Pater Lurant nahm mich mit zum bischöflichen
Palais. Ein Hausmeister öffnete uns. Er hatte ein gelbes Gesicht
und Haare wie Fell. Der Pfarrer erklärte die Lage, und wortlos
führte uns der Hausmeister über Treppen und Flure, in denen ein
Geruch nach Wachs und Schmierseife in der Luft lag, zu einem
gewaltigen Schlafzimmer, in dem sich zwei bescheidene Betten aus
Eisen gegenüberstanden.
Beim Anblick dieser Liegen musste ich an
unser großes, breites Bett denken. Gern wäre ich bei Clemence, in
ihren Armen gewesen und hätte dort die Sanftheit gesucht, die ich
bei ihr fand. Ich bat darum, sie zu benachrichtigen, wie ich es
gewöhnlich tat, wenn ich einmal nicht nach Hause kam. In solchen
Fällen rief ich beim Bürgermeister an, der sein Hausmädchen
Louisette losschickte, um die Botschaft auszurichten. Aber der
Hausmeister sagte, man brauche es gar nicht erst zu versuchen, auch
die Telefonleitungen seien auf unbestimmte Zeit beschlagnahmt. Ich
erinnere mich, dass mir das einen Stich versetzt hat. Mir lag
daran, dass Clemence Bescheid wusste und sich keine Sorgen machte.
Und ich wollte, dass sie wusste, ich dachte an sie und das
Kind.
Der Pfarrer zog sich ohne Umstände aus. Legte
seine Pelerine ab, dann die Soutane und stand in Unterhemd und
Unterhose vor mir, mit einem Bauch, der sich nach vorn wölbte wie
eine riesige Quitte und durch eine Bandage aus Flanellstoff
gestützt wurde, die er nun ebenfalls abwickelte. Dann breitete er
seine nassen Kleider neben dem Ofen aus und wärmte und trocknete
sich, wobei er die Hände über der Abdeckplatte des Ofens aneinander
rieb. In diesem Zustand, ohne sein Priestergewand, wirkte er auf
mich entschieden jünger. Wahrscheinlich war er in meinem Alter. Es
kam mir vor, als sähe ich ihn zum ersten Mal. Sicher erriet er
meine Gedanken. Pfarrer sind sehr geschickt, sie verstehen es, sich
in die Köpfe der Menschen zu schleichen. Er sah mich lächelnd an.
Unter der Einwirkung der Hitze dampfte seine Pelerine wie eine
Lokomotive, und aus seiner Soutane stieg ein Dunst auf, der nach
Humus und verbrannter Wolle roch.
Der Hausmeister kam zurück, in seinen Händen
ein Tablett mit zwei Tellern Suppe, einem Graubrot, einem Stück
Käse, das hart war wie ein Eichenklotz, und einem Krug Wein. Er
stellte alles auf einen Tisch und wünschte uns gute Nacht. Ich zog
mich aus und legte meine Kleider ebenfalls ans Feuer. Geruch nach
Holz, gemischt mit Schweiß und Verbranntem, kleine
Dampfschwaden,
genauso wie beim Pfarrer.
Wir aßen, ohne uns um Manieren zu kümmern.
Pater Lurant hatte große, haarlose Hände mit zarter Haut und
makellosen Nägeln. Was er in den Mund steckte, kaute er lange; Wein
trank er mit geschlossenen Augen. Wir aßen alles auf. Keine Krümel,
keine Kruste, die Teller blank geputzt. Der Tisch sauber. Die Mägen
gefüllt. Dann unterhielten wir uns, wie wir es noch nie getan
hatten. Wir sprachen über Blumen, das war seine Leidenschaft, «der
schönste Beweis der Existenz Gottes, falls einer nötig wäre», sagte
er. Wir sprachen über Blumen, in diesem Zimmer, während es um uns
herum Nacht war und Krieg, während sich irgendwo ein Mörder
herumtrieb, der ein zehnjähriges Mädchen erwürgt hatte, während
weit weg von mir Clemence in unserem Bett blutete, schrie, weinte,
brüllte, ohne dass jemand sie hörte und ihr zu Hilfe kam.
Ich wusste bis dahin nicht, dass man sich
über Blumen unterhalten kann. Ich meine damit, ich habe nicht
gewusst, dass man sich über Menschen unterhalten kann, indem man
über Blumen spricht und ohne dass die Worte Mensch, Schicksal, Tod,
Ende und Verlust fallen. An jenem Abend lernte ich es. Auch der
Pfarrer beherrschte die Kunst der Rede. Wie Mierck. Wie Destinat.
Aber er machte daraus etwas Gutes. Er rollte lächelnd die Worte mit
der Zunge, und aus einer Nichtigkeit wurde ein Wunder. Bestimmt
bekommen sie das in ihren Seminaren beigebracht: die Phantasie mit
gewandten Sätzen zu wecken. Er beschrieb mir seinen Garten hinter
dem Pfarrhaus, den man wegen der Mauern nicht einsehen konnte. Er
erzählte mir von Kamille, Christrosen, Petunien, Bartnelken,
Federnelken, Anemonen, Schleifenblumen, Pfingstrosen, Fetthenne,
Opuntia und Datura, von Blumen, die nur einen Sommer blühen, und
anderen, die jedes Jahr wiederkommen, von solchen, die am Abend
aufblühen und am Morgen welken, und wieder anderen, die vom
Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang leuchten, Winden, deren rosa
und violette Blütenkronen sich am Morgen öffnen und sich mit
Einbruch der Nacht plötzlich schließen, als habe eine Hand die
Blätter zugedrückt.
Von diesen Blumen hatte der Pfarrer in einem
anderen Tonfall gesprochen als von den anderen. Das war nicht mehr
der Tonfall des Pfarrers. Nicht mehr der des Gärtners. Das war der
Tonfall eines verwundeten Menschen. Als er gerade den Namen dieser
Blume aussprechen wollte, gebot ich ihm mit einer Handbewegung
Einhalt. Ich wollte ihn nicht hören, den Namen. Ich kannte ihn. Er
pochte seit zwei Tagen in meinem Kopf, pochte und pochte. Die
Erinnerung an das Gesicht der Kleinen traf mich; der Pfarrer
verstummte. Draußen war der Regen wieder zu Schnee geworden.
Flocken schlugen schwer gegen die Scheibe. Jahrelang habe ich
später versucht, in unserem kleinen Garten diese Belles de Jours zu
ziehen. Es ist mir nie gelungen. Die Samen blieben im Boden
stecken, verfaulten hartnäckig, weigerten sich, dem Himmel
entgegenzuwachsen, aus der dunklen, feuchten, klebrigen Erdmasse
herauszukommen. Nur Quecken und Disteln wuchsen und überwucherten
alles, sprossen zu unwahrscheinlichen Höhen, erstickten mit ihren
Blüten alles andere.
Seitdem habe ich oft daran gedacht, was der
Pfarrer über die Blumen, Gott und dessen Beweis gesagt hatte. Ich
habe gedacht, dass es wahrscheinlich Orte auf der Welt gibt, an die
Gott nie auch nur einen Fuß setzt. Pater Lurant ist weggegangen, um
die Stämme Annams in den Bergen Indochinas zu missionieren. Das war
1925. Er kam bei mir vorbei, um mir die Neuigkeit zu erzählen; ich
wusste nicht, warum er auf diesen Besuch Wert legte. Vielleicht
weil wir uns einmal in Unterhosen unterhalten und Zimmer und Wein
miteinander geteilt hatten. Ich habe ihn nicht gefragt, weshalb er
einfach so fortging, obwohl er nicht mehr jung war. Ich fragte
bloß: «Und Ihre Blumen?»
Er sah mich an, lächelnd, mit diesem
Pfarrerblick, von dem ich gesprochen habe, der in unser Innerstes
dringt und uns die Seele herausreißt, wie man mit einer
zweizinkigen Gabel die gekochte Schnecke aus ihrem Haus zieht. Dann
sagte er, da, wo er hingehe, gebe es tausend Blumen, tausend, die
er noch nicht kenne, die er nie gesehen habe oder doch nur in
Büchern, und man könne nicht immer nur in Büchern leben, eines
Tages müsse man das Leben und seine Schönheiten mit vollen Händen
ergreifen.
Beinahe hätte ich ihm gesagt, für mich gelte
eher das Gegenteil, ich hätte genug Leben und würde mich ohne
Zögern in die Bücher stürzen, wenn es welche gäbe, die mich über
das Leben hinwegtrösten könnten. Aber wenn man sich fern steht,
nützt Reden nichts. Wir haben uns die Hand geschüttelt.
Ich habe danach nicht mehr oft an ihn
gedacht. Aber zuweilen kam es vor. Edmond Gachentard, mein alter
Kollege, hatte mir neben seinem Karabiner einige Bilder dieses
gelben Landes hinterlassen. Ich meine, keine Bilder auf Papier,
sondern solche, die in den Kopf eindringen und dort
bleiben.
In seiner Jugend war Gachentard Mitglied
eines nach Tonkin entsandten Expeditionscorps gewesen. Er hatte von
dort ein Fieber mitgebracht, das ihn häufig von einem Moment auf
den anderen käseweiß werden und zittern ließ, sowie ein grünes
Kaffeeglas, das auf seinem Esszimmertisch stand, dazu eine
Fotografie, auf der er in Uniform vor Reisfeldern zu sehen war,
eine gewisse Trägheit im Blick, eine Art Entrückung, die ihn
ergriff, sooft er an diese Länder dachte, an das, was er mir davon
erzählt hatte, an die Nächte mit den Gesängen von Fröschen und
Agakröten. An die Hitze, die den Körper klebrig macht, den breiten,
schlammigen Fluss, der Bäume, Ziegenkadaver, Seerosen und
losgerissene Uferwinden mit sich führt. Manchmal machte Gachentard
mir sogar die Tänze der Frauen vor, ihre grazilen Handbewegungen,
ihre gebogenen Finger, das Rollen ihrer Augen und die Flötenmusik,
die er pfeifend neu komponierte, wobei er so tat, als spielte er
auf einem abgesägten Besenstiel.
In diesem Dekor sah ich den Pfarrer vor mir,
die Arme beladen mit unbekannten Blumen, mit einem Tropenhelm und
einer hellen Soutane, deren unteren Rand eine Borte aus
getrocknetem Schlamm zierte, während er warmen Regen auf glänzende
Wälder fallen sah. Ich sah ihn lächeln, immer nur lächeln. Warum,
weiß ich nicht.
Als ich in unserem Zimmer im Bischofspalais
erwachte, fiel mir sofort Clemence ein. Koste es, was es wolle, ich
musste nach Hause, notfalls die Straße umgehen, sollte sie noch
immer gesperrt sein, jeden erdenklichen Umweg machen, um endlich
wieder zu ihr zu kommen. So schnell wie möglich. Ich kann nicht
sagen, dass ich eine Vorahnung hatte. Ich war nicht beunruhigt.
Nein. Aber ich hatte Sehnsucht nach ihrer Haut, ihren Augen, ihren
Küssen, wollte mich an sie schmiegen, um den Tod, der überall am
Werk war, eine Weile zu vergessen. Ich zog meine noch nicht ganz
trockenen Kleider an. Rieb mir das Gesicht mit Wasser ab. Pater
Lurant schlief noch. Er sägte wie ein Waldarbeiter, mit breitem,
rosigem Gesicht. Ich dachte, dass er vermutlich auch im Schlaf die
Arme voll Blumen hatte. Mit leerem Bauch brach ich auf.
Berthe ist in der Küche. Ich sehe sie nicht,
spüre aber, wie sie schnauft und den Kopf von einer Seite zur
anderen wiegt. Sie schnauft immer, wenn sie meine Hefte sieht. Was
geht es sie an, womit ich meine Tage verbringe? Wahrscheinlich hat
sie Angst vor den Buchstaben. Sie hat nie lesen gelernt; für sie
sind die aneinander gereihten Wörter ein großes Geheimnis. Neid und
Angst.
Ich gelange zu dem Punkt, dem ich mich seit
Monaten nähere. Wie einer schreckliche Horizontlinie. Ich komme zu
jenem entsetzlichen Morgen. Zu dem Augenblick, an dem die Uhren
stehen blieben. Zu jenem endlosen Sturz. Zum Tod der Sterne.
Eigentlich hat Berthe nicht Unrecht. Die Worte sind
angsteinflößend. Sogar für Menschen, die sie kennen und entziffern
können. Ich bin angekommen und bringe es nicht fertig. Ich weiß
nicht, wie ich es sagen soll. Die Finger am Füllhalter zittern. Die
Eingeweide verkrampfen sich. Die Augen brennen. Ich bin über
fünfzig, fühle mich aber wie ein vom Grauen geschüttelter
Schuljunge. Ich trinke ein Glas Wein. Dann noch eins, ohne
abzusetzen. Ein drittes. Ich setze die Flasche an und trinke sie
aus. Clemence kommt nahe zu mir. Sie beugt sich über meine
Schulter. Ich spüre den Hauch ihres jungen Atems im ergrauten
Nacken. «Schon am Morgen so viel trinken, wenn das keine Schande
ist ... Mittags werden Sie betrunken sein.» Das ist Berthe. Ich
schreie sie an. Sage ihr, sie soll sich rausscheren. Sich um ihren
eigenen Kram kümmern. Sie zuckt die Achseln. Lässt mich allein. Ich
atme tief ein. Greife nach dem Füllhalter.
Als ich das Haus sah, fing mein Herz heftig zu
pochen an. Es war völlig verschneit, glänzte in der hellen Sonne.
Dünne Eiszapfen verbanden den Rand des Dachs mit dem weißen Boden.
Plötzlich war mir nicht mehr kalt, der Hunger war verflogen, ich
hatte den Eilmarsch vergessen, den ich mir auferlegt hatte, vier
Stunden auf der Straße, auf der der endlose Zug der Soldaten,
Karren, Pferdefuhrwerke und Lastwagen nicht abriss. Hunderte von
Soldaten hatte ich überholt, die mit schweren Schritten
marschierten, und mir, der ich in Zivil gekleidet war, böse Blicke
zuwarfen, weil ich so eilig dorthin strebte, wohin sie nur
widerwillig gingen. Dann endlich das Haus. Unser Haus. Ich klopfte
die Schuhe an der Mauer ab, weniger wegen des Schnees, als um ein
Geräusch zu machen, ein vertrautes Geräusch, das verkünden sollte,
ich sei da, auf der anderen Seite der Wand, nur noch zwei Schritte
von ihr entfernt. Ich lächelte, stellte mir vor, wie Clemence sich
mich vorstellte, drückte die Klinke herunter und stieß die Tür auf.
Ich trug mein Glück im Gesicht. Es gab keinen Krieg mehr, kein
Gespenst, kein ermordetes Kind. Es gab nur noch meine Geliebte, die
ich wieder sehen und in die Arme schließen würde, bevor ich meine
Hände auf ihren Bauch gleiten ließ, um unter der Haut das
ungeborene Kind zu spüren. Und ich bin ins Haus gegangen.
Das Leben ist seltsam. Es warnt einen nicht.
Alles mischt sich, und verhängnisvolle Augenblicke folgen auf
gnadenreiche. Der Mensch ist einer jener kleinen Kieselsteine, die
auf der Straße tagelang am selben Fleck liegen, bis irgendwer oder
irgendwas sie wegstößt oder in die Luft schießt. Was kann der
Kieselstein schon tun? Es herrschte eine seltsame Stille im Haus.
Das Gefühl, es sei wochenlang unbewohnt gewesen. Alles war an
seinem Ort, wie gewöhnlich, aber lastender, kälter. Doch vor allem
war da diese Stille, die meine Stimme schluckte, als ich rief. Und
plötzlich spürte ich, dass mein Herz aussetzte. Oben an der Treppe
stand die Schlafzimmertür halb offen. Ich tat zwei Schritte. Ich
glaubte, keinen einzigen mehr tun zu können. Genau weiß ich nicht
mehr, was ich in welcher Reihenfolge getan habe und wie lange es
gedauert hat. Clemence lag auf dem Bett, mit blasser Stirn und noch
blasseren Lippen. Sie hatte viel Blut verloren, und ihre Hände
pressten sich auf ihren Bauch, als hätte sie versucht, das, was sie
monatelang in sich getragen hatte, allein ans Licht der Welt zu
bringen. Um sie herum die allergrößte Unordnung. Sie ließ mich
verstehen, was sie zu tun versucht hatte. Es war ihr nicht
gelungen, das Fenster zu öffnen und um Hilfe zu rufen. Sie hatte
nicht gewagt, die Treppe hinunterzugehen, wahrscheinlich, weil sie
fürchtete, zu stürzen und das Kind zu verlieren. Endlich hatte sie
sich aufs Bett gelegt. Sie atmete erschreckend langsam, und ihre
Wangen waren kaum noch warm. Ihr Gesicht war totenblass. Ich legte
meine Lippen auf ihre, sagte ihren Namen, schrie, nahm ihr Gesicht
in meine Hände, ohrfeigte sie, blies ihr Luft in den Mund. An das
Kind habe ich keinen Gedanken verschwendet. Ich sorgte mich nur um
sie. Dann versuchte ich, das Fenster zu öffnen, der Griff ging ab,
ich hämmerte mit der Faust gegen die Scheibe, bis sie zerbrach,
schnitt mich und brüllte auf die Straße hinaus. Türen, Fenster
flogen auf. Ich stürzte zu Boden. Ich stürze noch immer. Ich lebe
in diesem Sturz. Immerzu.
XVII
Hippolyte Lucy steht neben Clemence, beugt
sich mit angespanntem Gesicht über sie. Man hat mich auf einen
Stuhl gesetzt. Ich sehe zu, ohne zu verstehen. Im Zimmer sind viele
Menschen. Nachbarinnen, junge und alte, die leise sprechen, als
hielten sie bereits die Totenwache. All diese Schlampen, wo waren
sie denn, als Clemence stöhnte und versuchte, um Hilfe zu rufen? Wo
waren die Weiber, die sich jetzt vor meinen Augen am Unglück laben,
auf meine Kosten? Ich stehe auf, balle die Fäuste, ich muss
aussehen wie ein Verrückter, ein Mörder, ein Irrer. Ich sehe sie
zurückweichen. Ich werfe sie raus. Schließe die Tür. Jetzt sind wir
nur noch zu dritt, Clemence, der Arzt und ich.
Ich habe schon gesagt, dass Hippolyte Lucy
ein guter Arzt war. Ein guter Arzt und ein guter Mensch. Ich sah
nicht, was er tat, aber ich wusste, dass er es gut machte. Er sagte
mir Wörter: Hämoragie, Koma. Er drängte: Wir sollten uns beeilen.
Ich hob Clemence hoch. Sie war leicht wie eine Feder. Es war, als
lebte nur noch ihr Bauch und als hätte sich alles Leben sich in
diesen übergroßen, hungrigen Bauch zurückgezogen. In der Kutsche
hielt ich sie an mich gepresst, während der Arzt mit der Peitsche
auf die Kruppen seiner beiden Gäule einhieb. Wir kamen zum
Krankenhaus. Man trennte mich von ihr. Zwei Krankenschwestern
nahmen sie auf einer Rollbahre mit. Clemence verschwand im Geruch
von Äther, im Rascheln weißer Laken. Man sagte, ich solle
warten.
Stundenlang saß ich in einem Wartezimmer
neben einem Soldaten, der seinen linken Arm verloren hatte. Ich
erinnere mich, dass er sagte, er sei sehr froh, einen Arm verloren
zu haben, zumal den linken, das sei ein großes Glück für ihn, den
Rechtshänder. In sechs Tagen sei er zu Hause, und zwar für immer.
Weit weg von diesem Krieg der gehörnten Ehemänner, wie er sich
ausdrückte. Ein verlorener Arm, das seien etliche gewonnene Jahre.
Lebensjahre. Das wiederholte er in einem fort und zeigte mir seinen
Stumpf. Er hatte ihm sogar einen Namen gegeben, dem fehlenden Arm:
Gugusse. Ständig sprach er mit Gugusse, rief ihn zum Zeugen an,
neckte ihn. Das Glück kann an Kleinigkeiten hängen. Mal an einem
Faden, mal an einem Arm. Der Krieg kehrt das Unterste zuoberst: Er
bringt es fertig, aus einem Amputierten einen glücklichen Mann zu
machen. Leon Castrie hieß dieser Soldat. Er stammte aus Morvan. Er
bot mir eine Zigarette nach der anderen an. Er betäubte mich mit
Worten, und das hatte ich bitter nötig. Er stellte mir keine
einzige Frage. Verlangte noch nicht einmal, dass ich mich mit ihm
unterhielt. Das Gespräch bestritt er ganz allein mit seinem
verlorenen Arm. In dem Moment, als er sich entschloss, sich von mir
zu verabschieden, stand er auf und sagte: «Wir müssen los, Gugusse
und ich.» Es war Zeit für die Suppe. Castrie. Leon Castrie,
einunddreißig Jahre alt, Gefreiter im 127. Regiment, aus Morvan,
Junggeselle, Bauer. Der das Leben und die Kohlsuppe liebte. Das ist
alles, was ich behalten habe. Ich wollte nicht nach Hause zurück.
Ich wollte dort bleiben, auch wenn es nichts half.
Eine Krankenschwester kam. Es war bereits
Abend. Sie sagte, das Kind sei gerettet, ich könne es sehen, wenn
ich wolle, ich solle ihr folgen. Ich schüttelte den Kopf. Ich
wollte nur Clemence sehen. Ich fragte nach ihr. Die
Krankenschwester sagte, sie werde den Arzt fragen. Dann ging
sie.
Später kam der Arzt, ein erschöpfter,
todmüder Mann in Uniform. Er war als Metzger verkleidet, als
Ochsenschlächter, seine Schürze und sein Schiffchen blutbeschmiert.
Seit Tagen operierte er ohne Pause, hinterließ manchmal Glückliche,
häufig Tote, immer Versehrte. Eine junge Frau war für ihn eine Art
Irrtum inmitten all dieser Männer. Auch er erzählte mir von dem
Neugeborenen, das groß sei, zu groß, als dass es alleine hätte
herauskommen können. Er sagte, das Kind sei gerettet. Dann gab auch
er mir eine Zigarette. Ein schlechtes Zeichen, diese Zigaretten
kannte ich allzu gut, denn ich selbst hatte sie schon an Burschen
verteilt, von denen ich wusste, dass sie nicht mehr lange zu leben
hatten oder nicht mehr lange in Freiheit bleiben würden. Wir
rauchten eine Weile, ohne zu sprechen. Dann sagte er, während er
Rauch ausblies, meinem Blick ausweichend: «Sie hatte zu viel Blut
verloren.» Sein Satz blieb in der Luft hängen wie der Rauch unserer
Zigaretten. Er kam nicht wieder hinunter, endete nicht. Plötzlich
bekam ich Lust, ihn zu töten, diesen armen Teufel mit den Ringen
unter den Augen und dem Dreitagebart, der sich in seinen Sätzen
verhaspelte, diesen Mann am Ende seiner Kräfte, der alles getan
hatte, um sie ins Leben zurückzuholen. Niemals, da bin ich ganz
sicher, habe ich so große Lust gehabt, jemanden mit meinen eigenen
Händen zu töten. In Raserei zu töten, zornig und gewalttätig.
Töten.
«Ich muss wieder», sagte er und warf seine
Kippe auf den Boden. Dann legte er die Hand auf meinen Arm, während
ich noch von Mordphantasien geschüttelt wurde. «Sie können sie
sehen», sagte er. Und ging, müde und langsam.
Die Welt hört nicht auf, sich zu drehen, nur
weil ein paar Menschen leiden. Und Schweine bleiben Schweine.
Vielleicht gibt es keinen Zufall, das habe ich schon oft gedacht.
Bei eigenen Tragödien wird man sehr egoistisch. Vergessen waren
Belle de Jour, Destinat, Josephine in ihrem Kerker, Mierck und
Matziev. Als ich zur Stelle hätte sein sollen, war ich es nicht,
und die beiden Dreckskerle nutzten das aus, um in aller Ruhe ihr
Süppchen zu kochen, fast als hätten sie Clemences Tod bestellt, um
mich loszuwerden und die Ellbogen frei zu bekommen. Und sie setzten
sie ein, skrupellos. Ein Verbrechen wie die Affäre erschüttert
einen ganzen Landstrich, das können Sie mir glauben. Es ist wie
eine Welle: ein Sturmritt, der alles auf seinem Weg erzittern
lässt. Ein Mord erregt Grauen bei den Menschen und liefert ihnen
gleichzeitig Gesprächsstoff, beschäftigt ihre Köpfe genauso wie
ihre Zungen. Dennoch, dass ein Mörder sich in der Gegend
herumtreibt, dass er da ist, ganz in der Nähe, dass man ihm
vielleicht begegnet ist oder ihm noch begegnen wird, dass es
möglicherweise der Nachbar ist, dieses Wissen tut niemandem gut.
Besonders zu Kriegszeiten, in denen man noch dringender als sonst
einen sicheren zivilen Frieden braucht, damit nicht alles verloren
scheint.
Es gibt nicht beliebig viele Arten, einen
Mord aufzuklären. Ich kenne nur zwei: Entweder man verhaftet den
Täter, oder man verhaftet jemanden, von dem man behauptet, er sei
der Täter. Entweder das eine oder das andere. Und die Sache ist
erledigt. Das ist nicht besonders schwierig. Für die Bürger ist das
Ergebnis in beiden Fällen dasselbe. Der Einzige, der bei dem Handel
verliert, ist der Mann, der verhaftet wird, aber wen kümmert dessen
Meinung? Es sei denn, es geschehen noch mehr solche Verbrechen,
dann wär's ein anderes Paar Schuhe. Ja, das ist wahr. Aber die
kleine Belle de Jour war und blieb das einzige Mädchen, das bei uns
erwürgt wurde. Es gab keine weiteren. Und das war der Beweis für
alle, die einen Beweis nötig hatten, dass der Verhaftete wirklich
der Schuldige war. Rührt euch; Akte geschlossen. Hokuspokus
verschwindibus! Nichts von dem, was ich nun erzählen werde, habe
ich mit eigenen Augen gesehen, aber das ändert nichts. Ich habe
Jahre gebraucht, um die Fäden zu verknüpfen und alle Wörter, Wege,
Fragen und Antworten zusammenzu führen. Es ist so gut wie die
Wahrheit. Nichts ist erfunden. Warum sollte ich auch etwas
erfinden?
XVIII
Am Morgen des 3. Dezember, als ich die Straße
entlangstapfte, um nach Hause zu kommen, verhafteten die Gendarmen
zwei junge Burschen, die halb tot waren vor Hunger und Kälte. Zwei
Deserteure vom 59. Infanterieregiment. Sie waren nicht die ersten,
die von den Gendarmen eingefangen wurden, das große Weglaufen hatte
schon einige Monate zuvor begonnen. Jeden Tag verschwanden welche
auf diese Art von der Front, verliefen sich auf dem Land oder zogen
es vor, mutterseelenallein im Dickicht oder in einem Wäldchen zu
verrecken: besser, als von Granaten zerfetzt zu werden. Sagen wir,
die beiden kamen wie gerufen: der Armee, die ein Exempel statuieren
wollte, und auch dem Richter, der einen Schuldigen brauchte. Man
führt die beiden Burschen über die Straßen. Zwischen zwei
Polizisten, die stolz sind wie Oskar. Die Leute kommen aus den
Häusern, um sie zu sehen. Zwei Soldaten, zwei Gendarmen. Zwei
zerlumpte, zerzauste, unrasierte Männer in zerrissenen Uniformen,
mit hohlen Gesichtern und wankendem Schritt, deren Augen in alle
Richtungen wandern, mit fester Hand gepackt von zwei Gendarmen,
richtig großen, starken, rosigen Gendarmen in gewichsten Stiefeln,
gebügelten Hosen und mit Siegermiene.
Die Menge wächst an und wird zunehmend
bedrohlich, vielleicht, weil Mengen immer dumm sind; eng und enger
schließt sie sich um die Gefangenen. Fäuste werden
gereckt,
Schimpfwörter und Steine fliegen. Was ist
eine Menschenmenge? Nichts als harmlose Bauern, wenn man mit jedem
von ihnen von Angesicht zu Angesicht spricht. Aber zusammen, im
gemeinsamen Geruch der Körper, dem Schwitzen, dem Atem, wenn sie
beinahe aneinander kleben, wenn man in Gesichter sieht, die auf das
harmloseste Wort lauern, egal ob es richtig ist oder falsch, wird
die Menge zu Dynamit, einer Teufelsmaschine, einem Dampfkochtopf,
der bei der geringsten Berührung explodieren kann.
Die Gendarmen spüren, woher der Wind weht.
Sie beschleunigen ihre Schritte. Auch die Deserteure beeilen sich.
Alle vier flüchten ins Bürgermeisteramt, in dem auch in kürzester
Zeit der Bürgermeister eintreffen wird. Es folgt ein Moment der
Ruhe. Das Bürgermeisteramt sieht aus wie ein gewöhnliches Wohnhaus,
ein Haus allerdings mit einer blauweißroten Fahne und dem
sorgfältig in den Stein gemeißelten, schönen, auf den ersten Blick
naiven Leitspruch «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» zur
Beruhigung übermütiger Attentäter. Alle halten inne. Schweigen.
Warten. Kein Mucks. Nach einiger Zeit tritt der Bürgermeister auf
den Balkon. Er räuspert sich. Es ist ihm anzusehen, dass die Angst
ihm die Eingeweide herumdreht. Es ist kalt, aber er wischt sich die
Stirn und beginnt plötzlich zu sprechen: «Geht nach
Hause!»
«Wir wollen sie haben!», antwortet eine
Stimme. «Wen denn?», erwidert der Bürgermeister. «Die Mörder!»,
platzt eine Stimme heraus, eine andere als die erste, und wird
sogleich von einem Dutzend weiterer aufgegriffen, ein unheilvolles
Echo. «Welche Mörder?», fragt der Bürgermeister. «Die Mörder der
Kleinen», ertönt die Antwort. Vor Überraschung sperrt der
Bürgermeister den Mund auf, dann hat er sich wieder in der Gewalt
und schreit los, sie seien wohl alle verrückt geworden, das sei
bloß dummes Gerede, Lügen, Hirngespinste, die beiden Kerle seien
Deserteure, die Gendarmen würden sie der Armee übergeben, und die
Armee werde schon wissen, wie sie
mit ihnen zu verfahren habe.
«Wir wollen sie haben», fängt ein anderer
Idiot wieder an.
«Ihr bekommt sie aber nicht», antwortet der
Bürgermeister, jetzt wütend und stur. «Und wisst ihr, warum ihr sie
nicht haben könnt? Weil nämlich der Richter benachrichtigt wurde.
Er ist unterwegs und wird gleich hier sein.»
Manche Worte sind magisch. «Richter» ist ein
solches magisches Wort. Wie «Gott», «Tod», «Kind» und noch einige
andere. Es sind Wörter, die Respekt verlangen, was immer man sonst
von ihnen hält. Bei dem Wort «Richter» läuft es einem kalt den
Rücken hinunter, selbst wenn man sich nichts vorzuwerfen hat und
das Gewissen so rein ist wie ein Lamm. Die Leute wussten genau,
dass Mierck der Richter war. Die Sache mit den «kleinen Welten»
hatte sich herumgesprochen – neben einer Leiche weich gekochte Eier
zu verspeisen! –, auch seine Missachtung der Kleinen: dass er kein
Wort für sie übrig gehabt hatte, kein Erbarmen. Dennoch blieb er
für diese stumpfen Leute der Richter, selbst wenn sie ihn hassten:
Er war es, der einen mit einer einfachen Unterschrift zwischen vier
dicke Wände schicken konnte. Der mit dem Henker gemeinsame Sache
machte. Eine Art schwarzer Mann für Erwachsene.
Die Leute sahen einander an. Die Menge begann
sich zu zerstreuen, erst langsam, dann rascher, als wären alle
plötzlich von einer Kolik befallen. Nur ein Dutzend
Unerschütterlicher blieb auf dem Pflaster stehen. Der Bürgermeister
drehte sich um und ging wieder hinein. Es war ein guter Einfall
gewesen, mit dem Wort Richter zu drohen wie mit einem Gespenst –
beinahe ein Geniestreich, mit dem er wahrscheinlich die Lynchjustiz
verhindert hatte. Nun blieb dem Bürgermeister nur noch, den Richter
auch wirklich zu benachrichtigen. Mierck traf am frühen Nachmittag
ein, in Begleitung Matzievs. Es hatte den Anschein, dass sie
inzwischen miteinander sprachen wie gute Freunde, und das erstaunte
mich nicht, denn ich war ihnen vorher schon begegnet und sollte
auch nachher noch das Vergnügen haben: Ich habe bereits gesagt,
dass beide aus demselben Holz geschnitzt waren. Sie begaben sich
zum Bürgermeisteramt, das man mit der Unterstützung von etwa zehn
nur zu diesem Zweck angerückten Gendarmen in ein befestigtes Lager
verwandelt hatte. Als Erstes ordnete der Richter an, ihm zwei
bequeme Sessel vor den Kamin im Büro des Bürgermeisters zu stellen,
außerdem Wein und etwas zu essen zu bringen, also Käse, Weißbrot
und so weiter. Der Bürgermeister schickte Louisette, damit sie vom
Besten brachte, das sie finden konnte.
Matziev nahm eine seiner Zigarren heraus.
Mierck sah auf die Uhr und pfiff vor sich hin. Der Bürgermeister
blieb stehen und wusste nicht, wohin mit sich. Der Richter
bedeutete ihm durch ein befehlendes Kopfnicken, er solle die
Soldaten und ihre Bewacher holen. Und das tat er.
Die bedauernswerten Kerle betraten den Raum,
wo ihnen das warme Feuer wieder zu etwas Farbe verhalf. Den
Gendarmen befahl der Oberst, sie sollten hurtig die Platte putzen,
worüber Mierck herzlich lachte. Die beiden Spießgesellen musterten
die armen Bengel lange. Ich sage Bengel, denn vor wenigen Jahren
waren sie noch welche gewesen. Der eine, Maurice Rifolon,
zweiundzwanzig Jahre alt, geboren in Melun, wohnhaft in Paris, 15
Rue des Amandiers im 15. Arondissement, Drucker. Der andere, Yann
Le Floc, zwanzig Jahre alt, geboren in Plouzagen, einem
bretonischen Dorf, das er vor dem Krieg nie verlassen hatte,
Bauernjunge. «Was mich erstaunte», sagte der Bürgermeister später,
sehr viel später, «war ihre Verschiedenheit. Der kleine Bretone
ließ den Kopf hängen. Es war deutlich, dass die Angst ihn im Griff
hatte. Der andere hingegen, der Arbeiter, trug den Kopf aufrecht
und blickte uns gerade in die Augen, nicht gerade lächelnd, aber
doch beinahe, und man musste den Eindruck haben, dass wir ihm egal
waren, dass ihm möglicherweise alles egal war.» Der Oberst feuert
die erste Breitseite ab: «Sie wissen, warum Sie hier sind?», fragt
er. Rifolon mustert ihn, antwortet nicht. Der kleine Bretone hebt
ein wenig den Kopf, stammelt: «Weil wir weggerannt sind, Herr
Oberst, weil wir abgehauen sind ...» Da schaltet sich Mierck ein:
«Weil Sie gemordet haben.»
Der kleine Bretone reißt die Augen auf. Der
andere hingegen, Rifolon, sagt mit Unschuldsmiene: «Natürlich haben
wir gemordet, man hat uns sogar deswegen geholt, damit wir von
Angesicht zu Angesicht Männer töten, die uns so ähnlich sind wie
Brüder, damit wir sie ermorden und sie uns ermorden. Leute wie Sie
haben uns befohlen, dass wir das tun sollen ...» Der kleine Bretone
gerät in Panik:
«Ich weiß nicht genau, ob ich welche getötet
habe, man sieht da draußen nicht gut, und ich kann nicht schießen,
sogar mein Oberst macht sich über mich lustig, <Le Floc, sagt
er, du würdest noch nicht mal eine Kuh im Hausflur treffen!>,
also, es ist nicht sicher, vielleicht habe ich auch niemanden
getötet.»
Der Oberst tritt näher heran. Er nimmt einen
tiefen Zug aus seiner Zigarre. Bläst ihnen den Rauch in die
Nasenlöcher. Der Kleine hustet. Der andere gibt keinen Mucks von
sich.
«Sie haben ein kleines Mädchen ermordet.
Eine
Zehnjährige.»
Der Kleine fährt auf:
«Was? Was? Was?», wiederholt er
mindestens
zwanzigmal, hüpft dabei auf der Stelle herum
und windet sich, als stünde er auf glühenden Kohlen. Der Drucker
hingegen bewahrt die Ruhe, sein feines Lächeln. Daraufhin richtet
der Richter das Wort an ihn: «Sie sehen nicht überrascht
aus?»
Sein Gegenüber lässt sich mit der Antwort
Zeit, mustert Mierck und den Oberst von Kopf bis Fuß, und der
Bürgermeister sagte später zu mir: «Es sah aus, als mäße er sie mit
Blicken und als würde ihm das auch noch Spaß machen.» Endlich
antwortet er:
«Mich kann nichts mehr überraschen. Wenn Sie
gesehen hätten, was ich gesehen habe in den letzten Monaten, dann
wüssten Sie, dass alles möglich ist.» Ein hübscher Satz, nicht
wahr? Und das dem Richter, der puterrot anläuft, platsch vor die
Nase. «Sie leugnen?», brüllt er.
«Ich gestehe», entgegnet der andere ruhig.
«Was?», schreit der Kleine und klammert sich an den Kragen seines
Gefährten. «Du bist verrückt geworden, was erzählst du da, hören
Sie nicht auf ihn, ich kenne ihn gar nicht, wir sind erst seit
gestern Abend zusammen. Ich weiß nicht, was er gemacht hat,
Schwein, Schwein, warum tust du das, sag's ihnen, sag's ihnen!»
Mierck bringt ihn zum Schweigen, drängt ihn in eine Ecke des Büros,
als wollte er sagen: «Du kommst später dran», und wendet sich
wieder dem anderen zu. «Du gestehst?»
«Was Sie wollen», sagt der, immer noch ruhig.
«Die Kleine?»
«Ich hab sie ermordet. Ich war's. Ich hab sie
gesehen. Ich
bin ihr gefolgt. Ich hab ihr mit dem Messer dreimal in
den Rücken gestochen.»
«Nein, du hast sie erwürgt.»
«Ja, stimmt, ich hab sie erwürgt mit diesen
Händen, Sie haben Recht, ich hatte ja gar kein Messer dabei.» «Am
Ufer des kleinen Kanals.»
«Genau.»
«Du hast sie ins Wasser geworfen.»
«Ja.»
«Warum hast du das getan?»
«Weil ich Lust dazu hatte.»
«Sie zu vergewaltigen?»
«Ja.»
«Aber sie wurde nicht vergewaltigt.»
«Keine Zeit. Ich habe ein Geräusch gehört. Da bin ich
weg.»
Die Antworten kommen wie geschmiert, wie im
Theater, sagt der Bürgermeister. Der Arbeiter hält sich
kerzengerade, spricht sehr deutlich. Der Richter labt sich an
seinen Worten. Es wirkt, als sei die Szene einstudiert worden. Der
kleine Bretone weint, das Gesicht rotzbeschmiert, mit bebenden
Schultern, und dreht ständig den Kopf von rechts nach links.
Matziev hüllt sich in den Rauch seiner Zigarre.
Der Richter sagt zum Bürgermeister: «Sie
können sein Geständnis bezeugen?» Der Bürgermeister ist kein Zeuge,
er ist sprachlos. Er merkt, dass der Arbeiter sich über den Richter
lustig macht. Er merkt, dass Mierck dies ebenfalls merkt. Und
endlich merkt er nur noch das eine, nämlich dass dem Richter das
vollkommen gleichgültig ist. Er hat bekommen, was er wollte: ein
Geständnis. «Kann man das wirklich ein Geständnis nennen?», wagt
der Bürgermeister zu fragen. Der Oberst schaltet sich ein: «Sie
haben doch Ohren, Herr Bürgermeister, und ein Hirn. Sie haben also
zugehört und verstanden.» «Wollen Sie vielleicht das Verhör
durchführen?», schlägt der Richter vor. Der Bürgermeister schweigt.
Der kleine Bretone weint noch immer. Der andere steht stocksteif
da. Lächelnd. Ist in Gedanken abwesend. Er hat gerade folgende
Rechnung aufgemacht: Deserteur: Erschießung; Mörder: Hinrichtung.
In beiden Fällen aus und vorbei! Er wollte die Sache beschleunigen.
Das ist alles. Und bei dieser Gelegenheit allen gründlich auf die
Nerven gehen. Gut gemacht. Mierck rief einen der Gendarmen herein
und ließ den Drucker in einen engen Raum bringen, eine Besenkammer,
die sich auf derselben Etage befand. Dort sperrte man ihn ein und
stellte eine Wache vor die Tür.
Danach gönnten sich der Richter und der
Oberst eine Pause. Dem Bürgermeister gaben sie zu verstehen, sie
würden nach ihm schicken, falls sie ihn noch benötigten. Der kleine
verweinte Bretone wurde von einem anderen Gendarmen in den Keller
geschafft, und weil der Keller nicht abgesperrt werden konnte,
legte man ihm Handschellen an und befahl ihm, sich auf den Boden zu
setzen. Der Rest der Truppe kehrte, auf Befehl Miercks, an den Ort
des Verbrechens zurück, um ihn noch einmal gründlich in Augenschein
zu nehmen. Der Nachmittag war bereits weit fortgeschritten.
Louisette kam mit einer Menge Lebensmittel zurück, die sie an
verschiedenen Orten zusammengesucht hatte. Der Bürgermeister sagte
ihr, sie solle alles zubereiten und es den Herren hinüberbringen,
aber auch den Gefangenen etwas geben, denn er war schließlich kein
Schuft. «Mein Bruder war zu der Zeit an der Front», erzählte mir
Louisette, «ich wusste, dass es dort hart zuging, auch er hatte
überlegt, alles im Stich zu lassen und nach Hause zurückzukehren.
<Du wirst mich verstecken!>, hatte er eines Tages zu mir
gesagt, als er auf Heimaturlaub war, und ich habe nein gesagt, wenn
er das täte, würde ich es dem Bürgermeister und den Gendarmen
melden. Das hätte ich natürlich niemals getan, aber ich hatte so
große Angst, er würde tatsächlich desertieren und man würde ihn
schnappen und erschießen. Das Ende vom Lied allerdings war, dass er
trotzdem gestorben ist, eine Woche vor dem Waffenstillstand ... Das
erzähl ich nur, weil ich Mitleid hatte mit den armen Kerlen, also
hab ich mich erst um die Gefangenen gekümmert, bevor ich den
wohlgenährten Herren was zu essen brachte. Der im Keller hat das
Brot und den Speck nicht genommen, die ich ihm hinhielt, er saß in
sich zusammengesunken da und heulte wie ein kleiner Bub, da ließ
ich alles neben ihm auf einem Fass stehen. Dann ging ich zu dem in
der Kammer im ersten Stock, habe an die Tür geklopft, keine
Antwort, ich klopfte nochmal, wieder keine Antwort, Brot und Speck
trug ich im Arm, da hat der Gendarm die Tür geöffnet, und wir sahen
ihn. Der arme Kerl lächelte, Ehrenwort, er lächelte und sah uns
direkt ins Gesicht, mit weit aufgerissenen Augen. Ich habe
geschrien, alles auf den Boden fallen lassen, der Gendarm sagte
Scheiße!, stürzte sich auf ihn, aber es war zu spät, er war schon
tot. Mit seiner Hose hatte er sich aufgehängt, er hatte sie in
Streifen gerissen und an den Fenstergriff gebunden. Ich hätte nicht
gedacht, dass ein Fenstergriff so stabil ist.» Als Mierck und
Matziev die Neuigkeit erfuhren, warf das ihre Theorie nicht über
den Haufen. «Noch ein Beweis!», verkündeten sie dem Bürgermeister.
Und sahen sich mit einem Ausdruck des Einverständnisses an. Die
Nacht brach herein. Der Oberst legte Holz im Kamin nach, der
Richter schickte nach Louisette. Sie traf mit gesenktem Kopf und am
ganzen Leib zitternd ein. Sie glaubte, man würde sie zu dem
Erhängten befragen. Aber Mierck wollte nur wissen, was sie Essbares
gefunden habe. Sie sagte:
«Drei Würste, Rillette, Schinken,
Schweinsfüße, ein Huhn, Kalbsleber, einen Käse aus Kuhmilch und
einen Ziegenkäse.» Die Miene des Richters hellte sich auf. «Gut,
sehr gut», sagte er mit feuchtem Mund. Und gab die Bestellung auf:
Gemischtes vom Schwein als Vorspeise, dann geschmorte Leber, eine
Hühnersuppe mit Kohl, Möhren, Zwiebeln, Wurst, dann geschmorte
Schweinsfüße, Käse und ein Apfelcrepe. Und Wein natürlich. Vom
besten. Den Weißen zur Vorspeise, den Roten später. Und mit einem
Wink des Handrückens schickte er sie zurück in die Küche. Den
ganzen Abend pendelte Louisette pausenlos zwischen dem
Bürgermeisteramt und dem Haus des Bürgermeisters hin und her.
Brachte Flaschen und Suppenteller, nahm leere Weinflaschen wieder
mit, brachte neue Gerichte. Der Bürgermeister blieb zu Hause im
Bett, sprachlos, denn ihn hatte ein plötzliches Fieber gepackt. Den
Drucker hatte man abgehängt und ins Leichenschauhaus gebracht. Ein
einziger Gendarm war im Bürgermeisteramt geblieben, um den kleinen
Bretonen zu bewachen. Louis Despiaux hieß der Gendarm. Ein guter
Kerl, ich werde noch auf ihn zu sprechen kommen. Das Büro des
Bürgermeisters, wo der Richter und der Oberst sich eingerichtet
hatten, ging auf einen kleinen Hof hinaus, in dem ein schütterer
Kastanienbaum sich zum Himmel reckte. Von einem der Bürofenster aus
konnte man den Mickerling gut sehen. Er hatte nicht genug Platz, um
zu blühen und ein wirklicher Baum zu werden, und inzwischen steht
er längst nicht mehr da. Kurz nach der Affäre ließ der
Bürgermeister ihn fällen, weil er an dieser Stelle immer etwas
anderes sah als einen kranken Baum.
In den Hof gelangte man durch eine niedrige
Tür, die sich in der Ecke des Büros befand. Sie war mit falschen
Bücherrücken täuschend echt bemalt, und die Wirkung war
ausgesprochen schön: Das eher spärlich bestückte Bücherregal, in
dem nie aufgeschlagene Folianten Seite an Seite mit dicken
Gesetzeswerken und den Bänden der Gemeindeverordnungen standen,
wurde dadurch optisch verlängert. Am Ende des Hofes befanden sich
die Toiletten und ein zwei Armlängen breites Schutzdach, unter dem
Brennholz aufbewahrt wurde. Als Louisette den Schinken und die
Rillette brachte, wurde sie mit lautem Rufen empfangen. Kein
Geschrei, nein, sondern ein Ausdruck der Befriedigung, woran sich
ein auf sie gemünzter Scherz des Obersts anschloss – sie konnte
sich nicht mehr genau daran erinnern –, der den Richter zum Lachen
brachte. Klirrend stellte sie Teller, Besteck und Gläser auf den
Tisch und trug das Essen auf. Der Oberst warf seine Zigarre in den
Kamin und nahm als Erster Platz. Dann fragte er sie nach ihrem
Vornamen. «Louisette», antwortete sie. Da soll der Oberst zu ihr
gesagt haben: «Ein schöner Name für ein hübsches Mädchen.» Und
Louisette soll gelächelt und das Kompliment eingesteckt haben, ohne
zu merken, dass der Lackaffe sich über sie lustig machte, denn ihr
fehlten drei Schneidezähne, und sie hatte einen Knick im Auge. Dann
sprach der Richter. Er befahl, sie solle in den Keller
hinuntergehen und dem Gendarmen ausrichten, sie wünschten mit dem
Gefangenen zu sprechen. Louisette ging zitternd, als stiege sie in
die Hölle hinab, in den Keller. Der kleine Bretone hatte zu weinen
aufgehört, aber das Brot und den Speck, den ihm die Dienerin
dagelassen hatte, nicht angerührt. Louisette richtete den Auftrag
aus. Der Gendarm schüttelte den Kopf, sagte dem Gefangenen, er
müsse hinauf, und weil dieser keine Anstalten machte, nahm Despiaux
ihn bei den Handschellen und zog ihn hinter sich her. «Der Keller
war sehr feucht.» Nun spricht Despiaux. Er erzählt mir seine
Geschichte und berichtet von dem Abscheu, den er damals empfand.
Wir sitzen an einem Tisch auf der Terrasse des Café de la Croix in
V. Es ist warm. Ein Abend im Juni. Der 21. Juni. Erst vor kurzem
habe ich Despiaux' Spur wieder gefunden. Nach der bewussten Nacht,
von der ich gleich erzählen werde, hat er bei der Gendarmerie
gekündigt. Er ging in den Süden, zu einem Schwager, der Weinberge
besaß, und dann nach Algerien, wo er in einem Handelshaus für
Schiffsbedarf arbeitete, das Schiffe verproviantierte. Anschließend
ist er, zu Beginn des Jahres 21, nach V. zurückgekehrt.
Er ist Buchführungsgehilfe bei Carbonnieux,
im Kaufhaus. Eine gute Stelle, sagt er selber. Er ist ein großer,
schlanker, aber nicht magerer Mann, mit einem noch jungen Gesicht,
doch sein Haar ist weiß wie Mehl. Er sagte mir, seine Haare seien
auf einen Schlag weiß geworden nach jener Nacht mit dem kleinen
Bretonen. Er berichtet:
«Während der ganzen Zeit, die ich mit dem
Jungen zusammen war, hat er keine zwei Worte gesprochen. Erst
weinte er zum Erbarmen. Dann kein Ton mehr. Ich habe ihm gesagt,
wir müssten gehen. Als wir im Büro des Bürgermeisters ankamen,
fühlten wir uns wie in der Sahara, wegen der Hitze. Ein Backofen.
Im Kamin lagen dreimal so viele Scheite wie nötig, sie waren rot
wie Hahnenkämme. Der Oberst und der Richter saßen am Tisch, mit
vollen Mündern und erhobenen Gläsern. Ich grüßte militärisch. Sie
hoben ihre Gläser etwas höher, um meinen Gruß zu erwidern. Da habe
ich mich gefragt, wohin ich eigentlich geraten war.»
Als der kleine Bretone die beiden Witzfiguren
sah, erwachte er aus seiner Erstarrung. Er fing an zu stöhnen und
begann abermals mit seiner Litanei: «Was, was, was.» Das trübte
Miercks gute Laune. Er warf ihm, zwischen zwei Bissen Rillette, in
dürren Worten und mit scheinheiliger Miene die Nachricht vom Tod
des Druckers an den Kopf. Den kleinen Bretonen, der davon ebenso
wenig wusste wie übrigens auch Despiaux, traf die Neuigkeit wie ein
Faustschlag. Er strauchelte und wäre fast gestürzt. Despiaux fing
ihn auf. «Du siehst also», sprach der Oberst, «dein Komplize konnte
eure Untat nicht ertragen und hat es vorgezogen zu
sterben.»
«Wenigstens hatte er Ehre im Leib», fügte der
Richter hinzu. «Worauf wartest du also noch? Sag uns alles.» Stille
trat ein, doch sie hielt nicht lange an. Despiaux erzählte mir, der
Junge habe erst ihn angesehen, dann Mierck, dann Matziev, und
plötzlich habe er ein Gebrüll ausgestoßen, wie man es im
Bürgermeisteramt noch nie gehört habe. Despiaux meinte sogar, er
habe es niemals für möglich gehalten, dass ein Mann derart brüllen
könne, und das Schlimmste sei gewesen, dass es kein Ende genommen,
nicht aufgehört habe, dass man sich wirklich gefragt habe, wo der
schmächtige Mensch die Kraft für diesen Schrei hernehme. Nur ein
Schlag mit der Reitpeitsche, die ihm der Oberst quer übers Gesicht
hieb, konnte ihn beruhigen. Der Oberst war dafür sogar vom Tisch
aufgestanden. Der kleine Bretone verstummte unvermittelt. Ein
breiter violetter Striemen lief ihm übers Gesicht. Mit einer
Kopfbewegung gab Mierck dem Gendarmen zu verstehen, er könne ihn
wieder in den Keller hinunterbringen, aber als der sich gerade
anschickte, den Befehl auszuführen, gebot Matzievs Stimme ihm
Einhalt.
«Ich weiß was Besseres», sagte er. «Bringen
Sie ihn in
den Hof, damit er seinen Kopf abkühlen kann. Vielleicht
findet er so sein Gedächtnis wieder.»
«In den Hof?», fragte Despiaux.
«Ja, dahin», antwortete Matziev und zeigte
hinaus. «Sie haben da sogar eine Art Pfahl, an dem sie ihn
festbinden können. Wegtreten!»
«Es ist nur, Herr Oberst, es ist so kalt
draußen, es friert sogar», wagte Despiaux zu sagen.
«Tun Sie, was Ihnen gesagt wird», schnitt ihm
der Richter, dem es endlich gelungen war, ein Stück Schinken vom
Knochen zu lösen, das Wort ab.
«Damals war ich zweiundzwanzig Jahre alt»,
erzählte mir Despiaux, während wir noch eine Runde Pernod
bestellten. «Was kann man mit zweiundzwanzig schon sagen, was kann
man tun? Ich hab den Kleinen in den Hof gebracht und an den
Kastanienbaum gebunden. Es war vielleicht neun Uhr. Aus dem Büro,
wo man vor Hitze starb, kamen wir hinaus in die Nacht und den
Frost, es waren zehn, vielleicht zwölf Grad unter null. Ich war
wirklich nicht stolz auf mich. Der Kleine stöhnte. <Besser, du
sagst ihnen alles, falls du es getan hast, dann ist es vorbei, und
du kannst wieder ins Warme>, flüsterte ich ihm ins Ohr. <Aber
ich war es doch nicht, ich war es nicht>, schwor er leise, mit
klagender Stimme. Im Hof war's stockfinster. Am Himmel standen die
Sterne, vor uns lag hell erleuchtet das Fenster vom Büro des
Bürgermeisters, und in diesem Fenster sah man eine unwirkliche
Szene, ausgeschnitten wie für ein Kindertheater, zwei Männer mit
zinnoberroten Gesichtern, die an einem reich gedeckten Tisch aßen
und tranken, ohne sich um irgendwas anderes zu kümmern. Ich ging
zurück ins Büro, und der Oberst sagte zu mir, ich solle im
Nebenzimmer warten, bis sie mich rufen würden. Ich ging rüber. Ich
setzte mich auf eine Art Bank, wartete und fragte mich, was ich tun
sollte. Auch dort gab es ein Fenster, und da sah man den an den
Baum gefesselten Gefangenen. Ich blieb im Dunkeln sitzen. Wollte
das Licht nicht anmachen, damit er mich nicht sehen konnte. Ich
schämte mich. Ich hatte Lust, wegzulaufen, mich vom Acker zu
machen, aber die Uniform hielt mich zurück, es war eine Frage des
Respekts. Wenn so etwas heute geschähe, hielte mich nichts zurück,
so viel ist sicher. Gelegentlich hörte ich ihre Stimmen, ihr
Gelächter und die Schritte der Dienerin des Bürgermeisters, die
Schüsseln voll dampfender Speisen brachte. Aber an jenem Tag stach
mir deren Duft wie unerträglicher Gestank in die Nase. Ich hatte
einen Stein im Magen. Ich konnte mir nicht verzeihen, dass ich ein
Mensch war.»
Louisette ging häufig hin und her. «In einer
Kälte, bei der man keinen Hund vor die Tür gejagt hätte», sagte sie
mir. Die Mahlzeit dauerte eine Ewigkeit. Mierck und Matziev hatten
Zeit, sie labten sich an dem Mahl und all dem Übrigen. Louisette
sah sie nicht an, wenn sie das Zimmer betrat, das ist ein Tick von
ihr: Immer starrt sie auf ihre Füße.
An diesem Abend noch unbeirrbarer als sonst.
«Die beiden haben mir Angst gemacht, und außerdem wurden sie immer
besoffener!» Den kleinen Bretonen im Hof will sie nicht gesehen
haben. Manchmal ist es bequem, wenn man nichts sieht.
Von Zeit zu Zeit ging der Oberst hinaus, um
einige Worte an den Gefangenen zu richten. Er beugte sich über ihn,
flüsterte ihm ins Ohr. Der kleine Bretone schlotterte und stöhnte,
er sei es nicht gewesen, er habe nichts getan. Der Oberst zuckte
die Achseln, rieb sich die Hände und ging schnell zurück ins Warme.
Despiaux sah alles. In der Dunkelheit sitzend, wie gefesselt auch
er. Gegen Mitternacht waren Mierck und Matziev, deren Lippen noch
vom Gelee der Schweinsfüße glänzten, mit dem Käse fertig. Sie
redeten immer lauter, sangen sogar ab und an. Schlugen mit der
flachen Hand auf den Tisch. Sie hatten sechs Flaschen geleert.
Einfach so. Beide gingen auf den Hof hinaus, wie um ein wenig Luft
zu schnappen. Für Matziev war es der fünfte Besuch. Sie umkreisten
den kleinen Bretonen, als wäre er Luft. Mierck legte den Kopf in
den Nacken und sah zum Himmel. Sprach im Plauderton über die
Sterne. Er zeigte Matziev die Sternbilder, nannte ihre Namen.
Sterne waren ein Steckenpferd des Richters. «Sie trösten uns über
die Menschen hinweg, sie sind so rein.» Das sind seine eigenen
Worte. Despiaux hörte, was geredet wurde, dazu das Zähneklappern
des Gefangenen, das klang, als würde ein Stein gegen eine Wand
geschlagen. Matziev nahm eine Zigarre heraus und bot dem Richter
eine an; der lehnte ab. Die Köpfe dem Himmelsgewölbe zugewandt,
sprachen sie noch eine Weile über die Sterne, die Bewegungen der
Planeten. Dann gingen sie, wie von der Tarantel gestochen, auf den
Gefangenen los. Er war bereits seit drei Stunden da draußen in der
Kälte. Und es war keine gewöhnliche Kälte. Er hatte genügend Zeit
gehabt, die Sterne eingehend zu studieren, bevor seine Lider mit
gefrorenen Tränen verklebt waren. Der Oberst hielt ihm die Glut
seiner Zigarre unter die Nase und stellte ihm wieder und wieder
dieselbe Frage. Der Bursche gab nicht einmal mehr Antwort, er
stöhnte nur noch. Nach kurzer Zeit ging dem Oberst das Gestöhn auf
den Wecker.
«Sind Sie eigentlich ein Mensch oder ein
Tier?», schrie er ihm ins Ohr. Keine Reaktion. Matziev warf seine
Zigarre in den Schnee, packte den an den Baum gefesselten
Gefangenen und schüttelte ihn. Mierck beobachtete das Schauspiel
und blies sich dabei in die Hände. Matziev ließ den schlotternden
Körper des kleinen Bretonen fallen, dann schaute er nach links und
rechts, als suche er etwas. Aber er fand nichts, hatte allerdings
plötzlich einen Einfall, einen richtig schön dreckigen Einfall in
seinem verdorbenen Kopf. «Vielleicht ist dir ja noch ein bisschen
zu warm?», raunte er dem Bengel ins Ohr. «Ich werde dir ein wenig
das Mütchen kühlen, mein Freund!» Er nahm ein Jagdmesser aus der
Tasche und klappte es auf. Dann schnitt er die Knöpfe von der Jacke
des kleinen Bretonen, einen nach dem anderen, danach von seinem
Hemd, und dann schlitzte er ihm mit einem Schnitt das Unterhemd
auf. Er zog ihm vorsichtig die Kleider aus, und der nackte
Oberkörper des Gefangenen leuchtete als heller Fleck in der
Finsternis des Hofes. Und sobald Matziev oben fertig war, ging er
mit der Hose, der langen Unterhose und der Unterhose genauso vor.
Er schnitt die Schnürsenkel durch und zog ihm, Caroline et ses
souliers vernis pfeifend, langsam die Schuhe aus. Der Bengel
schrie, schlug mit dem Kopf wie ein Verrückter. Matziev stand auf:
Der Gefangene lag splitternackt zu seinen Füßen. «Geht's dir jetzt
besser? Fühlst du dich so wohler? Ich bin sicher, deine Erinnerung
wird bald zurückkehren.» Er drehte sich zum Richter um, worauf der
sagte: «Lass uns reingehen, mir wird langsam kalt.» Die beiden
lachten wie über einen gelungenen Witz. Und schlenderten nach
drinnen, um das große, dampfende Apfelcrepe zu essen, das Louisette
soeben, zusammen mit dem Kaffee und einer Flasche Mirabellengeist,
auf den Tisch gestellt hatte.
Despiaux sah in den Junihimmel hinauf, sog
die milde Luft ein. Nach und nach wurde es Nacht. Ich hörte ihm zu
und rief den Ober, damit er unsere Gläser füllte. Um uns herum auf
der Terrasse waren übermütige und lustige Leute, aber heute kommt
es mir so vor, als wären wir allein gewesen.
«Ich stand am Fenster, im hinteren Teil des
Raumes», fuhr Despiaux fort. «Ich konnte meinen Blick nicht vom
Körper des Gefangenen lösen. Er hatte sich wie ein Hund um den Fuß
der Baumes zusammengerollt, und ich sah, wie er sich bewegte und
zitterte. Mir sind die Tränen gekommen, Ehrenwort, sie liefen mir
übers Gesicht, und ich tat nichts, um sie aufzuhalten. Und dann
fing der Bengel an, lang gezogene Schreie auszustoßen, Tierschreie,
so wie wahrscheinlich die Wölfe geheult haben, als es in unseren
Wäldern noch welche gab, und er heulte unablässig, und nebenan
lachten der Richter und Oberst umso lauter.»
Ich stelle mir vor, wie Mierck und Matziev am
Fenster stehen, die Nase an der Scheibe, den Hintern am Feuer, ein
Glas Obstgeist in der Hand, den Magen mit Essen bis zum Platzen
gefüllt, die Augen auf den nackten Jungen gerichtet, der sich im
Frost windet, und wie sie sich dabei über die Hasenjagd, Astronomie
oder Buchbinderei unterhalten. Ich stelle es mir nur vor, aber
bestimmt bin ich nicht weit von der Wahrheit entfernt. Sicher ist,
dass Despiaux sah, wie der Oberst etwas später erneut zu dem
Gefangenen hinausging, ihn dreimal mit der Stiefelspitze anstupste,
ihn leicht in Rücken und Bauch trat, als wollte er überprüfen, ob
der Hund auch wirklich krepiert war. Der Bengel versuchte seinen
Stiefel festzuhalten, wahrscheinlich um ihn anzuflehen, aber
Matziev stieß ihn zurück und trat ihm dabei mit dem Absatz ins
Gesicht. Der kleine Bretone stöhnte, und der Oberst goss einen Krug
Wasser, den er in der Hand trug, über seiner Brust aus.
«Seine Stimme, wenn Sie seine Stimme gehört
hätten, das war keine richtige Stimme mehr, und dann sagte er auch
noch Wörter, irgendwelche Wörter, die keinen Sinn ergaben, und ganz
am Ende seiner Litanei schrie er los, brüllte, er sei es gewesen,
ja, er sei es gewesen, er gebe alles zu, diesen Mord und alle
anderen Morde, er habe gemordet, oft gemordet ... Er war nicht mehr
zu bremsen.»
Despiaux hatte sein Glas auf den Tisch
gestellt. Er sah hinein, als suchte er irgendwo nach der Kraft, mit
seiner Geschichte fortzufahren.
Der Oberst ließ ihn kommen. Der Junge wand sich
in allen Richtungen, wiederholte dabei den immer gleichen Satz:
«Ich war's, ich war's, ich war's!» Seine Haut war blitzeblau,
stellenweise rot marmoriert, seine Finger- und Zehenspitzen hatten
sich wegen der Erfrierungen dunkel verfärbt. Sein Gesicht war
totenbleich. Despiaux wickelte ihn in eine Decke und half ihm,
hineinzugehen. Matziev gesellte sich wieder zu Mierck. Sie stießen
auf ihren Erfolg an. Die Kälte hatte über den kleinen Bretonen
gesiegt. Es gelang Despiaux nicht, ihn zum Schweigen zu bringen. Er
gab ihm etwas Warmes zu trinken, das er jedoch nicht
hinunterschlucken konnte. Er wachte die ganze Nacht bei ihm, mehr
als dass er ihn bewachte. Da war nichts mehr zu bewachen. Es war
nichts von ihm übrig.
Ein Juniabend könnte einen im Hinblick auf
die Erde und die Menschen beinahe hoffnungsvoll stimmen. Düfte
entströmen den Mädchen und Bäumen, und die Luft wirkt so leicht,
dass man versucht sein könnte, neu zu beginnen, sich die Augen zu
reiben und zu glauben, das Böse sei nur ein Traum und Leid nur ein
Trugbild der Seele. Wahrscheinlich war das der Grund dafür, dass
ich dem ehemaligen Gendarmen vorschlug, noch irgendwo etwas essen
zu gehen. Er sah mich an, als hätte ich ein Schimpfwort zu ihm
gesagt, dann schüttelte er den Kopf. Vielleicht war ihm der Appetit
vergangen, weil er in dieser Asche herumgestochert hatte. Um die
Wahrheit zu sagen, ich hatte auch keinen Hunger, mein Vorschlag
entsprang vor allem dem verzweifelten Wunsch, noch eine Weile mit
ihm zusammen zu sein. Aber bevor ich Zeit hatte, eine weitere Runde
zu bestellen, stand Despiaux auf. Er richtete sich zu voller Länge
auf, strich mit der flachen Hand seine Anzugsjacke glatt, rückte
den Hut zurecht und sah mich an, blickte mir gerade in die Augen.
«Und Sie», fragte er mich, und seine Stimme klang vorwurfsvoll,
spitz, «wo sind Sie eigentlich gewesen, in jener Nacht?»
Ich stand da wie ein Trottel. Schnell trat
Clémence neben mich. Ich sah sie an, und sie war noch genauso
schön, durchscheinend, aber schön. Was sollte ich Despiaux
antworten? Er wartete auf eine Antwort, doch mir blieb der Mund
offen, ich sah ihn an, sah die Leere, sah Clémence, die nur ich
erkennen konnte. Despiaux zuckte die Achseln, zog seinen Hut tiefer
ins Gesicht und wandte sich ab, ohne sich zu verabschieden. Dann
ging er. Zurück zu seiner Trauer. Wahrscheinlich wusste er genauso
gut wie ich, dass man sich in die Trauer zurückziehen kann wie in
ein eigenes Land.
XIX
Madame de Flers führte mich endlich zu
Clémence. Ich kannte sie vom Sehen. Sie stammte aus einer alten
Familie in V. Gute Gesellschaft. Leute wie Destinat. Ihr Mann, der
Kommandant, war im September 1914 gefallen. Ich erinnere mich, dass
ich eine schlechte Meinung von ihr hatte und dachte, ihre
Witwenschaft stehe ihr so gut wie ein Abendkleid und sie werde
damit kokettieren, um bei Einladungen des Präfekten oder auf
Wohltätigkeitsbasaren noch hochmütiger aufzutreten. Manchmal bin
ich dumm und verbittert. Sie aber wollte sich nützlich machen,
deshalb verließ sie V. und ihr Haus, das so weitläufig war wie das
Schloss von Versailles, und kam zu uns, ins Krankenhaus. Manche
Leute sagten: «Das wird sie keine drei Tage aushalten, wenn die
erst mal Blut und Kot sieht, wird sie in Ohnmacht
fallen.»
Aber sie blieb, trotz Blut und Kot, und sie
ließ ihre Sonderstellung und ihr Vermögen durch grenzenlose Güte
und einfache Taten in Vergessenheit geraten. Sie schlief in einem
Dienstmädchenzimmer und verbrachte ihre Stunden, Tage und Nächte am
Bett der Sterbenden oder Auferstandenen. Der Krieg massakriert,
verstümmelt, beschmutzt, besudelt, höhlt aus, trennt, zerquetscht,
zerhackt, tötet, aber mitunter kann er auch etwas gerade
rücken.
Madame de Flers nahm meine Hand. Sie führte
mich. Ich ließ es mir gefallen. Sie entschuldigte sich: «Wir haben
keine Zimmer mehr, keinen Platz ...» Wir kamen in einen riesigen,
von Röcheln erfüllten Bettensaal, in dem ein säuerlicher Geruch
nach Verbänden, Eiter und Schmutz in der Luft lag. Es war der
Geruch von Verletzungen, Qual und Wunden, nicht der Geruch des
Todes, der reiner und abstoßender ist. Dreißig, vielleicht auch
vierzig Betten standen da, alle belegt, darauf längliche, von
Verbänden bedeckte Formen, die sich kaum merklich bewegten. In der
Mitte des Zimmers befanden sich vier weiße, senkrecht von oben nach
unten gespannte Laken, die eine Art leichten, tragbaren Alkoven
bildeten. Dort lag Clémence, inmitten all der Soldaten, die von ihr
ebenso wenig wussten wie sie von ihnen.
Madame de Flers schob ein Laken beiseite, und
ich sah sie. Sie lag ausgestreckt, mit starrem Gesicht,
geschlossenen Augen und auf die Brust gelegten Händen. Sie atmete
mit majestätischer Langsamkeit, ihre Brust hob sich, aber ihre
Gesichtszüge blieben unbewegt. Neben dem Bett stand ein Stuhl. Ich
fiel mehr darauf, als dass ich mich setzte. Mit einer zarten
Bewegung legte Madame de Flers die Hand auf ihre Stirn, streichelte
sie und sagte: «Dem Kind geht es gut.» Ich sah sie verständnislos
an. Dann sagte sie: «Ich lasse Sie allein, bleiben Sie, so lange
Sie möchten.» Sie schob ein Laken beiseite, dann verschwand sie
hinter dem Weiß. Die ganze Nacht blieb ich bei Clémence. Ich sah
sie an. Sah sie nur an, in einem fort. Ich wagte nicht, mit ihr zu
sprechen, aus Angst, einer der Verwundeten könnte meine Worte
hören. Ich legte meine Hand auf sie, um ihre Wärme zu spüren und
ihr von meiner abzugeben, so fest war ich mir zurückzukehren. Sie
war schön. Vielleicht etwas blasser, als ich sie am Vortag
verlassen hatte, aber auch zarter, als habe der tiefe Schlaf, in
dem sie umherirrte, jede Beunruhigung, alle Sorgen und Leiden des
Tages verscheucht. Ja, sie war schön. Nie werde ich sie hässlich,
alt, faltig oder verbraucht gesehen haben. All diese Jahre lebe ich
mit einer Frau, die nie gealtert ist. Ich gehe gebückt, meine
Stimme krächzt, meine Knochen werden brüchig, ich bekomme Falten,
aber sie bleibt, wie sie war, ohne Makel, ohne Plumpheit.
Wenigstens das hat der Tod mir gelassen, und keiner kann es mir
nehmen, auch wenn die Zeit mir ihr Gesicht geraubt hat, nach dem
ich so eigensinnig forsche, weil ich es wieder finden möchte, wie
es gewesen ist. Und dann blitzt ihr Antlitz manchmal, wie eine
Wiedergutmachung, vor mir auf, im Licht des Weines, den ich
trinke.
Die ganze Nacht stammelte der Soldat, der
links von Clémence lag, meiner Sicht aber durch das aufgespannte
Laken entzogen war, eine Geschichte ohne Anfang und Ende vor sich
hin. Mal summte er, mal ereiferte er sich. Ich konnte nicht
verstehen, an wen er sich wandte, ob an einen Kameraden, eine
Verwandte, eine Geliebte oder sich selbst. In seiner Litanei kam
alles Mögliche vor, nicht nur der Krieg, sondern auch Geschichten
von Erbschaften, Wiesen, die gemäht werden mussten, Dächern, die
repariert werden sollten, Hochzeitsfeiern, ertränkten Kätzchen,
Bäumen voller Raupen, bestickter Aussteuer, Karren, Messdienern,
Überschwemmungen, Matratzen, die man verliehen und nicht
zurückbekommen hatte, Holz, das gehackt werden musste. Es war eine
regelrechte Mühle aus Worten, die unablässig alle Augenblicke
seines Lebens umwälzte und sie in beliebiger Abfolge abspulte,
sodass daraus eine lange, absurde Geschichte wurde, erzählt nach
dem Vorbild des Lebens, das ihr zugrunde lag. Von Zeit zu Zeit
wiederholte er einen Namen, Albert Jivonal. Ich nehme an, dass es
sein eigener war und dass er ihn laut aussprechen musste,
vielleicht um sich zu beweisen, dass er tatsächlich noch am Leben
war.
Seine Stimme ertönte wie das Soloinstrument
in der Symphonie der Sterbenden, die um mich herum gespielt wurde.
Das Atmen, Röcheln, löchrige Luftholen der Gasopfer, das Klagen,
Weinen, Lachen der Verrückten, geflüsterte Namen von Frauen und
Müttern und über allem Jivonals Litanei, das alles weckte bei mir
den Eindruck, als trieben Clémence und ich, eingeschlossen im
Mastkorb eines unsichtbaren Schiffes, auf dem Totenfluss dahin, wie
in jenen phantastischen Geschichten, die uns in der Schule erzählt
werden und die wir mit runden Augen anhören, während uns langsam
die Angst ergreift.
Gegen Morgen bewegte sich Clémence leicht,
falls nicht meine Müdigkeit mir etwas vorgegaukelt hat. Trotzdem
glaube ich, dass sie das Gesicht ein wenig zu mir herüberdrehte.
Ich bin mir aber sicher, dass sie stärker und länger Luft holte,
als sie es bis dahin getan hatte. Da war er also, dieser tiefe
Atemzug, ein Seufzer, wie man ihn ausstößt, wenn man glaubt, etwas
lange Erwartetes sei endlich eingetreten, und man dadurch zeigen
möchte, wie glücklich man ist, dass es so weit ist. Ich habe meine
Hand auf ihre Kehle gelegt. Ich wusste Bescheid. Manchmal ist man
von sich selbst überrascht, dass man Dinge weiß, obwohl man sie nie
gelernt hat. Ich wusste, dass dies ihr letzter Atemzug gewesen war
und dass ihm kein anderer mehr folgen würde. Ich schmiegte lange
meinen Kopf an ihren. Ich spürte, wie die Wärme sie nach und nach
verließ. Ich betete zu Gott und allen Heiligen, ich möge aus diesem
Traum erwachen. Albert Jivonal starb kurz nach Clemence. Er
verstummte. Da wusste ich, dass auch er tot war. Ich hasste ihn,
weil ich mir vorstellte, dass er sich, wie in einer endlosen
Warteschlange, in ihrer Nähe befinden würde, sobald er das Reich
des Todes betreten hatte, und dass er sie von seinem Platz aus
wahrscheinlich sehen konnte, einige Meter weiter vorn. Ja, obwohl
ich ihn nicht kannte und noch nicht einmal sein Gesicht gesehen
hatte, war ich ihm böse. Ich war eifersüchtig auf einen Toten.
Wollte an seiner Stelle sein.
Um sieben Uhr kam die Krankenschwester, die
Tagdienst hatte. Sie schloss Clémences Augen, die sich
seltsamerweise im Augenblick des Todes geöffnet hatten. Ich blieb
noch länger bei ihr; niemand wagte mir wohl zu sagen, ich solle
gehen. Später bin ich dann gegangen, allein. Und das
war's.
Belle de Jours Beerdigung fand eine Woche
nach dem Mord in V. statt. Ich war nicht dabei. Ich hatte meinen
eigenen Schmerz. Man hat mir erzählt, die Kirche sei brechend voll
gewesen und noch auf dem Kirchenvorplatz hätten mehr als hundert
Leute gestanden, trotz des Regens, der die Erde peitschte. Der
Staatsanwalt war anwesend, auch der Richter und Matziev. Und
natürlich ihre Familie, Bourrache mit seiner Frau, die gestützt
werden musste, und Aline und Rose, den beiden Schwestern der
Kleinen, die nicht zu begreifen schienen, was geschah. Auch die
Tante, Adélaide Siffert, war da, und ihr Kinn zitterte, während sie
wieder und wieder zu den Trauergästen sagte: «Wenn ich es nur
gewusst hätte ... Wenn ich es gewusst hätte ...» Das Problem ist,
dass man es nie weiß.
Bei uns waren nur wenige Menschen in der
Kirche. Ich sage, bei uns, weil es mir vorkam, als wären wir noch
immer zusammen, obwohl Clemence da vorn in dem von großen Kerzen
umgebenen Eichensarg lag und ich sie nicht mehr sah, nicht mehr
spürte. Pater Lurant hielt den Gottesdienst. Er sagte einfache und
wahre Worte. Unter seinem Messgewand sah ich den Mann wieder, mit
dem ich eine Mahlzeit und ein Zimmer geteilt hatte, während
Clémence mit dem Tod rang.
Mit meinem Vater war ich schon seit langem
zerstritten, und Clemence hatte keine Familie mehr. Umso besser.
Ich hätte es nicht ertragen, wenn der eine oder andere mich unter
seine Fittiche genommen hätte, wenn ich hätte sprechen und zuhören
müssen oder geküsst, umarmt und bedauert worden wäre. Ich wollte so
schnell wie möglich allein sein, denn von nun an sollte ich mein
ganzes Leben lang allein bleiben.
Auf dem Friedhof waren wir zu sechst: der
Pfarrer, der Totengräber Ostrane, Clémentine Hussard, Léoca die
Renaut, Marguerite Bonsergent – drei Alte, die bei allen
Beerdigungen dabei waren – und ich. Pater Lurant sprach das letzte
Gebet. Wir hörten mit gesenktem Kopf zu. Ostrane legte seine
schwieligen Hände auf den Schaufelstiel. Ich sah die Landschaft an,
die Wiesen, die bis zur Guerlante reichten, die Anhöhe mit den
kahlen Bäumen und den schmutzig braunen Wegen, den zugezogenen
Himmel. Die Alten warfen eine Blume auf den Sarg. Der Pfarrer
schlug das Kreuz. Ostrane begann, Erde ins Grab zu schaufeln. Ich
ging als Erster. Ich wollte nicht dabei zusehen.
In der folgenden Nacht hatte ich einen Traum.
Clemence lag unter der Erde und weinte. Tiere aller Art krochen auf
sie zu, mit hässlichen Köpfen, Fangzähnen und Krallen. Sie schützte
ihr Gesicht mit den Händen, aber die Tiere kamen näher, fielen
schließlich über sie her, bissen sie, rissen kleine Stücke aus
ihrem Fleisch und verschlangen sie. Clémence sagte meinen Namen. In
ihrem Mund waren Sand und Wurzeln, und ihre Augen, die keine
Pupillen mehr hatten, waren weiß und stumpf. Ich fuhr aus dem
Schlaf hoch. Schweißgebadet, keuchend. Da habe ich gemerkt, dass
ich allein im Bett lag. Ich habe verstanden, wie groß und leer ein
Bett sein kann. Ich habe an sie gedacht, dort unten, unter der
Erde, in dieser ersten Nacht des Exils. Ich habe geweint wie ein
Kind.
Tage vergingen, wie viele, weiß ich nicht.
Und Nächte. Ich ging nicht mehr nach draußen. Ich zögerte, war
unentschlossen. Ich nahm Gachentards Karabiner von der Wand, schob
eine Kugel ins Magazin, steckte mir den Lauf in den Mund. Ich war
von morgens bis abends betrunken. Das Haus sah aus wie ein
Schweinekoben und roch wie eine Gruft.
Kraft schöpfte ich nur aus den Weinflaschen.
Manchmal
schrie ich, hämmerte gegen die Wände. Einige
Nachbarinnen besuchten mich, aber ich warf sie hinaus. Und dann,
eines Morgens, an dem ich beim Anblick meines Robinsongesichts im
Spiegel vor mir selbst erschrak, kam eine Schwester aus dem
Krankenhaus und klopfte an die Tür.
In ihren Armen trug sie ein kleines Bündel
aus Wolle, das sich schwach bewegte: Es war das Kind. Aber davon
werde ich später erzählen, nicht jetzt. Ich werde davon berichten,
wenn ich mit allem anderen fertig bin.
XX
Mierck hatte den kleinen Bretonen ins
Gefängnis von V. sperren lassen, obwohl die Armee ihren Wunsch
bekräftigt hatte, ihn standrechtlich zu erschießen. Es ging allen
Ernstes darum, wer ihn als Erster um die Ecke bringen durfte. Dafür
benötigte man etwas Zeit. Was mir Gelegenheit gab, ihn zu besuchen.
Er war seit sechs Wochen da.
Das Gefängnis kannte ich. Es war ein
ehemaliges mittelalterliches Kloster. Häftlinge hatten die Mönche
abgelöst. Das war alles. Ansonsten hatte sich das Gebäude nicht
wesentlich verändert. Das Refektorium war immer noch der
Speisesaal, die Zellen blieben Zellen. Man hatte nur einige
Gitterstäbe, Türen und Schlösser eingebaut und auf den Oberkanten
der Mauern mit Stacheldraht umwickelte Metallpfähle eingeschlagen.
Licht drang kaum in das große Gebäude. Es war immer dunkel dort,
selbst bei hellem Sonnenschein. Sobald man es betrat, überfiel
einen das Bedürfnis, es schnellstens wieder zu verlassen, wenn
möglich im Galopp. Ich behauptete, der Richter habe mich geschickt.
Das stimmte nicht, aber niemand fragte nach einer Bestätigung. Man
kannte mich.
Als der Aufseher mir die Zellentür des
kleinen Bretonen öffnete, konnte ich zunächst nicht viel erkennen.
Aber ich hörte etwas. Er sang, ganz leise, mit einer Kinderstimme,
die übrigens angenehm war. Der Aufseher ließ mich dort und schloss
die Tür. Meine Augen gewöhnten sich an das Dunkel, und ich sah ihn:
Er kauerte vornüber gebeugt und mit unters Kinn gezogenen Knien in
einer Ecke des Raumes, wiegte den Kopf hin und her und sang dabei
sein Lied. Ich sah ihn zum ersten Mal. Er wirkte jünger, als er
eigentlich war. Er hatte schöne blonde Haare und blaue Augen, die
auf den Boden starrten.
Ich weiß nicht, ob er mich kommen gehört
hatte, aber als ich ihn ansprach, schien er nicht überrascht. «Du
bist der Mann, der die Kleine ermordet hat?», fragte ich
ihn.
Er hörte mit seinem Lied auf und trällerte,
ohne den Blick zu heben, auf dieselbe Melodie: «Ich war's, ich
war's. Ja wirklich, ich war's, ja wirklich, ich war's ...» Ich
sagte: «Ich bin weder der Richter noch der Oberst, vor mir brauchst
du keine Angst zu haben, du kannst mir alles erzählen.»
Und er blickte zu mir auf, mit einem
abwesenden Lächeln, als sei er bereits weit weg. Er wackelte mit
dem Kopf, so wie die Engelchen an der Krippe, die lange dankbar
nicken, wenn man ein Geldstück eingeworfen hat. Ohne noch etwas zu
sagen, begann er wieder mit seinem Lied, das von reifem Korn,
Lerchen, Hochzeit und Blumensträußen handelte.
Ich blieb einige Zeit bei ihm, sah ihn an,
vor allem seine Hände, und fragte mich, ob das wohl die Hände eines
Verbrechers seien. Als ich hinausging, wendete er nicht den Kopf,
sondern sang leicht schwankend weiter. Anderthalb Monate später,
nachdem er wegen Desertion und Mord vor dem Militärgericht
erschienen war, wurde er von beiden Anklägern für schuldig befunden
und unmittelbar darauf standrechtlich erschossen. Der Fall war
gelöst.
Mierck und Matziev war es gelungen, in einer
einzigen Nacht aus einem kleinen Bauern erst einen halb Verrückten,
dann einen geständigen Schuldigen zu machen. Natürlich erfuhr ich
von den Ereignissen in der bewussten Nacht erst später, als ich
endlich Despiaux ausfindig gemacht hatte. Ich erfuhr aber schon
damals, dass weder der Richter noch der Oberst zum Staatsanwalt
gegangen waren, um ihn zu befragen. Was Joséphine erzählt hatte,
war in Vergessenheit geraten, und ich habe mich häufig gefragt
warum. Schließlich hasste Mierck Destinat, das war sonnenklar. Die
Gelegenheit war günstig, seinen guten Namen und sein Cäsarengesicht
in die Gosse zu treten.
Aber ich glaube, es gibt etwas, das stärker
ist als der Hass, nämlich die Gepflogenheiten einer bestimmten
Gesellschaftsschicht. Destinat und Mierck gehörten derselben Welt
an, die durch gute Herkunft, Erziehung in Spitzenkragen, Handküsse,
Motorfahrzeuge, Holztäfelungen und Geld bestimmt war. Über allen
persönlichen Launen, höher als alle Gesetze, die Menschen erlassen
können, stehen in ihr ein geheimes Einverständnis und unbedingte
Höflichkeit: «Tust du mir nichts, tu ich dir nichts.» Anzunehmen,
einer der eigenen Leute könnte ein Mörder sein, hieße glauben, man
könnte auch selbst einer werden. Es würde bedeuten, man bewiese vor
aller Augen, dass Männer, die uns das Wort im Mund herumdrehen und
uns von oben herab betrachten, als wären wir Fliegendreck, eine
nicht weniger verdorbene Seele haben und nicht mehr wert sind als
alle anderen auch. Und das wäre der Anfang vom Ende, vom Ende ihrer
Welt. Es kann also nicht geduldet werden.
Und außerdem, warum hätte Destinat Belle de
Jour töten sollen? Dass er mit ihr sprach, war ja möglich, aber sie
töten?
In den Taschen des kleinen Bretonen fand man
bei seiner Verhaftung einen in der linken oberen Ecke mit einem
Bleistiftkreuz markierten Fünf-Franc-Schein. Adelaide Siffert
bezeugte in aller Form, dass es sich dabei um den handelte, den sie
ihrer Patentochter an jenem Sonntag gegeben hatte. Die Kreuze waren
ihr Tick, sie markierte die Geldscheine, um zu zeigen, dass sie
wirklich ihr gehörten und niemandem sonst.
Der Deserteur schwor, er habe den Schein am
Kanal gefunden, auf der Uferböschung. Er war also wirklich dort
entlanggegangen. Ja, und was weiter? Was beweist das? Sie hatten
sogar dort geschlafen, der Drucker und er, aneinander gedrängt
unter der rot gestrichenen Brücke, geschützt vor Kälte und Schnee:
Die Gendarmen hatten das platt gedrückte Gras gesehen und den
Abdruck zweier Körper. Auch das hatte er ohne Umschweife
zugegeben.
Am anderen Ufer, fast gegenüber der Stelle,
wo die kleine Tür in den Schlosspark führt, befindet sich das Labor
der Fabrik, ein nicht besonders hohes, lang gestrecktes Gebäude,
das aussieht wie ein großer, bei Tag und Nacht erleuchteter
Glaskäfig. Bei Tag und Nacht, weil die Fabrik niemals stillsteht
und weil im Labor permanent zwei Ingenieure Dienst tun, um die
Dosierungen und die Qualität dessen zu überprüfen, was aus dem
Bauch des Ungeheuers quillt.
Als ich darum bat, mit den Männern sprechen
zu dürfen, die in der Nacht, als das Verbrechen geschah, Dienst
taten, sah Arsene Meyer, der Personalchef, nur den Bleistift an,
den er in der Hand hielt, und wendete ihn in alle
Richtungen.
«Steht da die Antwort drauf?», fragte ich.
Wir kannten uns lange, und außerdem war er mir etwas schuldig: Ich
hatte ein Auge zugedrückt, als sein Ältester, ein richtiger
Tunichtgut, im Jahr 1915 geglaubt hatte, das Armeematerial, das in
Schuppen auf der Place de la Liberte zwischengelagert war, also
Decken, Kochgeschirr und Essensrationen, gehöre ihm. Ich hatte den
langen Einfaltspinsel bloß ein bisschen zusammengestaucht. Er
brachte alles zurück, und ich erstattete keine Anzeige. Keiner
hatte etwas gemerkt.
«Sie sind nicht mehr da», sagt Meyer. «Und
seit wann sind sie nicht mehr da?», frage ich. Da sieht er seinen
Stift an, nuschelt etwas, und ich muss
die Ohren spitzen, um ihn zu
verstehen.
»Sie sind nach England gegangen, vor etwa zwei
Monaten.»
England war, vor allem zu Kriegszeiten, fast das Ende
der Welt. Und zwei Monate zuvor, das war kurz nach
dem Verbrechen.
«Und warum?»
«Man hat es ihnen befohlen.»
«Wer?»
«Der Direktor.»
«War ihre Abreise geplant?»
Meyer zerbricht den Stift. Schweißperlen
stehen ihm auf der Stirn.
«Wär besser, wenn du jetzt gehst», sagt er.
«Ich habe meine Anweisungen, und auch wenn du Polizist bist:
Verglichen mit den Hechten bist du doch nur ein kleiner
Fisch.»
Ich wollte nicht weiter in ihn dringen. Ich
habe ihn mit seiner Verlegenheit allein gelassen, weil ich glaubte,
am nächsten Tag würde ich meine Fragen dem Direktor selbst stellen
können.
Aber es kam nicht so weit. Am fraglichen
Morgen überbrachte man mir bei Tagesanbruch eine Nachricht. Der
Richter wolle mich sehen, so schnell wie möglich. Ich wusste warum.
Die Neuigkeit hatte sich in Windeseile verbreitet.
Wie gewöhnlich empfing mich Crouteux, wie
gewöhnlich ließ man mich eine gute Stunde im Vorzimmer schmoren.
Hinter der ledergepolsterten Tür hörte ich Stimmen, fröhliche
Stimmen, wie mir schien. Als Crouteux zurückkam und mir sagte, der
Herr Richter werde mich nun empfangen, war ich gerade dabei, mit
dem Finger ein Stück rote Seidentapete abzukratzen, die sich von
der Wand löste. Ich hatte bereits gut vierzig Zentimeter
heruntergeschält und in kleine Streifen zerrissen. Der
Gerichtsschreiber sah mich überrascht und gequält an, mit einem
Ausdruck, der Kranken vorbehalten ist, sagte aber nichts. Ich
folgte ihm. Mierck saß in seinem Sessel, den Oberkörper
zurückgelehnt. Zu seiner Seite Matziev wie ein längerer, dünnerer
Doppelgänger, ein Seelenverwandter. Man gewann den Eindruck, die
beiden Scheusale hätten sich ineinander verliebt, denn sie wichen
einander nicht mehr von der Seite. Matziev zögerte seine Abreise
hinaus. Er wohnte noch immer bei Bassepin und machte uns mit seinem
Grammophon ganz benommen im Kopf. Wir mussten bis Ende Januar
warten, dass er endlich verschwand. Mierck ging schnurstracks auf
mich los. «Mit welchem Recht sind Sie in die Fabrik gegangen»,
kläffte er. Ich antwortete nicht.
«Wonach suchen Sie noch? Der Fall ist gelöst,
die Schuldigen haben bezahlt!»
«In der Tat, das sagt man», antwortete ich,
was ihn noch
mehr in Rage brachte.
«Was? Was unterstellen Sie da?»
«Ich unterstelle gar nichts. Ich tue nur
meine Arbeit.» Matziev spielte mit einer Zigarre herum, die er noch
nicht angezündet hatte. Mierck ging abermals zum Angriff über. Er
sah aus wie ein Spanferkel, dessen Eier zwischen zwei Ziegelsteinen
eingequetscht wurden. «Genau, tun Sie Ihre Arbeit und lassen Sie
anständige Leute in Frieden. Wenn ich noch einmal höre, dass Sie,
wem auch immer, Fragen zu diesem erledigten und abgeurteilten Fall
stellen, dann werde ich Ihre Absichten zu verhindern wissen. Ich
kann allerdings verstehen», fuhr er mit sanfterer Stimme fort,
«dass Sie unter den gegenwärtigen Umständen nicht ganz Herr Ihrer
selbst sind, der Tod Ihrer jungen Gattin, der Schmerz ...» Als ich
ihn von Clémence sprechen hörte, als er ihr Bild, ihren Namen
heraufbeschwor, traf es mich wie ein Schlag. «Schweigen Sie»,
befahl ich. Er riss die Augen auf, lief puterrot an und zeterte
wütend weiter.
«Wie bitte? Sie wagen es, mir Befehle zu
erteilen? Sie?» «Sie können mich mal», erwiderte ich. Mierck hätte
sich fast an seinem Stuhl die Visage eingeschlagen. Matziev
musterte mich, sagte nichts, zündete die Zigarre an und schüttelte
dann lange das Zündholz, ob-wohl es schon erloschen war.
Draußen auf der Straße schien die Sonne. Ich
fühlte mich leicht angeheitert und hätte gern mit jemandem
geplaudert, mit einem Vertrauten, der die Dinge so sah wie ich. Ich
spreche nicht von der Affäre. Ich meine das Leben, die Zeit, alles
und nichts.
Da fiel mir Mazerulles ein, der Sekretär des
Schulinspektors, den ich nach dem Tod Lysia Verhareines aufgesucht
hatte. Es wäre jetzt Balsam für mich gewesen, seine Rübe wieder zu
sehen, seine graue Gesichtsfarbe, seine Augen, die feucht aussahen
wie bei einem Hund in Erwartung der Hand, die ihn streicheln wird.
Ich schlug den Weg Richtung Place des Carmes ein, wo sich das
Gebäude der Schulbehörde befand. Ich hatte es nicht
eilig.
Ein unbestimmtes Gewicht war von mir
genommen, und mir trat wieder vor Augen, wie Miercks Gesicht
ausgesehen hatte, während ich ihn zum Teufel gewünscht hatte.
Wahrscheinlich war er bereits damit beschäftigt, von den
Vorgesetzten meinen Kopf zu fordern. Es war mir egal.
Als ich den Hausmeister fragte, ob Mazerulles
noch dort beschäftigt sei, hielt er seine Brille fest, die ständig
hinunterzurutschen drohte.
«Monsieur Mazerulles ist vor einem Jahr von
uns gegangen», war seine Antwort.
«Ist er denn noch in V.?», fragte ich weiter.
Der Kerl hat mich angesehen, als käme ich vom Mond: «Ich denke, er
wird sich wohl nicht vom Friedhof wegbewegt haben, aber Sie können
ja mal hingehen und nachsehen.»
XXI
Die Wochen vergingen, es wurde Frühling.
Jeden Tag ging ich zweimal zu Clemences Grab. Am Morgen und kurz
bevor es Abend wurde. Ich sprach mit ihr. Im Plauderton des
alltäglichen Gesprächs, in dem Liebesworte keine großartigen
Verzierungen und schönen Zurichtungen brauchen, um zu funkeln wie
Gold, erzählte ich ihr von meinem Tagesablauf, als lebte sie
fürderhin an meiner Seite.
Ich hatte daran gedacht, alles, meine Arbeit
und das Haus, aufzugeben und wegzugehen. Aber dann fiel mir ein,
dass die Erde rund ist und ich sehr bald im Kreis gehen würde,
kurz, dass Weggehen dumm wäre. Ich hatte ein wenig auf Mierck
gezählt, der mir zu einer Reise in fremde Länder verhelfen sollte.
Ich hatte vermutet, er würde sich rächen wollen und bestimmt einen
Weg finden, mich versetzen oder auf die Straße werfen zu lassen.
Ich war ein Feigling, in der Tat. Eine Entscheidung, die nur ich
allein treffen konnte, legte ich in fremde Hände. Aber Mierck
unternahm nichts, jedenfalls nichts, das Erfolg gehabt hätte. Man
schrieb das Jahr 1918. Es roch nach dem Ende des Krieges. Heute, da
ich das aufschreibe, ist es leicht, so etwas zu sagen, weil ich
weiß, dass er wirklich 1918 zu Ende war, aber ich glaube, ich irre
mich nicht. Man ahnte das Ende, und daher wurden die letzten
Transporte mit Verwundeten und Toten, die bei uns durchfuhren, noch
schrecklicher und sinnloser. Die kleine Stadt war weiterhin voll
Verletzter und Verstümmelter, die man mehr schlecht als recht
zusammengeflickt hatte. Das Krankenhaus wurde nicht leer, wie ein
teures Hotel in einem Seebad, das man sich unter Angehörigen der
feinen Gesellschaft weiterempfiehlt. Außer dass hier seit vier
Jahren ohne Pause Hauptsaison war. Manchmal sah ich von weitem
Madame de Flers, und mein Herz schlug heftiger, als könnte sie,
wenn sie mich sähe, wie damals auf mich zukommen und mich an
Clémences Bett führen. Jeden Tag oder doch beinahe täglich ging ich
ans Ufer des kleinen Kanals und fuhr fort, wie ein eigensinniger
oder begriffsstutziger Hund dort herumzustöbern, weniger um neue
Details zu entdecken als in der Hoffnung, die Ereignisse nicht in
Vergessenheit geraten zu lassen. Häufig erahnte ich Destinats hohe
Gestalt hinter den Mauern des Parks, und ich wusste, dass er mich
dort auf und ab gehen sah. Seit er in Pension gegangen war, verließ
er sein Haus so gut wie nie mehr und empfing noch seltener Gäste
als früher. Das heißt, er empfing niemanden mehr und verbrachte
seine Tage schweigend, noch nicht einmal lesend, am Schreibtisch
sitzend, mit verschränkten Händen – das hat Barbe mir gesagt – und
sah aus dem Fenster oder drehte seine Runden im Park wie ein
einsames Tier. Im Grunde unterschieden wir uns nur wenig
voneinander.
Eines Tages, am 13. Juni, als ich wieder
einmal die Böschung entlanggegangen war und die Brücke passiert
hatte, hörte ich das Gras hinter mir rascheln. Ich drehte mich um.
Er war es. Noch größer als in meiner Erinnerung, mit glatt aus der
Stirn gekämmtem Haar von einem beinahe weißen Grau, schwarz
gekleidet und mit makellos gewienerten Schuhen, in der rechten Hand
einen Stock mit kurzem Elfenbeinknauf. Er sah mich an und blieb
stehen. Ich glaube, er hatte darauf gewartet, dass ich vorbeikommen
würde, und war in diesem Moment aus der hinteren Tür seines Parks
getreten. Eine Weile sahen wir uns an, ohne etwas zu sagen, so wie
Wilde sich mustern, bevor sie aufeinander losgehen, oder wie alte
Freunde, die sich seit Ewigkeiten nicht gesehen haben. Ich machte
keine gute Figur. Ich glaube,
die Zeit hatte meinen Körper und mein Gesicht
innerhalb
weniger Monate schlimmer gezeichnet als davor in zehn
Jahren.
Dann ergriff Destinat das Wort:
«Ich sehe Sie oft hier, wissen Sie.» Er ließ
seinen Satz verklingen, ohne ihm ein Ende geben zu wollen oder zu
können. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte schon so
lange kein Wort mehr an ihn gerichtet, dass ich nicht genau wusste,
wie man das machte.
Er stocherte mit der Spitze seines Stocks im
Gras auf der Böschung herum, kam ein wenig näher und musterte mich,
nicht bösartig, aber krankhaft eindringlich. Das Seltsamste war,
dass mir dieser Blick nicht peinlich war, sondern eher wohltuend
wirkte, friedlich, beruhigend, wie wenn ein Arzt, den man seit der
Kindheit kennt, einen untersucht.
«Sie haben mich nie gefragt, ob ...» Wieder
brachte er seinen Satz nicht zu Ende. Ich sah, wie seine Lippen
leicht bebten und seine Augen wegen des Lichts eine Sekunde lang
blinzelten. Ich wusste genau, worüber er sprechen wollte. Wir
verstanden uns perfekt. «Hätte ich eine Antwort bekommen?», fragte
ich und ließ meine Worte nicht weniger schleppen als er seine. Er
atmete tief ein, ließ in der linken Hand seine Uhr, die an einer
Kette hing und an der ein eigenartiger, winziger Schlüssel
befestigt war, klingen, sah in die Ferne, zum Himmel hinauf, der
von einem schönen Hellblau war, und blickte dann rasch zu mir
zurück. «Man muss den Antworten misstrauen, sie sind nie das, was
man haben will, finden Sie nicht auch?» Dann kickte er einen
Moosballen, den er mit dem Stock gelöst hatte, mit der Schuhspitze
ins Wasser. Weiches Moos, von einem frischen Grün, das in einem
Strudel Walzer tanzte, bevor es zur Mitte des Kanals trieb und
verschwand.
Ich wandte mich zu Destinat zurück. Er war
verschwunden.
Das Leben fing wieder an, wie man so sagt, und
der Krieg ging zu Ende. Nach und nach leerten sich das Krankenhaus
und unsere Straßen. Die Cafés machten schlechtere Geschäfte, und
Agathe Blanchard hatte weniger Kunden. Söhne und Ehemänner kehrten
zurück. Einige gesund, andere schwer beschädigt. Und obwohl viele
nie wieder auftauchten, bestand bei manchen entgegen aller
Wahrscheinlichkeit noch immer die Hoffnung, man könnte sie eines
Tages um die Straßenecke biegen sehen. Die Familien, deren
Angehörige in der Fabrik arbeiteten, hatten den Krieg ohne allzu
große Sorgen und Entbehrungen überstanden. Die anderen hatten vier
entsetzliche Jahre hinter sich. Dieser Graben vertiefte sich
weiter, wenn ein paar Tote darin vermodert waren. Manche sprachen
nicht mehr miteinander. Andere begannen sich zu hassen. Bassepin
zog seinen Handel mit Ehrenmalen auf. Eines der ersten, das er
lieferte, war übrigens das in unserer Stadt: ein Frontsoldat mit
der Fahne in der Linken und dem Gewehr in der Rechten, der seinen
ganzen, aufs leicht gebeugte Knie gestützten Körper weit nach vorne
reckt, neben sich einen riesigen, stolzen gallischen Hahn,
festgehalten in einem Augenblick, da er, hoch auf die Sporne
aufgerichtet, aus Leibeskräften loskräht. Der Bürgermeister weihte
das Ehrenmal am 11. November 1920 ein. Er hielt eine mit Tremolos,
rhetorischen Höhenflügen und Augenrollen verzierte Rede, dann las
er die Namen der dreiundvierzig armen Teufel aus unserem Städtchen
vor, die für das Vaterland gefallen waren, und machte nach jedem
Namen eine Pause, damit Aimé Lachepot, der Feldhüter, einen dumpfen
Trommelwirbel schlagen konnte. Frauen in Schwarz weinten. Kleine
Kinder fassten ihre Hände und versuchten, sie zu Margot Gagneures
Laden hinüberzuziehen, der wenige Schritte entfernt alle Arten von
Kleinkram feilbot, insbesondere Lakritzstangen und
Honiglutscher.
Dann wurde die Fahne gehisst. Die
Musikkapelle spielte eine düstere Melodie, und alle hörten aufrecht
und mit starrem Blick zu. Sobald der letzte Takt verklungen war,
eilten sie zum Bürgermeisteramt, wo ein Ehrenumtrunk gereicht
wurde. Man vergaß die Toten bei Schaumwein und Pastetenbroten,
unterhielt sich und begann sogar wieder zu lachen. Nach einer
Stunde ging man schließlich auseinander und bereitete sich darauf
vor, Jahr für Jahr die Komödie der schweren Herzen und der
traurigen Erinnerung zu spielen.
Auch Destinat war bei der Feier zugegen,
stand in der ersten Reihe zwei Meter vor mir. Aber ins
Bürgermeisteramt kam er nicht. Langsam ging er zurück ins Schloss.
Obwohl er seit gut vier Jahren in Pension war, fuhr er noch immer
von Zeit zu Zeit nach V. Le Grave ließ für zehn vor zehn anspannen.
Um Punkt zehn kam Destinat herunter, setzte sich in die Kutsche,
und los ging's. In der Stadt angelangt, spazierte er dann durch die
Straßen, immer den gleichen Weg, Rue Marville, Place de la
Prefecture, Allee Baptiste-Villemaux, Rue Plassis, Rue d'Autun,
Square Fidon, Rue des Bourelles. Le Grave fuhr in zwanzig Meter
Abstand hinter ihm her und zügelte die beiden Pferde, die unruhig
auf der Stelle traten und auf die Straße äpfelten. Von einigen
Leuten wurde Destinat gegrüßt; dann neigte er leicht den Kopf,
wechselte aber nie ein Wort mit ihnen.
Mittags betrat er den Rébillon, wo Bourrache
ihn empfing. Er hatte noch immer seinen Tisch, aß unabänderlich die
gleichen Speisen und trank den gleichen Wein wie zu der Zeit, als
er noch Köpfe abschneiden ließ. Der Unterschied bestand darin, dass
er sich nach dem Kaffee Zeit nahm. Der Speisesaal leerte sich,
Destinat blieb sitzen. Dann winkte er Bourrache herbei, er solle
ihm Gesellschaft leisten. Der Wirt griff nach zwei kleinen Gläsern,
einer der besten Flaschen Obstgeist und nahm dem Staatsanwalt
gegenüber Platz. Er füllte die Gläser und kippte seines hinunter.
Destinat hingegen schnupperte bloß an dem Alkohol, führte ihn aber
nie an die Lippen. Dann unterhielten sich die beiden.
«Und worüber?», habe ich eines Tages, aber
erst sehr viel später, Bourrache zu fragen gewagt. Sein Blick ging
ins Weite. Es schien, als betrachte er ein entferntes Geschehen
oder ein verschwommenes Bild. Seine Augen begannen zu glänzen.
«Über meine Kleine», sagte er, und Tränen liefen über seine
schlecht rasierten Wangen.
«Vor allem der Staatsanwalt sprach, ich hörte
meist zu. Man hätte meinen können, er habe sie besser gekannt als
ich, obwohl ich nie gesehen hab, dass sie auch nur ein Wort an ihn
richtete, als sie noch unter uns weilte. Sie sagte kaum ein Wort,
wenn sie ihm das Brot brachte oder eine Karaffe mit Wasser. Aber er
schien alles über sie zu wissen. Er beschrieb mir ihr Äußeres,
erzählte von ihrer Gesichtsfarbe, ihren Haaren, ihrer Vogelstimme,
der Form und Farbe ihres Mundes, und er nannte die Namen von Malern
der Vergangenheit, die ich nicht kannte, und sagte, sie hätte auf
deren Bildern gemalt sein können. Dann stellte er mir alle
möglichen Fragen, über ihr Wesen, ihre Angewohnheiten, ihre
Kinderwörter, ihre Krankheiten, ihre ersten Jahre, und ich musste
erzählen und erzählen, er ließ nie locker.
Es war immer das Gleiche: <Wollen wir uns
ein wenig über sie unterhalten, mein lieber Bourrache>, fing er
an. Ich legte keinen Wert darauf, mir tat das Herz davon jedes Mal
so weh, dass der Schmerz den ganzen Tag und auch den Abend über
anhielt, aber ich traute mich nicht, dem Staatsanwalt das zu sagen,
also erzählte ich. Eine Stunde, zwei Stunden, ich glaube, ich hätte
tagelang reden können, und es wäre ihm nie zu viel geworden. Ich
fand seine Leidenschaft für meine tote Kleine eigenartig, aber ich
dachte, das muss wohl das Alter sein, er wird ein wenig wunderlich,
das ist alles, und dass ihm die Tatsache, dass er allein war und
kein Kind hatte, keine Ruhe ließ.
Einmal fragte er mich sogar, ob ich nicht
eine Fotografie von der Kleinen hätte, die ich ihm geben könne. Was
denken Sie denn, Fotografien, die sind teuer, und damals machte man
kaum welche. Ich hatte nur drei, und auf einer waren meine drei
Töchter zu sehen. Belles Patentante hatte sie haben wollen und auch
bezahlt. Sie hatte sie zu Isidorc Kopieck gebracht, wissen Sie, dem
Russen in der Rue des Etats. Er hatte sie posieren lassen, die
beiden Großen sitzen auf dem Boden in einer Dekoration aus Gras und
Blumen, und Belle steht in der Mitte, lächelnd und voll Anmut, eine
richtige heilige Jungfrau. Ich hatte drei Abzüge dieser Fotografie,
für jedes Mädchen eine, und so habe ich dem Staatsanwalt Belles
Abzug gegeben. Wenn Sie ihn gesehen hätten: Er sah aus, als hätte
ich ihm einen Goldschatz geschenkt. Fing an, am ganzen Körper zu
zittern, bedankte sich in einem fort und schüttelte mir die Hand,
als wollte er sie ausreißen.
Das letzte Mal kam er eine Woche vor seinem
Tod. Wieder dasselbe Ritual, die Mahlzeit, der Kaffee, der Obstler,
das Gespräch. Seine beständig gleichen Fragen. Aber dann sagt er,
nach langem Schweigen und beinahe flüsternd, und es klingt wie ein
Sinnspruch: <Sie hat nie erfahren, was das Böse ist, sie ist von
uns gegangen, ohne es kennen zu lernen, während uns das Böse
hässlich gemacht hat ...> Dann ist er langsam aufgestanden und
hat mir lange die Hand gedrückt. Ich half ihm in den Mantel, er
nahm seinen Hut und hat sich im ganzen Saal umgeschaut, als wollte
er ihn ausmessen. Ich öffnete die Tür und sagte: <Bis zum
nächsten Mal, Herr Staatsanwalt>, er lächelte, hat aber nichts
geantwortet. Dann ist er gegangen.»
Schreiben ist schmerzhaft. Das merke ich seit
Monaten, seit ich damit begonnen habe. Hand und Seele tun einem weh
davon. Der Mensch ist nicht für diese Arbeit gemacht, und wozu soll
sie gut sein? Was nützt sie mir? Wäre Clémence bei mir geblieben,
dann hätte ich diese vielen Seiten nie voll gekritzelt, trotz des
geheimnisvollen Todes von Belle de Jour, trotz des Todes des
kleinen Bretonen, der als Schandfleck auf meinem Gewissen lastet.
Ja, allein ihre Gegenwart hätte gereicht, mich von der vergangenen
Zeit loszulösen und zu stärken. Im Grunde schreibe ich also nur für
sie, ich tue so, als ob, führe mich selbst hinters Licht, um mich
davon zu überzeugen, dass sie auf mich wartet, wo auch immer sie
sein mag. Und dass sie alles hört, was ich ihr zu sagen
habe.
Schreiben lässt mich zu zweit weiterleben.
Wenn man lange allein lebt, kann man sich auch dazu entschließen,
laut mit den Dingen und Wänden zu sprechen. Was ich tue,
unterscheidet sich kaum davon. Ich habe mich oft gefragt, welche
Wahl der Staatsanwalt wohl getroffen hat. Wie verbrachte er seine
Stunden, wem widmete er seine Gedankenspiele, seine
Selbstgespräche? Ein Witwer versteht den anderen, das jedenfalls
ist mein Eindruck. Es gab vieles, was uns einander hätte näher
bringen können. XII
Als ich am 27. September 1921 die Rue des
Pressoirs überquerte, fuhr mich ein Automobil, das ich nicht kommen
gesehen hatte, über den Haufen. Meine Stirn schlug auf die
Bordsteinkante. Ich erinnere mich, dass ich im Augenblick des
Schocks an Clémence dachte, und ich erinnere mich außerdem, dass
ich an sie dachte wie an eine lebendige Frau, der man binnen kurzem
mitteilen würde, ihr Gatte habe einen Unfall gehabt. Ich erinnere
mich auch, dass ich in diesem Bruchteil einer Sekunde auf mich
selber böse war, weil ich so zerstreut gewesen war und ihr durch
eigene Schuld Kummer bereitet hatte. Dann wurde ich ohnmächtig und
empfand so etwas wie Glück, als würde ich in ein sanftes, stilles
Land hinübergezogen. Als ich später im Krankenhaus aufwachte, sagte
man mir, ich hätte sieben volle Tage lang in diesem seltsamen
Schlaf gelegen, sieben Tage außerhalb meines Lebens sozusagen,
sieben Tage, an die ich keinerlei Erinnerung habe, abgesehen von
einem Gefühl von Schwärze und wattiger Dunkelheit. Die Ärzte im
Krankenhaus glaubten übrigens, ich würde nie mehr erwachen. Sie
irrten sich. Ich hatte kein Glück. «Sie waren nur um Haaresbreite
vom Tod entfernt!», sagte einer zu mir, der sich freute, als er
mein Erwachen bemerkte. Er war ein lustiger junger Kerl mit schönen
kastanienbraunen Augen. Er hatte noch alle Illusionen, die man in
seinem Alter haben kann. Ich habe ihm nicht geantwortet. Die Frau,
die ich geliebt habe und noch immer liebe, habe ich in dieser
langen Nacht nicht wieder gesehen. Ich habe sie weder gehört noch
gespürt; der Arzt musste sich also täuschen: Ich muss noch weit vom
Tod entfernt gewesen sein, da mir ja nichts ihre
Gegenwart angekündigt hatte.
Man hat mich noch zwei Wochen dort behalten.
Ich war von einer seltsamen Schwäche befallen. Ich kannte keine der
Krankenschwestern, die sich um mich kümmerten, aber sie schienen
mich zu kennen. Sie brachten mir Suppen, Kräutertee, gekochtes
Fleisch. Ich sah mich nach Madame de Flers um. Ich fragte sogar
eine von ihnen, ob sie noch da sei. Die Krankenschwester lächelte
mich an, ohne mir zu antworten. Sie musste annehmen, ich rede im
Delirium.
Als der Arzt der Meinung war, ich könne
wieder sprechen, ohne mich zu sehr zu verausgaben, bekam ich Besuch
vom Bürgermeister. Er drückte mir die Hand. Sagte, da sei ich ja
nochmal mit dem Schrecken davongekommen. Er habe sich Sorgen
gemacht. Dann kramte er in seinen Taschen und zog eine Packung
klebriger Bonbons heraus, die er eigens für mich gekauft hatte. Er
legte sie leicht verschämt auf den Nachttisch und sagte wie zur
Entschuldigung:
«Ich wollte Ihnen eigentlich eine gute
Flasche mitbringen, aber hier im Krankenhaus ist Wein verboten,
also habe ich gedacht ... Sehen Sie, die Konditorei füllt die
Dinger mit Mirabellengeist!»
Er lachte. Ich lachte mit, um ihm eine Freude
zu machen. Ich wollte sprechen, ihm Fragen stellen, aber er legte
den Finger auf den Mund, als wollte er sagen, dafür sei noch Zeit.
Die Krankenschwestern hatten ihm gesagt, man müsse vorsichtig mit
mir umgehen, nicht zu viel mit mir reden und mich ja nicht zum
Sprechen veranlassen. So blieben wir eine Weile mehr oder weniger
zusammen und schauten abwechselnd stumm die Bonbons, die
Zimmerdecke oder das Fenster an, durch das man nichts sehen konnte
außer einem Stück Himmel, keinen Baum, keinen Hügel, keine
Wolken.
Dann erhob sich der Bürgermeister, drückte
mir abermals lange die Hand und ging. An diesem Tag sagte er mir
noch nichts von Destinats Tod. Davon erfuhr ich erst etwas später,
durch Pater Lurant, der mich ebenfalls besuchte.
Es war am Tag nach meinem Unfall geschehen.
Er war auf die einfachste Art der Welt gestorben, zu Hause, ohne
Aufsehen und Geschrei, an einem schönen rotgoldenen, noch durch die
Erinnerung an den Sommer eingefärbten Herbsttag.
Wie jeden Nachmittag war er nach draußen
gegangen, um seinen Spaziergang im Schlosspark zu machen, hatte
sich am Ende wie sonst auch auf die Bank gesetzt, von der aus man
die Guerlante übersah, und beide Hände auf seinen Stock gelegt.
Gewöhnlich blieb er eine knappe Stunde so sitzen und kam dann
wieder ins Haus. Weil Barbe ihn diesmal nicht zurückkommen sah,
ging sie in den Park hinaus, sah ihn, von weitem und von hinten,
immer noch auf der Bank sitzen, war beruhigt und kehrte in die
Küche zurück, wo sie gerade einen Kalbsbraten vorbereitete. Aber
sobald der Braten zugerichtet und das Gemüse für die Suppe geputzt,
geschnitten und in den Topf geworfen war, fiel ihr ein, dass sie
noch immer nicht den Schritt des Staatsanwalts gehört hatte. Sie
ging erneut hinaus, sah ihn abermals auf der Bank sitzen,
gleichgültig gegen den Nebel, der aus dem Fluss aufstieg, und gegen
die Nacht, die nach und nach alle Bäume des Parks umfing. Da
entschloss sich Barbe, zu ihrem Herrn hinüberzugehen, um ihm zu
sagen, das Abendessen sei bald fertig. Sie ging durch den Park,
rief, erhielt aber keine Antwort. Als sie dann dicht bei ihm war,
nur wenige Meter noch entfernt, hatte sie eine Vorahnung. Sie ging
langsamer um die Bank herum und sah Destinat, mit aufrechtem
Oberkörper und weit geöffneten Augen, die Hände über den Knauf des
Stocks gelegt. Er war mausetot.
Es heißt, das Leben sei ungerecht, aber der
Tod ist es noch viel mehr, jedenfalls das Sterben. Manche müssen
lange leiden, andere verscheiden mit einem Seufzer. Die
Gerechtigkeit ist nicht von dieser Welt, aber auch nicht von der
anderen. Destinat war ohne Lärm, ohne Schmerz, ohne Vorankündigung
verschieden. Er war so einsam gestorben, wie er gelebt
hatte.
Pater Lurant erzählte mir, es habe ein
Staatsbegräbnis gegeben mit allem, was die Gegend an
einflussreichen und wohlhabenden Leuten aufzubieten hatte. Die
Männer erschienen im schwarzen Anzug, die Frauen in dunklen Farben,
die Gesichter hinter grauen Schleiern verborgen. Der Bischof, der
Präfekt und ein stellvertretender Staatssekretär waren angereist.
Der ganze Trauerzug begab sich zum Friedhof, wo Destinats
Nachfolger eine Rede hielt. Dann kam Ostranes Auftritt. Wie es sich
gehört. Mit seiner Schaufel und seinem umständlichen
Gehabe.
Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde,
suchte ich, bevor ich noch nach Hause ging, als Erstes den Friedhof
auf und besuchte Clémence. Ich ging sehr langsam, mit einer
Steifigkeit im linken Bein, die ich nie mehr losgeworden bin und
durch die ich wirke wie ein Kriegsveteran, ausgerechnet ich, der in
keinem Krieg gekämpft hat.
Ich habe mich auf Clémences Grab gesetzt und
ihr von meinem Unfall erzählt, von meiner Angst, ihr Kummer zu
bereiten, meinem langen, süßen Schlaf, meinem enttäuschenden
Erwachen. Ich habe den Marmor gereinigt, den Klee ausgerissen, der
entlang der Platte wuchs, und mit dem Handballen die Flechten
abgerieben, die das Kreuz hatten aufquellen lassen. Dann habe ich
einen Kuss in ihre Richtung geworfen, in eine Luft, die nach Humus
und feuchtem Gras duftete. Destinats Grab verschwand ganz unter
Blumen und Kränzen. Einige verstreuten schon verfärbte
Blütenblätter auf dem umliegenden Kies, andere leuchteten noch und
fingen manchmal einen Sonnenstrahl ein, der sie einen Augenblick
lang wie Diamanten glitzern ließ. Daneben gab es zusammengefallene
Sträuße, Schärpen, verzierte Plaketten, Visitenkarten in
ungeöffneten Umschlägen. Ich sagte mir, dass er es geschafft hatte,
weil er endlich an der Seite seiner Frau ruhte. Er hatte sich Zeit
gelassen. Ein ganzes Leben lang. Ich dachte an seine hoch
gewachsene Gestalt, an sein Schweigen, sein Geheimnis, diese
Mischung aus Strenge und Distanz, die seiner Person entströmte, und
ich fragte mich, ob ich vor dem Grab eines Mörders oder eines
Unschuldigen stand.
XXIII
Einige Jahre später, nach Barbes Beerdigung,
sagte ich mir, nun sei es endlich an der Zeit für mich, ins Schloss
zu gehen. Der Schlüssel, den sie mir anvertraut hatte, machte mich
zum Herren über das verwaiste Anwesen. Vom Friedhof aus ging ich zu
dem großen Wohnhaus hinüber, als wäre ich unterwegs zu etwas, das
mich seit langem erwartete und das aufzusuchen ich bis dahin nur
nicht den Mut gefunden hatte.
Als ich den Schlüssel in der Tür umdrehte,
fühlte ich mich, als erbräche ich das Siegel eines Briefes. Zu
Lebzeiten des Staatsanwalts hatte ich nie einen Fuß ins Schloss
gesetzt. Das war nichts für mich; ich hätte ausgesehen wie ein
grobes Leintuch zwischen lauter seidenen Taschentüchern. Ich hatte
mich damit zufrieden gegeben, darum herumzustreifen und es von fern
ins Visier zu nehmen, wenn es mit seinem hohen Schieferdach und den
Giebeln aus Kupfer glühte wie in einer Feuersbrunst. Dann war Lysia
Verhareine gestorben, Destinat hatte mich fassungslos auf der
höchsten Stufe der Freitreppe erwartet, und wir waren gemeinsam,
schleppend wie Verurteilte, zu dem kleinen Haus gegangen und in ihr
Zimmer hinaufgestiegen. Das Schloss war nicht das Haus eines Toten.
Es war einfach nur ein leeres Haus, das seit langem von allem Leben
verlassen war. Dass der Staatsanwalt, Barbe und auch Le Grave es
bewohnt hatten, änderte nichts daran: Man spürte es schon in der
Eingangshalle. Das Schloss war ein verstorbenes Gebäude, das vor
Ewigkeiten aufgehört hatte zu atmen und in dem schon lange keine
Gerüchte, Gespräche, Träume oder Seufzer mehr vernehmbar
waren.
Drinnen war es nicht kalt oder staubig. Es
gab keine
Spinnennetze und auch sonst nichts von dem
schaurigen Plunder, den man zu finden erwartet, wenn man ein Grab
aufbricht. Es gab Vasen, kostbare Tischchen, vergoldete Konsolen,
auf denen in sächsischem Porzellan erstarrte Tanzpaare seit
Jahrhunderten in ihren Menuettschritten eingefroren waren. Ein
großer Spiegel warf dem Besucher sein Bild zurück, und ich musste
feststellen, dass ich dicker, älter und hässlicher war, als ich es
mir vorgestellt hatte: Vor mir stand ein entstelltes Abbild meines
Vaters, ein grotesk Wiederauferstandener. In einer Ecke hielt ein
Fayence-Hund Wache, mit weit aufgerissenem Maul, Reißzähnen aus
blendendem Emaille und einer dicken, roten Zunge. Hoch oben von der
Decke herab verstärkte ein tonnenschwerer Kronleuchter das
unbehagliche Gefühl desjenigen, der unten stand. An der Wand
gegenüber der Tür stellte ein großes, hochformatiges Bild in
Silber-, Blau- und Cremetönen eine junge Frau in einem Ballkleid
dar. Ein Perlendiadem bekränzte ihre Stirn, und ihre Gesichtshaut
wirkte trotz des mit der Zeit nachgedunkelten Firnis blass. Ihr
Mund war in einem dünn aufgetragenen Rosa gehalten, ihre Augen, die
sich zu einem Lächeln zwangen, blickten melancholisch, und ihr
Körper, in dem man herzzerreißende Verlassenheit erahnte, hielt
sich elegant aufrecht, während eine Hand damit beschäftigt war,
einen Fächer aus Perlmutt und Spitzen zu öffnen, und die andere
sich auf den Kopf eines steinernen Löwen stützte.
Minutenlang verweilte ich dort und
betrachtete diese Frau, die ich nie gesehen oder kennen gelernt
hatte: Clélis de Vincey ... Clelis Destinat. Im Grunde war sie die
Herrin des Hauses, die mich, den unbeholfenen Besucher, wortlos
musterte.
Im ersten Augenblick hätte ich beinahe auf
dem Absatz kehrtgemacht und das Weite gesucht. Mit welchem Recht
drang ich hier ein, versetzte die reglose, von alten Geistern
beherrschte Luft in Unruhe? Aber die Gestalt auf dem Porträt wirkte
auf mich nicht feindselig, sondern nur erstaunt und liebenswürdig.
Ich glaube, ich sagte etwas zu ihr, aber ich weiß nicht mehr genau
was. Sie war eine Tote aus einer anderen Zeit. Ihre Kleidung, ihre
Frisur, ihr Aussehen und ihre Pose machten sie zu einer Art
eindrucksvollem und zerbrechlichem Ausstellungsstück in einem
vergessenen Museum. Ihr Gesicht erinnerte mich an andere Gesichter,
flüchtige, schemenhafte, die sich vor meinen Augen drehten und mal
älter, mal jünger wirkten, sodass es mir nicht gelang, das eine
oder andere in dieser Sarabande aufzuhalten, um es gründlicher zu
studieren. Ich wunderte mich, dass der Staatsanwalt das Gemälde nie
abgehängt hatte. Ich hätte mit einem so großen Bild von Clémence,
das mir jeden Tag, jede Stunde, vor Augen gestanden hätte, nicht
leben können. Ihre Porträts habe ich alle zerstört, auch das letzte
und kleinste. Eines Tages habe ich diese lügnerischen Fotografien,
auf denen ihr helles Lächeln erstrahlte, ins Feuer geworfen. Ich
wusste, dass sie meinen Schmerz nur verstärkten. Aber vielleicht
hatte Destinat das große Bild gar nicht mehr wahrgenommen,
vielleicht war es ja zu einem beliebigen Gemälde geworden und nicht
mehr das Bildnis jener Frau, die er geliebt und verloren hatte?
Möglicherweise war es zu dieser musealen Entseelung gekommen, die
bewirkt, dass man nicht gerührt ist, wenn man die Gestalt unter dem
Firnis betrachtet, weil man annimmt, dass sie nie gelebt, geatmet,
geschlafen, geschwitzt und gelitten hat wie wir? Halb
heruntergelassene Jalousien tauchten die Zimmer in ein angenehmes
Dämmerlicht. Alles war in Ordnung, tadellos aufgeräumt, wie in
Erwartung eines in die Sommerfrische abgereisten Eigentümers, der
von einem Tag auf den anderen zurückkommen konnte. Das Seltsamste
war: Kein Geruch lag in der Luft. Erst ein Haus ohne Ge
rüche ist wirklich ein totes Haus.
Lange habe ich diese eigenartige Reise
fortgesetzt, ein schamloser Eindringling, der aber, ohne es zu
merken, einem gut markierten Weg folgte. Das Schloss verwandelte
sich in eine Muschel, deren Windungen ich langsam nachging, auf ihr
Zentrum zu. Ich passierte Küche, Kammern, Waschküche, Salon, Ess-
und Raucherzimmer und kam schließlich zur Bibliothek, deren Wände
vollständig mit Büchern bedeckt waren. Sie war nicht groß: Es gab
einen Schreibtisch, auf dem sich Schreibutensilien, eine antike
Leseleuchte, ein einfaches Papiermesser und eine Schreibunterlage
aus schwarzem Leder befanden. Zu beiden Seiten des Schreibtisches
standen zwei ausladende, tiefe Sessel mit nach vorn ansteigenden
Armlehnen. Der eine war so gut wie neu, der andere bewahrte den
Abdruck eines Körpers: Sein Leder war rissig und glänzte
stellenweise. Ich habe mich in den neuen gesetzt. Man saß bequem
darin. Die Sessel standen einander gegenüber. Vor mir also der, in
dem Destinat manche Stunde mit Lesen verbracht hatte oder damit, an
nichts zu denken.
Die an den Wänden wie Soldaten einer
Papierarmee aufgestellten Bücher schluckten alle Geräusche von
draußen. Man hörte nichts, weder den Wind noch das Dröhnen der nahe
gelegenen Fabrik oder den Gesang der Vögel im Park. Auf der
Armlehne von Destinats Sessel lag, mit dem Rücken nach oben, ein
aufgeschlagenes Buch. Es war sehr alt, mit abgenutzten,
eselsohrigen Seiten, ein Exemplar von Pascals Pensees, in dem seine Finger wahrscheinlich ein
Leben lang geblättert hatten. Es liegt jetzt neben mir. Ich habe es
mitgenommen. Es ist an derselben Seite aufgeschlagen, an der ich es
geöffnet vorfand. Und auf dieser Seite voll religiösem Abrakadabra
und verworrenen Gedanken stehen zwei von Destinats Hand mit
Bleistift unterstrichene Sätze, zwei Sätze, die ich auswendig weiß:
Der letzte Akt ist blutig, wie schön auch die
Komödie in allen übrigen Teilen ist: Man
wirft zuletzt Erde auf das Haupt – und
damit ist es für immer zu Ende.
Es gibt Worte, bei denen es einem kalt den
Rücken herunterläuft. Diese zum Beispiel. Ich kenne Pascals Leben
nicht, und im übrigen kann er mich gern haben, aber eins ist
sicher: Ihm hat die Komödie, von der er da spricht, nicht übermäßig
gefallen. Mir auch nicht, und Destinat wahrscheinlich ebenso wenig.
Pascal muss sein Kreuz zu tragen gehabt und geliebte Gesichter
allzu früh verloren haben, sonst hätte er nie so etwas schreiben
können. Wer von Blumen umgeben lebt, denkt nicht an den
Schmutz.
Mit dem Buch in der Hand bin ich von Zimmer
zu Zimmer gegangen. Im Grunde ähnelten sich alle. Es waren nackte
Zimmer. Damit will ich sagen, man spürte, dass in ihnen keine
Erinnerung, keine Vergangenheit, kein Nachklang zurückgeblieben
war. In ihnen wohnte die Traurigkeit von nie benutzten
Gegenständen. Ein wenig Gedränge hatte ihnen gefehlt, ein paar
Schrammen, menschlicher Atem gegen die Fensterscheiben, das Gewicht
müder Körper in den Himmelbetten, auf dem Teppich herumliegendes
Kinderspielzeug, Hämmern gegen Türen, im Parkett versickerte
Tränen.
Am Ende eines Flurs befand sich Destinats
Schlafzimmer, etwas abseits und zurückgesetzt von den anderen. Die
Tür war höher und schmuckloser und in einer sonderbaren Farbe
gestrichen, die ins Granatrot spielte. Ich habe sofort erkannt,
dass es sein Zimmer war. Nur hier konnte es liegen, am Ende dieses
Flurs, der wirkte wie eine feierliche Allee, die einen zwang, sie
gemessen und vorsichtig zu durchschreiten. An den Wänden hier und
da Gravuren: komische antike Gesichter, Schund aus abgelebten
Epochen, mit Perücken, Halskrausen, feinen Schnurrbärten und
lateinischen Inschriften, die ihnen als Halsschmuck dienten.
Richtige Friedhofsporträts. Ich hatte den Eindruck, dass sie mich
ansahen, als ich auf die hohe Tür zuging. Ich habe ihnen alle
erdenklichen Schimpfwörter an den Kopf geworfen, um mir Mut zu
machen.
Dann Destinats Schlafzimmer. Das Bett war
klein, schmal, für eine einzelne Person gedacht und von mönchischer
Schlichtheit: Eisenrahmen, eine Matratze, keine Troddeln, kein
Betthimmel, der von der Zimmerdecke herabhing. Nichts dergleichen.
Die Wände waren mit schlichtem grauem Stoff bespannt, keine Bilder,
kein Schmuck. Neben dem Bett ein Tischchen, auf dem ein Kruzifix
stand. Am Fußende des Bettes das Waschgeschirr: Kanne und Schüssel.
Auf der anderen Seite ein hochlehniger Stuhl. Gegenüber dem Bett
ein Sekretär, auf dem nichts lag. Kein Buch, kein Blatt Papier,
kein Federhalter.
Destinats Zimmer sah aus wie er selbst. Es
war stumm und kalt, und man fühlte sich unwohl darin, während es
einem zugleich eine Art widerwilligen Respekt aufnötigte.
Mit Pascals Buch in der Hand bin ich zum
Fenster gegangen: Von dort aus hatte man einen schönen Ausblick auf
die Guerlante, den Kanal, die Bank, wo der Tod Destinat geholt
hatte, das kleine Haus, in dem Lysia Verhareine gewohnt
hatte.
Ich war ganz dicht an Destinats eigentliches
Leben herangekommen. Damit meine ich nicht sein Leben als
Staatsanwalt, sondern sein Innenleben, das einzig wahre, das man
unter Pomade, Höflichkeit, Arbeit und gesellschaftlicher Konvention
verbirgt. Sein ganzes Universum beschränkte sich auf diese Leere,
diese kalten Wände, diese paar Möbelstücke. Ich hatte den intimsten
Teil des Mannes vor mir, befand mich sozusagen in seinem Gehirn.
Ich wäre kaum überrascht gewesen, wenn er plötzlich erschienen wäre
und mir gesagt hätte, er habe mich erwartet und ich käme sehr spät.
So weit war dieses Zimmer vom Leben entfernt, dass es mich nicht
einmal erstaunt hätte, wenn mir darin ein Toter erschienen wäre.
Aber die Toten gehen ihre eigenen Wege, die sich mit unseren nie
kreuzen.
In den Schubladen des Sekretärs lagen
sorgfältig aufgeräumt Tageskalender, aus denen die Seiten gerissen
waren, sodass nichts blieb als der Rand, auf dem die Jahreszahl
vermerkt war. Es waren Dutzende, und ihre Magerkeit zeugte von
tausend vergangenen Tagen, zerstört und in den Abfall geworfen wie
das dünne Papier, das sie vertreten hatte. Destinat hatte alle
aufbewahrt. Jeder hat seine eigenen Rosenkränze. Die größte
Schublade war abgeschlossen. Ich wusste, dass es nutzlos war, den
kleinen, sicherlich schwarzen, seltsam geformten Schlüssel zu
suchen, denn ich ahnte, dass er in einem Grab lag, befestigt an der
Uhrkette in der Tasche einer Weste, von der inzwischen wohl nur
noch Fetzen übrig waren.
Ich brach die Schublade mit meinem Messer
auf. Das Holz zersplitterte.
Drinnen lag ein einziger Gegenstand, den ich
sofort erkannte. Mir stockte der Atem, und alles um mich herum
wurde unwirklich. Da lag ein schmales, rechteckiges Heft, in
hübsches rotes Maroquinleder gebunden. Das letzte Mal hatte ich es
in den Händen von Lysia Verhareine gesehen. Das war viele Jahre
her. Es war an jenem Tag gewesen, an dem ich auf den Gipfel der
Anhöhe gewandert war und sie dabei überrascht hatte, wie sie das
große Feld des Todes betrachtete. Blitzschnell nahm ich das Heft an
mich und floh wie ein Dieb.
Ich weiß nicht genau, was Clémence von alldem
gehalten und ob sie es gutgeheißen hätte oder nicht. Ich schämte
mich. Das Heft in meiner Tasche wog bleischwer. Ich bin gerannt,
gerannt und habe mich zu Hause eingeigelt. Ich musste eine halbe
Flasche Schnaps auf einen Zug leeren, um wieder zu Atem und
wenigstens etwas zur Ruhe zu kommen.
Mit dem kleinen Heft auf den Knien erwartete
ich den Abend, wagte nicht, es aufzuschlagen, sah es lange an wie
etwas Lebendiges, etwas Geheimes und Lebendiges. Als der Abend dann
gekommen war, war mein Kopf heiß. Ich spürte meine Beine nicht
mehr, weil ich sie aneinander presste und nicht bewegte. Ich spürte
nur noch das Heft, das mich an ein Herz erinnerte, ein Herz, das
von neuem zu schlagen begönne, wenn ich den Einband berühren und es
aufschlagen würde, dessen war ich sicher. Ein Herz, in das ich als
Dieb besonderer Art eindringen sollte.
XXIV
13. Dezember 1914
Mein Geliebter,
endlich bin ich in deiner
Nähe. Ich bin heute in P. angekommen, einer
kleinen Stadt, nur einige Kilometer von der
Front entfernt, an der du bist. Der Empfang, den man mir bereitet hat, war denkbar herzlich. Der
Bürgermeister hat sich auf mich gestürzt, als
wäre ich der Messias. Die Schule ist sehr
verwahrlost. Ich werde dort den Lehrer
ersetzen, der, wie man mir sagte, schwer erkrankt ist. Weil sich seine Wohnung in einem
beklagenswerten Zustand befindet, wird man für
mich einen anderen Platz suchen müssen, wo
ich wohnen kann. Für den Augenblick werde
ich im Hotel übernachten. Der Bürgermeister
hat mich hierher begleitet. Er ist ein
dicker Bauer, der den Jugendlichen spielt. Du würdest ihn sicher lustig finden. Du fehlst mir
so. Doch es tröstet mich zu wissen, dass du
in meiner Nähe bist, dass wir dieselbe Luft
atmen, dieselben Wolken sehen und denselben
Himmel. Pass gut auf dich auf und sei
vorsichtig. Ich liebe dich und küsse dich zärtlich. Deine
Lyse
16. Dezember 1914
Mein Geliebter,
ich wohne jetzt an einem
wunderbaren Ort, in einem Puppenhaus mitten
in einem Park, der zu einem schönen Herrenhaus gehört. Die Leute hier nennen es das
Schloss. Sie übertreiben ein bisschen, es ist
kein wirkliches Schloss, aber dennoch sehr
reizvoll. Es war eine Idee des
Bürgermeisters. Zusammen haben wir den Besitzer des Schlosses aufgesucht, einen alten Herrn, der Witwer ist und Staatsanwalt in V. Der Bürgermeister
trug ihm sein Ansinnen vor, während ich vor
dem Haus wartete. Dann ließ man mich
hinein. Der Staatsanwalt sagte kein Wort zu
mir. Ich lächelte ihn an und wünschte ihm
guten Tag. Er behielt meine Hand lange in der seinen, als wäre er überrascht, mich zu sehen. Seine
ganze Person verströmt eine unendliche
Traurigkeit. Am Ende gab er dem
Bürgermeister seine Einwilligung, grüßte
mich und ging fort.
Das kleine Haus war lange
nicht bewohnt. Ich muss ordentlich
aufräumen. Ich wünschte, du könntest es eines Tages sehen. Du fehlst mir so. Du kannst mir unter
meinem Namen an folgende Adresse schreiben:
Schloss, Rue des Champs-Fleury, P. Ich warte
ungeduldig auf eine Nachricht von dir. Dein
letzter Brief liegt nun schon drei Wochen
zurück. Ich hoffe, du leidest nicht zu sehr, trotz dieser Kälte. Hier hört man die Kanonen Tag
und Nacht. Ich zittere an Leib und Seele.
Ich habe Angst. Ich liebe dich und küsse
dich zärtlich. Deine Lyse
23. Dezember 1914
Mein Geliebter,
ich mache mir so große
Sorgen: immer noch keine Nachricht von dir,
und immer diese Kanonen, die nie Ruhe geben. Es hieß doch, der Krieg würde nicht lange
dauern. Wenn du wüsstest, wie sehr ich mich
nach deinen Armen sehne, wie sehr es mir
fehlt, mich an dich zu schmiegen, dein
Lächeln und deine Augen zu sehen. Ich möchte deine Frau sein. Ich will, dass dieser Krieg schnell
zu Ende geht, denn ich will dich heiraten
und dir hübsche Kinder schenken, die dich
am Schnurrbart ziehen! Ach, wären doch
deine und meine Eltern im letzten Jahr nicht so stur gewesen, dann gehörten wir einander bereits
fürs Leben ... Falls du ihnen schreiben
solltest, sag ihnen nicht, wo ich bin. Ich
bin gegangen, ohne sie zu benachrichtigen.
Sie existieren für mich nicht mehr. Hier
habe ich meinen neuen Beruf ganz ins Herz geschlossen. Die Kinder sind brav. Ich mag sie gerne
und glaube, dass auch sie mich mögen. Viele
bringen mir kleine Geschenke mit, ein Ei,
Nüsse, ein Stück Speck. Ich verstehe mich
gut mit ihnen und vergesse darüber ein wenig meine Einsamkeit.
Tristesse (das ist der
Spitzname, den ich meinem Gastgeber, dem
traurigen Staatsanwalt, gegeben habe) wartet jeden Tag auf mich, wenn ich nach Hause komme. Er
geht im Park spazieren und grüßt mich. Ich
erwidere seinen Gruß und schenke ihm ein
Lächeln. Er ist ein einsamer, alter,
frostiger Mann. Seine Frau ist gestorben, als sie beide noch sehr jung waren. Bald ist
Weihnachten. Erinnerst du dich an unsere letzten gemeinsamen
Weihnachten, wie glücklich wir damals waren! Schreib mir bald, mein
Geliebter, schreib mir . Ich liebe dich und
küsse dich zärtlich. Deine
Lyse
7. Januar 1915
Mein Geliebter,
endlich ein Brief von
dir! Er ist heute angekommen, und du hast
ihn am 26. Dezember geschrieben. Das zeigt doch, wie nahe wir einander sind. Tristesse hat ihn
mir persönlich überbracht. Sicher ahnt er,
worum es sich handelt, aber er hat keine
Fragen gestellt. Er hat an meine Tür
geklopft, mich gegrüßt, mir den Umschlag gegeben und ist wieder gegangen.
Vor Freude weinend habe
ich deine Worte gelesen. Ich trage deinen
Brief an meinem Herzen, ja, auf meinem Herzen, direkt auf der Haut, und ich habe das Gefühl,
als wärest du selbst hier, mit deiner
Wärme, deinem Duft. Ich schließe die Augen
...
Ich habe so schreckliche
Angst um dich. Hier gibt es ein Krankenhaus, in das viele Verwundete eingeliefert
werden. Jeden Tag kommen ganze
Lastwagenladungen. Ich fürchte so sehr,
dich eines Tages dort zu entdecken. Die
Armen sind unmenschlich entstellt, manche haben kein Gesicht mehr, andere stöhnen, als hätten sie
den Verstand verloren.
Pass auf dich auf mein
Geliebter, denk an mich, denn ich
liebe dich und möchte deine Frau werden. Ich
küsse dich
zärtlich.
Deine Lyse
23. Januar
1915
Mein Geliebter,
du fehlst mir. Wie viele
Monate sind vergangen, ohne dass ich dich
sehen, sprechen, berühren konnte? Warum bekommst du keine Urlaubserlaubnis? Ich bin traurig.
Ich versuche, vor meinen Kindern ein fröhliches
Gesicht zu machen, aber manchmal fühle ich
die Tränen in mir hochsteigen. Dann drehe
ich mich zur Tafel um, damit sie nichts
bemerken, und schreibe Buchstaben an. Dennoch habe ich keinen Grund, mich zu beklagen.
Alle hier sind nett zu mir, und ich fühle
mich wohl in dem kleinen Haus. Tristesse
bewahrt mir gegenüber immer dieselbe
respektvolle Distanz, aber er versäumt es nie, mir über den Weg zu laufen, um mich wenigstens
einmal am Tag zu grüßen. Ich weiß nicht, ob
es vielleicht an der Kälte lag, aber
gestern ist er, glaube ich, errötet. Er hat eine alte Dienerin, Barbe, die mit ihrem Mann im
Schloss wohnt. Ich verstehe mich gut mit
ihr. Manchmal esse ich mit ihnen
gemeinsam.
Ich habe mir angewöhnt,
jeden Sonntag auf den Kamm einer Anhöhe zu
steigen. Es gibt dort eine große Wiese, und
man sieht den ganzen Horizont. Da drüben bist du, mein Geliebter. Ich sehe Rauchwolken und
Explosionen. Ich bleibe, so lange ich kann,
bis ich meine Füße und Hände nicht mehr
spüre – so heftig ist der Frost –, weil ich
deine Leiden ein wenig teilen möchte. Mein armer Geliebter, wie lange wird das noch weitergehen? Ich
küsse dich zärtlich und warte auf deine Briefe. Deine dich liebende
Lyse.
XXV
In dem schmalen Heft aus rotem Maroquinleder
waren viele solcher Seiten, bedeckt mit einer feinen, geneigten
Schrift, die aussah wie ein zarter Fries. Viele Seiten, gefüllt mit
abgeschriebenen Briefen, verschickt von Lysia Verhareine an den
Mann, den sie liebte und dem sie nachgereist war.
Er trug den Namen Sebastien Francoeur, war
vierundzwanzig Jahre alt und Gefreiter der Infanterie. Sie schrieb
ihm jeden Tag. Sie erzählte ihm von den Stunden, die ihr lang
wurden, dem Lachen der Kinder, dem Erröten Destinats, den
Geschenken Martial Maires, des Schwachsinnigen, für den sie eine
Göttin geworden war, vom Frühling, der den Park mit Primeln und
Krokussen verschönt hatte. Das alles erzählte sie ihm, indem sie
ihm schrieb, mit ihrer kleinen, leichten Hand und in ebenso
leichten Sätzen, hinter denen jemand, der sie gekannt hatte, ihr
Lächeln erahnen konnte. Sie sprach vor allem von ihrer Liebe und
ihrer Einsamkeit, dem Riss in ihrem Innern, den sie so gut vor uns
verbarg, vor uns, die wir ihr täglich begegneten und doch nie etwas
davon geahnt hatten.
Die Briefe ihres Geliebten waren in dem Heft
nicht enthalten. Übrigens bekam sie nur wenige: neun in acht
Monaten. Natürlich zählte sie sie. Und bewahrte sie auf, las sie
immer wieder. Wo bewahrte sie sie auf? Vielleicht nahe dem Herzen,
ganz nahe bei sich, auf der Haut, wie sie schreibt.
Warum nur so wenige Briefe? Keine Zeit? Nicht
der richtige Ort? Oder keine Lust? Wir wissen, was die anderen uns
bedeuten, aber wir wissen nie, was wir den anderen bedeuten. Liebte
er sie wie sie ihn? Ich würde es gern glauben, aber ich bin mir
nicht sicher. Jedenfalls lebte die kleine Lehrerin von diesem
Briefwechsel, ihr Blut floss in ihre Worte, und das Licht im Haus
brannte noch spät in der Nacht, wenn sie, nachdem sie die Hefte
ihrer Schüler korrigiert hatte, die Feder nahm, um einen Brief zu
verfassen und ihn anschließend in das Heft aus rotem Maroquinleder
zu kopieren. Denn sie hat alle abgeschrieben, als hätte sie damit
das Tagebuch einer langen Abwesenheit zu führen, einen Kalender
verwaister Tage, fern von dem Mann, dem zuliebe sie zu uns ins Exil
gegangen war, ein bisschen wie die Seiten, die Destinat aus seinen
Tageskalendern riss.
Der Name Tristesse tauchte häufig auf. Ich
glaube, sie hatte den einsamen Mann, bei dem sie wohnte, ins Herz
geschlossen. Sie sprach von ihm mit zärtlicher Ironie, notierte,
ohne sich etwas von ihm vorspiegeln zu lassen, seine Bemühungen,
ihr zu gefallen, machte sich ohne allzu viel Bosheit lustig
darüber, dass er manchmal errötete, über sein Stammeln, seine
Aufmachung, seine Spaziergänge um das Haus herum, seine zu ihrem
Zimmerfenster erhobenen Blicke. Tristesse erheiterte sie, und ich
glaube, ich kann gefahrlos beschwören, dass Lysia Verhareine das
einzige menschliche Wesen war, das zu erheitern dem Staatsanwalt je
gelungen ist. Das berühmte Abendessen, von dem mir Barbe erzählt
hatte, beschrieb das Mädchen in einem Brief mit Datum vom 15. April
1915:
Mein
Geliebter,
gestern Abend war ich bei
Tristesse zu Tisch geladen. Es war das
erste Mal. Alles war sehr förmlich: Vor drei Tagen fand ich unter meiner Tür ein Kärtchen: Der
Staatsanwalt Monsieur Pierre-Ange Destinat bittet Mademoiselle
Lysia Verhareine, ihm am 14. April um 8 Uhr zum Abendessen die Ehre
zu geben. Ich war auf ein Festmahl in großer Gesellschaft vorbereitet, aber
wir waren allein, nur er und ich in trauter
Zweisamkeit in einem riesigen Esszimmer, in
dem man sechzig Personen unterbringen
könnte. Es war ein richtiges Liebesmahl. Nein, ich scherze. Tristesse ist beinahe ein Greis,
das habe ich dir ja schon geschrieben. Aber
gestern sah er aus wie ein Minister oder
Kanzler und hielt sich kerzengerade in
seinem Frack, der einer Opernsoiree würdig
gewesen wäre. Der Tisch war überwältigend: das Geschirr, das Tafeltuch, das Silber, ich hatte den
Eindruck, als wäre ich ... ich weiß nicht, in
Versailles vielleicht!
Nicht Barbe bediente uns
bei Tisch, sondern ein ganz junges Mädchen.
Wie alt mochte sie wohl sein? Acht, neun
Jahre vielleicht. Sie nahm ihre Rolle ernst und schien an sie gewöhnt zu sein. Manchmal schob sie
die Zungenspitze zwischen den Lippen
hervor, wie Kinder es machen, wenn sie sich
bei etwas große Mühe geben. Ab und zu
kreuzten sich unsere Blicke, und sie lächelte mich an. Das alles war ziemlich seltsam: unsere
Zweisamkeit, das Essen und das Mädchen.
Barbe hat mir heute erzählt, das Mädchen
sei die Tochter eines Wirtes aus V. und werde Belle genannt, was bezaubernd zu ihr passt.
Ihr Vater hatte das Mahl zubereitet, und es
war hervorragend, auch wenn wir die Speisen
kaum angerührt haben. Ich glaube nicht,
dass ich jemals ein solches Festmahl
gesehen habe, doch halt, ich schäme mich,
wenn ich dir davon erzähle, denn du isst sicher schlecht und wirst oft vielleicht noch nicht einmal
satt! Verzeih mir, mein Liebster, ich bin
töricht ... Ich versuche, dich zu
unterhalten, und streue nur Salz in die Wunde ... Du fehlst mir so. Warum schreibst du mir
nicht öfter? Dein letzter Brief liegt jetzt
schon sechs Wochen zurück. Und immer noch
keine Urlaubserlaubnis. Dennoch weiß ich,
dass dir nichts zugestoßen ist, ich spüre
es, ich spüre es. Schreib mir, mein Geliebter. Deine Worte helfen mir zu leben, so wie es mir hilft, in
deiner Nähe zu sein, auch wenn ich dich
nicht sehe, auch wenn ich dich nicht in die
Arme schließen kann. Während des Abendessens war Tristesse nicht sehr redselig. Er
war schüchtern wie ein Junge, und wenn ich
ihn etwas zu lange ansah, errötete er. Als
ich ihn gefragt habe, ob er seine
Einsamkeit nicht als zu große Last empfinde, hat er lange nachgedacht und dann ernst und sanft gesagt:
«Alleinsein ist die Lebensbedingung des
Menschen, was auch immer geschieht.» Ich
fand seine Worte sehr schön und zugleich
grundfalsch: Du bist nicht an meiner Seite, aber dennoch ist es so, als würde ich dich in jeder
Sekunde spüren, und oft spreche ich laut mit
dir. Kurz vor Mitternacht hat er mich zur
Tür begleitet und mir einen Handkuss
gegeben. Das kam mir sehr romantisch vor,
aber auch reichlich verstaubt! Ach, mein
Geliebter, wie lange wird dieser Krieg noch dauern? Manchmal träume ich nachts, dass du neben
mir liegst, ich spüre dich, berühre dich im
Schlaf. Und am Morgen öffne ich die Augen
nicht sofort, um länger im Traum bei dir zu
verweilen und glauben zu können, das sei
das wahre Leben und alles, was mich am Tag erwartet, nur ein Albtraum.
Ich vergehe danach, in
deinen Armen zu liegen. Ich küsse
dich so fest, wie ich dich liebe.
Deine Lyse
Je mehr Zeit verging, desto deutlicher schlich
sich ein Tonfall von Niedergeschlagenheit, ja sogar Wut in die
Briefe der jungen Lehrerin. Sie, die man immer nur strahlend
lächeln gesehen hatte, die stets ein nettes Wort für jeden fand,
wurde gallig und verbittert. Mehr und mehr erzählten ihre Briefe
von ihrem Abscheu, wenn sie die Männer aus der Stadt sah, die
hübsch sauber, ordentlich und ausgeschlafen in die Fabrik gingen.
Sogar die Verwundeten aus dem Krankenhaus, die auf den Straßen
herumlungerten, bekamen ihr Fett weg: Sie nannte sie «Glückspilze».
Aber der Mann, der die Siegespalme einheimste, war meine Wenigkeit. Es ließ mich nicht kalt, als ich
den Brief las, in dem von mir die Rede war. Sie hatte ihn am Abend
jenes Tages geschrieben, an dem ich sie auf dem Kamm der Anhöhe
gesehen hatte.
4. Juni 1915
Mein Geliebter,
deine Briefe sind schon
dünn wie Löschpapier, so oft falte ich sie
auseinander und wieder zusammen, lese sie und vergieße Tränen auf sie. Ich leide, weißt du das?
Die Zeit erscheint mir wie ein Ungeheuer,
nur geboren, um Liebende zu trennen und
unermesslich leiden zu lassen. Was haben
diese Ehefrauen, die ich hier jeden Tag sehe, doch für ein Glück, denn sie sind von ihren Männern
nur für einige Stunden getrennt. Auch diese
Schulkinder haben Glück; ihre Väter sind
immer in ihrer Nähe. Heute bin ich wie
jeden Sonntag auf die Anhöhe gestiegen, um dir etwas näher zu sein. Ich ging den Weg, ohne
etwas anderes zu sehen als deine Augen,
ohne einen anderen Duft als deinen zu
riechen. Dort oben trug der Wind den Lärm
der Kanonen zu mir. Es donnerte, donnerte, donnerte. Ich habe geweint, weil ich dich in diesem
Gewitter aus Eisen und Feuer wusste, dessen
düstere Rauchsäulen und Blitze ich sehen
konnte. Mein Geliebter, wo warst du? Wo
bist du? Wie immer bin ich lange geblieben,
konnte den Blick nicht von dem unermesslichen Feld des Leids lösen, auf dem du seit
Monaten lebst.
Plötzlich spürte ich,
dass jemand hinter mir stand. Es war ein
Mann, den ich vom Sehen kenne. Er ist Polizist, und ich habe mich immer gefragt, was er wohl in
dieser kleinen Stadt zu tun hat. Er ist
älter als du, aber noch jung. Er steht auf
der richtigen Seite, der Seite der Feiglinge. Er starrte mich blöde an. In der Hand hielt
er ein Gewehr, keins wie deins, das dazu da
ist, Männer zu töten; nein, ich glaube, es
war ein Jagdgewehr, ein lächerliches
Bühnen- oder Kindergewehr. Er sah aus wie ein Narr im Theater. In diesem Augenblick habe ich
ihn mehr gehasst als sonst jemanden auf der
Welt. Er stammelte ein paar Worte, die ich
nicht verstand. Ich habe ihm den Rücken
zugedreht.
Für ein paar Minuten in
deinen Armen würde ich das Leben tausender
Männer von seiner Sorte opfern. Ich würde
ihnen persönlich den Kopf abschneiden, um deine Küsse auf meinem Mund zu spüren. Es stört mich
nicht, dass ich hassenswert bin. Urteil und
Moral der anderen sind mir einerlei. Ich
würde töten, damit du am Leben bleibst. Ich
hasse den Tod, weil er nicht wählerisch ist. Schreib mir, mein Geliebter, schreib. Jeder Tag ohne dich bedeutet bitteres Leid für mich
... Deine Lyse
Ich war ihr nicht böse. Sie hatte nur allzu
Recht. Ich war wirklich die Memme, für die sie mich hielt. Aber
auch ich hätte getötet, damit Clémence am Leben blieb. Auch ich
fand die Überlebenden hassenswert. Ich wette, dass der Staatsanwalt
genauso dachte.
Die Tage veränderten Lysia Verhareine, auch
wenn wir nichts davon bemerkten. Das schöne, sanfte Mädchen
verwandelte sich in einen Menschen, der gegen das allgemeine
Schweigen anschrie und sich innerlich zerfleischte. Einen Menschen,
der langsam verfiel. In einigen Briefen tadelte sie ihren
Verlobten, warf ihm sein Schweigen, seine spärlichen Briefe vor,
zweifelte an seiner Liebe. Aber schon am nächsten Tag entschuldigte
sie sich wortreich. Er schrieb ihr trotzdem nicht öfter. Ich werde
nie erfahren, zu welcher Sorte Bastien Francoeur gehörte: zu den
Schweinen oder den Gerechten. Ich werde nie wissen, ob seine Augen
leuchteten, während er einen Brief von Lysia las. Ich werde nie
erfahren, ob er ihre Briefe im Schützengraben bei sich trug. Ich
werde nie erfahren, ob er sie mit einem Ausdruck des Überdrusses
oder der Belustigung überflog und dann zusammengeknüllt in eine
Schlammpfütze warf.
Der letzte Brief datierte vom 3. August 1917.
Es war ein kurzer Brief, in dem sie in einfachen Worten von ihrer
Liebe sprach, auch vom Sommer, von den langen, schönen Tagen, die
dem, der allein ist und wartet, so leer erscheinen.
Ich könnte ihn hier abschreiben, aber ich
will nicht. Es reicht, dass Destinat und ich das Heft begafft
haben. Andere müssen es nicht auch noch sehen, vor allem nicht den
letzten Brief, der sozusagen heilig ist, ein Abschied von der Welt,
ihre letzten Worte, obwohl sie noch nicht ahnen konnte, dass es
ihre letzten sein würden, als sie sie schrieb.
Nach diesem Brief folgt nichts
mehr.
Nur noch weiße Seiten.
Das Weiß des Todes.
Die Schrift des Todes.
XXVI
Wenn ich sage, dass auf diesen Brief nichts
folgte, stimmt das nicht ganz. Sogar in zweifacher Hinsicht.
Zunächst folgt noch ein Brief, der nicht von Lysia stammt, ein
kleines, hinter ihren letzten Worten in das Heft eingelegtes Blatt.
Er wurde von einem gewissen Hauptmann Brandieu verfasst und datiert
vom 27. Juli 1917, muss aber am 4. August im Schloss angekommen
sein. So viel ist sicher. Der Hauptmann schreibt:
Mademoiselle,
ich schreibe Ihnen, weil
ich Ihnen eine traurige Mitteilung machen
muss: Bei einem Vorstoß auf die feindlichen
Stellungen wurde der Gefreite Bastien Francoeur vor zehn Tagen von einer
Maschinengewehrsalve am Kopf getroffen. Die
Kameraden kamen ihm zu Hilfe und brachten
ihn in unseren Schützengraben, wo ein
Sanitäter allerdings nur noch die außerordentliche Schwere seiner Verwundungen
feststellen konnte. Zu unserem tiefsten
Bedauern ist der Gefreite Francoeur in den
darauffolgenden Minuten verstorben, ohne
das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Ich
kann Ihnen versichern, dass er wie ein Soldat gestorben ist. Er stand seit Monaten unter meinem Befehl,
und er hat sich stets sehr tapfer gezeigt
und sich selbst für die gefährlichsten
Aufträge freiwillig gemeldet. Er wurde von
seinen Kameraden geliebt und von seinen Vorgesetzten geachtet.
Ich kenne die Natur Ihrer
Beziehungen zu dem Gefreiten Francoeur
nicht, aber weil seit seinem Tod einige Briefe von Ihnen eingetroffen sind, halte ich es für richtig,
nicht nur seine Familie, sondern auch Sie
von seinem
tragischen Ende in
Kenntnis zu setzen.
Ich versichere Ihnen, Mademoiselle, dass ich
Ihren
Schmerz teile, und übermittle Ihnen mein
aufrichtigstes
Beileid.
Hauptmann Charles-Louis Brandieu
Seltsam, in wie vielen Gestalten der Tod uns
begegnet: Ein kleiner, einfacher Brief voll aufrichtiger Gefühle
und Mit-leid kann genauso sicher töten wie ein Messer, eine Kugel
oder Granaten.
Lysia Verhareine hat diesen Brief bekommen.
Hat ihn gelesen. Ob sie schrie, weinte, tobte, verstummte? Ich weiß
es nicht. Alles, was ich weiß, ist, dass der Staatsanwalt und ich
einige Stunden später in ihrem Zimmer standen, dass sie tot war,
dass wir uns verständnislos ansahen. Nun ja, verständnislos war
zumindest ich: Er verstand bereits oder sollte bald verstehen, denn
er hatte das Heft aus rotem Maroquinleder an sich genommen. Warum
hatte er das getan? Um die Unterhaltung beim Abendessen
fortzuführen, um weiter mit ihrem Lächeln, ihren Worten leben zu
können? Wahrscheinlich. Tot war der Soldat, der Geliebte, der Mann,
für den sie alles aufgegeben hatte, für den sie jeden Sonntag auf
die Anhöhe gestiegen war, für den sie jeden Tag zur Feder gegriffen
hatte, für den ihr Herz schlug. Und was hatte er gesehen, als der
Tod ihm den Kopf zertrümmerte? Lyse? Eine andere? Nichts? Ein
großes Geheimnis.
Nicht nur der Brief war in das Heft eingelegt.
Es gab auch noch drei Fotografien, auf der letzten Seite
nebeneinander eingeklebt. Und diese Abfolge regloser
Kinematographie hatte Destinat zusammengestellt. Auf der ersten
erkannte man das Modell, das für das große Porträt in der
Eingangshalle des Schlosses posiert hatte: Clélis de Vincey, damals
vielleicht siebzehn Jahre alt. Das Foto zeigte sie inmitten einer
mit Spiräen übersäten Wiese, jenen Blumen, die man Reine des prés,
Wiesenkönigin, nennt. Das Mädchen lachte. Sie war ländlich
gekleidet, und die Schlichtheit ihrer Kleidung unterstrich nur ihre
Eleganz. Ein breitkrempiger Hut tauchte eine Hälfte ihres Gesichtes
in tiefen Schatten, aber ihre vom Licht beschienenen Augen, ihr
Lächeln, der Sonnenstrahl auf ihrer Hand, mit der sie die Hutkrempe
gegen den Wind festhielt — all das verlieh ihrem Gesicht eine
hinreißende Anmut. Sie war die eigentliche Königin der Wiese.
Die zweite Fotografie war auseinander
geschnitten worden, was man an den glatten Rändern links und rechts
und an dem seltsam länglichen Format erkennen konnte, aus dem ein
glückliches Mädchen direkt auf den Betrachter schaute. Auf diese
Weise hatte Destinats Schere Belle de Jour aus der Fotografie
isoliert, die Bourrache ihm gegeben hatte. «Eine richtige heilige
Jungfrau», hatte der Vater mir gesagt. Und richtig. Das Gesicht der
Kleinen strahlte etwas Religiöses aus: ungekünstelte Schönheit,
Güte, schlichten Glanz. Auf der dritten Fotografie schien Lysia
Verhareine, den Rücken an einen Baum gelehnt, die Hände flach auf
der Rinde, mit erhobenem Kinn und halb geöffnetem Mund den Kuss des
Mannes zu erwarten, der das Foto gemacht hatte. Sie sah so aus, wie
ich sie gekannt hatte. Nur ihr Gesichtsausdruck war anders. Ein
solches Lächeln hatte sie uns nie geschenkt, niemals. Es war ein
Lächeln des Verlangens und der bedingungslosen Liebe, und es
verstörte mich, sie so zu sehen, ich schwöre es, denn plötzlich
trug sie keine Maske mehr, und man verstand, wie sie wirklich war
und wozu sie fähig sein mochte, für ihren Geliebten oder auch gegen
sich selbst. Das Merkwürdigste an alledem aber — und nicht nur der
Schnaps, den ich bei diesen Betrachtungen hinunterschüttete, ließ
mich das erkennen — war der Eindruck, dass man drei Porträts
desselben Gesichts vor sich hatte, aufgenommen in verschiedenen
Lebensaltern und unterschiedlichen Epochen.
Belle de Jour, Clélis, Lysia, das waren drei
Inkarnationen derselben Seele, einer Seele, die den Körpern, die
ihr übergestreift waren, dasselbe Lächeln, dieselbe
unvergleichliche Sanftmut eingegeben hatte. Dieselbe Schönheit, die
gegangen und wiedergekehrt, erschienen und verschwunden, geboren
und zerstört worden war. Es drehte sich einem der Kopf, wenn man
sie so nebeneinander sah. Man blickte von einer zur anderen,
begegnete aber doch nur einer Person. Darin lag etwas zugleich
Reines und Teuflisches, eine Mischung aus Heiterkeit und Grauen.
Man mochte angesichts dieser Beständigkeit beinahe glauben, dass
das Schöne, trotz der Zeit, die alles auslöscht, bleibt, in welcher
Form auch immer, und dass alles, was einmal war, irgendwann
wiederkehrt.
Ich habe an Clemence gedacht. Plötzlich kam
es mir vor, als hätte ich eine vierte Fotografie hinzufügen können,
um die Reihe zu vervollständigen. Ich klappte das Heft
zu.
Mein Kopf schmerzte: zu viele Gedanken. Zu
viele Stürme. Und das alles wegen drei kleinen Fotografien,
zusammengefügt von einem alten, einsamen Mann, der wusste, was
Lebensüberdruss bedeutet. Fast hätte ich das ganze Zeug verbrannt.
Ich habe es nicht getan. Berufliche Gewohnheit. Man vernichtet
keine Beweise. Aber Beweise wofür? Dass man die Lebenden nicht
wirklich hat sehen können als die, die sie waren? Dass keiner von
uns je gesagt hat: «Na so was, die kleine Bourrache ähnelt Lysia
Verhareine ja wie ein Haar dem anderen!» Dass Barbe nie zu mir
gesagt hat: «Die Lehrerin war der verstorbenen Madame aber wie aus
dem Gesicht geschnitten!»
Doch vielleicht konnte nur der Tod diese
Ähnlichkeit
enthüllen. Vielleicht konnten nur der
Staatsanwalt und ich es sehen. Vielleicht waren wir uns beide
ähnlich, ähnlich in einer gewissen Verrücktheit. Wenn ich an die
langen, feinen, gepflegten Hände Destinats denke, sehnig und voller
Altersflecken, wenn ich mir vorstelle, wie sie an einem Winterabend
den schlanken Hals von Belle de Jour umspannen, während auf ihrem
Kindergesicht das Lächeln verschwindet und eine bedeutende Frage in
ihre Augen tritt, wenn ich mir diese Szene, die stattgefunden hat
oder auch nicht, heute ausmale, dann sage ich mir, dass Destinat
damals kein Kind erdrosselt hat, sondern eine Erinnerung, ein Leid,
und dass er in seinen Händen, unter seinen Fingern, plötzlich den
Geist von Clélis und von Lysia Verhareine spürte und versuchte,
diesen Geist zu erwürgen, um sich für immer von ihm zu befreien,
damit er sie nicht mehr sehen, nicht mehr hören, sich ihnen in den
Nächten nicht mehr, ohne sie jemals zu erreichen, nähern musste,
damit er nicht mehr vergeblich liebte.
Die Toten zu töten ist schwer. Sie zum
Verschwinden zu bringen – wie oft habe ich das versucht. Alles wäre
so einfach, wenn das ginge.
Andere Gesichter hätten sich also über das
Gesicht des Kindes geschoben, dieses Kindes, dem er am Ende eines
eisigen Schneetages zufällig begegnet wäre, als die Nacht näher
rückte und mit ihr jene schmerzlichen Schatten. Plötzlich hätten
sich Liebe und Verbrechen vermischt, als könnte man nur töten, was
man auch liebt. Das wäre alles gewesen.
Lange habe ich mit der Vorstellung gelebt,
Irrtum, Illusion, Hoffnung, Erinnerung und Grauen hätten Destinat
zum Mörder gemacht. Ich fand sie schön. Es war und blieb Mord, aber
er wurde dadurch reiner, frei von Niedertracht. Beide, Täter und
Opfer, wurden zu Märtyrern: Das hat man selten.
Und dann erhielt ich eines Tages einen Brief.
Man weiß
nicht, warum manche nie ankommen oder so
lange unterwegs sind. Vielleicht schrieb der kleine Gefreite
ebenfalls täglich an Lysia Verhareine? Vielleicht irren seine
Briefe noch heute durch irgendwelche Labyrinthe der Zeit, ob-wohl
die beiden längst tot sind? Der Brief, von dem ich jetzt spreche,
war am 23. März
1919 in Rennes aufgegeben worden. Er hatte
sechs Jahre gebraucht, um anzukommen. Sechs Jahre, um einmal durch
ganz Frankreich zu reisen.
Er war von einem Kollegen an mich gerichtet
worden. Er kannte mich nicht, ich kannte ihn nicht, und er muss
denselben Brief an lauter Kerle wie mich geschickt haben, die in
Städchen nahe einer Linie, die während des Krieges die Front
gewesen war, vor sich hin vegetierten. Alfred Vignot, so sein Name,
wollte die Spur eines Burschen wieder finden, den er seit 1916 aus
den Augen verloren hatte. Ähnliche Anfragen erhielt man häufig, von
Bürgermeisterämtern, Familien, Gendarmen. Der Krieg war wie ein
großer Topf gewesen, der hunderttausende Männer zu Mus gekocht
hatte. Einige waren gestorben, andere hatten überlebt; einige waren
nach Hause zurückgekehrt, andere hatten ein neues Leben anfangen
wollen. Das große Schlachten hatte nicht nur Körper und Köpfe
zerstört; es hatte einer geringen Anzahl als vermisst geltender
Männer auch erlaubt, weit weg von ihrem Heimatland frische Luft zu
atmen. Wer beweisen wollte, dass sie noch am Leben waren, musste
gewitzt sein. Denn es war kinderleicht, seinen Namen und seine
Papiere zu wechseln. Es gab fast anderthalb Millionen, die Namen
und Papiere nie mehr brauchen würden: Da hatte man die Auswahl! Und
so war viel Gesindel unter- und woanders reingewaschen wieder
aufgetaucht.
Vignots Verschollener hatte einen Toten auf
dem Gewissen, vielmehr eine Tote, die er nach gründlicher
Misshandlung erwürgt und vergewaltigt hatte. Das Verbrechen war im
Mai 1916 geschehen. Und Vignot hatte drei Jahre gebraucht, um seine
Ermittlungen abzuschließen, die Beweise zusammenzutragen, sich
seiner Sache sicher zu sein. Das Opfer hieß Blanche Fen'vech. Sie
war zehn Jahre alt. Man hatte sie neben einem Hohlweg in einem
Graben gefunden, weniger als einen Kilometer von dem Dorf Plouzagen
entfernt. Dort wohnte sie. Sie war wie an jedem Abend losgegangen,
um vier armselige Kühe aus einem Park zu holen. Ich musste nicht
weiterlesen, um zu erraten, wie der Kerl hieß, den Vignot
suchte.
Der Mörder hieß Le Floc, Yann Le Floc. Zur
Zeit der Tat war er neunzehn Jahre alt. Es war mein kleiner
Bretone. Ich habe Vignot nicht geantwortet. Jeder wühle in seinem
eigenen Mist! Wahrscheinlich hatte er Recht mit Le Floc, aber das
änderte nichts. Die Mädchen waren tot, das in der Bretagne und das
bei uns. Und der Bengel war ebenfalls tot, ordnungsgemäß
standrechtlich erschossen. Außerdem sagte ich mir, dass Vignot sich
irren mochte, dass er vielleicht Gründe hatte, dem Jungen die
Geschichte anzuhängen, so wie Matziev und Mierck, dieser Abschaum,
die ihren gehabt hatten. Was wusste man schon?
Es war seltsam, ich hatte mich daran gewöhnt,
mit dem Geheimnis und dem Zweifel zu leben, mit dem Zwielicht, dem
Zögern, dem Fehlen von Antworten. Vignot zu antworten hätte das
alles weggewischt: Auf einmal wäre da ein Licht gewesen, das
Destinat hell erstrahlen lassen und den kleinen Bretonen ins Dunkel
getaucht hätte. Zu einfach. Einer der beiden hatte getötet, so viel
ist sicher, aber der andere hätte es ebenso gut tun
können.
Ich habe Vignots Brief genommen und mir damit
eine Pfeife angezündet. Pfffft. Rauch! Wolken! Asche! Nichts mehr!
Forsche nur weiter, guter Mann, damit ich nicht allein bin! Im
Grunde tat ich das vielleicht aus Rache. Es war eine Art, mir
selbst zu versichern, ich sei nicht der Einzige, der mit den
Fingern im Dreck wühlte und Tote suchte, um sie zum Sprechen zu
bringen. Sogar im Nichts tut es gut zu wissen, dass es Menschen
gibt, die einem ähnlich sind.
XXVII
Wir nähern uns dem Ende. Dem Ende der
Geschichte und meinem eigenen. Gräber und Münder sind seit langem
geschlossen, die Toten nur noch halb verwitterte Namen, in Stein
gemeißelt: Belle de Jour, Lysia, Destinat, Le Grave, Barbe,
Adelaide Siffert, der kleine Bretone und der Drucker, Mierck,
Gachentard, Bourraches Frau, Hippolyte Lucy, Mazerulles, Clémence
... Oft stelle ich sie mir vor, in der Kälte unter der Erde und in
vollständiger Finsternis. Ich weiß, ihre Augen sind seit langem
hohl und leer, und an ihren gefalteten Händen ist kein Fleisch
mehr.
Falls jemand wissen wollte, womit ich die
vielen Jahre beschäftigt war, die lange Zeit, die mich bis zum
heutigen Tag geführt hat, dann wüsste ich kaum, was ich antworten
sollte. Ich habe die Jahre nicht vergehen sehen, auch wenn mir
jedes einzelne davon lang vorkam. Ich habe eine Flamme genährt und
die Dunkelheit befragt, ohne etwas anderes herauszufinden als wenig
aufschlussreiche, bruchstückhafte Antworten.
Mein ganzes Leben hängt an diesem Gespräch
mit einer Reihe von Toten. Dieses Gespräch hat mir gereicht, um
mein Leben fortzusetzen und auf das Ende zu warten. Ich sprach mit
Clémence. Ich beschwor die anderen herauf. Nur wenige Tage gab es,
an denen ich sie nicht vor mich zitierte.
Aber vielleicht hat gerade das mich
durchhalten lassen, dieses Gespräch mit einer Stimme, die immer
dieselbe, immer meine eigene war, sowie die Undurchsichtigkeit des
Verbrechens, an dem womöglich allein die Undurchsichtigkeit unseres
Lebens schuld ist. Merkwürdiges Leben: Erfahren wir je, warum wir
auf der Welt sind? Sich mit der Affäre auseinander zu setzen, wie
ich es getan habe, war wahrscheinlich nur eine Möglichkeit, mir
diese eigentliche Frage nicht zu stellen, diese Frage, die wir alle
nicht über die Lippen bringen, auch in Gedanken kaum einmal
zulassen, geschweige denn in unserer Seele, die, das ist wahr,
weder weiß noch schwarz ist, sondern grau, «hübsch grau», wie
Joséphine einmal zu mir gesagt hat.
Was mich betrifft, ich bin hier. Ich habe
nicht gelebt, nur überlebt. Mich schaudert. Ich öffne eine Flasche
Wein und trinke, käue Brocken verlorener Zeit wieder. Ich glaube,
nun habe ich alles erzählt. Alles darüber, was ich zu sein glaubte.
Ich habe alles erzählt oder zumindest fast alles. Eine einzige
Sache muss ich noch berichten, die schwierigste vielleicht, die
einzige, die ich Clemence noch nicht einmal im Flüsterton erzählt
habe. Deshalb muss ich erst noch etwas trinken, damit ich den Mut
fasse, es auszusprechen, es dir, Clémence, zu sagen, denn nur für
dich spreche und schreibe ich ja: Weißt du, dem Kleinen, unserem
Sohn, habe ich keinen Namen geben können. Ich konnte ihn nicht
einmal wirklich ansehen. Ich habe ihn auch nicht geküsst, wie ein
Vater es tun sollte.
Eine mit Häubchen bewehrte Schwester,
verschrumpelt wie eine im Ofen vergessene Herbstfrucht, brachte ihn
mir eine Woche nach deinem Tod. Sie sagte: «Das ist Ihr Kind. Es
gehört Ihnen. Sie müssen es großziehen.» Dann hat sie mir, bevor
sie sich wieder umdrehte, das weiße Bündel in den Arm gelegt. Das
Kind schlief. Es war ganz warm und roch nach Milch. Bestimmt war es
sehr süß. Sein Gesicht lugte aus den Tüchern, die es einhüllten.
Seine Lider waren geschlossen, seine Wangen rund, so rund, dass die
Lippen darin versanken. Ich habe in seinen Zügen dein Gesicht
gesucht, irgendeine Erinnerung an dich, über den Tod hinaus. Aber
es sah niemandem ähnlich, schon gar nicht dir. Es sah aus wie alle
Säuglinge, die, nachdem sie eine lange, behagliche Nacht an einem
Ort verbracht haben, den wir alle schnell vergessen, frisch auf die
Welt gekommen sind. Ja, es war einer von ihnen. Ein unschuldiges
Kind, wie man so sagt. Die Zukunft der Welt. Ein Menschenjunges.
Die Erhaltung der Art.
Aber für mich war es nichts von alldem, es
war einfach nur dein Mörder, ein kleiner Mörder ohne Bewusstsein
und Gewissen, mit dem ich würde leben müssen, während du nicht mehr
da warst. Der dich getötet hatte, um zu mir zu kommen. Der seine
Ellbogen und noch mehr eingesetzt hatte, um allein mit mir zu sein,
damit ich nie mehr dein Gesicht sehen oder deine Haut küssen
konnte, während er mit jedem Tag wachsen, Zähne bekommen und
weiterhin alles verschlingen würde. Der Hände hatte, um Dinge zu
greifen, und Augen, sie zu sehen, und der später Worte lernen
sollte, mit denen er jedem, der es hören wollte, die infame Lüge
auftischen konnte, er habe dich nie gekannt, weil du bei seiner
Geburt gestorben seist, während die Wahrheit ist, dass er dich
getötet hat, um geboren zu werden. Ich habe nicht lange
nachgedacht. Es geschah ganz von allein. Ich nahm ein dickes Kissen
und ließ sein Gesicht darunter verschwinden. Ich wartete lange. Das
Kind bewegte sich nicht. Um mit den Worten derer zu sprechen, die
hienieden über uns urteilen: Es geschah noch nicht einmal mit
Vorsatz. Es war das Einzige, was ich tun konnte, und ich habe es
getan. Ich nahm das Kissen weg und weinte. Weinte, weil ich an dich
dachte, nicht an den Kleinen.
Dann holte ich den Arzt Hippolyte Lucy und
sagte ihm, dass das Kind nicht mehr atmete. Er kam mit und trat ins
Zimmer. Das Kind lag auf dem Bett. Sein Gesicht war immer noch das
eines unschuldigen, friedlichen, monströsen Schlafenden.
Der Arzt zog es aus. Er legte die Wange an
seinen ge
schlossenen Mund. Er hörte sein Herz ab, das
nicht mehr schlug. Er sagte nichts. Er schloss seine Tasche und
wandte sich mir zu. Wir sahen uns an. Er wusste es. Ich wusste,
dass er es wusste, aber er sagte nichts. Er ging aus dem Zimmer und
ließ mich mit dem kleinen Leichnam allein.
Ich habe den Kleinen an deiner Seite
bestatten lassen. Ostrane erzählte mir, Neugeborene verschwänden in
der Erde wie ein Hauch im Wind, bevor man überhaupt Zeit habe, sie
zu bemerken. Er sagte das ohne Arg. Es sah aus, als freue ihn der
Gedanke.
Ich habe den Namen des Kindes nicht auf das
Grab schreiben lassen.
Das Schlimme ist, ich empfinde auch heute
keinerlei Reue und würde bedenkenlos dasselbe wieder tun, so wie
ich es damals ohne Reue getan habe. Ich bin nicht stolz darauf.
Aber ich schäme mich dessen auch nicht. Nicht der Schmerz hat mich
so handeln lassen; es war die Leere. Die Leere, in der ich
zurückgelassen worden war und in der ich bleiben wollte. Wäre er an
meiner Seite aufgewachsen, dann wäre er sehr unglücklich geworden
in der Gegenwart eines Vaters, für den das Leben nur eine mit einer
einzigen Frage erfüllte Leere war, ein tiefes, bodenloses Loch, um
dessen Rand ich im Gespräch mit dir fortwährend kreiste. Gestern
bin ich zum Pont des Voleurs hinübergeschlendert. Erinnerst du
dich? Wie alt waren wir damals? Knapp zwanzig? Du hattest ein
hellrotes Kleid an. Mein Magen krampfte sich zusammen. Wir standen
auf der Brücke und sahen in den Fluss hinunter. Diese Strömung,
sagtest du, das ist das Leben, das verfließt. Schau, wie weit es
führt, schau, wie schön es ist dort zwischen den Seerosenblüten,
den langhaarigen Algen, den Uferböschungen aus Lehmerde. Ich wagte
nicht, deine Taille zu umfassen. Der Knoten in meinem Bauch war so
fest, dass ich kaum Luft bekam. Deine Augen sahen in die Ferne,
meine in deinen Nacken. Du hast nach Heliotrop geduftet. Dann hast
du dich überraschend zu mir umgedreht, gelächelt und mich geküsst.
Es war das erste Mal. Das Wasser floss unter der Brücke dahin. Die
Welt glänzte sonntäglich. Die Zeit blieb stehen. Gestern bin ich
lange auf dem Pont des Voleurs geblieben. Der Fluss hat sich nicht
verändert. Es gibt noch immer die großen Seerosen, die langhaarigen
Algen, die Böschungen aus Lehmerde. Dazu den frischen Duft von
gemähtem Gras.
Ein Kind stellte sich neben mich, ein Junge
mit hellen Augen. Sagte: «Guckst du dir die Fische an?» Und sprach
weiter, leicht enttäuscht: «Es sind viele Fische da drin, aber man
sieht sie nie.» Ich antwortete nicht. Es gibt so vieles, was man
nie sieht. Er stützte sich neben mir aufs Geländer, und wir blieben
eine Weile so stehen, umtönt vom Quakender Frösche und vom Rauschen
des Wassers. Er und ich. Anfang und Ende. Und ich bin weggegangen.
Der Junge folgte mir für einen Augenblick, dann ist er
verschwunden.
Heute geht alles zu Ende. Ich habe meine Zeit
ausgeschöpft, und die Leere ängstigt mich nicht mehr. Du hältst
mich vielleicht für ein Schwein, für nicht besser als die anderen.
Du hast Recht. Natürlich hast du Recht. Verzeih mir, was ich getan
habe, und verzeih mir vor allem, was ich nicht getan
habe.
Ich hoffe, du wirst bald von Angesicht zu
Angesicht über mich urteilen können. Plötzlich wünsche ich, dass es
Gott gibt und damit den ganzen Hokuspokus und den Quatsch, mit dem
sie uns die Köpfe voll stopften, als wir noch klein waren. Wenn es
so ist, wirst du Mühe haben, mich wieder zu erkennen. Du hast einen
jungen Mann zurückgelassen und wirst fast schon einen Greis wieder
sehen, gebrechlich, schrundig. Du hast dich nicht verändert, ich
weiß. Das ist nun mal das Wesen der Toten. Eben habe ich
Gachentards Karabiner von der Wand