16. KAPITEL
„Geh nicht“, sagte Tegan schläfrig.
Aine hielt im Schnüren ihres Kleides inne und blickte auf. „Wenn ich nicht rechtzeitig zurück bin, werden die Krieger nach mir suchen. Sie könnten meine Spur bis hierher verfolgen.“
„Dann werden wir einen neuen Ort finden – tiefer in den Bergen. Nur geh noch nicht.“
Aine strich über die Unterseite seines Flügels. Er erzitterte, Tegan schloss die Augen und seufzte sanft.
„Ich werde wiederkommen.“ Sie gab ihm einen Kuss.
„Morgen?“
„Ich versuche es. Ruh du dich aus und werd gesund. Ich habe einen Plan.“
Fragend zog er eine Augenbraue hoch. „Einen Plan?“
„Ich werde dem Herrn der Wachtburg sagen, dass ich dort nicht glücklich bin. Sie müssen sich eine neue Heilerin suchen. Das wird niemanden überraschen. Maev war meine einzige Freundin, und jetzt, wo sie fort ist, gibt es dort nichts mehr, was mich hält.“
„Dann wirst du mit mir kommen?“ Tegan wickelte sich eine ihrer dunklen Haarsträhnen um den Finger.
„Ja.“ Sie schaffte es nicht, den traurigen Unterton zu überspielen.
„Warum macht dich die Vorstellung, mit mir zusammen zu sein, traurig?“
„Ich muss meine Familie in dem Glauben wiegen, dass ich tot bin. Das macht mich traurig.“
Tegan schwieg. Es gab keinen anderen Weg. Angesichts dessen, was ihnen allen bevorstand, würde niemand ihre Liebe akzeptieren. Sogar Aine nicht, wüsste sie, was geschehen würde. Deshalb musste er sie von hier fortbringen. Bevor das, was sie miteinander teilten, von etwas Bösen zerstört wurde, das er nicht aufhalten konnte.
„Vielleicht werden du und ich eine neue Familie gründen.“
Sie wirkte überrascht. „Können wir das?“
Er zuckte mit den Schultern und lächelte. „Nach dem Wunder, das mir mit dir passiert ist, glaube ich, dass alles möglich ist.“
Tegan fand, dass Aine ein wenig verwirrt aussah, als sie sich den Umhang um die Schultern legte. Er stand auf, bewegte sein Bein ein paar Mal und freute sich darüber, wie gut es sich schon wieder anfühlte.
„Es ist viel besser“, sagte sie.
„Das habe ich dir zu verdanken.“
Auch wenn sie nicht nebeneinanderher gehen konnten, sorgten Aine und Tegan dafür, dass sie sich auf dem Rückweg immer wieder berührten. Sie streifte seine Flügelspitzen mit den Fingern. Er hielt oft inne, um sie in seine Arme zu ziehen. Als sie den Bergrand erreichten, dämmerte es bereits.
„Ich muss mich beeilen.“
Tegan küsste sie noch einmal lang und besitzergreifend. „Komm morgen zu mir!“
„Ich versuche es“, versicherte sie ihm.
Er sah ihr nach, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden war.
„Heilerin! Wo bist du gewesen?“
Die ruppige Stimme des Monro überfiel Aine, als sie leise durch das Vordertor schlich. Sie hatte gehofft, in den Schatten ungesehen hineinzugelangen.
„Ich war …“ Aine hielt inne. Sie hatte die Urne in Tegans Höhle vergessen! Jetzt musste ihr schnell etwas einfallen. Sie sah sich um. Sie waren allein; kein Edan in der Nähe, der ihr widersprechen konnte. Wenn sie Glück hatte, war er den ganzen Tag auf Jagd gewesen und hatte noch nicht mit dem Stammesführer gesprochen. „Ich bin bei Maevs Scheiterhaufen gewesen und habe ein paar Gebete gesprochen.“
„Du hättest hier sein sollen. Du wurdest gebraucht.“
„Was ist los?“ Aine sah ihn fragend an. Der Monro lallte nicht direkt, aber er roch wie ein Bierfass. Wie konnte der Stammesführer eines Clans und Herr der Wachtburg ein Trinker sein?
„Der Krieger Edan ist bei der Jagd verletzt worden. Es war das gleiche göttinnenverdammte Wildschwein.“
„Edan liegt in den Krankenräumen?“ Aine dachte nicht mehr an Monros Trunkenheit, sondern eilte über den Burghof.
„Nein. Wir dachten, es wäre am besten, wenn wir ihn nicht bewegen. Sein Rückgrat ist vielleicht gebrochen. Du musst zu ihm gehen. Er liegt nicht weit vom Hintertor entfernt.“
„Oh, Göttin! Ich brauche meine Medizinkiste und ein Brett, um seinen Rücken zu stabilisieren.“
„Das alles steht schon lange da.“
Aine lief an der Seite des Stammesführers den Weg entlang, der zur Brachland-Seite des Passes führte. Sie hatte ein fürchterlich ungutes Gefühl. Die Luft war schwer und drückend. Das alles ähnelte zu sehr dem, was Maev passiert war. Dann fiel ihr auf, dass Monro kurzatmig wurde und hinter ihr zurückfiel. Er stolperte und wäre beinah gefallen. Aine blieb stehen, aber er winkte ab.
„Geh weiter.“ Schwach hob er den Arm und wies vor sich. „An der ersten Gabelung rechts. Edan und die anderen erwarten dich. Ich komme nach.“
Aine nickte und lief weiter. Erbärmlich. Bevor ich gehe, werde ich den Musen eine Nachricht schicken. Die Wachtburg braucht eine neue Führung.
Als sie an die Weggabelung kam, wandte sie sich nach rechts und steigerte ihr Tempo erneut. Dann wäre sie in der dichter werdenden Dunkelheit beinah über Edan gestolpert. Er lag mitten auf dem Weg – allein. Er war ausgeweidet worden, jemand hatte ihm die Kehle herausgerissen.