KAPITEL 6

Das Laptop wurde warm, während Kirk einen Schluck von seiner dritten Tasse Kaffee nahm. Er schaute auf die Uhr und knurrte verärgert. Mooch war ihm zu langsam. Eine Frau mit kurzem Rock und Kunstfellstiefeln jammerte dem Barista etwas vor, weil ihr Latte macchiato zu heiß war. Kirk spähte zu ihr hinüber und murmelte etwas hinsichtlich ihrer Kleiderwahl. Sie schaute ihn groß an, genau wie er es erwartet hatte.

Sein Handy brummte in der Tasche, und Kirk antwortete gewohnt freundlich: »Wurde auch Zeit.«

Mooch schien es nicht zu kümmern, dass er den Detective hatte warten lassen. »Ich könnte hier wirklich ein wenig mehr Respekt verlangen. Das ist nicht so einfach, verstehen Sie!«

»Nun, so lässt du es sicher auch nicht aussehen.« Kirk konnte seine Gefühle nicht besonders gut verstecken. »Also: Was hast du herausgefunden?«

»Sind Sie sicher, dass Sie mit diesem Typen zu tun haben wollen? Er hat mehr Dreck am Stecken als ein Schwein im Schlamm.«

»Gib mir einfach die Informationen.«

»Okay. Dieser General ist, was man wohl, äh, einen Mafiaboss nennt.«

»Die russische Mafia? Ich dachte gar nicht, dass es sie noch gibt.«

»Er hat eine Schwester namens Natascha. Sie ist so was wie seine Vertreterin. Sie kümmert sich um die Angelegenheiten in Russland, und er scheint eine Menge Sachen in den Staaten und im Nahen Osten zu machen.«

»Was für Sachen? Drogen? Waffen?«

»Ja, und noch etwas, aber ich kann nichts weiter darüber herausfinden, außer dass es in Arbeit ist. Auf jeden Fall etwas Großes. Der Nettowert liegt in Milliardenhöhe.«

»Milliarden? Mit ›-arden‹ am Ende?« Kirk pfiff durch die Zähne und nahm noch einen Schluck Kaffee.

»Ja, der Typ hat richtig viel Kohle, und hören Sie sich das hier an: Er ist niemals von jemandem fotografiert oder identifiziert worden, natürlich mit Ausnahme seiner Schwester.«

»Ich habe ihn gesehen, doch ich bin schon tot, also was soll’s.«

»Das stimmt. Er hat etwas auf seiner verschlüsselten Website, die Sie mir gegeben haben, das mir interessant vorkam. Ein Codename – Red Dog. Also bin ich die Daten durchgegangen. Die Spur führt zurück nach Russland in Karjanskis Heimatstadt. Er war damals ungefähr zwölf Jahre alt.«

»Was war mit diesem Typen mit zwölf Jahren los, dass er einen Codenamen bekommen hat?«

»Na ja, es gibt Erzählungen, dass dieser Red Dog nachts herumstrich und Tiere getötet hat. Dieses Dog-Vieh hat alles ermordet und in Stücke zerrissen, was es kriegen konnte, und hat so zehn Jahre lang die Stadt terrorisiert. Das ist so eine Art Legende.«

»Hm, das könnte eine Art Fantasie von ihm sein, zu töten wie ein Tier.« Kirk öffnete die Mail, die Mooch ihm gesandt hatte, und schaute sich die Informationen über Red Dog an.

»Und wie Sie es wollten, habe ich auch alle Russlandflüge in dieser Woche gecheckt. Raten Sie mal, was ich gefunden habe.«

»Sag’s mir.«

»Ein Mann hat für morgen einen Flug nach Tadschikistan gebucht, und sein Name ist Taigan Tian Shan.«

»Und ist das in irgendeiner Weise von Bedeutung?«

»Das ist der Name einer russischen Hunderasse. Hey, Mann, nicht nachlassen.«

»Sehr gut, Mooch. Ich schätze, damit hast du dir noch einen weiteren Tag in Freiheit verdient.«

»Haha, sehr witzig. Nächstes Mal ist meine Gebühr aber höher.«

Kirk legte schnell auf, bevor Mooch noch irgendwas sagen konnte, um ihn in Fahrt zu bringen.

Am nächsten Morgen ging ein Flug nach Tadschikistan. Kirk plante, dabei zu sein.

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Jillian Porter saß da mit ihrem Notizblock und einem ernsten Gesichtsausdruck. Alles an ihr war professionell und wohlgeordnet. Sie war definitiv von der WJA, und ich hatte das Gefühl, dass sie selbst schon das getan hatte, was ich für die Agentur tat. Jetzt aber war sie das, was ich »Seelenklempner« nennen würde. Ich hatte nicht viel mit dieser Sorte Arzt zu schaffen, und in den meisten Fällen würde ich sogar sagen, dass es reine Verschwendung eines guten Collegeabschlusses ist, doch Jillian belehrte mich eines Besseren. Sie hatte etwas Beruhigendes an sich. Solomon schrieb vor, dass man mindestens einmal im Monat zu ihr ging.

Ich hatte das übliche Problem, was jeder erlebt, der beruflich Menschen tötet. Alles schien sich in meinem Kopf zu vermischen. Ich wusste zwar, dass die Menschen, die ich getötet hatte, verdienten zu sterben, da sie sonst weiter morden und unschuldigen Menschen Schaden zufügen würden, aber warum musste ich es tun?

»Mark, erzählen Sie mir von Ihrer letzten Mission.«

Ich dachte über ihre Frage nach, und etwas störte mich daran, ich hätte jedoch nicht genau sagen können, was. »Vor ein paar Jahren habe ich drei Männer getötet, die einen Sprengstoffanschlag auf einen Supermarkt planten. Danach war ich entsetzt und fühlte mich so schuldig, dass ich mich fragte, ob ich überhaupt das Richtige getan hatte. Und jetzt kommt es mir so vor, als würde ich ein anderer Mensch werden.«

Ich hatte mich geweigert, mich auf diese dumme Couch zu legen, also lehnte ich mich auf dem Stuhl zurück, den sie mir auf der anderen Seite ihres Schreibtischs bereitgestellt hatte. Ich schaute hoch zu der indirekten Beleuchtung und den unzähligen Büchern in den Regalen.

Jillian klopfte mit dem Stift auf ihren Notizblock und sah mich besorgt an.

Ich fuhr mit meinem Gedankengang fort. »Es lief wie geplant. Ich versuche weiter, mich an den Grund zu erinnern, weshalb ich tue, was ich tue. Ich habe diese Angst, dass ich eines Tages überhaupt nichts mehr empfinde.«

»Also möchten Sie etwas fühlen? Aber was möchten Sie fühlen?«

Jillian hatte das tiefe Geheimnis entdeckt, das ich womöglich selbst nicht gekannt hatte. Ich wollte die Schuld fühlen. Ich wollte es, damit ich mich menschlicher fühle oder mich dazu zwingen kann, meine Seele zu behalten. Ich musste die Schuld fühlen.

»Ich möchte nicht, dass es dabei um Rache geht, denn es ist so viel mehr als das. Ich gehe jeden einzelnen Fall genau durch, bevor ich eine Mission annehme. Manchmal stelle ich Bilder der Opfer vor mich, damit ich ihren Schmerz fühlen kann. Ich mag das Töten nicht, doch wenn ich es mache, dann fühlt es sich richtig an.«

Ich konnte meine eigene Stimme hören, und es klang, als wäre ich auf dem Weg, ein Mörder zu werden – oder noch Schlimmeres. Das Töten sollte mir nicht gefallen. Und mir auch nicht so natürlich vorkommen. Ich sollte mich dazu zwingen müssen, es zu tun. »Bin ich verrückt?«

»Nein, Sie durchlaufen einen natürlichen Prozess. Es ist nicht normal, jemandem das Leben zu nehmen und nichts dabei zu empfinden. Der Geist der Hilflosen und derjenigen ohne Stimme ist mit Ihnen.«

Jillian nahm ihre Brille ab und beugte sich beim Weitersprechen vor.

»Mark, Sie müssen sich wirklich überlegen, warum Sie hier sind, und das ›Warum‹ Ihres Lebens finden. Da draußen haben Sie nicht die Zeit zu entscheiden, wie Sie reagieren werden. Sie müssen das hier und jetzt feststellen.«

Ihre Worte trafen mich mitten in die Magengrube. Sie hatte natürlich recht, und ich musste in Ruhe nachdenken.

Was ich ebenfalls entscheiden musste, war die Frage, was ich K erzählen wollte. Ich hasste es, Dinge vor ihr verbergen zu müssen, Geheimnisse zu haben. Und selbst wenn sie sagte, dass sie mir vertraue, hatte ich das Gefühl, dass ich ihr die Wahrheit schuldig war. Doch meine Sitzung war vorbei, weshalb ich diesen Gewissenskonflikt für einen anderen Tag aufheben musste.

Ich bedankte mich bei Jillian für ihre Zeit und suchte nach Big B. Ich wollte erfahren, ob er etwas über den Magier gehört hatte und ob die Mission den Effekt hatte, den wir uns alle erhofften. Dann wollte ich mir wirklich etwas Zeit nehmen, um darüber nachzudenken, was Jillian erwähnt hatte. Doch leider war das für mich nicht vorgesehen.

Ich fand Big B am Schießstand, wo er nach seiner Übungsstunde das Gewehr reinigte. »Hey, Mark. Das hast du gut gemacht mit dem Magier. Der Kampf zwischen den zwei Familien hat gerade begonnen, genau wie wir es erwartet haben«, sagte Big B.

»Gut. Dann werden sie sich jetzt miteinander beschäftigen und sich nicht mehr so viel auf den Straßen herumtreiben. Du siehst übrigens gut aus. Hast du abgenommen?« Ich grinste, als Big B loslachte, dass seine breite Brust dröhnte.

»Na ja, vielleicht ein paar Pfund.« Er war ein Hüne von einem Mann, dabei so sanft wie ein Kätzchen.

Ich ging zu meinem kuschligen Büro, das hinten im fünften Stock versteckt lag. Das WJA-Hauptquartier befand sich mitten in New York City, im Merc-Gebäude. Sie hatten eine Zeitung namens Global Adviser, die über globale Erderwärmung und andere Umwelteinflüsse berichtete, die die Welt erlebte. Die Zeitung war eine Tarnung, damit man Menschen befragen konnte und an Orte gelangte, die sonst nicht erreichbar waren. Umweltschutz war im Augenblick ein beliebtes Thema, und die WJA wusste das voll auszunutzen.

Das andere Standbein der Agentur war das Wachstumsfondsprogramm. Initiiert von der WJA, erhielten Länder mit wenig oder kaum ausgeprägtem Bildungssystem Schulen und Krankenhäuser. Das bot der WJA einen guten Ausgangspunkt für ihre Operationen, ohne groß auf sich aufmerksam zu machen.

Jeder Agent hatte einen offiziellen Job in der Nachrichtenabteilung. Meiner war in der Statistik. Daher war mein Büro voller Aktenschränke und meine Mailbox immer voll mit neuen Daten. Ich nahm mir die drei Ordner, die sich angesammelt hatten, während ich weg war, und ließ mich von der Sekretärin auf den neuesten Stand bringen.

Ich versuchte, den Fall mit dem Magier aus dem Kopf zu bekommen. Es war vorbei, und jetzt konnte ich mich entspannen. Entspann dich! Es fiel mir schwer.

Die Tür zu meinem Büro war verschlossen, und der Schlüssel ging leicht ins Schloss, doch etwas ließ mich auf halbem Weg innehalten. Meine Sinne gingen los wie eine Alarmanlage. Ich schaute den Gang hinunter und noch einmal in die andere Richtung hin zum Lift. Etwas hatte ich frühzeitig bei diesem Job gelernt: meinen Instinkten zu vertrauen. Ich zog die Pistole aus dem Holster und trat ein.

Leer.

Ich hielt Ordnung in meinem Büro, alles hatte seinen Platz auf dem Schreibtisch. Unordnung war bei meiner Arbeit nicht ratsam. Ich überblickte den Raum, dann sah ich es: Eine Zeitung lag auf dem Schreibtisch, geöffnet auf der zweiten Seite.

Die Titelzeile des Berichts sprang mich an:

 

WER TÖTET DIE MAFIA?

 

Der Bericht war nur ein paar Zeilen lang. Er begann damit, dass ein Mitglied der russischen Mafia tot in einem Hotelzimmer aufgefunden worden war. Er war mit einer Reihe von Morden in der Region um Los Angeles in Verbindung gebracht worden. Der Tod des Magiers wurde erwähnt sowie ein paar weitere Morde, die sich unbemerkt über das Land verteilt ereignet hatten.

Ich blätterte zurück zur ersten Seite und sah, dass es der Global Adviser war, unsere eigene Zeitung, und dass sie vor zwei Tagen erschienen war. Jemand war in meinem Büro gewesen, in meinem Gebäude! Wie war die Person oder die Personen hereingekommen?

Ich nahm die Zeitung und eilte den Flur entlang.

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Das Flugzeug landete mit einem Hüpfer, und durch das ruckartige Bremsen wurden alle Passagiere nach vorn aus ihren Sitzen geschleudert, während die 777 allmählich ausrollte. Das Ziel des Flugs war Duschanbe in Tadschikistan mit einem halbstündigen Zwischenstopp in New York.

Taras Karjanski hatte extra diesen Flug gewählt. Er erhob sich von seinem Sitz und ging auf die Toilette am Ende des Ganges. Dort grinste er sein Spiegelbild an. Er hatte lange Haare und einen ungepflegten Bart, dazu buschige Augenbrauen. Er wirkte wie ein bekiffter Punkrocker, der niemals groß geworden war. Seine Tarnung war perfekt.

Natürlich war sie perfekt. Hätte er etwas anderes gelten lassen? Wohin gehst du? Was denkst du, dass du damit erreichst? In seinem Kopf herrschte ein Durcheinander von widerstreitenden Stimmen. Er stopfte die Verkleidung in den Mülleimer und bedeckte sie mit Papierhandtüchern. Dann zog er den Mantel aus und steckte ihn in einen Schrank unter dem kleinen Waschbecken. Er trug ein Wendehemd, und als er fertig war, sah er wie ein Manager aus, der auf dem Weg zu einem wichtigem Meeting ist. In seinem braunen Lederkoffer befand sich sein aktualisierter Reisepass, und nach wenigen Sekunden stieg er zusammen mit den anderen Passagieren aus dem Flugzeug. Er war eine vollkommen andere Person.

Sein Gepäck flog weiter nach Duschanbe, genau wie sein Verfolger, der im nächsten Flieger saß. Detective Weston hatte zwar einen scharfen Verstand, doch der war nichts im Vergleich zu dem von Taras. In ein paar Tagen würde man sich auch um Detective Weston kümmern.