nichts half. Warum sollten ihr die Schmerzen und das Leid anderer egal sein?«

»Es lohnt sich nicht. So viel steht fest«, sagt Lamont. »Trotzdem eine große Story. Kommt ganz drauf an, wie man sie rüberbringt. Verstecken wir uns nicht! Aber es ist besser, wenn das nicht durch eine Pressemitteilung oder bei einer Pressekonferenz verbreitet wird, das glauben die Leute nämlich ohnehin nicht. Insbesondere heutzutage.« Grinsend verkündet Lamont ihren nächsten verrückten Einfall. »Ein College-Reporter.«

»Das ist nicht Ihr Ernst!«

»Perfekt. Vollkommen seriös«, sagt sie, steht auf, greift zu ihrer Tasche. »Nicht von mir, sondern von Ihnen. Setzen Sie sich mit Cal Tradd in Verbindung!«

»Sie wollen so eine Geschichte im dämlichen Crimson veröffentlichen? In einer Studentenzeitung?«

»Er hat in der Sache ermittelt, mit Ihnen, mit uns gearbeitet, eine tolle Story. Es wird die Geschichte über eine Story. So was gefällt den Leuten, dieses Jeder kann Journalist sein, jeder ist der Star in seinem eigenen Film. Reality TV, YouTube. Ein Mensch wie du und ich löst den Fall. Ja, genau! Die übrigen Medien werden sich natürlich dranhängen, es ist in aller Munde, und alle sind glücklich!«

Win verlässt das Büro nach ihr, nimmt sein iPhone, denkt an den Zettel in seiner Brieftasche. Holt ihn raus, faltet ihn auseinander, gibt Cals Handynummer ein. Als die Fahrstuhltüren sich schließen und der Aufzug Lamont nach unten zu ihrem Auto bringt, fällt Win etwas auf. Er hält den weißen Zettel gegen das Licht, neigt ihn in verschiedene Richtungen, sieht schwach eingedrückte Buchstaben, einen leichten Schatten unter der Telefonnummer, die Cal mit seiner säuberlichen Schrift notiert hat.

Ein D, ein CH und offenbar ein T, gefolgt von einem Ausrufezeichen. Win läuft zurück in sein Büro, nimmt sich einen Bogen Papier und einen Bleistift, denkt an das Gespräch mit Stump im mobilen Labor, an die Untersuchung des Zettels, der beim jüngsten Banküberfall sichergestellt wurde. Ein Zettel, identisch mit drei anderen bei drei früheren Bankrauben. Ordentlich mit Bleistift auf ein zehn mal fünfzehn Zentimeter großes weißes Blatt Papier geschrieben. Win nimmt ein Lineal, zeichnet ein Rechteck von zehn mal fünfzehn Zentimetern - die Größe des Zettels von Cal. Win macht weiter, verbindet die eingedrückten Buchstaben mit denen, die auf dem Bankräuberzettel standen, den Stump ihm zeigte.

GELD IN TASCHE PACKEN. SOFORT! ICH HABE EINE PISTOLE.

Das Bild von der Überwachungskamera. Der Bankräuber hatte ungefähr Cals Größe, wirkte aber schwerer. Kein Problem. Man muss nur mehrere Lagen Kleidung unter einem weiten Trainingsanzug tragen. Dunklere Haut. Dunkleres Haar. Dafür gibt es Millionen Möglichkeiten. Unter anderem Mascara - ältester Trick, den es gibt, und innerhalb von Minuten abgewaschen. Eine kurze Suche im National Crime Information Center NCIC. Cal Tradd. Sein Geburtsdatum, keine Vorstrafe, was erklärt, warum keine Fingerabdrücke oder DANN registriert sind. Nicht dass er je welche hinterlassen hätte, höchstens vielleicht einen Kupferabdruck auf der Verpackung einer Einwegkamera, der mit Luminol reagierte, so als sei er aus Blut.

Banküberfälle und Kupferdiebstahl überall in der Gegend. Nur nicht in Cambridge, wo Cal studiert. Und nicht in Boston, woher er stammt, überlegt Win.

Er versucht es bei Lamont, doch schon beim ersten Klingeln springt ihre Mailbox an. Entweder telefoniert sie, oder sie hat ihr Handy ausgeschaltet. Win versucht es bei Stump. Dito. Er hinterlässt keinen von beiden eine Nachricht, sondern stürmt aus dem Gericht, reißt seine Motorradkombi aus dem Hardcase und rast davon. Ein leichter Regen schlägt gegen sein Visier und verwandelt die Straße nach Cambridge in eine Rutschbahn.

 

10. Kapitel

 

Lamonts Wagen steht in der Auffahrt der viktorianischen Ruine an der Brattie Street. Kein einziges Licht brennt, niemand ist zu sehen.

Win legt die Hand auf die Motorhaube ihres Mercedes. Sie ist warm, und er hört das leise Klicken, das ein Motor kurz nach dem Abstellen meistens von sich gibt. Win geht zur Seitenfront des Hauses, wartet, lauscht. Nichts. Minuten vergehen. Alle Fenster sind dunkel, ganz anders als letztes Mal, als er die Kerze aus dem Zimmer mit der Matratze mitnahm. Hier tut sich irgendetwas, das merkt er, als er durch das Fenster schaut, das er an jenem Abend zerbrach. Die Alarmanlage ist tot, nicht einmal das grüne Licht brennt. Win läuft herum, sucht nach durchtrennten Stromleitungen, nach irgendeinem Hinweis, warum es keinen Strom gibt. Aber nichts. Er kehrt zur Hintertür zurück.

Sie ist nicht verschlossen, er stößt sie auf und hört Schritte auf dem Holzboden. Lichtschalter klackern, es bleibt dunkel. Jemand geht von einem Raum in den nächsten. Wieder das Geräusch der Lichtschalter. Win schließt laut die Tür hinter sich, damit die Person - er glaubt, es ist Lamont - weiß, dass jemand hereingekommen ist.

Schritte nähern sich, und Lamont ruft: »Cal?«

Win geht auf ihre Stimme zu.

»Cal?«, ruft sie erneut. »Hier gibt’s kein Licht! Was ist mit dem Licht? Wo bist du?«

Im Zimmer hinter der Küche, vielleicht war es mal ein Esszimmer, wird mehrmals der Schalter betätigt. Win knipst seine Taschenlampe an und leuchtet damit zur Seite, um Lamont nicht zu blenden.

»Ich bin nicht Cal«, sagt er. Er richtet das Licht auf die Wand und beleuchtet so den Raum.

Sie stehen vielleicht zwei Meter voneinander entfernt in einem leeren, höhlenartigen Zimmer mit einem alten Holzboden und Stuckverzierungen unter der Decke.

»Was wollen Sie denn hier?«, ruft Lamont.

Win macht das Licht aus. Völlige Dunkelheit.

»Was soll das?« Sie klingt ängstlich.

»Pssst!«, mahnt er, geht auf Lamont zu, tastet nach ihrem Arm. »Wo ist er?«

»Lassen Sie mich los!«

Win führt sie zur Wand, flüstert ihr zu, sie solle dort stehen bleiben. Sich nicht bewegen. Keinen Laut von sich geben. Dann stellt Win sich in die Tür, keine drei Meter von ihr entfernt, doch es kommt ihm meilenweit vor. Er wartet auf Cal. Lange, angespannte Minuten, dann ein Geräusch. Die Hintertür wird geöffnet. Der Strahl einer Taschenlampe fällt in den Raum, bevor die Person selbst kommt, dann stürzt Win sich auf sie, es gibt ein Durcheinander, einen Kampf, Schritte aus allen Richtungen, dann schreit Stump auf, und plötzlich ist Stille.

»Ist alles in Ordnung?«

»Win?«

»Win?«

Er schlägt die Augen auf, und im ganzen Haus brennt Licht. Raggedy Ann steht über ihm. Diesmal mit Poloshirt, Cargohose, Pistole an der Hüfte. Stump, Lamont und ein großer Mann im Anzug mit dichtem grauem Haar.

»Das hier ist mein Haus, verdammt noch mal! Ich habe jedes Recht, hier zu sein«, sagt Lamont.

Wins Kopf tut höllisch weh. Er fühlt eine große Beule, hat Blut an der Hand.

»Ein Krankenwagen ist unterwegs«, sagt Stump und hockt sich neben ihn.

Er setzt sich auf, kurz wird ihm schwarz vor Augen. »Hast du mich geschlagen, oder bei wem darf ich mich bedanken?«

»Eher bei mir«, sagt Raggedy Ann.

Sie stellt sich als Special Agent McClure vom FBI vor. Der große Mann im Anzug ist Jeremy Killien von New Scotland Yard. Da Win nun das gesamte Ensemble kennt, schlägt er vor, eine Fahndung nach Cal Tradd herauszugeben. Der höchstwahrscheinlich ein Bankräuber und Kupferdieb sei und die Staatsanwältin hergelockt habe, um sie zu erpressen, zu bedrohen, zu bestechen. Monique und Win hätten das alles eingefädelt. Es sei Teil einer verdeckten Ermittlung, die gerade aufgeflogen sei. Lamont verfolgt, wie Win eine Geschichte erfindet. Nicht das geringste Glitzern von Dankbarkeit in ihren Augen, weil er ihr den Arsch rettet.

»Was für eine verdeckte Ermittlung?«, fragt McClure verdutzt.

Win reibt sich den Kopf und sagt: »Monique und ich sind schon länger an diesem Burschen dran. Die Art und Weise, wie er mich verfolgt, dann anfing, Monique zu verfolgen, ganz zu schweigen von seiner Besessenheit, gerade über die Verbrechen zu schreiben, bei denen wir ihn der Täterschaft verdächtigen. Typisches Verhalten eines Gestörten. Ein siebzehnjähriges Wunderkind - eigentlich noch sechzehn, hat erst nächsten Monat Geburtstag -, sein ganzes Leben lang behütet und beschützt, bis der Junge endlich das Elternhaus verlässt und zum College geht, wesentlich jünger als der Durchschnitt dort.«

Lamonts Gesicht zeigt keinerlei Regung. Aber Win ist überzeugt, dass sie nicht Bescheid wusste. Selbst sie würde nicht so tief sinken und mit einem Minderjährigen schlafen, falls es das gewesen ist, was die beiden taten, wenn sie sich in ebendiesem Haus trafen. Wahrscheinlich verwüstete Cal es und schaffte sämtliches Kupfer beiseite. Anschließend machte er Fotos. Als Souvenir, wie er es bei so vielen anderen Anlässen getan hat. Verbrechen aus Nervenkitzel. Nicht weil er das Geld brauchte. Der Superdieb. Berichtet über seine eigenen Kupferdiebstähle und Banküberfälle, freundet sich sogar mit den Personen an, die in seinem Fall ermitteln. Was für ein Wunderkind!

»Das ist absolut peinlich«, sagt Killien angewidert.

»Wessen tolle Idee war es eigentlich, den Strom abschalten zu lassen?« Win sieht McClure an. »Ah. Ihre natürlich. Das F-Big-I. Und dann?« Er reibt sich den Kopf. »Rufen Sie beim Stromversorger an und lassen ihn einfach wieder anstellen? Ganz schön cool, solche Leitungen nutzen zu können. War nicht als Witz gemeint.« An Stump gewandt: »Ich brauche keinen Krankenwagen.« Wieder betastet er die Beule an seinem Kopf. »Ehrlich gesagt komme ich mir jetzt schlauer vor. Stimmt doch, dass manche Leute hinterher einen höheren IQ haben, wenn sie einen Schlag mit der Taschenlampe auf den Kopf bekommen, oder?«

»Was für eine verdeckte Ermittlung?« Stump findet das nicht komisch.

Niemand findet es komisch. Alle blicken Win mit unbewegter Miene an.

»Du hast mir gegenüber nie von einer verdeckten Ermittlung gesprochen«, sagt Stump.

»Na, du warst mir gegenüber ja auch nicht besonders ehrlich. Zumindest nicht, was Special Agent Raggedy Ann angeht.«

»McClure«, sagt die Frau vom FBI.

»Ein Fingerabdruck auf einer Limonadendose«, sagt Win zu Stump. »Ein Abdruck auf einem Zettel, der zu Hause für mich abgegeben wurde. Keine Treffer im AFIS, was bedeutet, dass die betreffende Person mit Sicherheit nicht im Knast gesessen hat, weil sie ihren Zuhälter erstach. Dass sie mit Sicherheit nie verhaftet wurde. Und da ich jetzt weiß, dass sie fürs FBI arbeitet, irgendeine Undercoversache, wundert es mich nicht, dass ihre Abdrücke auch nicht aus Vergleichsgründen in der Datenbank sind.«

»Ich konnte es dir nicht sagen«, verteidigt sich Stump.

»Versteh schon«, sagt Win. »Natürlich konntest du mir nicht sagen, dass diese Raggedy Ann in Wirklichkeit ein Spitzel ist, der in Wirklichkeit eine FBI-Agentin ist, die mich bespitzelt, weil sie in Wirklichkeit Lamont bespitzelt.«

»Ich glaube, Sie legen sich besser wieder hin«, sagt Killien zu Win.

Stump erklärt weiter: »Als du ihr unbedingt auf den Fersen bleiben wolltest, Win, musste ich mir die Sache im Filippello Park ausdenken, sie musste den Zettel schreiben und den ganzen Rest. Dadurch sah es so aus, als hätte ich keine andere Wahl, als dir zu gestehen, dass sie ein Spitzel ist. Nur so konnte ich sicherstellen, dass du nicht weiter nachforschst und irgendwann herausbekommst, dass sie fürs FBI arbeitet. Du weißt doch, wie das läuft. Wir enttarnen unsere Informanten nicht, und wenn ich dir das einfach so verraten hätte, wärst du misstrauisch geworden. Deshalb musste ich mir etwas Größeres ausdenken. Es sollte so aussehen, als hätte ich keine andere Wahl, als ihre Identität preiszugeben und dir zu befehlen, sie bloß in Ruhe zu lassen.«

Die beiden sehen sich länger in die Augen.

»Es tut mir leid«, sagt Stump.

»Und weshalb diese Party hier?«, fragt Win in den Raum. »Warum sind wir alle hier? Denn um Janie Brolin geht’s hier bestimmt nicht. Und auch nicht um Cal Tradd.«

»Die einfachste Antwort ist wohl, dass wir wegen Ihrer Staatsanwältin hier sind«, sagt Killien zu Lamont. »Rumänische Waisenkinder. Gewaltige Geldsummen. Was Sie auffällig machte und die Aufmerksamkeit des FBI und des Heimatschutzes erregte. Und letztlich leider auch die von Scotland Yard.«

»Eigentlich sollte ich jedem Einzelnen von Ihnen ein Gerichtsverfahren anhängen«, sagt Lamont.

McClure erwidert: »Ihre elektronische Kommunikation mit …«

»Mit Cal Tradd.« Lamont übernimmt die Rolle, die niemand besser spielt als sie. Ganz die Staatsanwältin. »Ermittler Garano hat doch wohl klargemacht, womit wir uns beschäftigen, seit diese Banküberfälle und Kupferdiebstähle hier in Middlesex County begonnen haben. Zu unserer verdeckten Ermittlung gehört auch die Kommunikation mit Cal Tradd, der, vorsichtig ausgedrückt, von Interesse für uns war.«

»Wussten Sie, dass sie Mailverkehr mit Cal Tradd hatte?«, fragt Stump die FBI-Agentin McClure.

»Nein. Wir wussten nicht, mit wem sie sich per Mail austauschte. Die IP-Adresse war von Harvard. Ein Maschinencode hilft einem erst, wenn man die Maschine hat, mit der man ihn vergleichen kann …«

»Ich weiß, wie das geht.« Dieser Blick von Stump!

Wahrscheinlich mochte sie McClure lieber, als sie noch Raggedy Ann war.

»Die letzte E-Mail, in der stand, Sie wollten diese Person treffen …«, setzt McClure an.

»Cal Tradd«, sagt Lamont. »Ihn um zehn an der gleichen Stelle treffen. Nämlich hier.«

»Er ist nicht gekommen«, bemerkt Killien.

»Hat wahrscheinlich gesehen, wie die Polizei in der Ferne aufzog, und sich verdrückt«, wirft Win ein. »Der Junge hat viel Erfahrung im Auf-der-Lauer-Liegen. Hat ein Radar für Cops. Ihr seid hier also aufgetaucht und habt alles kaputt gemacht, was Monique und ich in den letzten Monaten aufgebaut haben. Das ist das Problem, wenn man elektronische Kommunikation überwacht, nicht wahr? Besonders wenn man undercover ist und jemand anders überwacht, der ebenfalls undercover ist. Eine verdeckte Ermittlung untersucht etwas, das sich ebenfalls als verdeckte Ermittlung entpuppt, und am Schluss ist alles aufgedeckt, aber nichts ermittelt.«

 

Zwei Tage später, abends im Harvard Faculty Club.

Backsteinbau, Georgian-Revival-Stil. Ölporträts an mahagonivertäfelten Wänden, Messingkandelaber, Perserteppiche, das übliche Blumengesteck am Eingang - alles vertraut und nur zu einem Zweck vorhanden: damit Win sich fehl am Platz fühlt. Nicht die Schuld von Harvard, einfach nur eine Eigenart Lamonts. Sie bestellt Win immer in den Faculty Club, wenn sie das Gefühl von Macht sucht, von mehr Macht als gewöhnlich, wenn sie also entweder innerlich unsicher ist oder Win braucht - oder beides.

Er sitzt auf dem harten antiken Sofa, auf dem er immer sitzt. Der Sekundenzeiger der goldenen Breguet erinnert ihn, dass Lamont zu spät ist, eine Minute, zwei Minuten, drei, zehn. Er beobachtet, wie Menschen kommen und gehen, zahllose Akademiker, Würdenträger auf Besuch, Dozenten oder prominente Familien, die sich informieren wollen, ob sie ihre prominenten Kinder hierher schicken sollen. Was Win an Harvard mag, ist, dass es einem unbezahlbaren Kunstwerk gleicht. Man kann es nicht besitzen. Man kann es nicht verdienen. Man darf eine Weile hingehen und ist anschließend wegen dieses Besuchs ein weitaus besserer Mensch, auch wenn Harvard sich nicht an einen erinnert. Einen wahrscheinlich niemals bemerkt hat. Das findet Win traurig an Lamont, so wenig er sie manchmal auch mag, so verachtenswert er sie manchmal auch findet.

Das, was sie hat, wird niemals genug sein.

Sie kommt herein, rollt ihren Schirm zusammen, schüttelt den Regen vom Mantel, während sie hinausschlüpft, steuert auf die Garderobe zu.

»Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass es immer regnet, wenn wir uns hier treffen?«, fragt Win, als sie den Speisesaal betreten, an ihrem angestammten Tisch am Fenster Platz nehmen, von dem man auf die Quincy Street blickt.

»Ich muss etwas trinken«, sagt Lamont. »Und Sie?« Ein knappes Lächeln, kaum Augenkontakt.

Das kann für sie nicht leicht sein. Lamont sucht den Kellner, findet, es wäre schön, eine Flasche Wein zu trinken. Weiß oder rot? Es ist Win egal.

»Warum haben Sie das getan?« Sie glättet die Leinenserviette auf ihrem Schoß, greift nach dem Wasser. »Uns beiden ist klar - und nur zur Erinnerung -, dieses Gespräch wird nie stattgefunden haben.«

»Warum machen Sie sich dann die Mühe?«, fragt Win. »Warum laden Sie mich zum Essen ein, wenn Sie sowieso nur darüber sprechen wollen, dass es nichts zu reden gibt, und von mir nur das Versprechen wollen, dass wir uns nie wieder darüber unterhalten? Oder was auch immer Sie gerade meinten.«

»Ich bin nicht in der Stimmung für Ihre Spitzfindigkeiten.«

»Dann erzählen Sie einfach. Ich bin ganz Ohr.«

»Foundation of International Law«, sagt sie. »Die Stiftung meines Vaters.«

»Ich glaube, wir wissen inzwischen alle, was FOIL ist. Oder was Sie daraus gemacht haben. Eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, eine Deckorganisation, um die Person zu schützen und abzuschirmen, die für Millionen Dollar eine Viktorianische Ruine gekauft hat, die zu renovieren Jahre dauern wird. Schade, dass Sie sich keine andere Firmenbezeichnung zugelegt haben. Muss mich schon wundern über das schlechte Karma, einen Namen zu wählen, der mit einem Vater verbunden ist, der Sie immer behandelt hat, als wären Sie …«

»Ich glaube, Sie können es sich wirklich nicht erlauben, so über meinen Vater zu sprechen.«

Der Kellner kommt mit einem silbernen Flaschenkühler und einer teuren Flasche Montrachet. Er entkorkt den Wein. Lamont probiert. Als zwei Gläser gefüllt sind und der Kellner fort ist, liest Lamont die Speisekarte.

»Ich weiß nicht mehr, was Sie hier sonst immer nehmen.« Themenwechsel.

»Ich kann es mir mehr als jeder andere leisten, über Ihren Vater zu sprechen. Denn letzten Endes, Monique, liegt es an ihm, dass Sie sich in ein derartiges Schlamassel hineingeritten haben …«

»Ich will mir nicht Ihre Version dessen anhören, was ich getan haben könnte.« Sie nippt an ihrem Wein. »Wundert es Sie wirklich, dass ich noch ein Haus gekauft habe? Vielleicht wollte ich in dem anderen nicht mehr wohnen? Vielleicht verbringe ich dort nur noch sehr wenig Zeit? Fast gar keine? Ich habe mir sogar eine Suite im Ritz gemietet, aber die Fahrerei nach Boston und zurück ist ziemlich anstrengend.«

»Ich kann verstehen, warum Sie sich ein Haus gekauft haben. Ich verstehe, warum Sie das andere loswerden wollen - hab eigentlich nie verstanden, dass Sie noch eine Nacht länger dort schlafen konnten nach dem, was passiert ist.« Win spricht sehr vorsichtig. »Aber sehen Sie sich doch die Verkettung der Ereignisse an und wie die Emotionen, die ihnen zugrunde liegen, Sie in etwas geführt haben, was Sie nicht noch einmal erleben wollten. Nie wieder.«

Lamont schaut sich um, vergewissert sich, dass niemand lauscht, sieht nach draußen in den Regen, in die Gaslaternen und auf das glatte Kopfsteinpflaster. Kurz huscht Traurigkeit über ihr Gesicht.

»Ihr Vater starb letztes Jahr«, fährt Win mit leiser Stimme fort, beugt sich vor, die Ellbogen auf dem weißen Tischtuch. »Hinterließ Ihnen die Hälfte seines Besitzes. Nicht dass Sie vorher am Hungertuch nagten, aber jetzt haben Sie so viel, dass andere von einem Vermögen sprechen würden. Immer noch kein Grund für Ihr Verhalten. Sie waren noch nie ein Habenichts. Aber wenn Sie das Geld plötzlich mit vollen Händen zum Fenster rauswerfen, muss etwas anderes dahinterstecken. Hunderttausend Dollar für Klamotten, Auto und wer weiß, was sonst noch, alles in bar. Millionen für ein Haus, obwohl sie bereits eines haben, das mehrere Millionen wert ist, und dann mieten Sie ein Zimmer im Ritz. Immer mehr Geld, Cash, das von einer französischen Bank zu einer Bostoner Bank transferiert wird und von da zu wer weiß wie vielen anderen Banken.«

»Mein Vater hatte Konten in London, Los Angeles, New York, Paris, in der Schweiz. Wie sonst soll man große Geldsummen bewegen, wenn nicht über telegraphische Überweisung? Die meisten Leute laufen nicht gern mit einem Koffer voller Geld herum. Und ich habe meine Kleidung und meine Autos schon immer bar bezahlt. Zahle grundsätzlich nie etwas mit Kreditkarte, das schon in dem Moment an Wert verliert, wenn ich den Laden verlasse. Was das Haus in der Brattie Street angeht: Ich habe es aufgrund des desolaten Immobilienmarktes für einen Spottpreis bekommen, verglichen mit dem, was es nach der Renovierung wert sein wird - falls es jemals so weit kommen sollte, dass sich unsere Wirtschaft erholt. Ich brauchte keine Hypothek zum Absetzen von Steuern, und ich habe wirklich nicht vor, die Einzelheiten meiner Finanzen mit Ihnen zu diskutieren.«

»Geschenkt. Sie haben große Geldsummen bewegt. Große Summen bar bezahlt. Sind auf Einkaufstour gegangen, wie ich es bei Ihnen noch nie erlebt habe, und ich kenne Sie schon ziemlich lange. Haben an wohltätige Organisationen gespendet, ohne sie vorher zu überprüfen. Und dann ließen Sie sich ein mit …«

Lamont hebt die Hand. »Keine Namen!«

»Ist natürlich praktisch, ein Haus zu haben, in dem Sie nicht wohnen und das nicht auf Ihren Namen läuft«, sagt Win. »Gute Möglichkeit, um sich dort ein-, zweimal zu treffen. Oder drei-, viermal. Schlechte Idee, so ein Rendezvous im Ritz zu veranstalten. Oder in einem Haus, wo die Nachbarn Sie kennen und Sie vielleicht durch das Fenster beobachten. Auch keine gute Idee, sich im Wohnheim zu treffen.« Er trinkt seinen Wein. »Mit einem Schüler vom College.« Hebt das Glas. »Der ist nicht schlecht.«

Lamont wendet den Blick ab. »Was davon kommt vor Gericht heraus?«

»Kaum zu glauben, dass er noch minderjährig ist. Hätte ich nicht gedacht.«

»Er hat gelogen.«

»Sie haben es nicht überprüft.«

»Warum sollte ich?«

»Haben Sie mal Einstichwunden an seinen Händen gesehen, wo wir gerade vom Überprüfen sprechen? In den Fingerspitzen oder Handflächen?«

»Ja.«

»Haben Sie nachgefragt?«

»Botoxspritzen, damit er an den Händen nicht schwitzt«, sagt Lamont. »Sein Vater ist Schönheitschirurg. Das wissen Sie. Gab ihm Spritzen, bevor er auftrat. Sie wissen schon, am Klavier. Damit die Finger nicht von den Tasten rutschen. Jetzt macht er mit dem Botox weiter, weil er Keyboard spielt und sich dran gewöhnt hat.«

»Und das haben Sie geglaubt?«

»Warum nicht?«

»Ich nehme an«, sagt Win, »dass es mir auch nicht in den Sinn gekommen wäre. Es sei denn, ich wäre bereits misstrauisch gewesen. Andererseits habe ich so was noch nie gehört. Botox in die Fingerspitzen. Muss höllisch wehtun.«

»Ist auch nicht idiotensicher«, sagt Lamont.

»Gar nichts ist idiotensicher. Aber man geht in die Bank, schiebt einen Zettel unter der Glasscheibe hindurch, und die Hände sind sauber und trocken. Keine Abdrücke auf dem Papier.«

»Viel Glück dabei, das zu beweisen.«

»Wir haben seinen Kupferabdruck, ich weiß keinen besseren Ausdruck dafür. Auf der Kameraverpackung, die er dummerweise in der Küche Ihres neuen Hauses liegenlassen hat. Keine Sorge. Er wird für einige Zeit hinter Gitter kommen«, sagt Win.

»Was passiert dann?«

»Ich verstehe Ihre Frage nicht«, sagt er.

Sie wirft ihm ihren typischen Blick zu. »Das tun Sie sehr wohl.«

Der Kellner steuert auf die beiden zu, zieht sich aber auf ein Zeichen von Lamont hin wieder zurück.

»Er ist ein krankhafter Lügner«, sagt Win. »Es gab nur ein geplantes Treffen, bei dem Zeugen anwesend waren. Aber da erschien er nicht nur nicht, sondern die Zeugen ließen auch noch eine verdeckte Ermittlung platzen. Dem FBI und anderen ist es mit Sicherheit lieber, wenn die Öffentlichkeit nichts von dieser Überwachung erfährt. Denn der Patriot Act ist ungefähr so beliebt wie die Beulenpest.«

»Sie waren schon mal da«, sagt Lamont. »In dem Haus. Und sahen, wie ich in mein Auto stieg. Und was ich dabeihatte. Und den Rest.«

»Dafür gibt es keine Beweise, und den Burschen habe ich an dem Abend nicht gesehen. Ich möchte allerdings betonen, dass ich es nicht schätze, wenn jemand in meine Haut schlüpft. War wohl Teil des Nervenkitzels, meine Sachen zu klauen …«

»Sich als Win Garano auszugeben?«

»Nein. Mich zu bestehlen. Psychologisch«, sagt Win. »Geht wahrscheinlich auf das zurück, was seine Mutter über mich gesagt hat, als sie mit ihm auf Wohnungssuche war. Das kränkte ihn noch stärker und machte ihn noch böser, als er ohnehin schon war. Egal. Ich denke, dass er auf seine Weise in meine Haut schlüpfte, in meinen Schuhen herumlief. Mich auf seine verquere Art dadurch zu beherrschen glaubte. Sie haben den Wein nicht getrunken, den er mir stahl.«

»War nicht in der Stimmung«, sagt Lamont und wirft Win wieder diesen Blick zu. »War überhaupt nicht in der Stimmung, ehrlich gesagt. War ziemlich schnell nicht mehr in der richtigen Stimmung, was nicht gerade gut ankam, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Das Spielzeug wurde langweilig.«

»Es wäre mir lieber, wenn Sie solche Kommentare unterließen.«

»Bei der Gelegenheit, von der ich ein wenig mitbekam, lief es nicht gut. Als Sie das Gericht verließen, telefonierten Sie und schienen sich mit Ihrem Gesprächspartner zu streiten. Sie wirkten, als ob Sie die Fassung verloren hätten, deshalb folgte ich Ihnen.«

»Ja, wir hatten Streit. Ich wollte nicht dorthin, zum Haus. Er überzeugte mich dennoch. Hatte Dinge gegen mich in der Hand. Ich konnte mich nicht weigern. Ich will ehrlich sein und Ihnen gestehen, dass ich nicht wusste, wie ich aus der Sache wieder herauskommen sollte. Und dass ich tatsächlich keine Ahnung habe, wie ich überhaupt hineingeraten bin.«

»Und ich will ehrlich sein und Ihnen gestehen, wie das alles kam. Meiner Meinung nach«, sagt Win. »Wenn wir uns machtlos fühlen, legen wir Wert auf Dinge, mit denen wir uns besser fühlen. Unser Aussehen. Unsere Kleidung. Unser Haus. Unser Auto. Wir zahlen bar. Tun alles Mögliche, um uns begehrenswert zu fühlen. Sexy. Dazu gehört vielleicht sogar, nun ja, Exhibitionismus.« Win überlegt. »Darf ich raten? Er hat diese Videos auf YouTube gemacht.

Aber es war nicht seine Idee, es war Ihre. Auch etwas, das er gegen Sie in der Hand hat.«

Lamonts Schweigen ist die Antwort.

»Eines muss ich Ihnen zugestehen, Monique. Ich glaube, Sie sind der raffinierteste Mensch, der mir je untergekommen ist.«

Sie trinkt einen Schluck Wein. »Was ist, wenn er etwas darüber erzählt? Bei der Polizei? Oder schlimmer, vor Gericht?«, fragt Lamont.

»Sie meinen, wenn er sozusagen schmutzige Wäsche wäscht? Die Sie hoffentlich nicht vor Ort liegenlassen haben, nachdem Sie …?«

»Wenn er überhaupt irgendetwas sagt«, unterbricht sie ihn.

»Er ist ein Lügner.« Win zuckt mit den Achseln. »Das stimmt. Das ist er.«

»Es gibt noch etwas, das wir tun, wenn wir uns machtlos fühlen«, fährt Win fort. »Wir suchen uns jemand Sicheres.«

»Offenbar nicht. Das war alles andere als sicher.«

»Man will sich in Sicherheit fühlen, aber trotzdem begehrenswert«, sagt Win. »Sie als die ältere, einflussreiche Frau. Umschwärmt, aber sicher, weil sie alles unter Kontrolle hat. Was könnte sicherer sein als ein kluger, kunstverständiger Junge, der Ihnen wie ein Hund überallhin folgt?«

»Denken Sie, Stump ist sicher?«, fragt Lamont und nickt dem Kellner zu.

»Was wollen Sie damit sagen …?«

»Sie wissen genau, was ich meine.«

Lamont wählt Salat mit Vinaigrette und eine doppelte Portion Thunfisch-Carpaccio mit Wasabi. Win bestellt ein Steak, wie immer. Einen Salat, keine Kartoffeln.

 

»Wir sind befreundet«, sagt Win. »Verstehen uns gut. Beruflich und privat.«

Es liegt auf der Hand, dass Lamont zweierlei wissen möchte, sich aber nicht überwinden kann, Win geradeheraus zu fragen: Ist er in Stump verliebt, und hat sie ihm erzählt, was damals vor vielen Jahren geschah, als Lamont sich in Watertown betrank?

»Ich frage noch mal«, sagt Lamont. »Ist sie sicher?«

»Und ich sage es Ihnen noch mal. Wir sind befreundet. Ich fühle mich vollkommen sicher. Und Sie?«

»Ich erwarte Sie am Montag zurück in der Einheit«, sagt Lamont. »Ich weiß also nicht, wie oft Sie in Zukunft mit Stump zusammenarbeiten werden. Es sei denn, es gibt einen Mord und sie kommt mit ihrem lächerlichen Truck angefahren. Was mich auf ein anderes Thema bringt. Dieser Verein, den sie gegründet hat.«

»FRONT.«

»Was sollen wir damit machen?«

»Ich glaube, da können wir gar nichts machen«, sagt Win. »Der ist aufgezogen wie eine Schlechtwetterfront, macht seinem Namen alle Ehre. Das können Sie nicht einfach so loswerden.«

»Der habe ich auch nicht gemeint«, sagt Lamont. »Ich habe überlegt, wie wir Stump helfen können. Ob sie sich darüber freuen würde?«

»Ob Stump sich freuen würde?«

»Ja. Damit es ihr gutgeht. Und sie sicher ist.«

»Wenn ich Sie wäre, würde ich das tun«, sagt Win. »Eine gute Idee.«

 

[Erstellt mit plustec OpticBook 4600 und Atlantis Word Processor]