Pater Lurant nahm mich mit zum bischöflichen Palais. Ein Hausmeister öffnete uns. Er hatte ein gelbes Gesicht und Haare wie Fell. Der Pfarrer erklärte die Lage, und wortlos führte uns der Hausmeister über Treppen und Flure, in denen ein Geruch nach Wachs und Schmierseife in der Luft lag, zu einem gewaltigen Schlafzimmer, in dem sich zwei bescheidene Betten aus Eisen gegenüberstanden.
Beim Anblick dieser Liegen musste ich an unser großes, breites Bett denken. Gern wäre ich bei Clemence, in ihren Armen gewesen und hätte dort die Sanftheit gesucht, die ich bei ihr fand. Ich bat darum, sie zu benachrichtigen, wie ich es gewöhnlich tat, wenn ich einmal nicht nach Hause kam. In solchen Fällen rief ich beim Bürgermeister an, der sein Hausmädchen Louisette losschickte, um die Botschaft auszurichten. Aber der Hausmeister sagte, man brauche es gar nicht erst zu versuchen, auch die Telefonleitungen seien auf unbestimmte Zeit beschlagnahmt. Ich erinnere mich, dass mir das einen Stich versetzt hat. Mir lag daran, dass Clemence Bescheid wusste und sich keine Sorgen machte. Und ich wollte, dass sie wusste, ich dachte an sie und das Kind.
Der Pfarrer zog sich ohne Umstände aus. Legte seine Pelerine ab, dann die Soutane und stand in Unterhemd und Unterhose vor mir, mit einem Bauch, der sich nach vorn wölbte wie eine riesige Quitte und durch eine Bandage aus Flanellstoff gestützt wurde, die er nun ebenfalls abwickelte. Dann breitete er seine nassen Kleider neben dem Ofen aus und wärmte und trocknete sich, wobei er die Hände über der Abdeckplatte des Ofens aneinander rieb. In diesem Zustand, ohne sein Priestergewand, wirkte er auf mich entschieden jünger. Wahrscheinlich war er in meinem Alter. Es kam mir vor, als sähe ich ihn zum ersten Mal. Sicher erriet er meine Gedanken. Pfarrer sind sehr geschickt, sie verstehen es, sich in die Köpfe der Menschen zu schleichen. Er sah mich lächelnd an. Unter der Einwirkung der Hitze dampfte seine Pelerine wie eine Lokomotive, und aus seiner Soutane stieg ein Dunst auf, der nach Humus und verbrannter Wolle roch.
Der Hausmeister kam zurück, in seinen Händen ein Tablett mit zwei Tellern Suppe, einem Graubrot, einem Stück Käse, das hart war wie ein Eichenklotz, und einem Krug Wein. Er stellte alles auf einen Tisch und wünschte uns gute Nacht. Ich zog mich aus und legte meine Kleider ebenfalls ans Feuer. Geruch nach Holz, gemischt mit Schweiß und Verbranntem, kleine Dampfschwaden,
genauso wie beim Pfarrer.
Wir aßen, ohne uns um Manieren zu kümmern. Pater Lurant hatte große, haarlose Hände mit zarter Haut und makellosen Nägeln. Was er in den Mund steckte, kaute er lange; Wein trank er mit geschlossenen Augen. Wir aßen alles auf. Keine Krümel, keine Kruste, die Teller blank geputzt. Der Tisch sauber. Die Mägen gefüllt. Dann unterhielten wir uns, wie wir es noch nie getan hatten. Wir sprachen über Blumen, das war seine Leidenschaft, «der schönste Beweis der Existenz Gottes, falls einer nötig wäre», sagte er. Wir sprachen über Blumen, in diesem Zimmer, während es um uns herum Nacht war und Krieg, während sich irgendwo ein Mörder herumtrieb, der ein zehnjähriges Mädchen erwürgt hatte, während weit weg von mir Clemence in unserem Bett blutete, schrie, weinte, brüllte, ohne dass jemand sie hörte und ihr zu Hilfe kam.
Ich wusste bis dahin nicht, dass man sich über Blumen unterhalten kann. Ich meine damit, ich habe nicht gewusst, dass man sich über Menschen unterhalten kann, indem man über Blumen spricht und ohne dass die Worte Mensch, Schicksal, Tod, Ende und Verlust fallen. An jenem Abend lernte ich es. Auch der Pfarrer beherrschte die Kunst der Rede. Wie Mierck. Wie Destinat. Aber er machte daraus etwas Gutes. Er rollte lächelnd die Worte mit der Zunge, und aus einer Nichtigkeit wurde ein Wunder. Bestimmt bekommen sie das in ihren Seminaren beigebracht: die Phantasie mit gewandten Sätzen zu wecken. Er beschrieb mir seinen Garten hinter dem Pfarrhaus, den man wegen der Mauern nicht einsehen konnte. Er erzählte mir von Kamille, Christrosen, Petunien, Bartnelken, Federnelken, Anemonen, Schleifenblumen, Pfingstrosen, Fetthenne, Opuntia und Datura, von Blumen, die nur einen Sommer blühen, und anderen, die jedes Jahr wiederkommen, von solchen, die am Abend aufblühen und am Morgen welken, und wieder anderen, die vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang leuchten, Winden, deren rosa und violette Blütenkronen sich am Morgen öffnen und sich mit Einbruch der Nacht plötzlich schließen, als habe eine Hand die Blätter zugedrückt.
Von diesen Blumen hatte der Pfarrer in einem anderen Tonfall gesprochen als von den anderen. Das war nicht mehr der Tonfall des Pfarrers. Nicht mehr der des Gärtners. Das war der Tonfall eines verwundeten Menschen. Als er gerade den Namen dieser Blume aussprechen wollte, gebot ich ihm mit einer Handbewegung Einhalt. Ich wollte ihn nicht hören, den Namen. Ich kannte ihn. Er pochte seit zwei Tagen in meinem Kopf, pochte und pochte. Die Erinnerung an das Gesicht der Kleinen traf mich; der Pfarrer verstummte. Draußen war der Regen wieder zu Schnee geworden. Flocken schlugen schwer gegen die Scheibe. Jahrelang habe ich später versucht, in unserem kleinen Garten diese Belles de Jours zu ziehen. Es ist mir nie gelungen. Die Samen blieben im Boden stecken, verfaulten hartnäckig, weigerten sich, dem Himmel entgegenzuwachsen, aus der dunklen, feuchten, klebrigen Erdmasse herauszukommen. Nur Quecken und Disteln wuchsen und überwucherten alles, sprossen zu unwahrscheinlichen Höhen, erstickten mit ihren Blüten alles andere.
Seitdem habe ich oft daran gedacht, was der Pfarrer über die Blumen, Gott und dessen Beweis gesagt hatte. Ich habe gedacht, dass es wahrscheinlich Orte auf der Welt gibt, an die Gott nie auch nur einen Fuß setzt. Pater Lurant ist weggegangen, um die Stämme Annams in den Bergen Indochinas zu missionieren. Das war 1925. Er kam bei mir vorbei, um mir die Neuigkeit zu erzählen; ich wusste nicht, warum er auf diesen Besuch Wert legte. Vielleicht weil wir uns einmal in Unterhosen unterhalten und Zimmer und Wein miteinander geteilt hatten. Ich habe ihn nicht gefragt, weshalb er einfach so fortging, obwohl er nicht mehr jung war. Ich fragte bloß: «Und Ihre Blumen?»
Er sah mich an, lächelnd, mit diesem Pfarrerblick, von dem ich gesprochen habe, der in unser Innerstes dringt und uns die Seele herausreißt, wie man mit einer zweizinkigen Gabel die gekochte Schnecke aus ihrem Haus zieht. Dann sagte er, da, wo er hingehe, gebe es tausend Blumen, tausend, die er noch nicht kenne, die er nie gesehen habe oder doch nur in Büchern, und man könne nicht immer nur in Büchern leben, eines Tages müsse man das Leben und seine Schönheiten mit vollen Händen ergreifen.
Beinahe hätte ich ihm gesagt, für mich gelte eher das Gegenteil, ich hätte genug Leben und würde mich ohne Zögern in die Bücher stürzen, wenn es welche gäbe, die mich über das Leben hinwegtrösten könnten. Aber wenn man sich fern steht, nützt Reden nichts. Wir haben uns die Hand geschüttelt.
Ich habe danach nicht mehr oft an ihn gedacht. Aber zuweilen kam es vor. Edmond Gachentard, mein alter Kollege, hatte mir neben seinem Karabiner einige Bilder dieses gelben Landes hinterlassen. Ich meine, keine Bilder auf Papier, sondern solche, die in den Kopf eindringen und dort bleiben.
In seiner Jugend war Gachentard Mitglied eines nach Tonkin entsandten Expeditionscorps gewesen. Er hatte von dort ein Fieber mitgebracht, das ihn häufig von einem Moment auf den anderen käseweiß werden und zittern ließ, sowie ein grünes Kaffeeglas, das auf seinem Esszimmertisch stand, dazu eine Fotografie, auf der er in Uniform vor Reisfeldern zu sehen war, eine gewisse Trägheit im Blick, eine Art Entrückung, die ihn ergriff, sooft er an diese Länder dachte, an das, was er mir davon erzählt hatte, an die Nächte mit den Gesängen von Fröschen und Agakröten. An die Hitze, die den Körper klebrig macht, den breiten, schlammigen Fluss, der Bäume, Ziegenkadaver, Seerosen und losgerissene Uferwinden mit sich führt. Manchmal machte Gachentard mir sogar die Tänze der Frauen vor, ihre grazilen Handbewegungen, ihre gebogenen Finger, das Rollen ihrer Augen und die Flötenmusik, die er pfeifend neu komponierte, wobei er so tat, als spielte er auf einem abgesägten Besenstiel.
In diesem Dekor sah ich den Pfarrer vor mir, die Arme beladen mit unbekannten Blumen, mit einem Tropenhelm und einer hellen Soutane, deren unteren Rand eine Borte aus getrocknetem Schlamm zierte, während er warmen Regen auf glänzende Wälder fallen sah. Ich sah ihn lächeln, immer nur lächeln. Warum, weiß ich nicht.

Als ich in unserem Zimmer im Bischofspalais erwachte, fiel mir sofort Clemence ein. Koste es, was es wolle, ich musste nach Hause, notfalls die Straße umgehen, sollte sie noch immer gesperrt sein, jeden erdenklichen Umweg machen, um endlich wieder zu ihr zu kommen. So schnell wie möglich. Ich kann nicht sagen, dass ich eine Vorahnung hatte. Ich war nicht beunruhigt. Nein. Aber ich hatte Sehnsucht nach ihrer Haut, ihren Augen, ihren Küssen, wollte mich an sie schmiegen, um den Tod, der überall am Werk war, eine Weile zu vergessen. Ich zog meine noch nicht ganz trockenen Kleider an. Rieb mir das Gesicht mit Wasser ab. Pater Lurant schlief noch. Er sägte wie ein Waldarbeiter, mit breitem, rosigem Gesicht. Ich dachte, dass er vermutlich auch im Schlaf die Arme voll Blumen hatte. Mit leerem Bauch brach ich auf.

Berthe ist in der Küche. Ich sehe sie nicht, spüre aber, wie sie schnauft und den Kopf von einer Seite zur anderen wiegt. Sie schnauft immer, wenn sie meine Hefte sieht. Was geht es sie an, womit ich meine Tage verbringe? Wahrscheinlich hat sie Angst vor den Buchstaben. Sie hat nie lesen gelernt; für sie sind die aneinander gereihten Wörter ein großes Geheimnis. Neid und Angst.

Ich gelange zu dem Punkt, dem ich mich seit Monaten nähere. Wie einer schreckliche Horizontlinie. Ich komme zu jenem entsetzlichen Morgen. Zu dem Augenblick, an dem die Uhren stehen blieben. Zu jenem endlosen Sturz. Zum Tod der Sterne. Eigentlich hat Berthe nicht Unrecht. Die Worte sind angsteinflößend. Sogar für Menschen, die sie kennen und entziffern können. Ich bin angekommen und bringe es nicht fertig. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Die Finger am Füllhalter zittern. Die Eingeweide verkrampfen sich. Die Augen brennen. Ich bin über fünfzig, fühle mich aber wie ein vom Grauen geschüttelter Schuljunge. Ich trinke ein Glas Wein. Dann noch eins, ohne abzusetzen. Ein drittes. Ich setze die Flasche an und trinke sie aus. Clemence kommt nahe zu mir. Sie beugt sich über meine Schulter. Ich spüre den Hauch ihres jungen Atems im ergrauten Nacken. «Schon am Morgen so viel trinken, wenn das keine Schande ist ... Mittags werden Sie betrunken sein.» Das ist Berthe. Ich schreie sie an. Sage ihr, sie soll sich rausscheren. Sich um ihren eigenen Kram kümmern. Sie zuckt die Achseln. Lässt mich allein. Ich atme tief ein. Greife nach dem Füllhalter.

Als ich das Haus sah, fing mein Herz heftig zu pochen an. Es war völlig verschneit, glänzte in der hellen Sonne. Dünne Eiszapfen verbanden den Rand des Dachs mit dem weißen Boden. Plötzlich war mir nicht mehr kalt, der Hunger war verflogen, ich hatte den Eilmarsch vergessen, den ich mir auferlegt hatte, vier Stunden auf der Straße, auf der der endlose Zug der Soldaten, Karren, Pferdefuhrwerke und Lastwagen nicht abriss. Hunderte von Soldaten hatte ich überholt, die mit schweren Schritten marschierten, und mir, der ich in Zivil gekleidet war, böse Blicke zuwarfen, weil ich so eilig dorthin strebte, wohin sie nur widerwillig gingen. Dann endlich das Haus. Unser Haus. Ich klopfte die Schuhe an der Mauer ab, weniger wegen des Schnees, als um ein Geräusch zu machen, ein vertrautes Geräusch, das verkünden sollte, ich sei da, auf der anderen Seite der Wand, nur noch zwei Schritte von ihr entfernt. Ich lächelte, stellte mir vor, wie Clemence sich mich vorstellte, drückte die Klinke herunter und stieß die Tür auf. Ich trug mein Glück im Gesicht. Es gab keinen Krieg mehr, kein Gespenst, kein ermordetes Kind. Es gab nur noch meine Geliebte, die ich wieder sehen und in die Arme schließen würde, bevor ich meine Hände auf ihren Bauch gleiten ließ, um unter der Haut das ungeborene Kind zu spüren. Und ich bin ins Haus gegangen.

Das Leben ist seltsam. Es warnt einen nicht. Alles mischt sich, und verhängnisvolle Augenblicke folgen auf gnadenreiche. Der Mensch ist einer jener kleinen Kieselsteine, die auf der Straße tagelang am selben Fleck liegen, bis irgendwer oder irgendwas sie wegstößt oder in die Luft schießt. Was kann der Kieselstein schon tun? Es herrschte eine seltsame Stille im Haus. Das Gefühl, es sei wochenlang unbewohnt gewesen. Alles war an seinem Ort, wie gewöhnlich, aber lastender, kälter. Doch vor allem war da diese Stille, die meine Stimme schluckte, als ich rief. Und plötzlich spürte ich, dass mein Herz aussetzte. Oben an der Treppe stand die Schlafzimmertür halb offen. Ich tat zwei Schritte. Ich glaubte, keinen einzigen mehr tun zu können. Genau weiß ich nicht mehr, was ich in welcher Reihenfolge getan habe und wie lange es gedauert hat. Clemence lag auf dem Bett, mit blasser Stirn und noch blasseren Lippen. Sie hatte viel Blut verloren, und ihre Hände pressten sich auf ihren Bauch, als hätte sie versucht, das, was sie monatelang in sich getragen hatte, allein ans Licht der Welt zu bringen. Um sie herum die allergrößte Unordnung. Sie ließ mich verstehen, was sie zu tun versucht hatte. Es war ihr nicht gelungen, das Fenster zu öffnen und um Hilfe zu rufen. Sie hatte nicht gewagt, die Treppe hinunterzugehen, wahrscheinlich, weil sie fürchtete, zu stürzen und das Kind zu verlieren. Endlich hatte sie sich aufs Bett gelegt. Sie atmete erschreckend langsam, und ihre Wangen waren kaum noch warm. Ihr Gesicht war totenblass. Ich legte meine Lippen auf ihre, sagte ihren Namen, schrie, nahm ihr Gesicht in meine Hände, ohrfeigte sie, blies ihr Luft in den Mund. An das Kind habe ich keinen Gedanken verschwendet. Ich sorgte mich nur um sie. Dann versuchte ich, das Fenster zu öffnen, der Griff ging ab, ich hämmerte mit der Faust gegen die Scheibe, bis sie zerbrach, schnitt mich und brüllte auf die Straße hinaus. Türen, Fenster flogen auf. Ich stürzte zu Boden. Ich stürze noch immer. Ich lebe in diesem Sturz. Immerzu.




XVII


Hippolyte Lucy steht neben Clemence, beugt sich mit angespanntem Gesicht über sie. Man hat mich auf einen Stuhl gesetzt. Ich sehe zu, ohne zu verstehen. Im Zimmer sind viele Menschen. Nachbarinnen, junge und alte, die leise sprechen, als hielten sie bereits die Totenwache. All diese Schlampen, wo waren sie denn, als Clemence stöhnte und versuchte, um Hilfe zu rufen? Wo waren die Weiber, die sich jetzt vor meinen Augen am Unglück laben, auf meine Kosten? Ich stehe auf, balle die Fäuste, ich muss aussehen wie ein Verrückter, ein Mörder, ein Irrer. Ich sehe sie zurückweichen. Ich werfe sie raus. Schließe die Tür. Jetzt sind wir nur noch zu dritt, Clemence, der Arzt und ich.
Ich habe schon gesagt, dass Hippolyte Lucy ein guter Arzt war. Ein guter Arzt und ein guter Mensch. Ich sah nicht, was er tat, aber ich wusste, dass er es gut machte. Er sagte mir Wörter: Hämoragie, Koma. Er drängte: Wir sollten uns beeilen. Ich hob Clemence hoch. Sie war leicht wie eine Feder. Es war, als lebte nur noch ihr Bauch und als hätte sich alles Leben sich in diesen übergroßen, hungrigen Bauch zurückgezogen. In der Kutsche hielt ich sie an mich gepresst, während der Arzt mit der Peitsche auf die Kruppen seiner beiden Gäule einhieb. Wir kamen zum Krankenhaus. Man trennte mich von ihr. Zwei Krankenschwestern nahmen sie auf einer Rollbahre mit. Clemence verschwand im Geruch von Äther, im Rascheln weißer Laken. Man sagte, ich solle warten.
Stundenlang saß ich in einem Wartezimmer neben einem Soldaten, der seinen linken Arm verloren hatte. Ich erinnere mich, dass er sagte, er sei sehr froh, einen Arm verloren zu haben, zumal den linken, das sei ein großes Glück für ihn, den Rechtshänder. In sechs Tagen sei er zu Hause, und zwar für immer. Weit weg von diesem Krieg der gehörnten Ehemänner, wie er sich ausdrückte. Ein verlorener Arm, das seien etliche gewonnene Jahre. Lebensjahre. Das wiederholte er in einem fort und zeigte mir seinen Stumpf. Er hatte ihm sogar einen Namen gegeben, dem fehlenden Arm: Gugusse. Ständig sprach er mit Gugusse, rief ihn zum Zeugen an, neckte ihn. Das Glück kann an Kleinigkeiten hängen. Mal an einem Faden, mal an einem Arm. Der Krieg kehrt das Unterste zuoberst: Er bringt es fertig, aus einem Amputierten einen glücklichen Mann zu machen. Leon Castrie hieß dieser Soldat. Er stammte aus Morvan. Er bot mir eine Zigarette nach der anderen an. Er betäubte mich mit Worten, und das hatte ich bitter nötig. Er stellte mir keine einzige Frage. Verlangte noch nicht einmal, dass ich mich mit ihm unterhielt. Das Gespräch bestritt er ganz allein mit seinem verlorenen Arm. In dem Moment, als er sich entschloss, sich von mir zu verabschieden, stand er auf und sagte: «Wir müssen los, Gugusse und ich.» Es war Zeit für die Suppe. Castrie. Leon Castrie, einunddreißig Jahre alt, Gefreiter im 127. Regiment, aus Morvan, Junggeselle, Bauer. Der das Leben und die Kohlsuppe liebte. Das ist alles, was ich behalten habe. Ich wollte nicht nach Hause zurück. Ich wollte dort bleiben, auch wenn es nichts half.
Eine Krankenschwester kam. Es war bereits Abend. Sie sagte, das Kind sei gerettet, ich könne es sehen, wenn ich wolle, ich solle ihr folgen. Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte nur Clemence sehen. Ich fragte nach ihr. Die Krankenschwester sagte, sie werde den Arzt fragen. Dann ging sie.
Später kam der Arzt, ein erschöpfter, todmüder Mann in Uniform. Er war als Metzger verkleidet, als Ochsenschlächter, seine Schürze und sein Schiffchen blutbeschmiert. Seit Tagen operierte er ohne Pause, hinterließ manchmal Glückliche, häufig Tote, immer Versehrte. Eine junge Frau war für ihn eine Art Irrtum inmitten all dieser Männer. Auch er erzählte mir von dem Neugeborenen, das groß sei, zu groß, als dass es alleine hätte herauskommen können. Er sagte, das Kind sei gerettet. Dann gab auch er mir eine Zigarette. Ein schlechtes Zeichen, diese Zigaretten kannte ich allzu gut, denn ich selbst hatte sie schon an Burschen verteilt, von denen ich wusste, dass sie nicht mehr lange zu leben hatten oder nicht mehr lange in Freiheit bleiben würden. Wir rauchten eine Weile, ohne zu sprechen. Dann sagte er, während er Rauch ausblies, meinem Blick ausweichend: «Sie hatte zu viel Blut verloren.» Sein Satz blieb in der Luft hängen wie der Rauch unserer Zigaretten. Er kam nicht wieder hinunter, endete nicht. Plötzlich bekam ich Lust, ihn zu töten, diesen armen Teufel mit den Ringen unter den Augen und dem Dreitagebart, der sich in seinen Sätzen verhaspelte, diesen Mann am Ende seiner Kräfte, der alles getan hatte, um sie ins Leben zurückzuholen. Niemals, da bin ich ganz sicher, habe ich so große Lust gehabt, jemanden mit meinen eigenen Händen zu töten. In Raserei zu töten, zornig und gewalttätig. Töten.
«Ich muss wieder», sagte er und warf seine Kippe auf den Boden. Dann legte er die Hand auf meinen Arm, während ich noch von Mordphantasien geschüttelt wurde. «Sie können sie sehen», sagte er. Und ging, müde und langsam.
Die Welt hört nicht auf, sich zu drehen, nur weil ein paar Menschen leiden. Und Schweine bleiben Schweine. Vielleicht gibt es keinen Zufall, das habe ich schon oft gedacht. Bei eigenen Tragödien wird man sehr egoistisch. Vergessen waren Belle de Jour, Destinat, Josephine in ihrem Kerker, Mierck und Matziev. Als ich zur Stelle hätte sein sollen, war ich es nicht, und die beiden Dreckskerle nutzten das aus, um in aller Ruhe ihr Süppchen zu kochen, fast als hätten sie Clemences Tod bestellt, um mich loszuwerden und die Ellbogen frei zu bekommen. Und sie setzten sie ein, skrupellos. Ein Verbrechen wie die Affäre erschüttert einen ganzen Landstrich, das können Sie mir glauben. Es ist wie eine Welle: ein Sturmritt, der alles auf seinem Weg erzittern lässt. Ein Mord erregt Grauen bei den Menschen und liefert ihnen gleichzeitig Gesprächsstoff, beschäftigt ihre Köpfe genauso wie ihre Zungen. Dennoch, dass ein Mörder sich in der Gegend herumtreibt, dass er da ist, ganz in der Nähe, dass man ihm vielleicht begegnet ist oder ihm noch begegnen wird, dass es möglicherweise der Nachbar ist, dieses Wissen tut niemandem gut. Besonders zu Kriegszeiten, in denen man noch dringender als sonst einen sicheren zivilen Frieden braucht, damit nicht alles verloren scheint.
Es gibt nicht beliebig viele Arten, einen Mord aufzuklären. Ich kenne nur zwei: Entweder man verhaftet den Täter, oder man verhaftet jemanden, von dem man behauptet, er sei der Täter. Entweder das eine oder das andere. Und die Sache ist erledigt. Das ist nicht besonders schwierig. Für die Bürger ist das Ergebnis in beiden Fällen dasselbe. Der Einzige, der bei dem Handel verliert, ist der Mann, der verhaftet wird, aber wen kümmert dessen Meinung? Es sei denn, es geschehen noch mehr solche Verbrechen, dann wär's ein anderes Paar Schuhe. Ja, das ist wahr. Aber die kleine Belle de Jour war und blieb das einzige Mädchen, das bei uns erwürgt wurde. Es gab keine weiteren. Und das war der Beweis für alle, die einen Beweis nötig hatten, dass der Verhaftete wirklich der Schuldige war. Rührt euch; Akte geschlossen. Hokuspokus verschwindibus! Nichts von dem, was ich nun erzählen werde, habe ich mit eigenen Augen gesehen, aber das ändert nichts. Ich habe Jahre gebraucht, um die Fäden zu verknüpfen und alle Wörter, Wege, Fragen und Antworten zusammenzu führen. Es ist so gut wie die Wahrheit. Nichts ist erfunden. Warum sollte ich auch etwas erfinden?




XVIII


Am Morgen des 3. Dezember, als ich die Straße entlangstapfte, um nach Hause zu kommen, verhafteten die Gendarmen zwei junge Burschen, die halb tot waren vor Hunger und Kälte. Zwei Deserteure vom 59. Infanterieregiment. Sie waren nicht die ersten, die von den Gendarmen eingefangen wurden, das große Weglaufen hatte schon einige Monate zuvor begonnen. Jeden Tag verschwanden welche auf diese Art von der Front, verliefen sich auf dem Land oder zogen es vor, mutterseelenallein im Dickicht oder in einem Wäldchen zu verrecken: besser, als von Granaten zerfetzt zu werden. Sagen wir, die beiden kamen wie gerufen: der Armee, die ein Exempel statuieren wollte, und auch dem Richter, der einen Schuldigen brauchte. Man führt die beiden Burschen über die Straßen. Zwischen zwei Polizisten, die stolz sind wie Oskar. Die Leute kommen aus den Häusern, um sie zu sehen. Zwei Soldaten, zwei Gendarmen. Zwei zerlumpte, zerzauste, unrasierte Männer in zerrissenen Uniformen, mit hohlen Gesichtern und wankendem Schritt, deren Augen in alle Richtungen wandern, mit fester Hand gepackt von zwei Gendarmen, richtig großen, starken, rosigen Gendarmen in gewichsten Stiefeln, gebügelten Hosen und mit Siegermiene.
Die Menge wächst an und wird zunehmend bedrohlich, vielleicht, weil Mengen immer dumm sind; eng und enger schließt sie sich um die Gefangenen. Fäuste werden gereckt,
Schimpfwörter und Steine fliegen. Was ist eine Menschenmenge? Nichts als harmlose Bauern, wenn man mit jedem von ihnen von Angesicht zu Angesicht spricht. Aber zusammen, im gemeinsamen Geruch der Körper, dem Schwitzen, dem Atem, wenn sie beinahe aneinander kleben, wenn man in Gesichter sieht, die auf das harmloseste Wort lauern, egal ob es richtig ist oder falsch, wird die Menge zu Dynamit, einer Teufelsmaschine, einem Dampfkochtopf, der bei der geringsten Berührung explodieren kann.
Die Gendarmen spüren, woher der Wind weht. Sie beschleunigen ihre Schritte. Auch die Deserteure beeilen sich. Alle vier flüchten ins Bürgermeisteramt, in dem auch in kürzester Zeit der Bürgermeister eintreffen wird. Es folgt ein Moment der Ruhe. Das Bürgermeisteramt sieht aus wie ein gewöhnliches Wohnhaus, ein Haus allerdings mit einer blauweißroten Fahne und dem sorgfältig in den Stein gemeißelten, schönen, auf den ersten Blick naiven Leitspruch «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» zur Beruhigung übermütiger Attentäter. Alle halten inne. Schweigen. Warten. Kein Mucks. Nach einiger Zeit tritt der Bürgermeister auf den Balkon. Er räuspert sich. Es ist ihm anzusehen, dass die Angst ihm die Eingeweide herumdreht. Es ist kalt, aber er wischt sich die Stirn und beginnt plötzlich zu sprechen: «Geht nach Hause!»
«Wir wollen sie haben!», antwortet eine Stimme. «Wen denn?», erwidert der Bürgermeister. «Die Mörder!», platzt eine Stimme heraus, eine andere als die erste, und wird sogleich von einem Dutzend weiterer aufgegriffen, ein unheilvolles Echo. «Welche Mörder?», fragt der Bürgermeister. «Die Mörder der Kleinen», ertönt die Antwort. Vor Überraschung sperrt der Bürgermeister den Mund auf, dann hat er sich wieder in der Gewalt und schreit los, sie seien wohl alle verrückt geworden, das sei bloß dummes Gerede, Lügen, Hirngespinste, die beiden Kerle seien Deserteure, die Gendarmen würden sie der Armee übergeben, und die Armee werde schon wissen, wie sie
mit ihnen zu verfahren habe.
«Wir wollen sie haben», fängt ein anderer Idiot wieder an.
«Ihr bekommt sie aber nicht», antwortet der Bürgermeister, jetzt wütend und stur. «Und wisst ihr, warum ihr sie nicht haben könnt? Weil nämlich der Richter benachrichtigt wurde. Er ist unterwegs und wird gleich hier sein.»

Manche Worte sind magisch. «Richter» ist ein solches magisches Wort. Wie «Gott», «Tod», «Kind» und noch einige andere. Es sind Wörter, die Respekt verlangen, was immer man sonst von ihnen hält. Bei dem Wort «Richter» läuft es einem kalt den Rücken hinunter, selbst wenn man sich nichts vorzuwerfen hat und das Gewissen so rein ist wie ein Lamm. Die Leute wussten genau, dass Mierck der Richter war. Die Sache mit den «kleinen Welten» hatte sich herumgesprochen – neben einer Leiche weich gekochte Eier zu verspeisen! –, auch seine Missachtung der Kleinen: dass er kein Wort für sie übrig gehabt hatte, kein Erbarmen. Dennoch blieb er für diese stumpfen Leute der Richter, selbst wenn sie ihn hassten: Er war es, der einen mit einer einfachen Unterschrift zwischen vier dicke Wände schicken konnte. Der mit dem Henker gemeinsame Sache machte. Eine Art schwarzer Mann für Erwachsene.
Die Leute sahen einander an. Die Menge begann sich zu zerstreuen, erst langsam, dann rascher, als wären alle plötzlich von einer Kolik befallen. Nur ein Dutzend Unerschütterlicher blieb auf dem Pflaster stehen. Der Bürgermeister drehte sich um und ging wieder hinein. Es war ein guter Einfall gewesen, mit dem Wort Richter zu drohen wie mit einem Gespenst – beinahe ein Geniestreich, mit dem er wahrscheinlich die Lynchjustiz verhindert hatte. Nun blieb dem Bürgermeister nur noch, den Richter auch wirklich zu benachrichtigen. Mierck traf am frühen Nachmittag ein, in Begleitung Matzievs. Es hatte den Anschein, dass sie inzwischen miteinander sprachen wie gute Freunde, und das erstaunte mich nicht, denn ich war ihnen vorher schon begegnet und sollte auch nachher noch das Vergnügen haben: Ich habe bereits gesagt, dass beide aus demselben Holz geschnitzt waren. Sie begaben sich zum Bürgermeisteramt, das man mit der Unterstützung von etwa zehn nur zu diesem Zweck angerückten Gendarmen in ein befestigtes Lager verwandelt hatte. Als Erstes ordnete der Richter an, ihm zwei bequeme Sessel vor den Kamin im Büro des Bürgermeisters zu stellen, außerdem Wein und etwas zu essen zu bringen, also Käse, Weißbrot und so weiter. Der Bürgermeister schickte Louisette, damit sie vom Besten brachte, das sie finden konnte.
Matziev nahm eine seiner Zigarren heraus. Mierck sah auf die Uhr und pfiff vor sich hin. Der Bürgermeister blieb stehen und wusste nicht, wohin mit sich. Der Richter bedeutete ihm durch ein befehlendes Kopfnicken, er solle die Soldaten und ihre Bewacher holen. Und das tat er.
Die bedauernswerten Kerle betraten den Raum, wo ihnen das warme Feuer wieder zu etwas Farbe verhalf. Den Gendarmen befahl der Oberst, sie sollten hurtig die Platte putzen, worüber Mierck herzlich lachte. Die beiden Spießgesellen musterten die armen Bengel lange. Ich sage Bengel, denn vor wenigen Jahren waren sie noch welche gewesen. Der eine, Maurice Rifolon, zweiundzwanzig Jahre alt, geboren in Melun, wohnhaft in Paris, 15 Rue des Amandiers im 15. Arondissement, Drucker. Der andere, Yann Le Floc, zwanzig Jahre alt, geboren in Plouzagen, einem bretonischen Dorf, das er vor dem Krieg nie verlassen hatte, Bauernjunge. «Was mich erstaunte», sagte der Bürgermeister später, sehr viel später, «war ihre Verschiedenheit. Der kleine Bretone ließ den Kopf hängen. Es war deutlich, dass die Angst ihn im Griff hatte. Der andere hingegen, der Arbeiter, trug den Kopf aufrecht und blickte uns gerade in die Augen, nicht gerade lächelnd, aber doch beinahe, und man musste den Eindruck haben, dass wir ihm egal waren, dass ihm möglicherweise alles egal war.» Der Oberst feuert die erste Breitseite ab: «Sie wissen, warum Sie hier sind?», fragt er. Rifolon mustert ihn, antwortet nicht. Der kleine Bretone hebt ein wenig den Kopf, stammelt: «Weil wir weggerannt sind, Herr Oberst, weil wir abgehauen sind ...» Da schaltet sich Mierck ein: «Weil Sie gemordet haben.»
Der kleine Bretone reißt die Augen auf. Der andere hingegen, Rifolon, sagt mit Unschuldsmiene: «Natürlich haben wir gemordet, man hat uns sogar deswegen geholt, damit wir von Angesicht zu Angesicht Männer töten, die uns so ähnlich sind wie Brüder, damit wir sie ermorden und sie uns ermorden. Leute wie Sie haben uns befohlen, dass wir das tun sollen ...» Der kleine Bretone gerät in Panik:
«Ich weiß nicht genau, ob ich welche getötet habe, man sieht da draußen nicht gut, und ich kann nicht schießen, sogar mein Oberst macht sich über mich lustig, <Le Floc, sagt er, du würdest noch nicht mal eine Kuh im Hausflur treffen!>, also, es ist nicht sicher, vielleicht habe ich auch niemanden getötet.»
Der Oberst tritt näher heran. Er nimmt einen tiefen Zug aus seiner Zigarre. Bläst ihnen den Rauch in die Nasenlöcher. Der Kleine hustet. Der andere gibt keinen Mucks von sich.
«Sie haben ein kleines Mädchen ermordet. Eine
Zehnjährige.»
Der Kleine fährt auf:
«Was? Was? Was?», wiederholt er mindestens
zwanzigmal, hüpft dabei auf der Stelle herum und windet sich, als stünde er auf glühenden Kohlen. Der Drucker hingegen bewahrt die Ruhe, sein feines Lächeln. Daraufhin richtet der Richter das Wort an ihn: «Sie sehen nicht überrascht aus?»
Sein Gegenüber lässt sich mit der Antwort Zeit, mustert Mierck und den Oberst von Kopf bis Fuß, und der Bürgermeister sagte später zu mir: «Es sah aus, als mäße er sie mit Blicken und als würde ihm das auch noch Spaß machen.» Endlich antwortet er:
«Mich kann nichts mehr überraschen. Wenn Sie gesehen hätten, was ich gesehen habe in den letzten Monaten, dann wüssten Sie, dass alles möglich ist.» Ein hübscher Satz, nicht wahr? Und das dem Richter, der puterrot anläuft, platsch vor die Nase. «Sie leugnen?», brüllt er.
«Ich gestehe», entgegnet der andere ruhig. «Was?», schreit der Kleine und klammert sich an den Kragen seines Gefährten. «Du bist verrückt geworden, was erzählst du da, hören Sie nicht auf ihn, ich kenne ihn gar nicht, wir sind erst seit gestern Abend zusammen. Ich weiß nicht, was er gemacht hat, Schwein, Schwein, warum tust du das, sag's ihnen, sag's ihnen!» Mierck bringt ihn zum Schweigen, drängt ihn in eine Ecke des Büros, als wollte er sagen: «Du kommst später dran», und wendet sich wieder dem anderen zu. «Du gestehst?»
«Was Sie wollen», sagt der, immer noch ruhig. «Die Kleine?»
«Ich hab sie ermordet. Ich war's. Ich hab sie gesehen. Ich
bin ihr gefolgt. Ich hab ihr mit dem Messer dreimal in
den Rücken gestochen.»
«Nein, du hast sie erwürgt.»
«Ja, stimmt, ich hab sie erwürgt mit diesen Händen, Sie haben Recht, ich hatte ja gar kein Messer dabei.» «Am Ufer des kleinen Kanals.»
«Genau.»
«Du hast sie ins Wasser geworfen.»
«Ja.»
«Warum hast du das getan?»
«Weil ich Lust dazu hatte.»
«Sie zu vergewaltigen?»
«Ja.»
«Aber sie wurde nicht vergewaltigt.»
«Keine Zeit. Ich habe ein Geräusch gehört. Da bin ich
weg.»
Die Antworten kommen wie geschmiert, wie im Theater, sagt der Bürgermeister. Der Arbeiter hält sich kerzengerade, spricht sehr deutlich. Der Richter labt sich an seinen Worten. Es wirkt, als sei die Szene einstudiert worden. Der kleine Bretone weint, das Gesicht rotzbeschmiert, mit bebenden Schultern, und dreht ständig den Kopf von rechts nach links. Matziev hüllt sich in den Rauch seiner Zigarre.
Der Richter sagt zum Bürgermeister: «Sie können sein Geständnis bezeugen?» Der Bürgermeister ist kein Zeuge, er ist sprachlos. Er merkt, dass der Arbeiter sich über den Richter lustig macht. Er merkt, dass Mierck dies ebenfalls merkt. Und endlich merkt er nur noch das eine, nämlich dass dem Richter das vollkommen gleichgültig ist. Er hat bekommen, was er wollte: ein Geständnis. «Kann man das wirklich ein Geständnis nennen?», wagt der Bürgermeister zu fragen. Der Oberst schaltet sich ein: «Sie haben doch Ohren, Herr Bürgermeister, und ein Hirn. Sie haben also zugehört und verstanden.» «Wollen Sie vielleicht das Verhör durchführen?», schlägt der Richter vor. Der Bürgermeister schweigt. Der kleine Bretone weint noch immer. Der andere steht stocksteif da. Lächelnd. Ist in Gedanken abwesend. Er hat gerade folgende Rechnung aufgemacht: Deserteur: Erschießung; Mörder: Hinrichtung. In beiden Fällen aus und vorbei! Er wollte die Sache beschleunigen. Das ist alles. Und bei dieser Gelegenheit allen gründlich auf die Nerven gehen. Gut gemacht. Mierck rief einen der Gendarmen herein und ließ den Drucker in einen engen Raum bringen, eine Besenkammer, die sich auf derselben Etage befand. Dort sperrte man ihn ein und stellte eine Wache vor die Tür.
Danach gönnten sich der Richter und der Oberst eine Pause. Dem Bürgermeister gaben sie zu verstehen, sie würden nach ihm schicken, falls sie ihn noch benötigten. Der kleine verweinte Bretone wurde von einem anderen Gendarmen in den Keller geschafft, und weil der Keller nicht abgesperrt werden konnte, legte man ihm Handschellen an und befahl ihm, sich auf den Boden zu setzen. Der Rest der Truppe kehrte, auf Befehl Miercks, an den Ort des Verbrechens zurück, um ihn noch einmal gründlich in Augenschein zu nehmen. Der Nachmittag war bereits weit fortgeschritten. Louisette kam mit einer Menge Lebensmittel zurück, die sie an verschiedenen Orten zusammengesucht hatte. Der Bürgermeister sagte ihr, sie solle alles zubereiten und es den Herren hinüberbringen, aber auch den Gefangenen etwas geben, denn er war schließlich kein Schuft. «Mein Bruder war zu der Zeit an der Front», erzählte mir Louisette, «ich wusste, dass es dort hart zuging, auch er hatte überlegt, alles im Stich zu lassen und nach Hause zurückzukehren. <Du wirst mich verstecken!>, hatte er eines Tages zu mir gesagt, als er auf Heimaturlaub war, und ich habe nein gesagt, wenn er das täte, würde ich es dem Bürgermeister und den Gendarmen melden. Das hätte ich natürlich niemals getan, aber ich hatte so große Angst, er würde tatsächlich desertieren und man würde ihn schnappen und erschießen. Das Ende vom Lied allerdings war, dass er trotzdem gestorben ist, eine Woche vor dem Waffenstillstand ... Das erzähl ich nur, weil ich Mitleid hatte mit den armen Kerlen, also hab ich mich erst um die Gefangenen gekümmert, bevor ich den wohlgenährten Herren was zu essen brachte. Der im Keller hat das Brot und den Speck nicht genommen, die ich ihm hinhielt, er saß in sich zusammengesunken da und heulte wie ein kleiner Bub, da ließ ich alles neben ihm auf einem Fass stehen. Dann ging ich zu dem in der Kammer im ersten Stock, habe an die Tür geklopft, keine Antwort, ich klopfte nochmal, wieder keine Antwort, Brot und Speck trug ich im Arm, da hat der Gendarm die Tür geöffnet, und wir sahen ihn. Der arme Kerl lächelte, Ehrenwort, er lächelte und sah uns direkt ins Gesicht, mit weit aufgerissenen Augen. Ich habe geschrien, alles auf den Boden fallen lassen, der Gendarm sagte Scheiße!, stürzte sich auf ihn, aber es war zu spät, er war schon tot. Mit seiner Hose hatte er sich aufgehängt, er hatte sie in Streifen gerissen und an den Fenstergriff gebunden. Ich hätte nicht gedacht, dass ein Fenstergriff so stabil ist.» Als Mierck und Matziev die Neuigkeit erfuhren, warf das ihre Theorie nicht über den Haufen. «Noch ein Beweis!», verkündeten sie dem Bürgermeister. Und sahen sich mit einem Ausdruck des Einverständnisses an. Die Nacht brach herein. Der Oberst legte Holz im Kamin nach, der Richter schickte nach Louisette. Sie traf mit gesenktem Kopf und am ganzen Leib zitternd ein. Sie glaubte, man würde sie zu dem Erhängten befragen. Aber Mierck wollte nur wissen, was sie Essbares gefunden habe. Sie sagte:
«Drei Würste, Rillette, Schinken, Schweinsfüße, ein Huhn, Kalbsleber, einen Käse aus Kuhmilch und einen Ziegenkäse.» Die Miene des Richters hellte sich auf. «Gut, sehr gut», sagte er mit feuchtem Mund. Und gab die Bestellung auf: Gemischtes vom Schwein als Vorspeise, dann geschmorte Leber, eine Hühnersuppe mit Kohl, Möhren, Zwiebeln, Wurst, dann geschmorte Schweinsfüße, Käse und ein Apfelcrepe. Und Wein natürlich. Vom besten. Den Weißen zur Vorspeise, den Roten später. Und mit einem Wink des Handrückens schickte er sie zurück in die Küche. Den ganzen Abend pendelte Louisette pausenlos zwischen dem Bürgermeisteramt und dem Haus des Bürgermeisters hin und her. Brachte Flaschen und Suppenteller, nahm leere Weinflaschen wieder mit, brachte neue Gerichte. Der Bürgermeister blieb zu Hause im Bett, sprachlos, denn ihn hatte ein plötzliches Fieber gepackt. Den Drucker hatte man abgehängt und ins Leichenschauhaus gebracht. Ein einziger Gendarm war im Bürgermeisteramt geblieben, um den kleinen Bretonen zu bewachen. Louis Despiaux hieß der Gendarm. Ein guter Kerl, ich werde noch auf ihn zu sprechen kommen. Das Büro des Bürgermeisters, wo der Richter und der Oberst sich eingerichtet hatten, ging auf einen kleinen Hof hinaus, in dem ein schütterer Kastanienbaum sich zum Himmel reckte. Von einem der Bürofenster aus konnte man den Mickerling gut sehen. Er hatte nicht genug Platz, um zu blühen und ein wirklicher Baum zu werden, und inzwischen steht er längst nicht mehr da. Kurz nach der Affäre ließ der Bürgermeister ihn fällen, weil er an dieser Stelle immer etwas anderes sah als einen kranken Baum.
In den Hof gelangte man durch eine niedrige Tür, die sich in der Ecke des Büros befand. Sie war mit falschen Bücherrücken täuschend echt bemalt, und die Wirkung war ausgesprochen schön: Das eher spärlich bestückte Bücherregal, in dem nie aufgeschlagene Folianten Seite an Seite mit dicken Gesetzeswerken und den Bänden der Gemeindeverordnungen standen, wurde dadurch optisch verlängert. Am Ende des Hofes befanden sich die Toiletten und ein zwei Armlängen breites Schutzdach, unter dem Brennholz aufbewahrt wurde. Als Louisette den Schinken und die Rillette brachte, wurde sie mit lautem Rufen empfangen. Kein Geschrei, nein, sondern ein Ausdruck der Befriedigung, woran sich ein auf sie gemünzter Scherz des Obersts anschloss – sie konnte sich nicht mehr genau daran erinnern –, der den Richter zum Lachen brachte. Klirrend stellte sie Teller, Besteck und Gläser auf den Tisch und trug das Essen auf. Der Oberst warf seine Zigarre in den Kamin und nahm als Erster Platz. Dann fragte er sie nach ihrem Vornamen. «Louisette», antwortete sie. Da soll der Oberst zu ihr gesagt haben: «Ein schöner Name für ein hübsches Mädchen.» Und Louisette soll gelächelt und das Kompliment eingesteckt haben, ohne zu merken, dass der Lackaffe sich über sie lustig machte, denn ihr fehlten drei Schneidezähne, und sie hatte einen Knick im Auge. Dann sprach der Richter. Er befahl, sie solle in den Keller hinuntergehen und dem Gendarmen ausrichten, sie wünschten mit dem Gefangenen zu sprechen. Louisette ging zitternd, als stiege sie in die Hölle hinab, in den Keller. Der kleine Bretone hatte zu weinen aufgehört, aber das Brot und den Speck, den ihm die Dienerin dagelassen hatte, nicht angerührt. Louisette richtete den Auftrag aus. Der Gendarm schüttelte den Kopf, sagte dem Gefangenen, er müsse hinauf, und weil dieser keine Anstalten machte, nahm Despiaux ihn bei den Handschellen und zog ihn hinter sich her. «Der Keller war sehr feucht.» Nun spricht Despiaux. Er erzählt mir seine Geschichte und berichtet von dem Abscheu, den er damals empfand. Wir sitzen an einem Tisch auf der Terrasse des Café de la Croix in V. Es ist warm. Ein Abend im Juni. Der 21. Juni. Erst vor kurzem habe ich Despiaux' Spur wieder gefunden. Nach der bewussten Nacht, von der ich gleich erzählen werde, hat er bei der Gendarmerie gekündigt. Er ging in den Süden, zu einem Schwager, der Weinberge besaß, und dann nach Algerien, wo er in einem Handelshaus für Schiffsbedarf arbeitete, das Schiffe verproviantierte. Anschließend ist er, zu Beginn des Jahres 21, nach V. zurückgekehrt.
Er ist Buchführungsgehilfe bei Carbonnieux, im Kaufhaus. Eine gute Stelle, sagt er selber. Er ist ein großer, schlanker, aber nicht magerer Mann, mit einem noch jungen Gesicht, doch sein Haar ist weiß wie Mehl. Er sagte mir, seine Haare seien auf einen Schlag weiß geworden nach jener Nacht mit dem kleinen Bretonen. Er berichtet:
«Während der ganzen Zeit, die ich mit dem Jungen zusammen war, hat er keine zwei Worte gesprochen. Erst weinte er zum Erbarmen. Dann kein Ton mehr. Ich habe ihm gesagt, wir müssten gehen. Als wir im Büro des Bürgermeisters ankamen, fühlten wir uns wie in der Sahara, wegen der Hitze. Ein Backofen. Im Kamin lagen dreimal so viele Scheite wie nötig, sie waren rot wie Hahnenkämme. Der Oberst und der Richter saßen am Tisch, mit vollen Mündern und erhobenen Gläsern. Ich grüßte militärisch. Sie hoben ihre Gläser etwas höher, um meinen Gruß zu erwidern. Da habe ich mich gefragt, wohin ich eigentlich geraten war.»
Als der kleine Bretone die beiden Witzfiguren sah, erwachte er aus seiner Erstarrung. Er fing an zu stöhnen und begann abermals mit seiner Litanei: «Was, was, was.» Das trübte Miercks gute Laune. Er warf ihm, zwischen zwei Bissen Rillette, in dürren Worten und mit scheinheiliger Miene die Nachricht vom Tod des Druckers an den Kopf. Den kleinen Bretonen, der davon ebenso wenig wusste wie übrigens auch Despiaux, traf die Neuigkeit wie ein Faustschlag. Er strauchelte und wäre fast gestürzt. Despiaux fing ihn auf. «Du siehst also», sprach der Oberst, «dein Komplize konnte eure Untat nicht ertragen und hat es vorgezogen zu sterben.»
«Wenigstens hatte er Ehre im Leib», fügte der Richter hinzu. «Worauf wartest du also noch? Sag uns alles.» Stille trat ein, doch sie hielt nicht lange an. Despiaux erzählte mir, der Junge habe erst ihn angesehen, dann Mierck, dann Matziev, und plötzlich habe er ein Gebrüll ausgestoßen, wie man es im Bürgermeisteramt noch nie gehört habe. Despiaux meinte sogar, er habe es niemals für möglich gehalten, dass ein Mann derart brüllen könne, und das Schlimmste sei gewesen, dass es kein Ende genommen, nicht aufgehört habe, dass man sich wirklich gefragt habe, wo der schmächtige Mensch die Kraft für diesen Schrei hernehme. Nur ein Schlag mit der Reitpeitsche, die ihm der Oberst quer übers Gesicht hieb, konnte ihn beruhigen. Der Oberst war dafür sogar vom Tisch aufgestanden. Der kleine Bretone verstummte unvermittelt. Ein breiter violetter Striemen lief ihm übers Gesicht. Mit einer Kopfbewegung gab Mierck dem Gendarmen zu verstehen, er könne ihn wieder in den Keller hinunterbringen, aber als der sich gerade anschickte, den Befehl auszuführen, gebot Matzievs Stimme ihm Einhalt.

«Ich weiß was Besseres», sagte er. «Bringen Sie ihn in
den Hof, damit er seinen Kopf abkühlen kann. Vielleicht
findet er so sein Gedächtnis wieder.»
«In den Hof?», fragte Despiaux.
«Ja, dahin», antwortete Matziev und zeigte hinaus. «Sie haben da sogar eine Art Pfahl, an dem sie ihn festbinden können. Wegtreten!»
«Es ist nur, Herr Oberst, es ist so kalt draußen, es friert sogar», wagte Despiaux zu sagen.
«Tun Sie, was Ihnen gesagt wird», schnitt ihm der Richter, dem es endlich gelungen war, ein Stück Schinken vom Knochen zu lösen, das Wort ab.

«Damals war ich zweiundzwanzig Jahre alt», erzählte mir Despiaux, während wir noch eine Runde Pernod bestellten. «Was kann man mit zweiundzwanzig schon sagen, was kann man tun? Ich hab den Kleinen in den Hof gebracht und an den Kastanienbaum gebunden. Es war vielleicht neun Uhr. Aus dem Büro, wo man vor Hitze starb, kamen wir hinaus in die Nacht und den Frost, es waren zehn, vielleicht zwölf Grad unter null. Ich war wirklich nicht stolz auf mich. Der Kleine stöhnte. <Besser, du sagst ihnen alles, falls du es getan hast, dann ist es vorbei, und du kannst wieder ins Warme>, flüsterte ich ihm ins Ohr. <Aber ich war es doch nicht, ich war es nicht>, schwor er leise, mit klagender Stimme. Im Hof war's stockfinster. Am Himmel standen die Sterne, vor uns lag hell erleuchtet das Fenster vom Büro des Bürgermeisters, und in diesem Fenster sah man eine unwirkliche Szene, ausgeschnitten wie für ein Kindertheater, zwei Männer mit zinnoberroten Gesichtern, die an einem reich gedeckten Tisch aßen und tranken, ohne sich um irgendwas anderes zu kümmern. Ich ging zurück ins Büro, und der Oberst sagte zu mir, ich solle im Nebenzimmer warten, bis sie mich rufen würden. Ich ging rüber. Ich setzte mich auf eine Art Bank, wartete und fragte mich, was ich tun sollte. Auch dort gab es ein Fenster, und da sah man den an den Baum gefesselten Gefangenen. Ich blieb im Dunkeln sitzen. Wollte das Licht nicht anmachen, damit er mich nicht sehen konnte. Ich schämte mich. Ich hatte Lust, wegzulaufen, mich vom Acker zu machen, aber die Uniform hielt mich zurück, es war eine Frage des Respekts. Wenn so etwas heute geschähe, hielte mich nichts zurück, so viel ist sicher. Gelegentlich hörte ich ihre Stimmen, ihr Gelächter und die Schritte der Dienerin des Bürgermeisters, die Schüsseln voll dampfender Speisen brachte. Aber an jenem Tag stach mir deren Duft wie unerträglicher Gestank in die Nase. Ich hatte einen Stein im Magen. Ich konnte mir nicht verzeihen, dass ich ein Mensch war.»

Louisette ging häufig hin und her. «In einer Kälte, bei der man keinen Hund vor die Tür gejagt hätte», sagte sie mir. Die Mahlzeit dauerte eine Ewigkeit. Mierck und Matziev hatten Zeit, sie labten sich an dem Mahl und all dem Übrigen. Louisette sah sie nicht an, wenn sie das Zimmer betrat, das ist ein Tick von ihr: Immer starrt sie auf ihre Füße.
An diesem Abend noch unbeirrbarer als sonst. «Die beiden haben mir Angst gemacht, und außerdem wurden sie immer besoffener!» Den kleinen Bretonen im Hof will sie nicht gesehen haben. Manchmal ist es bequem, wenn man nichts sieht.
Von Zeit zu Zeit ging der Oberst hinaus, um einige Worte an den Gefangenen zu richten. Er beugte sich über ihn, flüsterte ihm ins Ohr. Der kleine Bretone schlotterte und stöhnte, er sei es nicht gewesen, er habe nichts getan. Der Oberst zuckte die Achseln, rieb sich die Hände und ging schnell zurück ins Warme. Despiaux sah alles. In der Dunkelheit sitzend, wie gefesselt auch er. Gegen Mitternacht waren Mierck und Matziev, deren Lippen noch vom Gelee der Schweinsfüße glänzten, mit dem Käse fertig. Sie redeten immer lauter, sangen sogar ab und an. Schlugen mit der flachen Hand auf den Tisch. Sie hatten sechs Flaschen geleert. Einfach so. Beide gingen auf den Hof hinaus, wie um ein wenig Luft zu schnappen. Für Matziev war es der fünfte Besuch. Sie umkreisten den kleinen Bretonen, als wäre er Luft. Mierck legte den Kopf in den Nacken und sah zum Himmel. Sprach im Plauderton über die Sterne. Er zeigte Matziev die Sternbilder, nannte ihre Namen. Sterne waren ein Steckenpferd des Richters. «Sie trösten uns über die Menschen hinweg, sie sind so rein.» Das sind seine eigenen Worte. Despiaux hörte, was geredet wurde, dazu das Zähneklappern des Gefangenen, das klang, als würde ein Stein gegen eine Wand geschlagen. Matziev nahm eine Zigarre heraus und bot dem Richter eine an; der lehnte ab. Die Köpfe dem Himmelsgewölbe zugewandt, sprachen sie noch eine Weile über die Sterne, die Bewegungen der Planeten. Dann gingen sie, wie von der Tarantel gestochen, auf den Gefangenen los. Er war bereits seit drei Stunden da draußen in der Kälte. Und es war keine gewöhnliche Kälte. Er hatte genügend Zeit gehabt, die Sterne eingehend zu studieren, bevor seine Lider mit gefrorenen Tränen verklebt waren. Der Oberst hielt ihm die Glut seiner Zigarre unter die Nase und stellte ihm wieder und wieder dieselbe Frage. Der Bursche gab nicht einmal mehr Antwort, er stöhnte nur noch. Nach kurzer Zeit ging dem Oberst das Gestöhn auf den Wecker.
«Sind Sie eigentlich ein Mensch oder ein Tier?», schrie er ihm ins Ohr. Keine Reaktion. Matziev warf seine Zigarre in den Schnee, packte den an den Baum gefesselten Gefangenen und schüttelte ihn. Mierck beobachtete das Schauspiel und blies sich dabei in die Hände. Matziev ließ den schlotternden Körper des kleinen Bretonen fallen, dann schaute er nach links und rechts, als suche er etwas. Aber er fand nichts, hatte allerdings plötzlich einen Einfall, einen richtig schön dreckigen Einfall in seinem verdorbenen Kopf. «Vielleicht ist dir ja noch ein bisschen zu warm?», raunte er dem Bengel ins Ohr. «Ich werde dir ein wenig das Mütchen kühlen, mein Freund!» Er nahm ein Jagdmesser aus der Tasche und klappte es auf. Dann schnitt er die Knöpfe von der Jacke des kleinen Bretonen, einen nach dem anderen, danach von seinem Hemd, und dann schlitzte er ihm mit einem Schnitt das Unterhemd auf. Er zog ihm vorsichtig die Kleider aus, und der nackte Oberkörper des Gefangenen leuchtete als heller Fleck in der Finsternis des Hofes. Und sobald Matziev oben fertig war, ging er mit der Hose, der langen Unterhose und der Unterhose genauso vor. Er schnitt die Schnürsenkel durch und zog ihm, Caroline et ses souliers vernis pfeifend, langsam die Schuhe aus. Der Bengel schrie, schlug mit dem Kopf wie ein Verrückter. Matziev stand auf: Der Gefangene lag splitternackt zu seinen Füßen. «Geht's dir jetzt besser? Fühlst du dich so wohler? Ich bin sicher, deine Erinnerung wird bald zurückkehren.» Er drehte sich zum Richter um, worauf der sagte: «Lass uns reingehen, mir wird langsam kalt.» Die beiden lachten wie über einen gelungenen Witz. Und schlenderten nach drinnen, um das große, dampfende Apfelcrepe zu essen, das Louisette soeben, zusammen mit dem Kaffee und einer Flasche Mirabellengeist, auf den Tisch gestellt hatte.

Despiaux sah in den Junihimmel hinauf, sog die milde Luft ein. Nach und nach wurde es Nacht. Ich hörte ihm zu und rief den Ober, damit er unsere Gläser füllte. Um uns herum auf der Terrasse waren übermütige und lustige Leute, aber heute kommt es mir so vor, als wären wir allein gewesen.
«Ich stand am Fenster, im hinteren Teil des Raumes», fuhr Despiaux fort. «Ich konnte meinen Blick nicht vom Körper des Gefangenen lösen. Er hatte sich wie ein Hund um den Fuß der Baumes zusammengerollt, und ich sah, wie er sich bewegte und zitterte. Mir sind die Tränen gekommen, Ehrenwort, sie liefen mir übers Gesicht, und ich tat nichts, um sie aufzuhalten. Und dann fing der Bengel an, lang gezogene Schreie auszustoßen, Tierschreie, so wie wahrscheinlich die Wölfe geheult haben, als es in unseren Wäldern noch welche gab, und er heulte unablässig, und nebenan lachten der Richter und Oberst umso lauter.»
Ich stelle mir vor, wie Mierck und Matziev am Fenster stehen, die Nase an der Scheibe, den Hintern am Feuer, ein Glas Obstgeist in der Hand, den Magen mit Essen bis zum Platzen gefüllt, die Augen auf den nackten Jungen gerichtet, der sich im Frost windet, und wie sie sich dabei über die Hasenjagd, Astronomie oder Buchbinderei unterhalten. Ich stelle es mir nur vor, aber bestimmt bin ich nicht weit von der Wahrheit entfernt. Sicher ist, dass Despiaux sah, wie der Oberst etwas später erneut zu dem Gefangenen hinausging, ihn dreimal mit der Stiefelspitze anstupste, ihn leicht in Rücken und Bauch trat, als wollte er überprüfen, ob der Hund auch wirklich krepiert war. Der Bengel versuchte seinen Stiefel festzuhalten, wahrscheinlich um ihn anzuflehen, aber Matziev stieß ihn zurück und trat ihm dabei mit dem Absatz ins Gesicht. Der kleine Bretone stöhnte, und der Oberst goss einen Krug Wasser, den er in der Hand trug, über seiner Brust aus.
«Seine Stimme, wenn Sie seine Stimme gehört hätten, das war keine richtige Stimme mehr, und dann sagte er auch noch Wörter, irgendwelche Wörter, die keinen Sinn ergaben, und ganz am Ende seiner Litanei schrie er los, brüllte, er sei es gewesen, ja, er sei es gewesen, er gebe alles zu, diesen Mord und alle anderen Morde, er habe gemordet, oft gemordet ... Er war nicht mehr zu bremsen.»

Despiaux hatte sein Glas auf den Tisch gestellt. Er sah hinein, als suchte er irgendwo nach der Kraft, mit seiner Geschichte fortzufahren.

Der Oberst ließ ihn kommen. Der Junge wand sich in allen Richtungen, wiederholte dabei den immer gleichen Satz: «Ich war's, ich war's, ich war's!» Seine Haut war blitzeblau, stellenweise rot marmoriert, seine Finger- und Zehenspitzen hatten sich wegen der Erfrierungen dunkel verfärbt. Sein Gesicht war totenbleich. Despiaux wickelte ihn in eine Decke und half ihm, hineinzugehen. Matziev gesellte sich wieder zu Mierck. Sie stießen auf ihren Erfolg an. Die Kälte hatte über den kleinen Bretonen gesiegt. Es gelang Despiaux nicht, ihn zum Schweigen zu bringen. Er gab ihm etwas Warmes zu trinken, das er jedoch nicht hinunterschlucken konnte. Er wachte die ganze Nacht bei ihm, mehr als dass er ihn bewachte. Da war nichts mehr zu bewachen. Es war nichts von ihm übrig.


Ein Juniabend könnte einen im Hinblick auf die Erde und die Menschen beinahe hoffnungsvoll stimmen. Düfte entströmen den Mädchen und Bäumen, und die Luft wirkt so leicht, dass man versucht sein könnte, neu zu beginnen, sich die Augen zu reiben und zu glauben, das Böse sei nur ein Traum und Leid nur ein Trugbild der Seele. Wahrscheinlich war das der Grund dafür, dass ich dem ehemaligen Gendarmen vorschlug, noch irgendwo etwas essen zu gehen. Er sah mich an, als hätte ich ein Schimpfwort zu ihm gesagt, dann schüttelte er den Kopf. Vielleicht war ihm der Appetit vergangen, weil er in dieser Asche herumgestochert hatte. Um die Wahrheit zu sagen, ich hatte auch keinen Hunger, mein Vorschlag entsprang vor allem dem verzweifelten Wunsch, noch eine Weile mit ihm zusammen zu sein. Aber bevor ich Zeit hatte, eine weitere Runde zu bestellen, stand Despiaux auf. Er richtete sich zu voller Länge auf, strich mit der flachen Hand seine Anzugsjacke glatt, rückte den Hut zurecht und sah mich an, blickte mir gerade in die Augen. «Und Sie», fragte er mich, und seine Stimme klang vorwurfsvoll, spitz, «wo sind Sie eigentlich gewesen, in jener Nacht?»
Ich stand da wie ein Trottel. Schnell trat Clémence neben mich. Ich sah sie an, und sie war noch genauso schön, durchscheinend, aber schön. Was sollte ich Despiaux antworten? Er wartete auf eine Antwort, doch mir blieb der Mund offen, ich sah ihn an, sah die Leere, sah Clémence, die nur ich erkennen konnte. Despiaux zuckte die Achseln, zog seinen Hut tiefer ins Gesicht und wandte sich ab, ohne sich zu verabschieden. Dann ging er. Zurück zu seiner Trauer. Wahrscheinlich wusste er genauso gut wie ich, dass man sich in die Trauer zurückziehen kann wie in ein eigenes Land.




XIX


Madame de Flers führte mich endlich zu Clémence. Ich kannte sie vom Sehen. Sie stammte aus einer alten Familie in V. Gute Gesellschaft. Leute wie Destinat. Ihr Mann, der Kommandant, war im September 1914 gefallen. Ich erinnere mich, dass ich eine schlechte Meinung von ihr hatte und dachte, ihre Witwenschaft stehe ihr so gut wie ein Abendkleid und sie werde damit kokettieren, um bei Einladungen des Präfekten oder auf Wohltätigkeitsbasaren noch hochmütiger aufzutreten. Manchmal bin ich dumm und verbittert. Sie aber wollte sich nützlich machen, deshalb verließ sie V. und ihr Haus, das so weitläufig war wie das Schloss von Versailles, und kam zu uns, ins Krankenhaus. Manche Leute sagten: «Das wird sie keine drei Tage aushalten, wenn die erst mal Blut und Kot sieht, wird sie in Ohnmacht fallen.»
Aber sie blieb, trotz Blut und Kot, und sie ließ ihre Sonderstellung und ihr Vermögen durch grenzenlose Güte und einfache Taten in Vergessenheit geraten. Sie schlief in einem Dienstmädchenzimmer und verbrachte ihre Stunden, Tage und Nächte am Bett der Sterbenden oder Auferstandenen. Der Krieg massakriert, verstümmelt, beschmutzt, besudelt, höhlt aus, trennt, zerquetscht, zerhackt, tötet, aber mitunter kann er auch etwas gerade rücken.
Madame de Flers nahm meine Hand. Sie führte mich. Ich ließ es mir gefallen. Sie entschuldigte sich: «Wir haben keine Zimmer mehr, keinen Platz ...» Wir kamen in einen riesigen, von Röcheln erfüllten Bettensaal, in dem ein säuerlicher Geruch nach Verbänden, Eiter und Schmutz in der Luft lag. Es war der Geruch von Verletzungen, Qual und Wunden, nicht der Geruch des Todes, der reiner und abstoßender ist. Dreißig, vielleicht auch vierzig Betten standen da, alle belegt, darauf längliche, von Verbänden bedeckte Formen, die sich kaum merklich bewegten. In der Mitte des Zimmers befanden sich vier weiße, senkrecht von oben nach unten gespannte Laken, die eine Art leichten, tragbaren Alkoven bildeten. Dort lag Clémence, inmitten all der Soldaten, die von ihr ebenso wenig wussten wie sie von ihnen.
Madame de Flers schob ein Laken beiseite, und ich sah sie. Sie lag ausgestreckt, mit starrem Gesicht, geschlossenen Augen und auf die Brust gelegten Händen. Sie atmete mit majestätischer Langsamkeit, ihre Brust hob sich, aber ihre Gesichtszüge blieben unbewegt. Neben dem Bett stand ein Stuhl. Ich fiel mehr darauf, als dass ich mich setzte. Mit einer zarten Bewegung legte Madame de Flers die Hand auf ihre Stirn, streichelte sie und sagte: «Dem Kind geht es gut.» Ich sah sie verständnislos an. Dann sagte sie: «Ich lasse Sie allein, bleiben Sie, so lange Sie möchten.» Sie schob ein Laken beiseite, dann verschwand sie hinter dem Weiß. Die ganze Nacht blieb ich bei Clémence. Ich sah sie an. Sah sie nur an, in einem fort. Ich wagte nicht, mit ihr zu sprechen, aus Angst, einer der Verwundeten könnte meine Worte hören. Ich legte meine Hand auf sie, um ihre Wärme zu spüren und ihr von meiner abzugeben, so fest war ich mir zurückzukehren. Sie war schön. Vielleicht etwas blasser, als ich sie am Vortag verlassen hatte, aber auch zarter, als habe der tiefe Schlaf, in dem sie umherirrte, jede Beunruhigung, alle Sorgen und Leiden des Tages verscheucht. Ja, sie war schön. Nie werde ich sie hässlich, alt, faltig oder verbraucht gesehen haben. All diese Jahre lebe ich mit einer Frau, die nie gealtert ist. Ich gehe gebückt, meine Stimme krächzt, meine Knochen werden brüchig, ich bekomme Falten, aber sie bleibt, wie sie war, ohne Makel, ohne Plumpheit. Wenigstens das hat der Tod mir gelassen, und keiner kann es mir nehmen, auch wenn die Zeit mir ihr Gesicht geraubt hat, nach dem ich so eigensinnig forsche, weil ich es wieder finden möchte, wie es gewesen ist. Und dann blitzt ihr Antlitz manchmal, wie eine Wiedergutmachung, vor mir auf, im Licht des Weines, den ich trinke.
Die ganze Nacht stammelte der Soldat, der links von Clémence lag, meiner Sicht aber durch das aufgespannte Laken entzogen war, eine Geschichte ohne Anfang und Ende vor sich hin. Mal summte er, mal ereiferte er sich. Ich konnte nicht verstehen, an wen er sich wandte, ob an einen Kameraden, eine Verwandte, eine Geliebte oder sich selbst. In seiner Litanei kam alles Mögliche vor, nicht nur der Krieg, sondern auch Geschichten von Erbschaften, Wiesen, die gemäht werden mussten, Dächern, die repariert werden sollten, Hochzeitsfeiern, ertränkten Kätzchen, Bäumen voller Raupen, bestickter Aussteuer, Karren, Messdienern, Überschwemmungen, Matratzen, die man verliehen und nicht zurückbekommen hatte, Holz, das gehackt werden musste. Es war eine regelrechte Mühle aus Worten, die unablässig alle Augenblicke seines Lebens umwälzte und sie in beliebiger Abfolge abspulte, sodass daraus eine lange, absurde Geschichte wurde, erzählt nach dem Vorbild des Lebens, das ihr zugrunde lag. Von Zeit zu Zeit wiederholte er einen Namen, Albert Jivonal. Ich nehme an, dass es sein eigener war und dass er ihn laut aussprechen musste, vielleicht um sich zu beweisen, dass er tatsächlich noch am Leben war.
Seine Stimme ertönte wie das Soloinstrument in der Symphonie der Sterbenden, die um mich herum gespielt wurde. Das Atmen, Röcheln, löchrige Luftholen der Gasopfer, das Klagen, Weinen, Lachen der Verrückten, geflüsterte Namen von Frauen und Müttern und über allem Jivonals Litanei, das alles weckte bei mir den Eindruck, als trieben Clémence und ich, eingeschlossen im Mastkorb eines unsichtbaren Schiffes, auf dem Totenfluss dahin, wie in jenen phantastischen Geschichten, die uns in der Schule erzählt werden und die wir mit runden Augen anhören, während uns langsam die Angst ergreift.
Gegen Morgen bewegte sich Clémence leicht, falls nicht meine Müdigkeit mir etwas vorgegaukelt hat. Trotzdem glaube ich, dass sie das Gesicht ein wenig zu mir herüberdrehte. Ich bin mir aber sicher, dass sie stärker und länger Luft holte, als sie es bis dahin getan hatte. Da war er also, dieser tiefe Atemzug, ein Seufzer, wie man ihn ausstößt, wenn man glaubt, etwas lange Erwartetes sei endlich eingetreten, und man dadurch zeigen möchte, wie glücklich man ist, dass es so weit ist. Ich habe meine Hand auf ihre Kehle gelegt. Ich wusste Bescheid. Manchmal ist man von sich selbst überrascht, dass man Dinge weiß, obwohl man sie nie gelernt hat. Ich wusste, dass dies ihr letzter Atemzug gewesen war und dass ihm kein anderer mehr folgen würde. Ich schmiegte lange meinen Kopf an ihren. Ich spürte, wie die Wärme sie nach und nach verließ. Ich betete zu Gott und allen Heiligen, ich möge aus diesem Traum erwachen. Albert Jivonal starb kurz nach Clemence. Er verstummte. Da wusste ich, dass auch er tot war. Ich hasste ihn, weil ich mir vorstellte, dass er sich, wie in einer endlosen Warteschlange, in ihrer Nähe befinden würde, sobald er das Reich des Todes betreten hatte, und dass er sie von seinem Platz aus wahrscheinlich sehen konnte, einige Meter weiter vorn. Ja, obwohl ich ihn nicht kannte und noch nicht einmal sein Gesicht gesehen hatte, war ich ihm böse. Ich war eifersüchtig auf einen Toten. Wollte an seiner Stelle sein.
Um sieben Uhr kam die Krankenschwester, die Tagdienst hatte. Sie schloss Clémences Augen, die sich seltsamerweise im Augenblick des Todes geöffnet hatten. Ich blieb noch länger bei ihr; niemand wagte mir wohl zu sagen, ich solle gehen. Später bin ich dann gegangen, allein. Und das war's.

Belle de Jours Beerdigung fand eine Woche nach dem Mord in V. statt. Ich war nicht dabei. Ich hatte meinen eigenen Schmerz. Man hat mir erzählt, die Kirche sei brechend voll gewesen und noch auf dem Kirchenvorplatz hätten mehr als hundert Leute gestanden, trotz des Regens, der die Erde peitschte. Der Staatsanwalt war anwesend, auch der Richter und Matziev. Und natürlich ihre Familie, Bourrache mit seiner Frau, die gestützt werden musste, und Aline und Rose, den beiden Schwestern der Kleinen, die nicht zu begreifen schienen, was geschah. Auch die Tante, Adélaide Siffert, war da, und ihr Kinn zitterte, während sie wieder und wieder zu den Trauergästen sagte: «Wenn ich es nur gewusst hätte ... Wenn ich es gewusst hätte ...» Das Problem ist, dass man es nie weiß.
Bei uns waren nur wenige Menschen in der Kirche. Ich sage, bei uns, weil es mir vorkam, als wären wir noch immer zusammen, obwohl Clemence da vorn in dem von großen Kerzen umgebenen Eichensarg lag und ich sie nicht mehr sah, nicht mehr spürte. Pater Lurant hielt den Gottesdienst. Er sagte einfache und wahre Worte. Unter seinem Messgewand sah ich den Mann wieder, mit dem ich eine Mahlzeit und ein Zimmer geteilt hatte, während Clémence mit dem Tod rang.
Mit meinem Vater war ich schon seit langem zerstritten, und Clemence hatte keine Familie mehr. Umso besser. Ich hätte es nicht ertragen, wenn der eine oder andere mich unter seine Fittiche genommen hätte, wenn ich hätte sprechen und zuhören müssen oder geküsst, umarmt und bedauert worden wäre. Ich wollte so schnell wie möglich allein sein, denn von nun an sollte ich mein ganzes Leben lang allein bleiben.
Auf dem Friedhof waren wir zu sechst: der Pfarrer, der Totengräber Ostrane, Clémentine Hussard, Léoca die Renaut, Marguerite Bonsergent – drei Alte, die bei allen Beerdigungen dabei waren – und ich. Pater Lurant sprach das letzte Gebet. Wir hörten mit gesenktem Kopf zu. Ostrane legte seine schwieligen Hände auf den Schaufelstiel. Ich sah die Landschaft an, die Wiesen, die bis zur Guerlante reichten, die Anhöhe mit den kahlen Bäumen und den schmutzig braunen Wegen, den zugezogenen Himmel. Die Alten warfen eine Blume auf den Sarg. Der Pfarrer schlug das Kreuz. Ostrane begann, Erde ins Grab zu schaufeln. Ich ging als Erster. Ich wollte nicht dabei zusehen.
In der folgenden Nacht hatte ich einen Traum. Clemence lag unter der Erde und weinte. Tiere aller Art krochen auf sie zu, mit hässlichen Köpfen, Fangzähnen und Krallen. Sie schützte ihr Gesicht mit den Händen, aber die Tiere kamen näher, fielen schließlich über sie her, bissen sie, rissen kleine Stücke aus ihrem Fleisch und verschlangen sie. Clémence sagte meinen Namen. In ihrem Mund waren Sand und Wurzeln, und ihre Augen, die keine Pupillen mehr hatten, waren weiß und stumpf. Ich fuhr aus dem Schlaf hoch. Schweißgebadet, keuchend. Da habe ich gemerkt, dass ich allein im Bett lag. Ich habe verstanden, wie groß und leer ein Bett sein kann. Ich habe an sie gedacht, dort unten, unter der Erde, in dieser ersten Nacht des Exils. Ich habe geweint wie ein Kind.
Tage vergingen, wie viele, weiß ich nicht. Und Nächte. Ich ging nicht mehr nach draußen. Ich zögerte, war unentschlossen. Ich nahm Gachentards Karabiner von der Wand, schob eine Kugel ins Magazin, steckte mir den Lauf in den Mund. Ich war von morgens bis abends betrunken. Das Haus sah aus wie ein Schweinekoben und roch wie eine Gruft.
Kraft schöpfte ich nur aus den Weinflaschen. Manchmal
schrie ich, hämmerte gegen die Wände. Einige Nachbarinnen besuchten mich, aber ich warf sie hinaus. Und dann, eines Morgens, an dem ich beim Anblick meines Robinsongesichts im Spiegel vor mir selbst erschrak, kam eine Schwester aus dem Krankenhaus und klopfte an die Tür.
In ihren Armen trug sie ein kleines Bündel aus Wolle, das sich schwach bewegte: Es war das Kind. Aber davon werde ich später erzählen, nicht jetzt. Ich werde davon berichten, wenn ich mit allem anderen fertig bin.




XX


Mierck hatte den kleinen Bretonen ins Gefängnis von V. sperren lassen, obwohl die Armee ihren Wunsch bekräftigt hatte, ihn standrechtlich zu erschießen. Es ging allen Ernstes darum, wer ihn als Erster um die Ecke bringen durfte. Dafür benötigte man etwas Zeit. Was mir Gelegenheit gab, ihn zu besuchen. Er war seit sechs Wochen da.
Das Gefängnis kannte ich. Es war ein ehemaliges mittelalterliches Kloster. Häftlinge hatten die Mönche abgelöst. Das war alles. Ansonsten hatte sich das Gebäude nicht wesentlich verändert. Das Refektorium war immer noch der Speisesaal, die Zellen blieben Zellen. Man hatte nur einige Gitterstäbe, Türen und Schlösser eingebaut und auf den Oberkanten der Mauern mit Stacheldraht umwickelte Metallpfähle eingeschlagen. Licht drang kaum in das große Gebäude. Es war immer dunkel dort, selbst bei hellem Sonnenschein. Sobald man es betrat, überfiel einen das Bedürfnis, es schnellstens wieder zu verlassen, wenn möglich im Galopp. Ich behauptete, der Richter habe mich geschickt. Das stimmte nicht, aber niemand fragte nach einer Bestätigung. Man kannte mich.
Als der Aufseher mir die Zellentür des kleinen Bretonen öffnete, konnte ich zunächst nicht viel erkennen. Aber ich hörte etwas. Er sang, ganz leise, mit einer Kinderstimme, die übrigens angenehm war. Der Aufseher ließ mich dort und schloss die Tür. Meine Augen gewöhnten sich an das Dunkel, und ich sah ihn: Er kauerte vornüber gebeugt und mit unters Kinn gezogenen Knien in einer Ecke des Raumes, wiegte den Kopf hin und her und sang dabei sein Lied. Ich sah ihn zum ersten Mal. Er wirkte jünger, als er eigentlich war. Er hatte schöne blonde Haare und blaue Augen, die auf den Boden starrten.
Ich weiß nicht, ob er mich kommen gehört hatte, aber als ich ihn ansprach, schien er nicht überrascht. «Du bist der Mann, der die Kleine ermordet hat?», fragte ich ihn.
Er hörte mit seinem Lied auf und trällerte, ohne den Blick zu heben, auf dieselbe Melodie: «Ich war's, ich war's. Ja wirklich, ich war's, ja wirklich, ich war's ...» Ich sagte: «Ich bin weder der Richter noch der Oberst, vor mir brauchst du keine Angst zu haben, du kannst mir alles erzählen.»
Und er blickte zu mir auf, mit einem abwesenden Lächeln, als sei er bereits weit weg. Er wackelte mit dem Kopf, so wie die Engelchen an der Krippe, die lange dankbar nicken, wenn man ein Geldstück eingeworfen hat. Ohne noch etwas zu sagen, begann er wieder mit seinem Lied, das von reifem Korn, Lerchen, Hochzeit und Blumensträußen handelte.
Ich blieb einige Zeit bei ihm, sah ihn an, vor allem seine Hände, und fragte mich, ob das wohl die Hände eines Verbrechers seien. Als ich hinausging, wendete er nicht den Kopf, sondern sang leicht schwankend weiter. Anderthalb Monate später, nachdem er wegen Desertion und Mord vor dem Militärgericht erschienen war, wurde er von beiden Anklägern für schuldig befunden und unmittelbar darauf standrechtlich erschossen. Der Fall war gelöst.

Mierck und Matziev war es gelungen, in einer einzigen Nacht aus einem kleinen Bauern erst einen halb Verrückten, dann einen geständigen Schuldigen zu machen. Natürlich erfuhr ich von den Ereignissen in der bewussten Nacht erst später, als ich endlich Despiaux ausfindig gemacht hatte. Ich erfuhr aber schon damals, dass weder der Richter noch der Oberst zum Staatsanwalt gegangen waren, um ihn zu befragen. Was Joséphine erzählt hatte, war in Vergessenheit geraten, und ich habe mich häufig gefragt warum. Schließlich hasste Mierck Destinat, das war sonnenklar. Die Gelegenheit war günstig, seinen guten Namen und sein Cäsarengesicht in die Gosse zu treten.

Aber ich glaube, es gibt etwas, das stärker ist als der Hass, nämlich die Gepflogenheiten einer bestimmten Gesellschaftsschicht. Destinat und Mierck gehörten derselben Welt an, die durch gute Herkunft, Erziehung in Spitzenkragen, Handküsse, Motorfahrzeuge, Holztäfelungen und Geld bestimmt war. Über allen persönlichen Launen, höher als alle Gesetze, die Menschen erlassen können, stehen in ihr ein geheimes Einverständnis und unbedingte Höflichkeit: «Tust du mir nichts, tu ich dir nichts.» Anzunehmen, einer der eigenen Leute könnte ein Mörder sein, hieße glauben, man könnte auch selbst einer werden. Es würde bedeuten, man bewiese vor aller Augen, dass Männer, die uns das Wort im Mund herumdrehen und uns von oben herab betrachten, als wären wir Fliegendreck, eine nicht weniger verdorbene Seele haben und nicht mehr wert sind als alle anderen auch. Und das wäre der Anfang vom Ende, vom Ende ihrer Welt. Es kann also nicht geduldet werden.
Und außerdem, warum hätte Destinat Belle de Jour töten sollen? Dass er mit ihr sprach, war ja möglich, aber sie töten?
In den Taschen des kleinen Bretonen fand man bei seiner Verhaftung einen in der linken oberen Ecke mit einem Bleistiftkreuz markierten Fünf-Franc-Schein. Adelaide Siffert bezeugte in aller Form, dass es sich dabei um den handelte, den sie ihrer Patentochter an jenem Sonntag gegeben hatte. Die Kreuze waren ihr Tick, sie markierte die Geldscheine, um zu zeigen, dass sie wirklich ihr gehörten und niemandem sonst.
Der Deserteur schwor, er habe den Schein am Kanal gefunden, auf der Uferböschung. Er war also wirklich dort entlanggegangen. Ja, und was weiter? Was beweist das? Sie hatten sogar dort geschlafen, der Drucker und er, aneinander gedrängt unter der rot gestrichenen Brücke, geschützt vor Kälte und Schnee: Die Gendarmen hatten das platt gedrückte Gras gesehen und den Abdruck zweier Körper. Auch das hatte er ohne Umschweife zugegeben.
Am anderen Ufer, fast gegenüber der Stelle, wo die kleine Tür in den Schlosspark führt, befindet sich das Labor der Fabrik, ein nicht besonders hohes, lang gestrecktes Gebäude, das aussieht wie ein großer, bei Tag und Nacht erleuchteter Glaskäfig. Bei Tag und Nacht, weil die Fabrik niemals stillsteht und weil im Labor permanent zwei Ingenieure Dienst tun, um die Dosierungen und die Qualität dessen zu überprüfen, was aus dem Bauch des Ungeheuers quillt.
Als ich darum bat, mit den Männern sprechen zu dürfen, die in der Nacht, als das Verbrechen geschah, Dienst taten, sah Arsene Meyer, der Personalchef, nur den Bleistift an, den er in der Hand hielt, und wendete ihn in alle Richtungen.
«Steht da die Antwort drauf?», fragte ich. Wir kannten uns lange, und außerdem war er mir etwas schuldig: Ich hatte ein Auge zugedrückt, als sein Ältester, ein richtiger Tunichtgut, im Jahr 1915 geglaubt hatte, das Armeematerial, das in Schuppen auf der Place de la Liberte zwischengelagert war, also Decken, Kochgeschirr und Essensrationen, gehöre ihm. Ich hatte den langen Einfaltspinsel bloß ein bisschen zusammengestaucht. Er brachte alles zurück, und ich erstattete keine Anzeige. Keiner hatte etwas gemerkt.
«Sie sind nicht mehr da», sagt Meyer. «Und seit wann sind sie nicht mehr da?», frage ich. Da sieht er seinen Stift an, nuschelt etwas, und ich muss
die Ohren spitzen, um ihn zu verstehen.
»Sie sind nach England gegangen, vor etwa zwei
Monaten.»
England war, vor allem zu Kriegszeiten, fast das Ende
der Welt. Und zwei Monate zuvor, das war kurz nach
dem Verbrechen.
«Und warum?»
«Man hat es ihnen befohlen.»
«Wer?»
«Der Direktor.»
«War ihre Abreise geplant?»
Meyer zerbricht den Stift. Schweißperlen stehen ihm auf der Stirn.
«Wär besser, wenn du jetzt gehst», sagt er. «Ich habe meine Anweisungen, und auch wenn du Polizist bist: Verglichen mit den Hechten bist du doch nur ein kleiner Fisch.»
Ich wollte nicht weiter in ihn dringen. Ich habe ihn mit seiner Verlegenheit allein gelassen, weil ich glaubte, am nächsten Tag würde ich meine Fragen dem Direktor selbst stellen können.
Aber es kam nicht so weit. Am fraglichen Morgen überbrachte man mir bei Tagesanbruch eine Nachricht. Der Richter wolle mich sehen, so schnell wie möglich. Ich wusste warum. Die Neuigkeit hatte sich in Windeseile verbreitet.
Wie gewöhnlich empfing mich Crouteux, wie gewöhnlich ließ man mich eine gute Stunde im Vorzimmer schmoren. Hinter der ledergepolsterten Tür hörte ich Stimmen, fröhliche Stimmen, wie mir schien. Als Crouteux zurückkam und mir sagte, der Herr Richter werde mich nun empfangen, war ich gerade dabei, mit dem Finger ein Stück rote Seidentapete abzukratzen, die sich von der Wand löste. Ich hatte bereits gut vierzig Zentimeter heruntergeschält und in kleine Streifen zerrissen. Der Gerichtsschreiber sah mich überrascht und gequält an, mit einem Ausdruck, der Kranken vorbehalten ist, sagte aber nichts. Ich folgte ihm. Mierck saß in seinem Sessel, den Oberkörper zurückgelehnt. Zu seiner Seite Matziev wie ein längerer, dünnerer Doppelgänger, ein Seelenverwandter. Man gewann den Eindruck, die beiden Scheusale hätten sich ineinander verliebt, denn sie wichen einander nicht mehr von der Seite. Matziev zögerte seine Abreise hinaus. Er wohnte noch immer bei Bassepin und machte uns mit seinem Grammophon ganz benommen im Kopf. Wir mussten bis Ende Januar warten, dass er endlich verschwand. Mierck ging schnurstracks auf mich los. «Mit welchem Recht sind Sie in die Fabrik gegangen», kläffte er. Ich antwortete nicht.
«Wonach suchen Sie noch? Der Fall ist gelöst, die Schuldigen haben bezahlt!»
«In der Tat, das sagt man», antwortete ich, was ihn noch
mehr in Rage brachte.
«Was? Was unterstellen Sie da?»
«Ich unterstelle gar nichts. Ich tue nur meine Arbeit.» Matziev spielte mit einer Zigarre herum, die er noch nicht angezündet hatte. Mierck ging abermals zum Angriff über. Er sah aus wie ein Spanferkel, dessen Eier zwischen zwei Ziegelsteinen eingequetscht wurden. «Genau, tun Sie Ihre Arbeit und lassen Sie anständige Leute in Frieden. Wenn ich noch einmal höre, dass Sie, wem auch immer, Fragen zu diesem erledigten und abgeurteilten Fall stellen, dann werde ich Ihre Absichten zu verhindern wissen. Ich kann allerdings verstehen», fuhr er mit sanfterer Stimme fort, «dass Sie unter den gegenwärtigen Umständen nicht ganz Herr Ihrer selbst sind, der Tod Ihrer jungen Gattin, der Schmerz ...» Als ich ihn von Clémence sprechen hörte, als er ihr Bild, ihren Namen heraufbeschwor, traf es mich wie ein Schlag. «Schweigen Sie», befahl ich. Er riss die Augen auf, lief puterrot an und zeterte wütend weiter.
«Wie bitte? Sie wagen es, mir Befehle zu erteilen? Sie?» «Sie können mich mal», erwiderte ich. Mierck hätte sich fast an seinem Stuhl die Visage eingeschlagen. Matziev musterte mich, sagte nichts, zündete die Zigarre an und schüttelte dann lange das Zündholz, ob-wohl es schon erloschen war.
Draußen auf der Straße schien die Sonne. Ich fühlte mich leicht angeheitert und hätte gern mit jemandem geplaudert, mit einem Vertrauten, der die Dinge so sah wie ich. Ich spreche nicht von der Affäre. Ich meine das Leben, die Zeit, alles und nichts.
Da fiel mir Mazerulles ein, der Sekretär des Schulinspektors, den ich nach dem Tod Lysia Verhareines aufgesucht hatte. Es wäre jetzt Balsam für mich gewesen, seine Rübe wieder zu sehen, seine graue Gesichtsfarbe, seine Augen, die feucht aussahen wie bei einem Hund in Erwartung der Hand, die ihn streicheln wird. Ich schlug den Weg Richtung Place des Carmes ein, wo sich das Gebäude der Schulbehörde befand. Ich hatte es nicht eilig.
Ein unbestimmtes Gewicht war von mir genommen, und mir trat wieder vor Augen, wie Miercks Gesicht ausgesehen hatte, während ich ihn zum Teufel gewünscht hatte. Wahrscheinlich war er bereits damit beschäftigt, von den Vorgesetzten meinen Kopf zu fordern. Es war mir egal.
Als ich den Hausmeister fragte, ob Mazerulles noch dort beschäftigt sei, hielt er seine Brille fest, die ständig hinunterzurutschen drohte.
«Monsieur Mazerulles ist vor einem Jahr von uns gegangen», war seine Antwort.
«Ist er denn noch in V.?», fragte ich weiter. Der Kerl hat mich angesehen, als käme ich vom Mond: «Ich denke, er wird sich wohl nicht vom Friedhof wegbewegt haben, aber Sie können ja mal hingehen und nachsehen.»




XXI


Die Wochen vergingen, es wurde Frühling. Jeden Tag ging ich zweimal zu Clemences Grab. Am Morgen und kurz bevor es Abend wurde. Ich sprach mit ihr. Im Plauderton des alltäglichen Gesprächs, in dem Liebesworte keine großartigen Verzierungen und schönen Zurichtungen brauchen, um zu funkeln wie Gold, erzählte ich ihr von meinem Tagesablauf, als lebte sie fürderhin an meiner Seite.
Ich hatte daran gedacht, alles, meine Arbeit und das Haus, aufzugeben und wegzugehen. Aber dann fiel mir ein, dass die Erde rund ist und ich sehr bald im Kreis gehen würde, kurz, dass Weggehen dumm wäre. Ich hatte ein wenig auf Mierck gezählt, der mir zu einer Reise in fremde Länder verhelfen sollte. Ich hatte vermutet, er würde sich rächen wollen und bestimmt einen Weg finden, mich versetzen oder auf die Straße werfen zu lassen. Ich war ein Feigling, in der Tat. Eine Entscheidung, die nur ich allein treffen konnte, legte ich in fremde Hände. Aber Mierck unternahm nichts, jedenfalls nichts, das Erfolg gehabt hätte. Man schrieb das Jahr 1918. Es roch nach dem Ende des Krieges. Heute, da ich das aufschreibe, ist es leicht, so etwas zu sagen, weil ich weiß, dass er wirklich 1918 zu Ende war, aber ich glaube, ich irre mich nicht. Man ahnte das Ende, und daher wurden die letzten Transporte mit Verwundeten und Toten, die bei uns durchfuhren, noch schrecklicher und sinnloser. Die kleine Stadt war weiterhin voll Verletzter und Verstümmelter, die man mehr schlecht als recht zusammengeflickt hatte. Das Krankenhaus wurde nicht leer, wie ein teures Hotel in einem Seebad, das man sich unter Angehörigen der feinen Gesellschaft weiterempfiehlt. Außer dass hier seit vier Jahren ohne Pause Hauptsaison war. Manchmal sah ich von weitem Madame de Flers, und mein Herz schlug heftiger, als könnte sie, wenn sie mich sähe, wie damals auf mich zukommen und mich an Clémences Bett führen. Jeden Tag oder doch beinahe täglich ging ich ans Ufer des kleinen Kanals und fuhr fort, wie ein eigensinniger oder begriffsstutziger Hund dort herumzustöbern, weniger um neue Details zu entdecken als in der Hoffnung, die Ereignisse nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Häufig erahnte ich Destinats hohe Gestalt hinter den Mauern des Parks, und ich wusste, dass er mich dort auf und ab gehen sah. Seit er in Pension gegangen war, verließ er sein Haus so gut wie nie mehr und empfing noch seltener Gäste als früher. Das heißt, er empfing niemanden mehr und verbrachte seine Tage schweigend, noch nicht einmal lesend, am Schreibtisch sitzend, mit verschränkten Händen – das hat Barbe mir gesagt – und sah aus dem Fenster oder drehte seine Runden im Park wie ein einsames Tier. Im Grunde unterschieden wir uns nur wenig voneinander.
Eines Tages, am 13. Juni, als ich wieder einmal die Böschung entlanggegangen war und die Brücke passiert hatte, hörte ich das Gras hinter mir rascheln. Ich drehte mich um. Er war es. Noch größer als in meiner Erinnerung, mit glatt aus der Stirn gekämmtem Haar von einem beinahe weißen Grau, schwarz gekleidet und mit makellos gewienerten Schuhen, in der rechten Hand einen Stock mit kurzem Elfenbeinknauf. Er sah mich an und blieb stehen. Ich glaube, er hatte darauf gewartet, dass ich vorbeikommen würde, und war in diesem Moment aus der hinteren Tür seines Parks getreten. Eine Weile sahen wir uns an, ohne etwas zu sagen, so wie Wilde sich mustern, bevor sie aufeinander losgehen, oder wie alte Freunde, die sich seit Ewigkeiten nicht gesehen haben. Ich machte keine gute Figur. Ich glaube,
die Zeit hatte meinen Körper und mein Gesicht innerhalb
weniger Monate schlimmer gezeichnet als davor in zehn
Jahren.
Dann ergriff Destinat das Wort:
«Ich sehe Sie oft hier, wissen Sie.» Er ließ seinen Satz verklingen, ohne ihm ein Ende geben zu wollen oder zu können. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte schon so lange kein Wort mehr an ihn gerichtet, dass ich nicht genau wusste, wie man das machte.
Er stocherte mit der Spitze seines Stocks im Gras auf der Böschung herum, kam ein wenig näher und musterte mich, nicht bösartig, aber krankhaft eindringlich. Das Seltsamste war, dass mir dieser Blick nicht peinlich war, sondern eher wohltuend wirkte, friedlich, beruhigend, wie wenn ein Arzt, den man seit der Kindheit kennt, einen untersucht.
«Sie haben mich nie gefragt, ob ...» Wieder brachte er seinen Satz nicht zu Ende. Ich sah, wie seine Lippen leicht bebten und seine Augen wegen des Lichts eine Sekunde lang blinzelten. Ich wusste genau, worüber er sprechen wollte. Wir verstanden uns perfekt. «Hätte ich eine Antwort bekommen?», fragte ich und ließ meine Worte nicht weniger schleppen als er seine. Er atmete tief ein, ließ in der linken Hand seine Uhr, die an einer Kette hing und an der ein eigenartiger, winziger Schlüssel befestigt war, klingen, sah in die Ferne, zum Himmel hinauf, der von einem schönen Hellblau war, und blickte dann rasch zu mir zurück. «Man muss den Antworten misstrauen, sie sind nie das, was man haben will, finden Sie nicht auch?» Dann kickte er einen Moosballen, den er mit dem Stock gelöst hatte, mit der Schuhspitze ins Wasser. Weiches Moos, von einem frischen Grün, das in einem Strudel Walzer tanzte, bevor es zur Mitte des Kanals trieb und verschwand.
Ich wandte mich zu Destinat zurück. Er war verschwunden.

Das Leben fing wieder an, wie man so sagt, und der Krieg ging zu Ende. Nach und nach leerten sich das Krankenhaus und unsere Straßen. Die Cafés machten schlechtere Geschäfte, und Agathe Blanchard hatte weniger Kunden. Söhne und Ehemänner kehrten zurück. Einige gesund, andere schwer beschädigt. Und obwohl viele nie wieder auftauchten, bestand bei manchen entgegen aller Wahrscheinlichkeit noch immer die Hoffnung, man könnte sie eines Tages um die Straßenecke biegen sehen. Die Familien, deren Angehörige in der Fabrik arbeiteten, hatten den Krieg ohne allzu große Sorgen und Entbehrungen überstanden. Die anderen hatten vier entsetzliche Jahre hinter sich. Dieser Graben vertiefte sich weiter, wenn ein paar Tote darin vermodert waren. Manche sprachen nicht mehr miteinander. Andere begannen sich zu hassen. Bassepin zog seinen Handel mit Ehrenmalen auf. Eines der ersten, das er lieferte, war übrigens das in unserer Stadt: ein Frontsoldat mit der Fahne in der Linken und dem Gewehr in der Rechten, der seinen ganzen, aufs leicht gebeugte Knie gestützten Körper weit nach vorne reckt, neben sich einen riesigen, stolzen gallischen Hahn, festgehalten in einem Augenblick, da er, hoch auf die Sporne aufgerichtet, aus Leibeskräften loskräht. Der Bürgermeister weihte das Ehrenmal am 11. November 1920 ein. Er hielt eine mit Tremolos, rhetorischen Höhenflügen und Augenrollen verzierte Rede, dann las er die Namen der dreiundvierzig armen Teufel aus unserem Städtchen vor, die für das Vaterland gefallen waren, und machte nach jedem Namen eine Pause, damit Aimé Lachepot, der Feldhüter, einen dumpfen Trommelwirbel schlagen konnte. Frauen in Schwarz weinten. Kleine Kinder fassten ihre Hände und versuchten, sie zu Margot Gagneures Laden hinüberzuziehen, der wenige Schritte entfernt alle Arten von Kleinkram feilbot, insbesondere Lakritzstangen und Honiglutscher.

Dann wurde die Fahne gehisst. Die Musikkapelle spielte eine düstere Melodie, und alle hörten aufrecht und mit starrem Blick zu. Sobald der letzte Takt verklungen war, eilten sie zum Bürgermeisteramt, wo ein Ehrenumtrunk gereicht wurde. Man vergaß die Toten bei Schaumwein und Pastetenbroten, unterhielt sich und begann sogar wieder zu lachen. Nach einer Stunde ging man schließlich auseinander und bereitete sich darauf vor, Jahr für Jahr die Komödie der schweren Herzen und der traurigen Erinnerung zu spielen.
Auch Destinat war bei der Feier zugegen, stand in der ersten Reihe zwei Meter vor mir. Aber ins Bürgermeisteramt kam er nicht. Langsam ging er zurück ins Schloss. Obwohl er seit gut vier Jahren in Pension war, fuhr er noch immer von Zeit zu Zeit nach V. Le Grave ließ für zehn vor zehn anspannen. Um Punkt zehn kam Destinat herunter, setzte sich in die Kutsche, und los ging's. In der Stadt angelangt, spazierte er dann durch die Straßen, immer den gleichen Weg, Rue Marville, Place de la Prefecture, Allee Baptiste-Villemaux, Rue Plassis, Rue d'Autun, Square Fidon, Rue des Bourelles. Le Grave fuhr in zwanzig Meter Abstand hinter ihm her und zügelte die beiden Pferde, die unruhig auf der Stelle traten und auf die Straße äpfelten. Von einigen Leuten wurde Destinat gegrüßt; dann neigte er leicht den Kopf, wechselte aber nie ein Wort mit ihnen.
Mittags betrat er den Rébillon, wo Bourrache ihn empfing. Er hatte noch immer seinen Tisch, aß unabänderlich die gleichen Speisen und trank den gleichen Wein wie zu der Zeit, als er noch Köpfe abschneiden ließ. Der Unterschied bestand darin, dass er sich nach dem Kaffee Zeit nahm. Der Speisesaal leerte sich, Destinat blieb sitzen. Dann winkte er Bourrache herbei, er solle ihm Gesellschaft leisten. Der Wirt griff nach zwei kleinen Gläsern, einer der besten Flaschen Obstgeist und nahm dem Staatsanwalt gegenüber Platz. Er füllte die Gläser und kippte seines hinunter. Destinat hingegen schnupperte bloß an dem Alkohol, führte ihn aber nie an die Lippen. Dann unterhielten sich die beiden.
«Und worüber?», habe ich eines Tages, aber erst sehr viel später, Bourrache zu fragen gewagt. Sein Blick ging ins Weite. Es schien, als betrachte er ein entferntes Geschehen oder ein verschwommenes Bild. Seine Augen begannen zu glänzen. «Über meine Kleine», sagte er, und Tränen liefen über seine schlecht rasierten Wangen.
«Vor allem der Staatsanwalt sprach, ich hörte meist zu. Man hätte meinen können, er habe sie besser gekannt als ich, obwohl ich nie gesehen hab, dass sie auch nur ein Wort an ihn richtete, als sie noch unter uns weilte. Sie sagte kaum ein Wort, wenn sie ihm das Brot brachte oder eine Karaffe mit Wasser. Aber er schien alles über sie zu wissen. Er beschrieb mir ihr Äußeres, erzählte von ihrer Gesichtsfarbe, ihren Haaren, ihrer Vogelstimme, der Form und Farbe ihres Mundes, und er nannte die Namen von Malern der Vergangenheit, die ich nicht kannte, und sagte, sie hätte auf deren Bildern gemalt sein können. Dann stellte er mir alle möglichen Fragen, über ihr Wesen, ihre Angewohnheiten, ihre Kinderwörter, ihre Krankheiten, ihre ersten Jahre, und ich musste erzählen und erzählen, er ließ nie locker.
Es war immer das Gleiche: <Wollen wir uns ein wenig über sie unterhalten, mein lieber Bourrache>, fing er an. Ich legte keinen Wert darauf, mir tat das Herz davon jedes Mal so weh, dass der Schmerz den ganzen Tag und auch den Abend über anhielt, aber ich traute mich nicht, dem Staatsanwalt das zu sagen, also erzählte ich. Eine Stunde, zwei Stunden, ich glaube, ich hätte tagelang reden können, und es wäre ihm nie zu viel geworden. Ich fand seine Leidenschaft für meine tote Kleine eigenartig, aber ich dachte, das muss wohl das Alter sein, er wird ein wenig wunderlich, das ist alles, und dass ihm die Tatsache, dass er allein war und kein Kind hatte, keine Ruhe ließ.
Einmal fragte er mich sogar, ob ich nicht eine Fotografie von der Kleinen hätte, die ich ihm geben könne. Was denken Sie denn, Fotografien, die sind teuer, und damals machte man kaum welche. Ich hatte nur drei, und auf einer waren meine drei Töchter zu sehen. Belles Patentante hatte sie haben wollen und auch bezahlt. Sie hatte sie zu Isidorc Kopieck gebracht, wissen Sie, dem Russen in der Rue des Etats. Er hatte sie posieren lassen, die beiden Großen sitzen auf dem Boden in einer Dekoration aus Gras und Blumen, und Belle steht in der Mitte, lächelnd und voll Anmut, eine richtige heilige Jungfrau. Ich hatte drei Abzüge dieser Fotografie, für jedes Mädchen eine, und so habe ich dem Staatsanwalt Belles Abzug gegeben. Wenn Sie ihn gesehen hätten: Er sah aus, als hätte ich ihm einen Goldschatz geschenkt. Fing an, am ganzen Körper zu zittern, bedankte sich in einem fort und schüttelte mir die Hand, als wollte er sie ausreißen.
Das letzte Mal kam er eine Woche vor seinem Tod. Wieder dasselbe Ritual, die Mahlzeit, der Kaffee, der Obstler, das Gespräch. Seine beständig gleichen Fragen. Aber dann sagt er, nach langem Schweigen und beinahe flüsternd, und es klingt wie ein Sinnspruch: <Sie hat nie erfahren, was das Böse ist, sie ist von uns gegangen, ohne es kennen zu lernen, während uns das Böse hässlich gemacht hat ...> Dann ist er langsam aufgestanden und hat mir lange die Hand gedrückt. Ich half ihm in den Mantel, er nahm seinen Hut und hat sich im ganzen Saal umgeschaut, als wollte er ihn ausmessen. Ich öffnete die Tür und sagte: <Bis zum nächsten Mal, Herr Staatsanwalt>, er lächelte, hat aber nichts geantwortet. Dann ist er gegangen.»

Schreiben ist schmerzhaft. Das merke ich seit Monaten, seit ich damit begonnen habe. Hand und Seele tun einem weh davon. Der Mensch ist nicht für diese Arbeit gemacht, und wozu soll sie gut sein? Was nützt sie mir? Wäre Clémence bei mir geblieben, dann hätte ich diese vielen Seiten nie voll gekritzelt, trotz des geheimnisvollen Todes von Belle de Jour, trotz des Todes des kleinen Bretonen, der als Schandfleck auf meinem Gewissen lastet. Ja, allein ihre Gegenwart hätte gereicht, mich von der vergangenen Zeit loszulösen und zu stärken. Im Grunde schreibe ich also nur für sie, ich tue so, als ob, führe mich selbst hinters Licht, um mich davon zu überzeugen, dass sie auf mich wartet, wo auch immer sie sein mag. Und dass sie alles hört, was ich ihr zu sagen habe.
Schreiben lässt mich zu zweit weiterleben. Wenn man lange allein lebt, kann man sich auch dazu entschließen, laut mit den Dingen und Wänden zu sprechen. Was ich tue, unterscheidet sich kaum davon. Ich habe mich oft gefragt, welche Wahl der Staatsanwalt wohl getroffen hat. Wie verbrachte er seine Stunden, wem widmete er seine Gedankenspiele, seine Selbstgespräche? Ein Witwer versteht den anderen, das jedenfalls ist mein Eindruck. Es gab vieles, was uns einander hätte näher bringen können. XII


Als ich am 27. September 1921 die Rue des Pressoirs überquerte, fuhr mich ein Automobil, das ich nicht kommen gesehen hatte, über den Haufen. Meine Stirn schlug auf die Bordsteinkante. Ich erinnere mich, dass ich im Augenblick des Schocks an Clémence dachte, und ich erinnere mich außerdem, dass ich an sie dachte wie an eine lebendige Frau, der man binnen kurzem mitteilen würde, ihr Gatte habe einen Unfall gehabt. Ich erinnere mich auch, dass ich in diesem Bruchteil einer Sekunde auf mich selber böse war, weil ich so zerstreut gewesen war und ihr durch eigene Schuld Kummer bereitet hatte. Dann wurde ich ohnmächtig und empfand so etwas wie Glück, als würde ich in ein sanftes, stilles Land hinübergezogen. Als ich später im Krankenhaus aufwachte, sagte man mir, ich hätte sieben volle Tage lang in diesem seltsamen Schlaf gelegen, sieben Tage außerhalb meines Lebens sozusagen, sieben Tage, an die ich keinerlei Erinnerung habe, abgesehen von einem Gefühl von Schwärze und wattiger Dunkelheit. Die Ärzte im Krankenhaus glaubten übrigens, ich würde nie mehr erwachen. Sie irrten sich. Ich hatte kein Glück. «Sie waren nur um Haaresbreite vom Tod entfernt!», sagte einer zu mir, der sich freute, als er mein Erwachen bemerkte. Er war ein lustiger junger Kerl mit schönen kastanienbraunen Augen. Er hatte noch alle Illusionen, die man in seinem Alter haben kann. Ich habe ihm nicht geantwortet. Die Frau, die ich geliebt habe und noch immer liebe, habe ich in dieser langen Nacht nicht wieder gesehen. Ich habe sie weder gehört noch gespürt; der Arzt musste sich also täuschen: Ich muss noch weit vom Tod entfernt gewesen sein, da mir ja nichts ihre

Gegenwart angekündigt hatte.
Man hat mich noch zwei Wochen dort behalten. Ich war von einer seltsamen Schwäche befallen. Ich kannte keine der Krankenschwestern, die sich um mich kümmerten, aber sie schienen mich zu kennen. Sie brachten mir Suppen, Kräutertee, gekochtes Fleisch. Ich sah mich nach Madame de Flers um. Ich fragte sogar eine von ihnen, ob sie noch da sei. Die Krankenschwester lächelte mich an, ohne mir zu antworten. Sie musste annehmen, ich rede im Delirium.
Als der Arzt der Meinung war, ich könne wieder sprechen, ohne mich zu sehr zu verausgaben, bekam ich Besuch vom Bürgermeister. Er drückte mir die Hand. Sagte, da sei ich ja nochmal mit dem Schrecken davongekommen. Er habe sich Sorgen gemacht. Dann kramte er in seinen Taschen und zog eine Packung klebriger Bonbons heraus, die er eigens für mich gekauft hatte. Er legte sie leicht verschämt auf den Nachttisch und sagte wie zur Entschuldigung:
«Ich wollte Ihnen eigentlich eine gute Flasche mitbringen, aber hier im Krankenhaus ist Wein verboten, also habe ich gedacht ... Sehen Sie, die Konditorei füllt die Dinger mit Mirabellengeist!»
Er lachte. Ich lachte mit, um ihm eine Freude zu machen. Ich wollte sprechen, ihm Fragen stellen, aber er legte den Finger auf den Mund, als wollte er sagen, dafür sei noch Zeit. Die Krankenschwestern hatten ihm gesagt, man müsse vorsichtig mit mir umgehen, nicht zu viel mit mir reden und mich ja nicht zum Sprechen veranlassen. So blieben wir eine Weile mehr oder weniger zusammen und schauten abwechselnd stumm die Bonbons, die Zimmerdecke oder das Fenster an, durch das man nichts sehen konnte außer einem Stück Himmel, keinen Baum, keinen Hügel, keine Wolken.
Dann erhob sich der Bürgermeister, drückte mir abermals lange die Hand und ging. An diesem Tag sagte er mir noch nichts von Destinats Tod. Davon erfuhr ich erst etwas später, durch Pater Lurant, der mich ebenfalls besuchte.
Es war am Tag nach meinem Unfall geschehen. Er war auf die einfachste Art der Welt gestorben, zu Hause, ohne Aufsehen und Geschrei, an einem schönen rotgoldenen, noch durch die Erinnerung an den Sommer eingefärbten Herbsttag.
Wie jeden Nachmittag war er nach draußen gegangen, um seinen Spaziergang im Schlosspark zu machen, hatte sich am Ende wie sonst auch auf die Bank gesetzt, von der aus man die Guerlante übersah, und beide Hände auf seinen Stock gelegt. Gewöhnlich blieb er eine knappe Stunde so sitzen und kam dann wieder ins Haus. Weil Barbe ihn diesmal nicht zurückkommen sah, ging sie in den Park hinaus, sah ihn, von weitem und von hinten, immer noch auf der Bank sitzen, war beruhigt und kehrte in die Küche zurück, wo sie gerade einen Kalbsbraten vorbereitete. Aber sobald der Braten zugerichtet und das Gemüse für die Suppe geputzt, geschnitten und in den Topf geworfen war, fiel ihr ein, dass sie noch immer nicht den Schritt des Staatsanwalts gehört hatte. Sie ging erneut hinaus, sah ihn abermals auf der Bank sitzen, gleichgültig gegen den Nebel, der aus dem Fluss aufstieg, und gegen die Nacht, die nach und nach alle Bäume des Parks umfing. Da entschloss sich Barbe, zu ihrem Herrn hinüberzugehen, um ihm zu sagen, das Abendessen sei bald fertig. Sie ging durch den Park, rief, erhielt aber keine Antwort. Als sie dann dicht bei ihm war, nur wenige Meter noch entfernt, hatte sie eine Vorahnung. Sie ging langsamer um die Bank herum und sah Destinat, mit aufrechtem Oberkörper und weit geöffneten Augen, die Hände über den Knauf des Stocks gelegt. Er war mausetot.
Es heißt, das Leben sei ungerecht, aber der Tod ist es noch viel mehr, jedenfalls das Sterben. Manche müssen lange leiden, andere verscheiden mit einem Seufzer. Die Gerechtigkeit ist nicht von dieser Welt, aber auch nicht von der anderen. Destinat war ohne Lärm, ohne Schmerz, ohne Vorankündigung verschieden. Er war so einsam gestorben, wie er gelebt hatte.
Pater Lurant erzählte mir, es habe ein Staatsbegräbnis gegeben mit allem, was die Gegend an einflussreichen und wohlhabenden Leuten aufzubieten hatte. Die Männer erschienen im schwarzen Anzug, die Frauen in dunklen Farben, die Gesichter hinter grauen Schleiern verborgen. Der Bischof, der Präfekt und ein stellvertretender Staatssekretär waren angereist. Der ganze Trauerzug begab sich zum Friedhof, wo Destinats Nachfolger eine Rede hielt. Dann kam Ostranes Auftritt. Wie es sich gehört. Mit seiner Schaufel und seinem umständlichen Gehabe.
Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, suchte ich, bevor ich noch nach Hause ging, als Erstes den Friedhof auf und besuchte Clémence. Ich ging sehr langsam, mit einer Steifigkeit im linken Bein, die ich nie mehr losgeworden bin und durch die ich wirke wie ein Kriegsveteran, ausgerechnet ich, der in keinem Krieg gekämpft hat.
Ich habe mich auf Clémences Grab gesetzt und ihr von meinem Unfall erzählt, von meiner Angst, ihr Kummer zu bereiten, meinem langen, süßen Schlaf, meinem enttäuschenden Erwachen. Ich habe den Marmor gereinigt, den Klee ausgerissen, der entlang der Platte wuchs, und mit dem Handballen die Flechten abgerieben, die das Kreuz hatten aufquellen lassen. Dann habe ich einen Kuss in ihre Richtung geworfen, in eine Luft, die nach Humus und feuchtem Gras duftete. Destinats Grab verschwand ganz unter Blumen und Kränzen. Einige verstreuten schon verfärbte Blütenblätter auf dem umliegenden Kies, andere leuchteten noch und fingen manchmal einen Sonnenstrahl ein, der sie einen Augenblick lang wie Diamanten glitzern ließ. Daneben gab es zusammengefallene Sträuße, Schärpen, verzierte Plaketten, Visitenkarten in ungeöffneten Umschlägen. Ich sagte mir, dass er es geschafft hatte, weil er endlich an der Seite seiner Frau ruhte. Er hatte sich Zeit gelassen. Ein ganzes Leben lang. Ich dachte an seine hoch gewachsene Gestalt, an sein Schweigen, sein Geheimnis, diese Mischung aus Strenge und Distanz, die seiner Person entströmte, und ich fragte mich, ob ich vor dem Grab eines Mörders oder eines Unschuldigen stand.




XXIII


Einige Jahre später, nach Barbes Beerdigung, sagte ich mir, nun sei es endlich an der Zeit für mich, ins Schloss zu gehen. Der Schlüssel, den sie mir anvertraut hatte, machte mich zum Herren über das verwaiste Anwesen. Vom Friedhof aus ging ich zu dem großen Wohnhaus hinüber, als wäre ich unterwegs zu etwas, das mich seit langem erwartete und das aufzusuchen ich bis dahin nur nicht den Mut gefunden hatte.
Als ich den Schlüssel in der Tür umdrehte, fühlte ich mich, als erbräche ich das Siegel eines Briefes. Zu Lebzeiten des Staatsanwalts hatte ich nie einen Fuß ins Schloss gesetzt. Das war nichts für mich; ich hätte ausgesehen wie ein grobes Leintuch zwischen lauter seidenen Taschentüchern. Ich hatte mich damit zufrieden gegeben, darum herumzustreifen und es von fern ins Visier zu nehmen, wenn es mit seinem hohen Schieferdach und den Giebeln aus Kupfer glühte wie in einer Feuersbrunst. Dann war Lysia Verhareine gestorben, Destinat hatte mich fassungslos auf der höchsten Stufe der Freitreppe erwartet, und wir waren gemeinsam, schleppend wie Verurteilte, zu dem kleinen Haus gegangen und in ihr Zimmer hinaufgestiegen. Das Schloss war nicht das Haus eines Toten. Es war einfach nur ein leeres Haus, das seit langem von allem Leben verlassen war. Dass der Staatsanwalt, Barbe und auch Le Grave es bewohnt hatten, änderte nichts daran: Man spürte es schon in der Eingangshalle. Das Schloss war ein verstorbenes Gebäude, das vor Ewigkeiten aufgehört hatte zu atmen und in dem schon lange keine Gerüchte, Gespräche, Träume oder Seufzer mehr vernehmbar waren.
Drinnen war es nicht kalt oder staubig. Es gab keine
Spinnennetze und auch sonst nichts von dem schaurigen Plunder, den man zu finden erwartet, wenn man ein Grab aufbricht. Es gab Vasen, kostbare Tischchen, vergoldete Konsolen, auf denen in sächsischem Porzellan erstarrte Tanzpaare seit Jahrhunderten in ihren Menuettschritten eingefroren waren. Ein großer Spiegel warf dem Besucher sein Bild zurück, und ich musste feststellen, dass ich dicker, älter und hässlicher war, als ich es mir vorgestellt hatte: Vor mir stand ein entstelltes Abbild meines Vaters, ein grotesk Wiederauferstandener. In einer Ecke hielt ein Fayence-Hund Wache, mit weit aufgerissenem Maul, Reißzähnen aus blendendem Emaille und einer dicken, roten Zunge. Hoch oben von der Decke herab verstärkte ein tonnenschwerer Kronleuchter das unbehagliche Gefühl desjenigen, der unten stand. An der Wand gegenüber der Tür stellte ein großes, hochformatiges Bild in Silber-, Blau- und Cremetönen eine junge Frau in einem Ballkleid dar. Ein Perlendiadem bekränzte ihre Stirn, und ihre Gesichtshaut wirkte trotz des mit der Zeit nachgedunkelten Firnis blass. Ihr Mund war in einem dünn aufgetragenen Rosa gehalten, ihre Augen, die sich zu einem Lächeln zwangen, blickten melancholisch, und ihr Körper, in dem man herzzerreißende Verlassenheit erahnte, hielt sich elegant aufrecht, während eine Hand damit beschäftigt war, einen Fächer aus Perlmutt und Spitzen zu öffnen, und die andere sich auf den Kopf eines steinernen Löwen stützte.
Minutenlang verweilte ich dort und betrachtete diese Frau, die ich nie gesehen oder kennen gelernt hatte: Clélis de Vincey ... Clelis Destinat. Im Grunde war sie die Herrin des Hauses, die mich, den unbeholfenen Besucher, wortlos musterte.
Im ersten Augenblick hätte ich beinahe auf dem Absatz kehrtgemacht und das Weite gesucht. Mit welchem Recht drang ich hier ein, versetzte die reglose, von alten Geistern beherrschte Luft in Unruhe? Aber die Gestalt auf dem Porträt wirkte auf mich nicht feindselig, sondern nur erstaunt und liebenswürdig. Ich glaube, ich sagte etwas zu ihr, aber ich weiß nicht mehr genau was. Sie war eine Tote aus einer anderen Zeit. Ihre Kleidung, ihre Frisur, ihr Aussehen und ihre Pose machten sie zu einer Art eindrucksvollem und zerbrechlichem Ausstellungsstück in einem vergessenen Museum. Ihr Gesicht erinnerte mich an andere Gesichter, flüchtige, schemenhafte, die sich vor meinen Augen drehten und mal älter, mal jünger wirkten, sodass es mir nicht gelang, das eine oder andere in dieser Sarabande aufzuhalten, um es gründlicher zu studieren. Ich wunderte mich, dass der Staatsanwalt das Gemälde nie abgehängt hatte. Ich hätte mit einem so großen Bild von Clémence, das mir jeden Tag, jede Stunde, vor Augen gestanden hätte, nicht leben können. Ihre Porträts habe ich alle zerstört, auch das letzte und kleinste. Eines Tages habe ich diese lügnerischen Fotografien, auf denen ihr helles Lächeln erstrahlte, ins Feuer geworfen. Ich wusste, dass sie meinen Schmerz nur verstärkten. Aber vielleicht hatte Destinat das große Bild gar nicht mehr wahrgenommen, vielleicht war es ja zu einem beliebigen Gemälde geworden und nicht mehr das Bildnis jener Frau, die er geliebt und verloren hatte? Möglicherweise war es zu dieser musealen Entseelung gekommen, die bewirkt, dass man nicht gerührt ist, wenn man die Gestalt unter dem Firnis betrachtet, weil man annimmt, dass sie nie gelebt, geatmet, geschlafen, geschwitzt und gelitten hat wie wir? Halb heruntergelassene Jalousien tauchten die Zimmer in ein angenehmes Dämmerlicht. Alles war in Ordnung, tadellos aufgeräumt, wie in Erwartung eines in die Sommerfrische abgereisten Eigentümers, der von einem Tag auf den anderen zurückkommen konnte. Das Seltsamste war: Kein Geruch lag in der Luft. Erst ein Haus ohne Ge
rüche ist wirklich ein totes Haus.
Lange habe ich diese eigenartige Reise fortgesetzt, ein schamloser Eindringling, der aber, ohne es zu merken, einem gut markierten Weg folgte. Das Schloss verwandelte sich in eine Muschel, deren Windungen ich langsam nachging, auf ihr Zentrum zu. Ich passierte Küche, Kammern, Waschküche, Salon, Ess- und Raucherzimmer und kam schließlich zur Bibliothek, deren Wände vollständig mit Büchern bedeckt waren. Sie war nicht groß: Es gab einen Schreibtisch, auf dem sich Schreibutensilien, eine antike Leseleuchte, ein einfaches Papiermesser und eine Schreibunterlage aus schwarzem Leder befanden. Zu beiden Seiten des Schreibtisches standen zwei ausladende, tiefe Sessel mit nach vorn ansteigenden Armlehnen. Der eine war so gut wie neu, der andere bewahrte den Abdruck eines Körpers: Sein Leder war rissig und glänzte stellenweise. Ich habe mich in den neuen gesetzt. Man saß bequem darin. Die Sessel standen einander gegenüber. Vor mir also der, in dem Destinat manche Stunde mit Lesen verbracht hatte oder damit, an nichts zu denken.
Die an den Wänden wie Soldaten einer Papierarmee aufgestellten Bücher schluckten alle Geräusche von draußen. Man hörte nichts, weder den Wind noch das Dröhnen der nahe gelegenen Fabrik oder den Gesang der Vögel im Park. Auf der Armlehne von Destinats Sessel lag, mit dem Rücken nach oben, ein aufgeschlagenes Buch. Es war sehr alt, mit abgenutzten, eselsohrigen Seiten, ein Exemplar von Pascals Pensees, in dem seine Finger wahrscheinlich ein Leben lang geblättert hatten. Es liegt jetzt neben mir. Ich habe es mitgenommen. Es ist an derselben Seite aufgeschlagen, an der ich es geöffnet vorfand. Und auf dieser Seite voll religiösem Abrakadabra und verworrenen Gedanken stehen zwei von Destinats Hand mit Bleistift unterstrichene Sätze, zwei Sätze, die ich auswendig weiß: Der letzte Akt ist blutig, wie schön auch die Komödie in allen übrigen Teilen ist: Man wirft zuletzt Erde auf das Haupt – und damit ist es für immer zu Ende.

Es gibt Worte, bei denen es einem kalt den Rücken herunterläuft. Diese zum Beispiel. Ich kenne Pascals Leben nicht, und im übrigen kann er mich gern haben, aber eins ist sicher: Ihm hat die Komödie, von der er da spricht, nicht übermäßig gefallen. Mir auch nicht, und Destinat wahrscheinlich ebenso wenig. Pascal muss sein Kreuz zu tragen gehabt und geliebte Gesichter allzu früh verloren haben, sonst hätte er nie so etwas schreiben können. Wer von Blumen umgeben lebt, denkt nicht an den Schmutz.
Mit dem Buch in der Hand bin ich von Zimmer zu Zimmer gegangen. Im Grunde ähnelten sich alle. Es waren nackte Zimmer. Damit will ich sagen, man spürte, dass in ihnen keine Erinnerung, keine Vergangenheit, kein Nachklang zurückgeblieben war. In ihnen wohnte die Traurigkeit von nie benutzten Gegenständen. Ein wenig Gedränge hatte ihnen gefehlt, ein paar Schrammen, menschlicher Atem gegen die Fensterscheiben, das Gewicht müder Körper in den Himmelbetten, auf dem Teppich herumliegendes Kinderspielzeug, Hämmern gegen Türen, im Parkett versickerte Tränen.
Am Ende eines Flurs befand sich Destinats Schlafzimmer, etwas abseits und zurückgesetzt von den anderen. Die Tür war höher und schmuckloser und in einer sonderbaren Farbe gestrichen, die ins Granatrot spielte. Ich habe sofort erkannt, dass es sein Zimmer war. Nur hier konnte es liegen, am Ende dieses Flurs, der wirkte wie eine feierliche Allee, die einen zwang, sie gemessen und vorsichtig zu durchschreiten. An den Wänden hier und da Gravuren: komische antike Gesichter, Schund aus abgelebten Epochen, mit Perücken, Halskrausen, feinen Schnurrbärten und lateinischen Inschriften, die ihnen als Halsschmuck dienten. Richtige Friedhofsporträts. Ich hatte den Eindruck, dass sie mich ansahen, als ich auf die hohe Tür zuging. Ich habe ihnen alle erdenklichen Schimpfwörter an den Kopf geworfen, um mir Mut zu machen.
Dann Destinats Schlafzimmer. Das Bett war klein, schmal, für eine einzelne Person gedacht und von mönchischer Schlichtheit: Eisenrahmen, eine Matratze, keine Troddeln, kein Betthimmel, der von der Zimmerdecke herabhing. Nichts dergleichen. Die Wände waren mit schlichtem grauem Stoff bespannt, keine Bilder, kein Schmuck. Neben dem Bett ein Tischchen, auf dem ein Kruzifix stand. Am Fußende des Bettes das Waschgeschirr: Kanne und Schüssel. Auf der anderen Seite ein hochlehniger Stuhl. Gegenüber dem Bett ein Sekretär, auf dem nichts lag. Kein Buch, kein Blatt Papier, kein Federhalter.
Destinats Zimmer sah aus wie er selbst. Es war stumm und kalt, und man fühlte sich unwohl darin, während es einem zugleich eine Art widerwilligen Respekt aufnötigte.
Mit Pascals Buch in der Hand bin ich zum Fenster gegangen: Von dort aus hatte man einen schönen Ausblick auf die Guerlante, den Kanal, die Bank, wo der Tod Destinat geholt hatte, das kleine Haus, in dem Lysia Verhareine gewohnt hatte.
Ich war ganz dicht an Destinats eigentliches Leben herangekommen. Damit meine ich nicht sein Leben als Staatsanwalt, sondern sein Innenleben, das einzig wahre, das man unter Pomade, Höflichkeit, Arbeit und gesellschaftlicher Konvention verbirgt. Sein ganzes Universum beschränkte sich auf diese Leere, diese kalten Wände, diese paar Möbelstücke. Ich hatte den intimsten Teil des Mannes vor mir, befand mich sozusagen in seinem Gehirn. Ich wäre kaum überrascht gewesen, wenn er plötzlich erschienen wäre und mir gesagt hätte, er habe mich erwartet und ich käme sehr spät. So weit war dieses Zimmer vom Leben entfernt, dass es mich nicht einmal erstaunt hätte, wenn mir darin ein Toter erschienen wäre. Aber die Toten gehen ihre eigenen Wege, die sich mit unseren nie kreuzen.
In den Schubladen des Sekretärs lagen sorgfältig aufgeräumt Tageskalender, aus denen die Seiten gerissen waren, sodass nichts blieb als der Rand, auf dem die Jahreszahl vermerkt war. Es waren Dutzende, und ihre Magerkeit zeugte von tausend vergangenen Tagen, zerstört und in den Abfall geworfen wie das dünne Papier, das sie vertreten hatte. Destinat hatte alle aufbewahrt. Jeder hat seine eigenen Rosenkränze. Die größte Schublade war abgeschlossen. Ich wusste, dass es nutzlos war, den kleinen, sicherlich schwarzen, seltsam geformten Schlüssel zu suchen, denn ich ahnte, dass er in einem Grab lag, befestigt an der Uhrkette in der Tasche einer Weste, von der inzwischen wohl nur noch Fetzen übrig waren.
Ich brach die Schublade mit meinem Messer auf. Das Holz zersplitterte.
Drinnen lag ein einziger Gegenstand, den ich sofort erkannte. Mir stockte der Atem, und alles um mich herum wurde unwirklich. Da lag ein schmales, rechteckiges Heft, in hübsches rotes Maroquinleder gebunden. Das letzte Mal hatte ich es in den Händen von Lysia Verhareine gesehen. Das war viele Jahre her. Es war an jenem Tag gewesen, an dem ich auf den Gipfel der Anhöhe gewandert war und sie dabei überrascht hatte, wie sie das große Feld des Todes betrachtete. Blitzschnell nahm ich das Heft an mich und floh wie ein Dieb.
Ich weiß nicht genau, was Clémence von alldem gehalten und ob sie es gutgeheißen hätte oder nicht. Ich schämte mich. Das Heft in meiner Tasche wog bleischwer. Ich bin gerannt, gerannt und habe mich zu Hause eingeigelt. Ich musste eine halbe Flasche Schnaps auf einen Zug leeren, um wieder zu Atem und wenigstens etwas zur Ruhe zu kommen.
Mit dem kleinen Heft auf den Knien erwartete ich den Abend, wagte nicht, es aufzuschlagen, sah es lange an wie etwas Lebendiges, etwas Geheimes und Lebendiges. Als der Abend dann gekommen war, war mein Kopf heiß. Ich spürte meine Beine nicht mehr, weil ich sie aneinander presste und nicht bewegte. Ich spürte nur noch das Heft, das mich an ein Herz erinnerte, ein Herz, das von neuem zu schlagen begönne, wenn ich den Einband berühren und es aufschlagen würde, dessen war ich sicher. Ein Herz, in das ich als Dieb besonderer Art eindringen sollte.




XXIV


13. Dezember 1914 Mein Geliebter,
endlich bin ich in deiner Nähe. Ich bin heute in P. angekommen, einer kleinen Stadt, nur einige Kilometer von der Front entfernt, an der du bist. Der Empfang, den man mir bereitet hat, war denkbar herzlich. Der Bürgermeister hat sich auf mich gestürzt, als wäre ich der Messias. Die Schule ist sehr verwahrlost. Ich werde dort den Lehrer ersetzen, der, wie man mir sagte, schwer erkrankt ist. Weil sich seine Wohnung in einem beklagenswerten Zustand befindet, wird man für mich einen anderen Platz suchen müssen, wo ich wohnen kann. Für den Augenblick werde ich im Hotel übernachten. Der Bürgermeister hat mich hierher begleitet. Er ist ein dicker Bauer, der den Jugendlichen spielt. Du würdest ihn sicher lustig finden. Du fehlst mir so. Doch es tröstet mich zu wissen, dass du in meiner Nähe bist, dass wir dieselbe Luft atmen, dieselben Wolken sehen und denselben Himmel. Pass gut auf dich auf und sei vorsichtig. Ich liebe dich und küsse dich zärtlich. Deine Lyse

16. Dezember 1914 Mein Geliebter,
ich wohne jetzt an einem wunderbaren Ort, in einem Puppenhaus mitten in einem Park, der zu einem schönen Herrenhaus gehört. Die Leute hier nennen es das Schloss. Sie übertreiben ein bisschen, es ist kein wirkliches Schloss, aber dennoch sehr reizvoll. Es war eine Idee des Bürgermeisters. Zusammen haben wir den Besitzer des Schlosses aufgesucht, einen alten Herrn, der Witwer ist und Staatsanwalt in V. Der Bürgermeister trug ihm sein Ansinnen vor, während ich vor dem Haus wartete. Dann ließ man mich hinein. Der Staatsanwalt sagte kein Wort zu mir. Ich lächelte ihn an und wünschte ihm guten Tag. Er behielt meine Hand lange in der seinen, als wäre er überrascht, mich zu sehen. Seine ganze Person verströmt eine unendliche Traurigkeit. Am Ende gab er dem Bürgermeister seine Einwilligung, grüßte mich und ging fort.
Das kleine Haus war lange nicht bewohnt. Ich muss ordentlich aufräumen. Ich wünschte, du könntest es eines Tages sehen. Du fehlst mir so. Du kannst mir unter meinem Namen an folgende Adresse schreiben: Schloss, Rue des Champs-Fleury, P. Ich warte ungeduldig auf eine Nachricht von dir. Dein letzter Brief liegt nun schon drei Wochen zurück. Ich hoffe, du leidest nicht zu sehr, trotz dieser Kälte. Hier hört man die Kanonen Tag und Nacht. Ich zittere an Leib und Seele. Ich habe Angst. Ich liebe dich und küsse dich zärtlich. Deine Lyse

23. Dezember 1914 Mein Geliebter,
ich mache mir so große Sorgen: immer noch keine Nachricht von dir, und immer diese Kanonen, die nie Ruhe geben. Es hieß doch, der Krieg würde nicht lange dauern. Wenn du wüsstest, wie sehr ich mich nach deinen Armen sehne, wie sehr es mir fehlt, mich an dich zu schmiegen, dein Lächeln und deine Augen zu sehen. Ich möchte deine Frau sein. Ich will, dass dieser Krieg schnell zu Ende geht, denn ich will dich heiraten und dir hübsche Kinder schenken, die dich am Schnurrbart ziehen! Ach, wären doch deine und meine Eltern im letzten Jahr nicht so stur gewesen, dann gehörten wir einander bereits fürs Leben ... Falls du ihnen schreiben solltest, sag ihnen nicht, wo ich bin. Ich bin gegangen, ohne sie zu benachrichtigen. Sie existieren für mich nicht mehr. Hier habe ich meinen neuen Beruf ganz ins Herz geschlossen. Die Kinder sind brav. Ich mag sie gerne und glaube, dass auch sie mich mögen. Viele bringen mir kleine Geschenke mit, ein Ei, Nüsse, ein Stück Speck. Ich verstehe mich gut mit ihnen und vergesse darüber ein wenig meine Einsamkeit.
Tristesse (das ist der Spitzname, den ich meinem Gastgeber, dem traurigen Staatsanwalt, gegeben habe) wartet jeden Tag auf mich, wenn ich nach Hause komme. Er geht im Park spazieren und grüßt mich. Ich erwidere seinen Gruß und schenke ihm ein Lächeln. Er ist ein einsamer, alter, frostiger Mann. Seine Frau ist gestorben, als sie beide noch sehr jung waren. Bald ist Weihnachten. Erinnerst du dich an unsere letzten gemeinsamen Weihnachten, wie glücklich wir damals waren! Schreib mir bald, mein Geliebter, schreib mir . Ich liebe dich und küsse dich zärtlich. Deine Lyse

7. Januar 1915 Mein Geliebter,
endlich ein Brief von dir! Er ist heute angekommen, und du hast ihn am 26. Dezember geschrieben. Das zeigt doch, wie nahe wir einander sind. Tristesse hat ihn mir persönlich überbracht. Sicher ahnt er, worum es sich handelt, aber er hat keine Fragen gestellt. Er hat an meine Tür geklopft, mich gegrüßt, mir den Umschlag gegeben und ist wieder gegangen.
Vor Freude weinend habe ich deine Worte gelesen. Ich trage deinen Brief an meinem Herzen, ja, auf meinem Herzen, direkt auf der Haut, und ich habe das Gefühl, als wärest du selbst hier, mit deiner Wärme, deinem Duft. Ich schließe die Augen ...
Ich habe so schreckliche Angst um dich. Hier gibt es ein Krankenhaus, in das viele Verwundete eingeliefert werden. Jeden Tag kommen ganze Lastwagenladungen. Ich fürchte so sehr, dich eines Tages dort zu entdecken. Die Armen sind unmenschlich entstellt, manche haben kein Gesicht mehr, andere stöhnen, als hätten sie den Verstand verloren.
Pass auf dich auf mein Geliebter, denk an mich, denn ich
liebe dich und möchte deine Frau werden. Ich küsse dich
zärtlich.
Deine Lyse

23. Januar 1915
Mein Geliebter,
du fehlst mir. Wie viele Monate sind vergangen, ohne dass ich dich sehen, sprechen, berühren konnte? Warum bekommst du keine Urlaubserlaubnis? Ich bin traurig. Ich versuche, vor meinen Kindern ein fröhliches Gesicht zu machen, aber manchmal fühle ich die Tränen in mir hochsteigen. Dann drehe ich mich zur Tafel um, damit sie nichts bemerken, und schreibe Buchstaben an. Dennoch habe ich keinen Grund, mich zu beklagen. Alle hier sind nett zu mir, und ich fühle mich wohl in dem kleinen Haus. Tristesse bewahrt mir gegenüber immer dieselbe respektvolle Distanz, aber er versäumt es nie, mir über den Weg zu laufen, um mich wenigstens einmal am Tag zu grüßen. Ich weiß nicht, ob es vielleicht an der Kälte lag, aber gestern ist er, glaube ich, errötet. Er hat eine alte Dienerin, Barbe, die mit ihrem Mann im Schloss wohnt. Ich verstehe mich gut mit ihr. Manchmal esse ich mit ihnen gemeinsam.
Ich habe mir angewöhnt, jeden Sonntag auf den Kamm einer Anhöhe zu steigen. Es gibt dort eine große Wiese, und man sieht den ganzen Horizont. Da drüben bist du, mein Geliebter. Ich sehe Rauchwolken und Explosionen. Ich bleibe, so lange ich kann, bis ich meine Füße und Hände nicht mehr spüre – so heftig ist der Frost –, weil ich deine Leiden ein wenig teilen möchte. Mein armer Geliebter, wie lange wird das noch weitergehen? Ich küsse dich zärtlich und warte auf deine Briefe. Deine dich liebende Lyse.




XXV


In dem schmalen Heft aus rotem Maroquinleder waren viele solcher Seiten, bedeckt mit einer feinen, geneigten Schrift, die aussah wie ein zarter Fries. Viele Seiten, gefüllt mit abgeschriebenen Briefen, verschickt von Lysia Verhareine an den Mann, den sie liebte und dem sie nachgereist war.
Er trug den Namen Sebastien Francoeur, war vierundzwanzig Jahre alt und Gefreiter der Infanterie. Sie schrieb ihm jeden Tag. Sie erzählte ihm von den Stunden, die ihr lang wurden, dem Lachen der Kinder, dem Erröten Destinats, den Geschenken Martial Maires, des Schwachsinnigen, für den sie eine Göttin geworden war, vom Frühling, der den Park mit Primeln und Krokussen verschönt hatte. Das alles erzählte sie ihm, indem sie ihm schrieb, mit ihrer kleinen, leichten Hand und in ebenso leichten Sätzen, hinter denen jemand, der sie gekannt hatte, ihr Lächeln erahnen konnte. Sie sprach vor allem von ihrer Liebe und ihrer Einsamkeit, dem Riss in ihrem Innern, den sie so gut vor uns verbarg, vor uns, die wir ihr täglich begegneten und doch nie etwas davon geahnt hatten.
Die Briefe ihres Geliebten waren in dem Heft nicht enthalten. Übrigens bekam sie nur wenige: neun in acht Monaten. Natürlich zählte sie sie. Und bewahrte sie auf, las sie immer wieder. Wo bewahrte sie sie auf? Vielleicht nahe dem Herzen, ganz nahe bei sich, auf der Haut, wie sie schreibt.
Warum nur so wenige Briefe? Keine Zeit? Nicht der richtige Ort? Oder keine Lust? Wir wissen, was die anderen uns bedeuten, aber wir wissen nie, was wir den anderen bedeuten. Liebte er sie wie sie ihn? Ich würde es gern glauben, aber ich bin mir nicht sicher. Jedenfalls lebte die kleine Lehrerin von diesem Briefwechsel, ihr Blut floss in ihre Worte, und das Licht im Haus brannte noch spät in der Nacht, wenn sie, nachdem sie die Hefte ihrer Schüler korrigiert hatte, die Feder nahm, um einen Brief zu verfassen und ihn anschließend in das Heft aus rotem Maroquinleder zu kopieren. Denn sie hat alle abgeschrieben, als hätte sie damit das Tagebuch einer langen Abwesenheit zu führen, einen Kalender verwaister Tage, fern von dem Mann, dem zuliebe sie zu uns ins Exil gegangen war, ein bisschen wie die Seiten, die Destinat aus seinen Tageskalendern riss.
Der Name Tristesse tauchte häufig auf. Ich glaube, sie hatte den einsamen Mann, bei dem sie wohnte, ins Herz geschlossen. Sie sprach von ihm mit zärtlicher Ironie, notierte, ohne sich etwas von ihm vorspiegeln zu lassen, seine Bemühungen, ihr zu gefallen, machte sich ohne allzu viel Bosheit lustig darüber, dass er manchmal errötete, über sein Stammeln, seine Aufmachung, seine Spaziergänge um das Haus herum, seine zu ihrem Zimmerfenster erhobenen Blicke. Tristesse erheiterte sie, und ich glaube, ich kann gefahrlos beschwören, dass Lysia Verhareine das einzige menschliche Wesen war, das zu erheitern dem Staatsanwalt je gelungen ist. Das berühmte Abendessen, von dem mir Barbe erzählt hatte, beschrieb das Mädchen in einem Brief mit Datum vom 15. April 1915:

Mein Geliebter,
gestern Abend war ich bei Tristesse zu Tisch geladen. Es war das erste Mal. Alles war sehr förmlich: Vor drei Tagen fand ich unter meiner Tür ein Kärtchen: Der Staatsanwalt Monsieur Pierre-Ange Destinat bittet Mademoiselle Lysia Verhareine, ihm am 14. April um 8 Uhr zum Abendessen die Ehre zu geben. Ich war auf ein Festmahl in großer Gesellschaft vorbereitet, aber wir waren allein, nur er und ich in trauter Zweisamkeit in einem riesigen Esszimmer, in dem man sechzig Personen unterbringen könnte. Es war ein richtiges Liebesmahl. Nein, ich scherze. Tristesse ist beinahe ein Greis, das habe ich dir ja schon geschrieben. Aber gestern sah er aus wie ein Minister oder Kanzler und hielt sich kerzengerade in seinem Frack, der einer Opernsoiree würdig gewesen wäre. Der Tisch war überwältigend: das Geschirr, das Tafeltuch, das Silber, ich hatte den Eindruck, als wäre ich ... ich weiß nicht, in Versailles vielleicht!
Nicht Barbe bediente uns bei Tisch, sondern ein ganz junges Mädchen. Wie alt mochte sie wohl sein? Acht, neun Jahre vielleicht. Sie nahm ihre Rolle ernst und schien an sie gewöhnt zu sein. Manchmal schob sie die Zungenspitze zwischen den Lippen hervor, wie Kinder es machen, wenn sie sich bei etwas große Mühe geben. Ab und zu kreuzten sich unsere Blicke, und sie lächelte mich an. Das alles war ziemlich seltsam: unsere Zweisamkeit, das Essen und das Mädchen. Barbe hat mir heute erzählt, das Mädchen sei die Tochter eines Wirtes aus V. und werde Belle genannt, was bezaubernd zu ihr passt. Ihr Vater hatte das Mahl zubereitet, und es war hervorragend, auch wenn wir die Speisen kaum angerührt haben. Ich glaube nicht, dass ich jemals ein solches Festmahl gesehen habe, doch halt, ich schäme mich, wenn ich dir davon erzähle, denn du isst sicher schlecht und wirst oft vielleicht noch nicht einmal satt! Verzeih mir, mein Liebster, ich bin töricht ... Ich versuche, dich zu unterhalten, und streue nur Salz in die Wunde ... Du fehlst mir so. Warum schreibst du mir nicht öfter? Dein letzter Brief liegt jetzt schon sechs Wochen zurück. Und immer noch keine Urlaubserlaubnis. Dennoch weiß ich, dass dir nichts zugestoßen ist, ich spüre es, ich spüre es. Schreib mir, mein Geliebter. Deine Worte helfen mir zu leben, so wie es mir hilft, in deiner Nähe zu sein, auch wenn ich dich nicht sehe, auch wenn ich dich nicht in die Arme schließen kann. Während des Abendessens war Tristesse nicht sehr redselig. Er war schüchtern wie ein Junge, und wenn ich ihn etwas zu lange ansah, errötete er. Als ich ihn gefragt habe, ob er seine Einsamkeit nicht als zu große Last empfinde, hat er lange nachgedacht und dann ernst und sanft gesagt: «Alleinsein ist die Lebensbedingung des Menschen, was auch immer geschieht.» Ich fand seine Worte sehr schön und zugleich grundfalsch: Du bist nicht an meiner Seite, aber dennoch ist es so, als würde ich dich in jeder Sekunde spüren, und oft spreche ich laut mit dir. Kurz vor Mitternacht hat er mich zur Tür begleitet und mir einen Handkuss gegeben. Das kam mir sehr romantisch vor, aber auch reichlich verstaubt! Ach, mein Geliebter, wie lange wird dieser Krieg noch dauern? Manchmal träume ich nachts, dass du neben mir liegst, ich spüre dich, berühre dich im Schlaf. Und am Morgen öffne ich die Augen nicht sofort, um länger im Traum bei dir zu verweilen und glauben zu können, das sei das wahre Leben und alles, was mich am Tag erwartet, nur ein Albtraum.
Ich vergehe danach, in deinen Armen zu liegen. Ich küsse
dich so fest, wie ich dich liebe.
Deine Lyse

Je mehr Zeit verging, desto deutlicher schlich sich ein Tonfall von Niedergeschlagenheit, ja sogar Wut in die Briefe der jungen Lehrerin. Sie, die man immer nur strahlend lächeln gesehen hatte, die stets ein nettes Wort für jeden fand, wurde gallig und verbittert. Mehr und mehr erzählten ihre Briefe von ihrem Abscheu, wenn sie die Männer aus der Stadt sah, die hübsch sauber, ordentlich und ausgeschlafen in die Fabrik gingen. Sogar die Verwundeten aus dem Krankenhaus, die auf den Straßen herumlungerten, bekamen ihr Fett weg: Sie nannte sie «Glückspilze». Aber der Mann, der die Siegespalme einheimste, war meine Wenigkeit. Es ließ mich nicht kalt, als ich den Brief las, in dem von mir die Rede war. Sie hatte ihn am Abend jenes Tages geschrieben, an dem ich sie auf dem Kamm der Anhöhe gesehen hatte.


4. Juni 1915 Mein Geliebter,
deine Briefe sind schon dünn wie Löschpapier, so oft falte ich sie auseinander und wieder zusammen, lese sie und vergieße Tränen auf sie. Ich leide, weißt du das? Die Zeit erscheint mir wie ein Ungeheuer, nur geboren, um Liebende zu trennen und unermesslich leiden zu lassen. Was haben diese Ehefrauen, die ich hier jeden Tag sehe, doch für ein Glück, denn sie sind von ihren Männern nur für einige Stunden getrennt. Auch diese Schulkinder haben Glück; ihre Väter sind immer in ihrer Nähe. Heute bin ich wie jeden Sonntag auf die Anhöhe gestiegen, um dir etwas näher zu sein. Ich ging den Weg, ohne etwas anderes zu sehen als deine Augen, ohne einen anderen Duft als deinen zu riechen. Dort oben trug der Wind den Lärm der Kanonen zu mir. Es donnerte, donnerte, donnerte. Ich habe geweint, weil ich dich in diesem Gewitter aus Eisen und Feuer wusste, dessen düstere Rauchsäulen und Blitze ich sehen konnte. Mein Geliebter, wo warst du? Wo bist du? Wie immer bin ich lange geblieben, konnte den Blick nicht von dem unermesslichen Feld des Leids lösen, auf dem du seit Monaten lebst.
Plötzlich spürte ich, dass jemand hinter mir stand. Es war ein Mann, den ich vom Sehen kenne. Er ist Polizist, und ich habe mich immer gefragt, was er wohl in dieser kleinen Stadt zu tun hat. Er ist älter als du, aber noch jung. Er steht auf der richtigen Seite, der Seite der Feiglinge. Er starrte mich blöde an. In der Hand hielt er ein Gewehr, keins wie deins, das dazu da ist, Männer zu töten; nein, ich glaube, es war ein Jagdgewehr, ein lächerliches Bühnen- oder Kindergewehr. Er sah aus wie ein Narr im Theater. In diesem Augenblick habe ich ihn mehr gehasst als sonst jemanden auf der Welt. Er stammelte ein paar Worte, die ich nicht verstand. Ich habe ihm den Rücken zugedreht.
Für ein paar Minuten in deinen Armen würde ich das Leben tausender Männer von seiner Sorte opfern. Ich würde ihnen persönlich den Kopf abschneiden, um deine Küsse auf meinem Mund zu spüren. Es stört mich nicht, dass ich hassenswert bin. Urteil und Moral der anderen sind mir einerlei. Ich würde töten, damit du am Leben bleibst. Ich hasse den Tod, weil er nicht wählerisch ist. Schreib mir, mein Geliebter, schreib. Jeder Tag ohne dich bedeutet bitteres Leid für mich ... Deine Lyse

Ich war ihr nicht böse. Sie hatte nur allzu Recht. Ich war wirklich die Memme, für die sie mich hielt. Aber auch ich hätte getötet, damit Clémence am Leben blieb. Auch ich fand die Überlebenden hassenswert. Ich wette, dass der Staatsanwalt genauso dachte.

Die Tage veränderten Lysia Verhareine, auch wenn wir nichts davon bemerkten. Das schöne, sanfte Mädchen verwandelte sich in einen Menschen, der gegen das allgemeine Schweigen anschrie und sich innerlich zerfleischte. Einen Menschen, der langsam verfiel. In einigen Briefen tadelte sie ihren Verlobten, warf ihm sein Schweigen, seine spärlichen Briefe vor, zweifelte an seiner Liebe. Aber schon am nächsten Tag entschuldigte sie sich wortreich. Er schrieb ihr trotzdem nicht öfter. Ich werde nie erfahren, zu welcher Sorte Bastien Francoeur gehörte: zu den Schweinen oder den Gerechten. Ich werde nie wissen, ob seine Augen leuchteten, während er einen Brief von Lysia las. Ich werde nie erfahren, ob er ihre Briefe im Schützengraben bei sich trug. Ich werde nie erfahren, ob er sie mit einem Ausdruck des Überdrusses oder der Belustigung überflog und dann zusammengeknüllt in eine Schlammpfütze warf.

Der letzte Brief datierte vom 3. August 1917. Es war ein kurzer Brief, in dem sie in einfachen Worten von ihrer Liebe sprach, auch vom Sommer, von den langen, schönen Tagen, die dem, der allein ist und wartet, so leer erscheinen.
Ich könnte ihn hier abschreiben, aber ich will nicht. Es reicht, dass Destinat und ich das Heft begafft haben. Andere müssen es nicht auch noch sehen, vor allem nicht den letzten Brief, der sozusagen heilig ist, ein Abschied von der Welt, ihre letzten Worte, obwohl sie noch nicht ahnen konnte, dass es ihre letzten sein würden, als sie sie schrieb.
Nach diesem Brief folgt nichts mehr.
Nur noch weiße Seiten.
Das Weiß des Todes.
Die Schrift des Todes.




XXVI


Wenn ich sage, dass auf diesen Brief nichts folgte, stimmt das nicht ganz. Sogar in zweifacher Hinsicht. Zunächst folgt noch ein Brief, der nicht von Lysia stammt, ein kleines, hinter ihren letzten Worten in das Heft eingelegtes Blatt. Er wurde von einem gewissen Hauptmann Brandieu verfasst und datiert vom 27. Juli 1917, muss aber am 4. August im Schloss angekommen sein. So viel ist sicher. Der Hauptmann schreibt:

Mademoiselle,
ich schreibe Ihnen, weil ich Ihnen eine traurige Mitteilung machen muss: Bei einem Vorstoß auf die feindlichen Stellungen wurde der Gefreite Bastien Francoeur vor zehn Tagen von einer Maschinengewehrsalve am Kopf getroffen. Die Kameraden kamen ihm zu Hilfe und brachten ihn in unseren Schützengraben, wo ein Sanitäter allerdings nur noch die außerordentliche Schwere seiner Verwundungen feststellen konnte. Zu unserem tiefsten Bedauern ist der Gefreite Francoeur in den darauffolgenden Minuten verstorben, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Ich kann Ihnen versichern, dass er wie ein Soldat gestorben ist. Er stand seit Monaten unter meinem Befehl, und er hat sich stets sehr tapfer gezeigt und sich selbst für die gefährlichsten Aufträge freiwillig gemeldet. Er wurde von seinen Kameraden geliebt und von seinen Vorgesetzten geachtet.
Ich kenne die Natur Ihrer Beziehungen zu dem Gefreiten Francoeur nicht, aber weil seit seinem Tod einige Briefe von Ihnen eingetroffen sind, halte ich es für richtig, nicht nur seine Familie, sondern auch Sie von seinem
tragischen Ende in Kenntnis zu setzen.
Ich versichere Ihnen, Mademoiselle, dass ich Ihren
Schmerz teile, und übermittle Ihnen mein aufrichtigstes
Beileid.
Hauptmann Charles-Louis Brandieu

Seltsam, in wie vielen Gestalten der Tod uns begegnet: Ein kleiner, einfacher Brief voll aufrichtiger Gefühle und Mit-leid kann genauso sicher töten wie ein Messer, eine Kugel oder Granaten.
Lysia Verhareine hat diesen Brief bekommen. Hat ihn gelesen. Ob sie schrie, weinte, tobte, verstummte? Ich weiß es nicht. Alles, was ich weiß, ist, dass der Staatsanwalt und ich einige Stunden später in ihrem Zimmer standen, dass sie tot war, dass wir uns verständnislos ansahen. Nun ja, verständnislos war zumindest ich: Er verstand bereits oder sollte bald verstehen, denn er hatte das Heft aus rotem Maroquinleder an sich genommen. Warum hatte er das getan? Um die Unterhaltung beim Abendessen fortzuführen, um weiter mit ihrem Lächeln, ihren Worten leben zu können? Wahrscheinlich. Tot war der Soldat, der Geliebte, der Mann, für den sie alles aufgegeben hatte, für den sie jeden Sonntag auf die Anhöhe gestiegen war, für den sie jeden Tag zur Feder gegriffen hatte, für den ihr Herz schlug. Und was hatte er gesehen, als der Tod ihm den Kopf zertrümmerte? Lyse? Eine andere? Nichts? Ein großes Geheimnis.

Nicht nur der Brief war in das Heft eingelegt. Es gab auch noch drei Fotografien, auf der letzten Seite nebeneinander eingeklebt. Und diese Abfolge regloser Kinematographie hatte Destinat zusammengestellt. Auf der ersten erkannte man das Modell, das für das große Porträt in der Eingangshalle des Schlosses posiert hatte: Clélis de Vincey, damals vielleicht siebzehn Jahre alt. Das Foto zeigte sie inmitten einer mit Spiräen übersäten Wiese, jenen Blumen, die man Reine des prés, Wiesenkönigin, nennt. Das Mädchen lachte. Sie war ländlich gekleidet, und die Schlichtheit ihrer Kleidung unterstrich nur ihre Eleganz. Ein breitkrempiger Hut tauchte eine Hälfte ihres Gesichtes in tiefen Schatten, aber ihre vom Licht beschienenen Augen, ihr Lächeln, der Sonnenstrahl auf ihrer Hand, mit der sie die Hutkrempe gegen den Wind festhielt — all das verlieh ihrem Gesicht eine hinreißende Anmut. Sie war die eigentliche Königin der Wiese.

Die zweite Fotografie war auseinander geschnitten worden, was man an den glatten Rändern links und rechts und an dem seltsam länglichen Format erkennen konnte, aus dem ein glückliches Mädchen direkt auf den Betrachter schaute. Auf diese Weise hatte Destinats Schere Belle de Jour aus der Fotografie isoliert, die Bourrache ihm gegeben hatte. «Eine richtige heilige Jungfrau», hatte der Vater mir gesagt. Und richtig. Das Gesicht der Kleinen strahlte etwas Religiöses aus: ungekünstelte Schönheit, Güte, schlichten Glanz. Auf der dritten Fotografie schien Lysia Verhareine, den Rücken an einen Baum gelehnt, die Hände flach auf der Rinde, mit erhobenem Kinn und halb geöffnetem Mund den Kuss des Mannes zu erwarten, der das Foto gemacht hatte. Sie sah so aus, wie ich sie gekannt hatte. Nur ihr Gesichtsausdruck war anders. Ein solches Lächeln hatte sie uns nie geschenkt, niemals. Es war ein Lächeln des Verlangens und der bedingungslosen Liebe, und es verstörte mich, sie so zu sehen, ich schwöre es, denn plötzlich trug sie keine Maske mehr, und man verstand, wie sie wirklich war und wozu sie fähig sein mochte, für ihren Geliebten oder auch gegen sich selbst. Das Merkwürdigste an alledem aber — und nicht nur der Schnaps, den ich bei diesen Betrachtungen hinunterschüttete, ließ mich das erkennen — war der Eindruck, dass man drei Porträts desselben Gesichts vor sich hatte, aufgenommen in verschiedenen Lebensaltern und unterschiedlichen Epochen.
Belle de Jour, Clélis, Lysia, das waren drei Inkarnationen derselben Seele, einer Seele, die den Körpern, die ihr übergestreift waren, dasselbe Lächeln, dieselbe unvergleichliche Sanftmut eingegeben hatte. Dieselbe Schönheit, die gegangen und wiedergekehrt, erschienen und verschwunden, geboren und zerstört worden war. Es drehte sich einem der Kopf, wenn man sie so nebeneinander sah. Man blickte von einer zur anderen, begegnete aber doch nur einer Person. Darin lag etwas zugleich Reines und Teuflisches, eine Mischung aus Heiterkeit und Grauen. Man mochte angesichts dieser Beständigkeit beinahe glauben, dass das Schöne, trotz der Zeit, die alles auslöscht, bleibt, in welcher Form auch immer, und dass alles, was einmal war, irgendwann wiederkehrt.
Ich habe an Clemence gedacht. Plötzlich kam es mir vor, als hätte ich eine vierte Fotografie hinzufügen können, um die Reihe zu vervollständigen. Ich klappte das Heft zu.
Mein Kopf schmerzte: zu viele Gedanken. Zu viele Stürme. Und das alles wegen drei kleinen Fotografien, zusammengefügt von einem alten, einsamen Mann, der wusste, was Lebensüberdruss bedeutet. Fast hätte ich das ganze Zeug verbrannt. Ich habe es nicht getan. Berufliche Gewohnheit. Man vernichtet keine Beweise. Aber Beweise wofür? Dass man die Lebenden nicht wirklich hat sehen können als die, die sie waren? Dass keiner von uns je gesagt hat: «Na so was, die kleine Bourrache ähnelt Lysia Verhareine ja wie ein Haar dem anderen!» Dass Barbe nie zu mir gesagt hat: «Die Lehrerin war der verstorbenen Madame aber wie aus dem Gesicht geschnitten!»
Doch vielleicht konnte nur der Tod diese Ähnlichkeit
enthüllen. Vielleicht konnten nur der Staatsanwalt und ich es sehen. Vielleicht waren wir uns beide ähnlich, ähnlich in einer gewissen Verrücktheit. Wenn ich an die langen, feinen, gepflegten Hände Destinats denke, sehnig und voller Altersflecken, wenn ich mir vorstelle, wie sie an einem Winterabend den schlanken Hals von Belle de Jour umspannen, während auf ihrem Kindergesicht das Lächeln verschwindet und eine bedeutende Frage in ihre Augen tritt, wenn ich mir diese Szene, die stattgefunden hat oder auch nicht, heute ausmale, dann sage ich mir, dass Destinat damals kein Kind erdrosselt hat, sondern eine Erinnerung, ein Leid, und dass er in seinen Händen, unter seinen Fingern, plötzlich den Geist von Clélis und von Lysia Verhareine spürte und versuchte, diesen Geist zu erwürgen, um sich für immer von ihm zu befreien, damit er sie nicht mehr sehen, nicht mehr hören, sich ihnen in den Nächten nicht mehr, ohne sie jemals zu erreichen, nähern musste, damit er nicht mehr vergeblich liebte.
Die Toten zu töten ist schwer. Sie zum Verschwinden zu bringen – wie oft habe ich das versucht. Alles wäre so einfach, wenn das ginge.
Andere Gesichter hätten sich also über das Gesicht des Kindes geschoben, dieses Kindes, dem er am Ende eines eisigen Schneetages zufällig begegnet wäre, als die Nacht näher rückte und mit ihr jene schmerzlichen Schatten. Plötzlich hätten sich Liebe und Verbrechen vermischt, als könnte man nur töten, was man auch liebt. Das wäre alles gewesen.
Lange habe ich mit der Vorstellung gelebt, Irrtum, Illusion, Hoffnung, Erinnerung und Grauen hätten Destinat zum Mörder gemacht. Ich fand sie schön. Es war und blieb Mord, aber er wurde dadurch reiner, frei von Niedertracht. Beide, Täter und Opfer, wurden zu Märtyrern: Das hat man selten.
Und dann erhielt ich eines Tages einen Brief. Man weiß
nicht, warum manche nie ankommen oder so lange unterwegs sind. Vielleicht schrieb der kleine Gefreite ebenfalls täglich an Lysia Verhareine? Vielleicht irren seine Briefe noch heute durch irgendwelche Labyrinthe der Zeit, ob-wohl die beiden längst tot sind? Der Brief, von dem ich jetzt spreche, war am 23. März
1919 in Rennes aufgegeben worden. Er hatte sechs Jahre gebraucht, um anzukommen. Sechs Jahre, um einmal durch ganz Frankreich zu reisen.
Er war von einem Kollegen an mich gerichtet worden. Er kannte mich nicht, ich kannte ihn nicht, und er muss denselben Brief an lauter Kerle wie mich geschickt haben, die in Städchen nahe einer Linie, die während des Krieges die Front gewesen war, vor sich hin vegetierten. Alfred Vignot, so sein Name, wollte die Spur eines Burschen wieder finden, den er seit 1916 aus den Augen verloren hatte. Ähnliche Anfragen erhielt man häufig, von Bürgermeisterämtern, Familien, Gendarmen. Der Krieg war wie ein großer Topf gewesen, der hunderttausende Männer zu Mus gekocht hatte. Einige waren gestorben, andere hatten überlebt; einige waren nach Hause zurückgekehrt, andere hatten ein neues Leben anfangen wollen. Das große Schlachten hatte nicht nur Körper und Köpfe zerstört; es hatte einer geringen Anzahl als vermisst geltender Männer auch erlaubt, weit weg von ihrem Heimatland frische Luft zu atmen. Wer beweisen wollte, dass sie noch am Leben waren, musste gewitzt sein. Denn es war kinderleicht, seinen Namen und seine Papiere zu wechseln. Es gab fast anderthalb Millionen, die Namen und Papiere nie mehr brauchen würden: Da hatte man die Auswahl! Und so war viel Gesindel unter- und woanders reingewaschen wieder aufgetaucht.
Vignots Verschollener hatte einen Toten auf dem Gewissen, vielmehr eine Tote, die er nach gründlicher Misshandlung erwürgt und vergewaltigt hatte. Das Verbrechen war im Mai 1916 geschehen. Und Vignot hatte drei Jahre gebraucht, um seine Ermittlungen abzuschließen, die Beweise zusammenzutragen, sich seiner Sache sicher zu sein. Das Opfer hieß Blanche Fen'vech. Sie war zehn Jahre alt. Man hatte sie neben einem Hohlweg in einem Graben gefunden, weniger als einen Kilometer von dem Dorf Plouzagen entfernt. Dort wohnte sie. Sie war wie an jedem Abend losgegangen, um vier armselige Kühe aus einem Park zu holen. Ich musste nicht weiterlesen, um zu erraten, wie der Kerl hieß, den Vignot suchte.
Der Mörder hieß Le Floc, Yann Le Floc. Zur Zeit der Tat war er neunzehn Jahre alt. Es war mein kleiner Bretone. Ich habe Vignot nicht geantwortet. Jeder wühle in seinem eigenen Mist! Wahrscheinlich hatte er Recht mit Le Floc, aber das änderte nichts. Die Mädchen waren tot, das in der Bretagne und das bei uns. Und der Bengel war ebenfalls tot, ordnungsgemäß standrechtlich erschossen. Außerdem sagte ich mir, dass Vignot sich irren mochte, dass er vielleicht Gründe hatte, dem Jungen die Geschichte anzuhängen, so wie Matziev und Mierck, dieser Abschaum, die ihren gehabt hatten. Was wusste man schon?
Es war seltsam, ich hatte mich daran gewöhnt, mit dem Geheimnis und dem Zweifel zu leben, mit dem Zwielicht, dem Zögern, dem Fehlen von Antworten. Vignot zu antworten hätte das alles weggewischt: Auf einmal wäre da ein Licht gewesen, das Destinat hell erstrahlen lassen und den kleinen Bretonen ins Dunkel getaucht hätte. Zu einfach. Einer der beiden hatte getötet, so viel ist sicher, aber der andere hätte es ebenso gut tun können.
Ich habe Vignots Brief genommen und mir damit eine Pfeife angezündet. Pfffft. Rauch! Wolken! Asche! Nichts mehr! Forsche nur weiter, guter Mann, damit ich nicht allein bin! Im Grunde tat ich das vielleicht aus Rache. Es war eine Art, mir selbst zu versichern, ich sei nicht der Einzige, der mit den Fingern im Dreck wühlte und Tote suchte, um sie zum Sprechen zu bringen. Sogar im Nichts tut es gut zu wissen, dass es Menschen gibt, die einem ähnlich sind.




XXVII


Wir nähern uns dem Ende. Dem Ende der Geschichte und meinem eigenen. Gräber und Münder sind seit langem geschlossen, die Toten nur noch halb verwitterte Namen, in Stein gemeißelt: Belle de Jour, Lysia, Destinat, Le Grave, Barbe, Adelaide Siffert, der kleine Bretone und der Drucker, Mierck, Gachentard, Bourraches Frau, Hippolyte Lucy, Mazerulles, Clémence ... Oft stelle ich sie mir vor, in der Kälte unter der Erde und in vollständiger Finsternis. Ich weiß, ihre Augen sind seit langem hohl und leer, und an ihren gefalteten Händen ist kein Fleisch mehr.
Falls jemand wissen wollte, womit ich die vielen Jahre beschäftigt war, die lange Zeit, die mich bis zum heutigen Tag geführt hat, dann wüsste ich kaum, was ich antworten sollte. Ich habe die Jahre nicht vergehen sehen, auch wenn mir jedes einzelne davon lang vorkam. Ich habe eine Flamme genährt und die Dunkelheit befragt, ohne etwas anderes herauszufinden als wenig aufschlussreiche, bruchstückhafte Antworten.
Mein ganzes Leben hängt an diesem Gespräch mit einer Reihe von Toten. Dieses Gespräch hat mir gereicht, um mein Leben fortzusetzen und auf das Ende zu warten. Ich sprach mit Clémence. Ich beschwor die anderen herauf. Nur wenige Tage gab es, an denen ich sie nicht vor mich zitierte.
Aber vielleicht hat gerade das mich durchhalten lassen, dieses Gespräch mit einer Stimme, die immer dieselbe, immer meine eigene war, sowie die Undurchsichtigkeit des Verbrechens, an dem womöglich allein die Undurchsichtigkeit unseres Lebens schuld ist. Merkwürdiges Leben: Erfahren wir je, warum wir auf der Welt sind? Sich mit der Affäre auseinander zu setzen, wie ich es getan habe, war wahrscheinlich nur eine Möglichkeit, mir diese eigentliche Frage nicht zu stellen, diese Frage, die wir alle nicht über die Lippen bringen, auch in Gedanken kaum einmal zulassen, geschweige denn in unserer Seele, die, das ist wahr, weder weiß noch schwarz ist, sondern grau, «hübsch grau», wie Joséphine einmal zu mir gesagt hat.
Was mich betrifft, ich bin hier. Ich habe nicht gelebt, nur überlebt. Mich schaudert. Ich öffne eine Flasche Wein und trinke, käue Brocken verlorener Zeit wieder. Ich glaube, nun habe ich alles erzählt. Alles darüber, was ich zu sein glaubte. Ich habe alles erzählt oder zumindest fast alles. Eine einzige Sache muss ich noch berichten, die schwierigste vielleicht, die einzige, die ich Clemence noch nicht einmal im Flüsterton erzählt habe. Deshalb muss ich erst noch etwas trinken, damit ich den Mut fasse, es auszusprechen, es dir, Clémence, zu sagen, denn nur für dich spreche und schreibe ich ja: Weißt du, dem Kleinen, unserem Sohn, habe ich keinen Namen geben können. Ich konnte ihn nicht einmal wirklich ansehen. Ich habe ihn auch nicht geküsst, wie ein Vater es tun sollte.
Eine mit Häubchen bewehrte Schwester, verschrumpelt wie eine im Ofen vergessene Herbstfrucht, brachte ihn mir eine Woche nach deinem Tod. Sie sagte: «Das ist Ihr Kind. Es gehört Ihnen. Sie müssen es großziehen.» Dann hat sie mir, bevor sie sich wieder umdrehte, das weiße Bündel in den Arm gelegt. Das Kind schlief. Es war ganz warm und roch nach Milch. Bestimmt war es sehr süß. Sein Gesicht lugte aus den Tüchern, die es einhüllten. Seine Lider waren geschlossen, seine Wangen rund, so rund, dass die Lippen darin versanken. Ich habe in seinen Zügen dein Gesicht gesucht, irgendeine Erinnerung an dich, über den Tod hinaus. Aber es sah niemandem ähnlich, schon gar nicht dir. Es sah aus wie alle Säuglinge, die, nachdem sie eine lange, behagliche Nacht an einem Ort verbracht haben, den wir alle schnell vergessen, frisch auf die Welt gekommen sind. Ja, es war einer von ihnen. Ein unschuldiges Kind, wie man so sagt. Die Zukunft der Welt. Ein Menschenjunges. Die Erhaltung der Art.
Aber für mich war es nichts von alldem, es war einfach nur dein Mörder, ein kleiner Mörder ohne Bewusstsein und Gewissen, mit dem ich würde leben müssen, während du nicht mehr da warst. Der dich getötet hatte, um zu mir zu kommen. Der seine Ellbogen und noch mehr eingesetzt hatte, um allein mit mir zu sein, damit ich nie mehr dein Gesicht sehen oder deine Haut küssen konnte, während er mit jedem Tag wachsen, Zähne bekommen und weiterhin alles verschlingen würde. Der Hände hatte, um Dinge zu greifen, und Augen, sie zu sehen, und der später Worte lernen sollte, mit denen er jedem, der es hören wollte, die infame Lüge auftischen konnte, er habe dich nie gekannt, weil du bei seiner Geburt gestorben seist, während die Wahrheit ist, dass er dich getötet hat, um geboren zu werden. Ich habe nicht lange nachgedacht. Es geschah ganz von allein. Ich nahm ein dickes Kissen und ließ sein Gesicht darunter verschwinden. Ich wartete lange. Das Kind bewegte sich nicht. Um mit den Worten derer zu sprechen, die hienieden über uns urteilen: Es geschah noch nicht einmal mit Vorsatz. Es war das Einzige, was ich tun konnte, und ich habe es getan. Ich nahm das Kissen weg und weinte. Weinte, weil ich an dich dachte, nicht an den Kleinen.
Dann holte ich den Arzt Hippolyte Lucy und sagte ihm, dass das Kind nicht mehr atmete. Er kam mit und trat ins Zimmer. Das Kind lag auf dem Bett. Sein Gesicht war immer noch das eines unschuldigen, friedlichen, monströsen Schlafenden.
Der Arzt zog es aus. Er legte die Wange an seinen ge
schlossenen Mund. Er hörte sein Herz ab, das nicht mehr schlug. Er sagte nichts. Er schloss seine Tasche und wandte sich mir zu. Wir sahen uns an. Er wusste es. Ich wusste, dass er es wusste, aber er sagte nichts. Er ging aus dem Zimmer und ließ mich mit dem kleinen Leichnam allein.
Ich habe den Kleinen an deiner Seite bestatten lassen. Ostrane erzählte mir, Neugeborene verschwänden in der Erde wie ein Hauch im Wind, bevor man überhaupt Zeit habe, sie zu bemerken. Er sagte das ohne Arg. Es sah aus, als freue ihn der Gedanke.
Ich habe den Namen des Kindes nicht auf das Grab schreiben lassen.
Das Schlimme ist, ich empfinde auch heute keinerlei Reue und würde bedenkenlos dasselbe wieder tun, so wie ich es damals ohne Reue getan habe. Ich bin nicht stolz darauf. Aber ich schäme mich dessen auch nicht. Nicht der Schmerz hat mich so handeln lassen; es war die Leere. Die Leere, in der ich zurückgelassen worden war und in der ich bleiben wollte. Wäre er an meiner Seite aufgewachsen, dann wäre er sehr unglücklich geworden in der Gegenwart eines Vaters, für den das Leben nur eine mit einer einzigen Frage erfüllte Leere war, ein tiefes, bodenloses Loch, um dessen Rand ich im Gespräch mit dir fortwährend kreiste. Gestern bin ich zum Pont des Voleurs hinübergeschlendert. Erinnerst du dich? Wie alt waren wir damals? Knapp zwanzig? Du hattest ein hellrotes Kleid an. Mein Magen krampfte sich zusammen. Wir standen auf der Brücke und sahen in den Fluss hinunter. Diese Strömung, sagtest du, das ist das Leben, das verfließt. Schau, wie weit es führt, schau, wie schön es ist dort zwischen den Seerosenblüten, den langhaarigen Algen, den Uferböschungen aus Lehmerde. Ich wagte nicht, deine Taille zu umfassen. Der Knoten in meinem Bauch war so fest, dass ich kaum Luft bekam. Deine Augen sahen in die Ferne, meine in deinen Nacken. Du hast nach Heliotrop geduftet. Dann hast du dich überraschend zu mir umgedreht, gelächelt und mich geküsst. Es war das erste Mal. Das Wasser floss unter der Brücke dahin. Die Welt glänzte sonntäglich. Die Zeit blieb stehen. Gestern bin ich lange auf dem Pont des Voleurs geblieben. Der Fluss hat sich nicht verändert. Es gibt noch immer die großen Seerosen, die langhaarigen Algen, die Böschungen aus Lehmerde. Dazu den frischen Duft von gemähtem Gras.
Ein Kind stellte sich neben mich, ein Junge mit hellen Augen. Sagte: «Guckst du dir die Fische an?» Und sprach weiter, leicht enttäuscht: «Es sind viele Fische da drin, aber man sieht sie nie.» Ich antwortete nicht. Es gibt so vieles, was man nie sieht. Er stützte sich neben mir aufs Geländer, und wir blieben eine Weile so stehen, umtönt vom Quakender Frösche und vom Rauschen des Wassers. Er und ich. Anfang und Ende. Und ich bin weggegangen. Der Junge folgte mir für einen Augenblick, dann ist er verschwunden.
Heute geht alles zu Ende. Ich habe meine Zeit ausgeschöpft, und die Leere ängstigt mich nicht mehr. Du hältst mich vielleicht für ein Schwein, für nicht besser als die anderen. Du hast Recht. Natürlich hast du Recht. Verzeih mir, was ich getan habe, und verzeih mir vor allem, was ich nicht getan habe.
Ich hoffe, du wirst bald von Angesicht zu Angesicht über mich urteilen können. Plötzlich wünsche ich, dass es Gott gibt und damit den ganzen Hokuspokus und den Quatsch, mit dem sie uns die Köpfe voll stopften, als wir noch klein waren. Wenn es so ist, wirst du Mühe haben, mich wieder zu erkennen. Du hast einen jungen Mann zurückgelassen und wirst fast schon einen Greis wieder sehen, gebrechlich, schrundig. Du hast dich nicht verändert, ich weiß. Das ist nun mal das Wesen der Toten. Eben habe ich Gachentards Karabiner von der Wand