KAPITEL ZWANZIG

DURCHDRINGENDE STRAHLEN

Auf Abes Dachboden lernte ich die Kathodenstrahlen kennen. Er hatte eine sehr leistungsfähige Vakuumpumpe und eine Induktionsspule - einen Zylinder von gut einem halben Meter Länge, der mit vielen Kilometern Kupferdraht dicht umwickelt und auf einen Mahagonifuß montiert war. Über der Spule befanden sich zwei große bewegliche Messingelektroden. Wenn man die Spule einschaltete, wurde zwischen diesen beiden ein enormer Funken erzeugt, ein Miniaturblitz wie aus Frankensteins Labor. Onkel vergrößerte den Abstand zwischen den Elektroden so weit, dass sie keine Funken mehr bildeten, und schloss sie an eine Vakuumröhre von einem Meter Länge an. Als er den Druck in der elektrisch aufgeladenen Röhre verringerte, zeigte sich in ihrem Inneren eine Reihe außergewöhnlicher Erscheinungen: zunächst ein flackerndes Licht mit roten Streifen, eine Art Miniaturnordlicht, dann eine strahlend helle Lichtsäule, die die ganze Röhre füllte. Bei einer weiteren Reduktion des Drucks zerfiel die Säule in Lichtscheiben, durch dunkle Zwischenräume getrennt. Schließlich, bei einer zehntausendstel Atmosphäre, fiel im Inneren der Röhre wieder alles ins Dunkel, dafür begann ihr Ende hell zu fluoreszieren. Die Röhre sei nun, sagte Onkel, mit Kathodenstrahlen gefüllt, kleinen Teilchen, die von der Kathode mit einem Zehntel der Lichtgeschwindigkeit abgeschossen würden und die so energiereich seien, dass sie, von einer tellerförmigen Kathode gebündelt, ein Stück Platinfolie auf Rotglut erhitzen könnten. Ich hatte ein bisschen Angst vor diesen Kathodenstrahlen (wie als Kind vor den ultravioletten Strahlen in der Praxis), denn sie waren unsichtbar und wirksam zugleich. Ich fragte mich, ob sie im Halbdunkel des Dachbodens aus der Röhre lecken und uns treffen könnten.

Kathodenstrahlen, so erläuterte mir Onkel Abe, könnten in gewöhnlicher Luft nur fünf bis sieben Zentimeter zurücklegen; es gebe jedoch eine andere Art von Strahlung, die Wilhelm Röntgen 1895 bei Experimenten mit einer Kathodenstrahlröhre entdeckt habe. Röntgen hatte die Röhre mit einem Zylinder aus schwarzer Pappe abgedeckt, damit keine Kathodenstrahlen hinausgelangen konnten, und doch konnte er voller Staunen beobachten, dass ein Leuchtschirm, der mit einem fluoreszierenden Stoff bestrichen war, bei jeder Entladung der Röhre hell aufblitzte, obwohl die halbe Länge des Raums dazwischenlag.

Röntgen stellte kurz entschlossen seine anderen Forschungsprogramme zurück und widmete sich ganz der Erforschung dieses vollkommen unerwarteten und fast unglaublichen Phänomens. Mehrfach wiederholte er das Experiment, um sich davon zu überzeugen, dass der Effekt keine Täuschung war. (Seiner Frau gegenüber äußerte er, wenn er anderen nicht mit dem überzeugendsten Beweis komme, würde es heißen, «Röntgen ist verrückt geworden».) Während der nächsten sechs Wochen untersuchte er die Eigenschaften dieser außerordentlich durchdringenden neuen Strahlen und stellte fest, dass sie im Gegensatz zu sichtbarem Licht offenbar nicht gebrochen oder gebeugt werden konnten. Er testete ihre Fähigkeit, alle Arten von festen Körpern zu durchdringen, und fand heraus, dass sie bis zu einem gewissen Maße durch die meisten gewöhnlichen Stoffe gehen und immer noch einen Fluoreszenzschirm aktivieren konnten. Als Röntgen die Hand vor den Fluoreszenzschirm hielt, sah er zu seinem Erstaunen die geisterhafte Silhouette der eigenen Knochen. Auf ähnliche Weise wurde eine Reihe Metallgewichte in ihrer Holzkiste sichtbar - Holz und Fleisch ließen sich für die Strahlen überhaupt leichter durchdringen als Metall oder Knochen. Auch auf fotografische Platten wirkten die Strahlen ein, wie er feststellte. So konnte er in seinem ersten Artikel Fotografien veröffentlichen, die mit X-Strahlen - so nannte er sie - aufgenommen worden waren, darunter auch ein Radiogramm der Hand seiner Frau mit dem Ehering lose auf einem Skelettfinger.

Am 1. Januar 1896 veröffentlichte Röntgen seine Ergebnisse und ersten Radiogramme in einer kleinen wissenschaftlichen Zeitschrift. Innerhalb weniger Tage griffen die großen Zeitungen der Welt die Geschichte auf. Die sensationelle Wirkung seiner Entdeckung erschreckte den schüchternen Röntgen. Nach diesem Artikel und einem Vortrag im gleichen Monat kam er nie wieder auf die X- oder Röntgenstrahlen zu sprechen, sondern konzentrierte sich erneut auf seine verschiedenen Forschungsvorhaben aus den Jahren vor 1896. (Selbst als er 1901 den ersten Nobelpreis für Physik für die Entdeckung der Röntgenstrahlen erhielt, lehnte er es ab, eine Nobelpreisrede zu halten.)

Doch die Nützlichkeit der neuen Technik zeigte sich rasch, und bald wurden auf der ganzen Welt Röntgengeräte für medizinische Zwecke in Gebrauch genommen - um Knochenbrüche, Fremdkörper, Gallensteine und Ähnliches aufzudecken. Bis Ende 1896 waren mehr als tausend wissenschaftliche Artikel über X-Strahlen erschienen. Tatsächlich beschäftigten die Röntgenstrahlen nicht nur Medizin und Wissenschaft, sondern auch die Phantasie der Öffentlichkeit. Für ein oder zwei Dollar konnte man die Röntgenaufnahme eines neun Wochen alten Säuglings erstehen, die «in wunderbarer Genauigkeit die Knochen des Skeletts, das Stadium der Knochenbildung, die Lage von Leber, Magen, Herz etc. zeigt».

Röntgenstrahlen, so meinte man, hätten die Fähigkeit, in die privatesten, verborgensten und geheimsten Lebensbereiche der Menschen einzudringen. Schizophrene waren davon überzeugt, ihre Gedanken würden von Röntgenstrahlen gelesen oder beeinflusst, andere hatten das Gefühl, nichts sei mehr sicher. «Man kann die Knochen anderer Menschen mit bloßem Auge sehen», beklagte ein Leitartikler, «selbst zwanzig Zentimeter dickes Holz ist kein Hindernis für den Röntgenblick. Wie empörend und schamlos das ist, bedarf keiner Erwähnung.» Man kaufte bleigefüttertes Unterzeug, um den Intimbereich vor den alles durchschauenden Strahlen zu schützen. In der Zeitschrift Photography erschien ein Spottlied, dessen Schluss lautete:

I hear they'll gaze
through cloak and gown - and even stays,
these naughty, naughty,
Roentgen rays.[57]

Mein Onkel Yitzchak, der meinen Vater in den Monaten der großen Grippeepidemie unterstützt hatte, war kurz nach dem Ersten Weltkrieg mit der Radiologie vertraut geworden. Im Laufe der Zeit habe er, wie mein Vater mir erzählte, geradezu unheimliche Fähigkeiten in der Röntgendiagnose entwickelt. Fast unbewusst erfasse er die geringsten Hinweise auf eine krankhafte Veränderung.

In seiner Praxis, die ich ein paar Mal aufsuchte, zeigte mir Onkel Yitzchak einige seiner Geräte und ihre Verwendung. Bei seinem Apparat war die Röntgenröhre nicht mehr sichtbar wie bei den frühen Geräten, sondern in einem vorspringenden schwarzen Metallgehäuse untergebracht - es sah gefährlich aus, wie der Kopf eines riesigen Raubvogels. Onkel Yitzchak nahm mich mit in die Dunkelkammer, wo ich zusehen durfte, wie er ein gerade aufgenommenes Röntgenbild entwickelte. Schwach und eigenartig schön sah ich in dem roten Licht fast durchscheinend die Umrisse eines Oberschenkelknochens auf dem großen Blattfilm. Onkel zeigte mir eine Mikrofraktur, die sich nur als winzige graue Linie erkennen ließ.

«Du hast schon die Durchleuchtungsgeräte in Schuhgeschäften gesehen», sagte Onkel Yitzchak, «die dir zeigen, wie sich deine Fußknochen bewegen.[58] Wir können auch spezielle Kontrastmittel verwenden, um einige der anderen Körpergewebe sichtbar zu machen - es ist wunderbar!»

Onkel Yitzchak fragte mich, ob ich es beobachten wolle. «Du erinnerst dich an Mr. Spiegelman, den Mechaniker? Dein Vater vermutet bei ihm ein Magengeschwür und hat ihn hergeschickt, um es überprüfen zu lassen. Er bekommt ‹Bariumbrei› zu essen.

Wir verwenden Bariumsulfat», fuhr Onkel fort, während er eine zähe weiße Paste anrührte, «weil Bariumionen schwer und für Röntgenstrahlen fast undurchsichtig sind.» Ich fand diese Bemerkung sehr interessant und fragte mich, ob man nicht stattdessen schwerere Ionen verwenden könnte. Was war mit einem Blei-, Quecksilber- oder Thalliumbrei? Sie hatten alle außerordentlich schwere Ionen, obwohl es natürlich tödliche Mahlzeiten gewesen wären. Lustig wäre sicherlich ein Gold- oder Platinbrei, aber viel zu teuer. «Wie wäre es mit einem Wolframbrei?», schlug ich vor. «Wolframatome sind schwerer als Barium, und Wolfram ist weder giftig noch teuer.»

Wir gingen ins Röntgenzimmer, und Onkel stellte mich Mr. Spiegelman vor - er kannte mich von unseren Hausbesuchen am Sonntagvormittag. «Das ist Dr. Sacks' Jüngster, Oliver - er möchte Wissenschaftler werden!» Onkel stellte Mr. Spiegelman zwischen das Röntgengerät und einen Fluoreszenzschirm und gab ihm den Bariumbrei zu essen. Mr. Spiegelman nahm einen Löffel der Paste, zog eine Grimasse und schluckte das Zeug hinunter, während wir den Schirm beobachteten. Das Barium wanderte den Schlund hinab und gelangte in die Speiseröhre. Ich konnte sehen, wie sie sich langsam aufblähte und krümmte, während sie den Bariumbissen in den Magen schob. Schwächer, als geisterhaften Hintergrund, konnte ich sehen, wie sich die Lunge mit jedem Atemzug weitete und zusammenzog. Am beunruhigendsten aber war eine Art pulsierender Beutel - das, sagte Onkel und zeigte darauf, sei das Herz.

Ich hatte mich schon manchmal gefragt, wie es wohl wäre, andere Sinne zu haben. Meine Mutter hatte mir erzählt, Fledermäuse konnten Ultraschall einsetzen, Insekten Ultraviolett sehen und Klapperschlangen Infrarot wahrnehmen. Doch jetzt, wo ich beobachtete, wie Mr. Spiegelmans Innereien dem «Röntgenauge» preisgegeben waren, war ich froh, keinen Röntgenblick zu haben und von der Natur nur einen kleinen Ausschnitt des Spektrums gezeigt zu bekommen.

Wie Onkel Dave, so bewies auch Onkel Yitzchak großes Interesse an den theoretischen Grundlagen seines Gegenstands und an dessen historischer Entwicklung. Wie Onkel Dave hatte er ein kleines «Museum», nur dass es alte Röntgen- und Kathodenstrahlröhren enthielt, beginnend mit den zerbrechlichen, dreizackigen Exemplaren, die in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts verwendet wurden. Die ersten Röhren, so Yitzchak, hatten keinen Schutz vor Störstrahlung geboten, denn damals sei man sich über die Strahlengefahren noch nicht recht im Klaren gewesen. Dabei hätten die Röntgenstrahlen eigentlich von Anfang an gezeigt, wie gefährlich sie seien: Wenige Monate nach ihrer Entdeckung seien die ersten Hautverbrennungen aufgetreten, und Lord Lister selbst, der Begründer der Antisepsis, habe bereits 1896 vor ihnen gewarnt - eine Warnung, die allerdings keine Beherzigung fand.[59]

Es zeigte sich von Anfang an, dass Röntgenstrahlen sehr energiereich waren und überall dort Wärme erzeugten, wo sie absorbiert wurden. Doch trotz ihres erheblichen Durchdringungsvermögens blieb ihre Reichweite ziemlich begrenzt. Darin verhielt es sich mit den drahtlosen Wellen, den Funkwellen, genau umgekehrt, die, wenn sie richtig gesendet wurden, mit Lichtgeschwindigkeit über den Ärmelkanal springen konnten. Auch die Funkwellen trugen Energie. Ich fragte mich, ob diese seltsamen, manchmal gefährlichen Verwandten des sichtbaren Lichts H. G. Wells die Idee zu den unheimlichen Wärmestrahlen eingegeben hatten, die die Marsleute im Krieg der Welten verwendeten, denn das Buch war zwei Jahre nach Röntgens Entdeckung erschienen. Die Wärmestrahlung der Marsleute, schrieb Wells, sei ein unsichtbarer Feuerstrahl, ein unsichtbarer, aber glühend heißer Finger, ein unsichtbares und unerbittliches Feuerschwert. Von einem Parabolspiegel projiziert, erweichte sie Eisen, brachte Glas zum Schmelzen, machte Blei flüssig wie Wasser und ließ Wasser seinerseits explosionsartig verdampfen. Und die Wärmestrahlung sei über das Land gefahren, so Wells, schnell wie das Licht.

Während die Röntgenstrahlen begierig Aufnahme und zahllose praktische Anwendungen fanden und möglicherweise ebenso viele phantastische Vorstellungen auslösten, brachten sie Henri Becquerel auf ganz andere Gedanken. Becquerel hatte sich breits auf vielen Gebieten der optischen Forschung einen Namen gemacht und kam aus einer Familie, in der das Interesse an der Lumineszenz seit sechzig Jahren eine zentrale Rolle spielte.[60] Fasziniert vernahm er Anfang 1896 die erste Kunde von den neuen Röntgenstrahlen und von dem Umstand, dass sie offenbar nicht aus der Kathode selbst ausstrahlten, sondern von dem fluoreszierenden Fleck, an dem die Kathodenstrahlen das Ende der Vakuumröhre trafen. Er fragte sich, ob die unsichtbaren Röntgenstrahlen nicht eine besondere Form von Energie seien, die mit der sichtbaren Phosphoreszenz einhergehe - und ob die Emission von Röntgenstrahlen tatsächlich eine Begleiterscheinung aller Phosphoreszenz sei.

Da keine Stoffe so strahlend fluoreszierten wie Uransalze, setzte Becquerel die Probe eines Uransalzes, Kaliumuranylsulfat, einige Stunden der Sonne aus und legte sie anschließend auf eine in schwarzes Papier eingewickelte fotografische Platte. Außer sich vor Freude stellte er fest, dass die Platte vom Uransalz durch das Papier hindurch geschwärzt worden war und auch das «Radiogramm» einer Münze sich leicht herstellen ließ.

Becquerel wollte seine Experimente wiederholen, er konnte das Uransalz jedoch nicht der Sonne aussetzen (man befand sich mitten im Pariser Winter und der Himmel blieb bedeckt), deshalb blieb es eine Woche lang unberührt in der Schublade liegen, und zwar auf der fotografischen Platte, die in schwarzes Papier eingewickelt war. Dazwischen lag nur ein kleines Kupferkreuz. Doch aus irgendeinem Grund - Zufall oder Vorahnung? - entwickelte er die fotografische Platte trotzdem. Sie war so stark geschwärzt, als wäre das Uran dem Sonnenlicht ausgesetzt gewesen, sogar noch mehr, und zeigte die scharf umrissene Silhouette des Kupferkreuzes.

Becquerel hatte eine neue und noch viel geheimnisvollere Strahlenenergie als die Röntgenstrahlen entdeckt - die Energie eines Uransalzes, die eine fotografische Platte eintrüben konnte, und zwar offenbar ohne Licht, ohne Röntgenstrahlen oder irgendeiner anderen äußeren Energiequelle ausgesetzt zu sein. Becquerel sei, so schrieb sein Sohn später, über dieses Ergebnis «verblüfft» gewesen («Henri Becquerel fut stupéfait») wie Röntgen über seine X-Strahlen - aber dann habe er, ebenfalls wie Röntgen, begonnen, das «Unmögliche» zu erforschen. Er stellte fest, die Strahlen verloren selbst dann nicht an Stärke, wenn das Uransalz zwei Monate lang in der Schublade lag, und sie hatten nicht nur die Fähigkeit, fotografische Platten zu verdunkeln, sondern auch die Luft zu ionisieren und leitfähig zu machen, sodass elektrisch geladene Körper in der Nachbarschaft ihre Ladung verloren. Auf diese Weise ließ sich mit Hilfe eines Elektroskops die Stärke der Becquerel-Strahlen sehr genau messen.

Als Becquerel diese Experimente mit anderen Stoffen durchführte, stellte er fest, dass nicht nur Uran(VI)-Salze, mit denen er die Entdeckung gemacht hatte, über dieses Vermögen verfügten, sondern auch Uran(IV)-Salze, obwohl diese nicht phosphoreszierten oder fluoreszierten. Umgekehrt verfügten Bariumsulfid, Zinksulfid und bestimmte andere fluoreszierende oder phosphoreszierende Stoffe nicht über diese Fähigkeit. Folglich hatten die «Uranstrahlen», wie Becquerel sie jetzt nannte, nichts mit Fluoreszenz oder Phosphoreszenz als solcher zu tun - sondern nur mit dem Element Uran. Wie Röntgenstrahlen besaßen sie eine sehr beträchtliche Fähigkeit, lichtundurchlässige Stoffe zu durchdringen, wurden aber im Gegensatz zu Röntgenstrahlen offenbar spontan emittiert. Was hatte es mit ihnen auf sich? Und wie konnte Uran diese Strahlen über Monate ununterbrochen aussenden, ohne dass ihre Stärke erkennbar abnahm?

Onkel Abe forderte mich auf, Becquerels Entdeckung in meinem Labor zu wiederholen. Dazu gab er mir einen Klumpen Pechblende, die reich an Uranoxid war. Ich wickelte den schweren Klumpen in Bleifolie und trug ihn in meiner Schulmappe nach Hause. Die Pechblende war fein säuberlich in der Mitte durchgeschnitten, damit man ihre Struktur sah. Mit der Schnittfläche legte ich sie auf einen Film - von Onkel Yitzchak hatte ich ein Blatt Spezialfilm für Röntgenaufnahmen erbettelt und ihn dann in dunkles Papier eingeschlagen. Drei Tage lang ließ ich die Pechblende auf dem eingewickelten Film liegen, dann brachte ich ihn zu meinem Onkel. Ich war völlig außer mir vor Aufregung, als Onkel Yitzchak ihn in meinem Beisein entwickelte, denn jetzt konnte man die radioaktiven Strahlen des Minerals leuchten sehen - Strahlung und Energie, deren Existenz man ohne den Film nie vermutet hätte.

Ich fand dies doppelt faszinierend, weil ich die Fotografie inzwischen zu meinem Hobby gemacht hatte und hier das erste Foto besaß, das von unsichtbaren Strahlen belichtet worden war! Ich hatte gelesen, auch Thorium sei radioaktiv. Da ich wusste, dass Glühstrümpfe Thorium enthielten, löste ich einen der feinen, mit Thoriumdioxid imprägnierten Glühstrümpfe von seiner Befestigung und breitete ihn über ein weiteres Blatt Röntgenfilm. Dieses Mal musste ich länger warten, aber nach zwei Wochen hatte ich ein schönes «Autoradiogramm», auf dem die Thoriumstrahlen die feine Struktur des Glühstrumpfs herausgearbeitet hatten.

Obwohl man Uran seit den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts kannte, dauerte es mehr als ein Jahrhundert, bis man die Radioaktivität entdeckte. Vielleicht wäre man schon im 18. Jahrhundert auf sie gestoßen, wenn jemand zufällig ein Stück Pechblende dicht neben eine geladene Leidener Flasche oder ein Elektroskop gelegt hätte. Man hätte sie auch Mitte des 19. Jahrhunderts entdecken können, wenn jemand ein Stück Pechblende oder ein anderes Uranerz in der Nachbarschaft einer fotografischen Platte aufbewahrt hätte. (Dies war tatsächlich einem Chemiker passiert, der in Unkenntnis über das wirkliche Geschehen die Platten mit einem bösen Brief an den Hersteller zurückgeschickt und behauptet hatte, sie seien «verdorben».) Doch hätte man die Radioaktivität tatsächlich zu einem früheren Zeitpunkt entdeckt, so hätte man sie einfach als eine Merkwürdigkeit, eine Laune der Natur angesehen und ihre enorme Bedeutung gar nicht geahnt. Ihre Entdeckung wäre zu früh erfolgt, denn es hätte keinen Wissenszusammenhang, keinen Kontext gegeben, der ihr Bedeutung hätte verleihen können. Als die Radioaktivität 1896 endlich entdeckt wurde, fiel die Reaktion zunächst sehr zurückhaltend aus, denn selbst damals vermochte man ihre Bedeutung kaum zu begreifen. Im Gegensatz zu Röntgens Entdeckung der «X-Strahlen», die sofort die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit fesselten, blieb Becquerels Entdeckung der Uranstrahlen praktisch unbeachtet.

KAPITEL EINUNDZWANZIG

MADAME CURIES ELEMENT

Meine Mutter arbeitete an vielen Krankenhäusern, unter anderem am Madame Curie Hospital in Hampstead, einer auf Radiumbehandlungen und Radiotherapie spezialisierten Klinik. Als Kind wusste ich nicht so recht, was Radium eigentlich war, begriff aber, dass es Heilkräfte besaß und zur Behandlung verschiedener Krankheiten diente. Meine Mutter sagte, das Krankenhaus besitze eine «Radiumbombe». Ich hatte Bilder von Bomben gesehen und in meiner Kinderenzyklopädie darüber gelesen, daher stellte ich mir vor, diese Radiumbombe sei ein großes geflügeltes Gebilde, das jeden Augenblick explodieren konnte. Weniger beunruhigend waren die «Radonhohlnadeln», die den Patienten eingesetzt wurden - kleine, mit einem geheimnisvollen Gas gefüllte Goldnadeln. Ein- oder zweimal brachte sie eine aufgebrauchte Nadel mit nach Hause. Ich wusste, dass meine Mutter Marie Curie außerordentlich verehrte - sie war ihr einmal begegnet und erzählte mir oft, noch als ich ganz klein war, wie die Curies das Radium entdeckt und mit welchen Schwierigkeiten sie dabei zu kämpfen gehabt hatten, weil sie viele, viele Tonnen Mineralerz bearbeiten mussten, um eine winzige Menge der Substanz zu gewinnen.

Eve Curies Biographie ihrer Mutter - die meine Mutter mir im Alter von zehn schenkte - war das erste Porträt einer Wissenschaftlerin (oder eines Wissenschaftlers), das ich las, und es beeindruckte mich tief.[61] Es war kein trockener Bericht über die Leistungen eines Forscherlebens, sondern voller beschwörender, einprägsamer Bilder - Marie Curie, die ihre Hände in Säcken voller Pechblendenrückstände vergrub, noch immer mit Kiefernnadeln vom Bergwerk in Joachimsthal vermischt; die Säuredämpfe einatmete, während sie zwischen riesigen rauchenden Bottichen und Tiegeln stand und mit einer Eisenstange darin rührte, die fast so lang war wie sie selber; die die gewaltige teerige Masse in farblose Lösungen verwandelte, welche immer radioaktiver wurden; die bei dem Versuch, diese Lösungen immer weiter zu konzentrieren, damit rechnen musste, dass in ihrem zugigen Schuppen Staub und Sand in die Behälter fielen und die endlose Arbeit zunichte machten. (Diese Bilder wurden durch den Film Madame Curie verstärkt, den ich bald nach der Lektüre des Buches gesehen hatte.)

Nahm der Rest der wissenschaftlichen Gemeinschaft die Nachricht von Becquerels Strahlen nicht zur Kenntnis, fühlten sich die Curies wie elektrisiert: Hier war ein Phänomen ohne Beispiel und Parallele, die Offenbarung einer neuen, rätselhaften Energiequelle, und trotzdem schien es niemanden zu interessieren. Sie fragten sich sogleich, ob es neben Uran noch andere Stoffe gebe, die ähnliche Strahlen emittierten, und begannen eine systematische Untersuchung aller Stoffe, deren sie habhaft werden konnten (das heißt, sie beschränkten sich nicht wie Becquerel auf fluoreszierende Substanzen). Unter anderem testeten sie Proben aller siebzig bekannten Elemente in der einen oder anderen Form. Sie fanden nur noch eine weitere Substanz, die neben dem Uran Becquerels Strahlen emittierte, auch ein Element mit sehr hohem Atomgewicht - Thorium. Bei einer Vielzahl von reinen Uran- und Thoriumsalzen stellten sie fest, dass die Stärke der Radioaktivität offenbar lediglich mit der Menge des vorhandenen Urans oder Thoriums zusammenzuhängen schien. Ein Gramm metallisches Uran oder Thorium war also radioaktiver als ein Gramm irgendeiner ihrer Verbindungen.

Doch als sie ihre Untersuchung auf einige der üblichen Mineralien ausdehnten, die Uran und Thorium enthielten, bemerkten sie eine merkwürdige Anomalie: Manche waren aktiver als das Element selbst. Pechblende konnte beispielsweise bis zu viermal so radioaktiv sein wie reines Uran. Bedeutete dies möglicherweise, so fragten sie sich in einer genialen Eingebung, dass dort ein noch unbekanntes Element in kleinen Mengen enthalten war, ein weit radioaktiveres als das Uran selbst?

1897 setzten die Curies zu einer eingehenden Analyse der Pechblende an, wobei sie die vielen darin enthaltenen Elemente in Analysegruppen trennten: Salze der Alkalimetalle, der Erdalkalimetalle, der seltenen Erden - Gruppen, die im Prinzip denen des Periodensystems glichen. Sie wollten sehen, ob das unbekannte radioaktive Element eine chemische Affinität zu irgendeinem von ihnen hatte. Bald stellte sich heraus, dass sich ein Großteil der Radioaktivität durch Ausfallen mit Wismut konzentrieren ließ.

Sie setzten die Konzentration ihres Pechblendenrückstands fort, bis sie im Juli 1898 einen Wismutextrakt herzustellen vermochten, der vierhundertmal radioaktiver war als das Uran selbst. Da sie wussten, dass die Spektroskopie viele tausend Mal genauer sein konnte als die traditionelle chemische Analyse, wandten sie sich an den Spektroskopiker Eugene Demarçay, einen Spezialisten für seltene Erden, um zu sehen, ob er eine spektroskopische Bestätigung ihres neuen Elementes finden könne. Enttäuschenderweise zeigte sich zu diesem Zeitpunkt noch keine neue Spektralsignatur, trotzdem schrieben die Curies:

Wir sind der Meinung, dass die Substanz, die wir aus der Pechblende gewonnen haben, ein noch nicht beschriebenes Metall enthält, das durch seine analytischen Eigenschaften dem Wismut verwandt ist. Wenn das Vorhandensein dieses neuen Metalls sich bestätigen sollte, schlagen wir vor, nach der Herkunft eines von uns es Polonium zu nennen.»

Sie waren außerdem davon überzeugt, dass es noch ein weiteres radioaktives Element zu entdecken gab, weil die Extraktion von Polonium durch Wismut die Radioaktivität der Pechblende nur teilweise erklärte.

Sie hatten keine Eile - von ihrem guten Freund Becquerel abgesehen, schien sich niemand für das Phänomen der Radioaktivität zu interessieren - und genossen erst einmal einen entspannten Sommerurlaub. (Zu diesem Zeitpunkt wussten sie nicht, dass es noch einen anderen eifrigen und aufmerksamen Beobachter der Becquerel-Strahlen gab, den brillanten jungen Neuseeländer Ernest Rutherford, der nach Cambridge gekommen war, um in J. J.Thomsons dortigem Labor zu arbeiten.) Im September setzten die Curies ihre Suche fort und konzentrierten sich jetzt auf das Ausfallen mit Barium - dies schien außerordentlich geeignet zu sein, die verbleibende Radioaktivität aufzufangen, vermutlich weil es eine enge chemische Affinität zu dem zweiten noch unbekannten Element hatte, nach dem sie jetzt forschten. Die Dinge kamen rasch voran, und nach sechs Wochen hatten sie eine Bariumchloridlösung, die frei von Wismut (und wahrscheinlich auch Polonium) und fast tausendmal so radioaktiv war wie Uran. Abermals baten sie Demarçay um Hilfe, und dieses Mal fand er zu ihrer Freude eine Spektrallinie (später sogar mehrere: «zwei schöne rote Banden, eine Linie im Blaugrün und zwei schwache Linien im Violett»), die zu keinem bekannten Element gehörte. Dadurch ermutigt, verkündeten die Curies einige Tage vor dem Jahresende von 1898 die Entdeckung eines zweiten neuen Elements. Sie beschlossen, es Radium zu nennen, und da nur eine Spur von ihm unter das Barium gemischt war, gelangten sie zu dem Schluss, seine Radioaktivität «muss also ungeheuer sein».

Ein neues Element ließ sich leicht postulieren: Im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte es mehr als zweihundert solche Behauptungen gegeben, von denen sich die meisten als Irrtümer herausstellten. Entweder handelte es sich um bereits entdeckte Elemente oder um Mischungen von Elementen. Jetzt hatten die Curies in einem einzigen Jahr die Entdeckung nicht eines, sondern zweier Elemente verkündet, und zwar ausschließlich auf der Grundlage einer erhöhten Radioaktivität und ihres gemeinsamen Auftretens mit Wismut und Barium (und, im Falle des Radiums, einer einzigen neuen Spektrallinie).Trotzdem war keines ihrer neuen Elemente isoliert worden, noch nicht einmal in mikroskopischen Mengen.

Pierre Curie war in erster Linie Physiker und Theoretiker (obwohl er auch im Labor Geschick und Einfallsreichtum bewies und häufig neue, eigenwillige Geräte entwickelte - unter anderem ein Elektrometer und eine sehr genaue Waage, die auf einem neuen piezoelektrischen Prinzip beruhte; beide Geräte wurden anschließend bei den Radioaktivitätsuntersuchungen des Ehepaars verwendet). Ihm genügte das unglaubliche Phänomen der Radioaktivität - es eröffnete ein riesiges neues Forschungsgebiet, einen neuen Kontinent, auf dem zahllose neue Ideen erprobt werden konnten.

Bei Marie lag die Sache anders: Für sie war die physische Realität des Radiums offenbar genauso wichtig wie seine merkwürdigen neuen Fähigkeiten. Sie wollte es sehen, fühlen, chemische Verbindungen eingehen lassen, um sein Atomgewicht und seine Position im Periodensystem herauszufinden.

Bis hierhin war die Arbeit der Curies im Wesentlichen chemischer Natur, das heißt, sie hatten Kalzium, Blei, Silizium, Aluminium, Eisen und ein Dutzend seltener Erden - alle Elemente bis auf Barium - aus der Pechblende entfernt. Nach einem Jahr kam schließlich der Zeitpunkt, wo chemische Methoden allein nicht mehr genügten. Es schien kein chemisches Verfahren zu geben, mit dem sich Radium von Barium trennen ließ, daher begann Marie Curie nun nach einem physikalischen Unterschied zwischen ihren Verbindungen zu suchen. Wahrscheinlich war Radium ein Erdalkalimetall wie Barium und folgte den Trends der Gruppe. Kalziumchlorid war extrem löslich, Strontiumchlorid in geringerem Maße, Bariumchlorid noch weniger - Radiumchlorid würde, so die Vorhersage von Marie Curie, praktisch unlöslich sein. Vielleicht ließ sich dieser Umstand dazu nutzen, um die Chloride von Barium und Radium mit Hilfe der fraktionierten Kristallisation zu trennen. Wenn eine warme Lösung abkühlt, kristallisiert der weniger lösliche Stoff zuerst aus, eine Technik, die bei den seltenen Erden entwickelt wurde, als man versuchte, Elemente zu trennen, die chemisch fast ununterscheidbar waren. Große Geduld musste dafür aufgebracht werden, denn unter Umständen waren Hunderte oder Tausende von Fraktionierungen erforderlich. Dieser mühsame und quälend langsame Prozess verursachte es nun, dass aus den Monaten Jahre wurden.

Die Curies hatten gehofft, sie würden Radium um das Jahr 1900 isolieren, doch von dem Zeitpunkt an, wo sie seine wahrscheinliche Existenz bekannt gaben, bis zur Isolierung eines reinen Radiumsalzes, eines Dezigramms Radiumchlorid - weniger als ein zehnmillionstel Teil des Ausgangsstoffes - vergingen noch fast vier Jahre. Trotz technischer Schwierigkeiten aller Art, trotz der Zweifel und der Skepsis der meisten Kollegen, trotz ihrer eigenen zeitweiligen Mutlosigkeit und Erschöpfung, trotz der (innen unbekannten) schleichenden Wirkung der Radioaktivität auf ihre Körper hatten die Curies am Ende Erfolg und isolierten einige Körnchen des reinen weißen kristallinen Radiumchlorids. Es reichte, um das Atomgewicht des Radiums zu berechnen (226) und ihm seinen angestammten Platz - unter dem Barium - im Periodensystem zuzuweisen.

Ein Dezigramm eines Elements aus mehreren Tonnen Erz zu gewinnen bedeutete eine beispiellose Leistung. Noch nie war es so schwer gewesen, ein Element zu isolieren. Mit der Chemie allein wäre es nicht zu schaffen gewesen, auch nicht mit der Spektroskopie allein, denn das Erz musste um einen Faktor von tausend konzentriert werden, bevor die ersten schwachen Spektrallinien des Radiums zu erkennen waren. Es bedurfte eines vollkommen neuen Verfahrens - der Verwendung der Radioaktivität selbst -, um die unendlich geringe Konzentration des Radiums in der ungeheuren Masse des umgebenden Materials zu erkennen und sie ständig zu überwachen, während es langsam und mühselig in einen Zustand vollkommener Reinheit gebracht wurde.

Nach diesem Erfolg nahm das öffentliche Interesse an den Curies ungeahnte Formen an, ein Interesse, das zu gleichen Teilen dem magischen neuen Element und dem romantischheroischen Ehepaar galt, das sich der Erforschung dieses Stoffes so rückhaltlos gewidmet hatte. 1903 fasste Marie Curie die Arbeit der vergangenen sechs Jahre in ihrer Dissertation zusammen, und im gleichen Jahr erhielt sie (zusammen mit Pierre Curie und Becquerel) den Nobelpreis für Physik.

Ihre Dissertation wurde sofort ins Englische übersetzt und veröffentlicht (von William Crookes in seinen Chemical News). Meine Mutter besaß ein Exemplar dieser Dissertation in Form einer kleinen Broschüre. Mir gefielen die minuziösen Beschreibungen der komplizierten chemischen Verfahren, die die Curies durchgeführt hatten, die sorgfältigen, systematischen Untersuchungen zu den Eigenschaften des Radiums und vor allem ihr Sinn für das geistige Abenteuer und Staunen, der unter der Oberfläche der nüchternen, wissenschaftlichen Prosa spürbar blieb. Alles war sachlich, sogar prosaisch formuliert - und doch besaß es eine poetische Qualität. Hochinteressant fand ich auch die Anzeigen auf dem Umschlag für Radium, Thorium, Polonium, Uran - jedes für jedermann frei verfügbar, egal, ob für Experimente oder nur zum Spaß.

A. C. Cossor in der Farringdon Road, wenige Schritte von Onkel Wolframs Haus entfernt, warb mit dem Verkauf von «reinem Radiumbromid (wenn vorrätig), Pechblende… Crookes Hochvakuumröhren, die die Fluoreszenz verschiedener Mineralien zeigten… und anderer wissenschaftlicher Geräte.» Harrington Brothers (in Oliver'sYard, nicht weit entfernt) bot eine Vielzahl von Radiumsalzen und Uranmineralien an. J. J. Griffin and Sons (später wurde daraus Griffin & Tatlock, wo ich, wie erwähnt, meinen Bedarf an Chemikalien deckte) verkauften «Kunzit - das neue Mineral, das hochempfindlich auf die Emanationen von Radium reagiert», während Armbrecht, Nelson & Co. (eine Ecke weiter über den anderen, am Grosvenor Square) Poloniumsulfid führte (in Tuben zu einem Gramm für einundzwanzig Shilling) und Leuchtschirme mit fluoreszierendem Willemit (Sixpence für gut sechs Quadratzentimeter). «Unsere neu entwickelten Thorium-Inhaliergeräte», hieß es weiter, «können ausgeliehen werden. »Was hatte ich mir unter einem Thorium-Inhaliergerät vorzustellen? Fühlte man sich erfrischt und gestärkt, wenn man die radioaktiven Elemente inhalierte?

Damals schien niemand zu ahnen, wie gefährlich diese Stoffe waren.[62] Marie Curie selbst erwähnte in ihrer Dissertation: «Wenn man in der Dunkelheit ein strahlendes Präparat in die Nähe des geschlossenen Augenlides oder der Schläfe bringt, so hat man die Empfindung einer das Auge füllenden Helligkeit.» Ich habe das oft selbst mit einer der Uhren ausprobiert, deren Zeiger und Zifferblätter mit Onkel Abes Leuchtfarbe bemalt waren.

Besonders eindrucksvoll fand ich bei Eve Curie die Beschreibung, wie ihre Eltern eines Abends ruhelos und neugierig, ob die Fraktionierungen wohl vorankämen, sehr spät noch in den Schuppen gingen und in der Dunkelheit überall ein magisches Leuchten sahen, in allen Bottichen und Gefäßen, die die Radiumkonzentrate enthielten. Da begriffen sie zum ersten Mal, dass ihr Element spontan leuchtete. Die Leuchtkraft des Phosphors war auf vorhandenen Sauerstoff angewiesen, doch die Leuchtkraft des Radiums erwuchs ganz aus sich selbst, aus der eigenen Radioaktivität. Geradezu lyrisch schrieb Marie Curie über diese Leuchtkraft:

Es gehörte zu unseren besonderen Freuden, bei Nacht in unseren Arbeitsraum zu gehen und die schwach leuchtenden Silhouetten der Flaschen und Schalen zu erblicken, die unsere Produkte enthielten… ein wirklich wunderbarer Anblick und immer neu für uns. Die leuchtenden Gefäße sahen wie schwache Feenlichter aus.

Onkel Abe besaß noch immer etwas Radium, das er von seiner Arbeit mit Leuchtfarben übrig behalten hatte und das er mir zeigte. Er holte eine Phiole hervor, die am Boden wenige Milligramm Radiumbromid enthielt - es sah aus wie ein Körnchen gewöhnliches Tafelsalz. Er hatte drei kleine Leuchtschirme, die mit komplexen Platinzyaniden bestrichen waren - Lithium-, Natrium- und Bariumplatinzyanid -, und als er das Radiumfläschchen (das er mit einer Zange gefasst hatte) vor den verdunkelten Schirmen schwenkte, leuchteten diese unvermittelt auf und wurden Flächen aus rotem, gelbem und grünem Feuer. Sie verloschen plötzlich wieder, als er das Fläschchen wegbewegte. «Radium hat viele interessante Wirkungen auf Substanzen in seiner Umgebung», sagte er. «Die fotografischen Effekte kennst du, aber Radium wirkt sich auch auf gewöhnliches Papier aus, es verbrennt und macht es löchrig wie ein Sieb. Radium zersetzt die Atome in der Luft, und dann verbinden sie sich wieder in anderer Form - daher riechst du Ozon und Stickstoffdioxid, wenn du dich in der Nähe befindest. Es wirkt auf Glas ein macht weiche Gläser blau und harte Gläser braun; es kann auch Diamanten färben und dem Steinsalz ein dunkles, intensives Violett verleihen.» Onkel Abe zeigte mir ein Stück Flussspat, das er für einige Tage dem Radium ausgesetzt hatte. Ursprünglich sei er lila gewesen, sagte er, jetzt war er blass und mit einer seltsamen Energie aufgeladen. Er erwärmte den Flussspat ein wenig, weit entfernt von Rotglut, woraufhin er plötzlich grell aufleuchtete, als befände er sich in Weißglut, anschließend kehrte er in sein ursprüngliches Lila zurück.

Ein anderes Experiment, das mir Onkel Abe vorführte, begann mit der Elektrisierung einer Seidenquaste - dazu rieb er sie mit einem Stück Gummi -, woraufhin ihre Fäden, nun mit Elektrizität aufgeladen, einander abstießen und in alle Richtungen abstanden. Sobald er das Radium in ihre Nähe brachte, fielen die Fäden wieder zusammen, weil ihre Elektrizität entladen wurde. Der Grund sei, so Onkel Abe, dass Radioaktivität die Luft leitend mache, deshalb könne die Quaste ihre Ladung nicht bewahren. Eine außerordentlich verfeinerte Form dieses Experiments bildete das Goldblattelektroskop in Onkel Abes Labor ein stabiler Glasbehälter mit einem Stöpsel, durch den ein Metallstab führte. Der leitete die Ladung und war lose mit zwei winzigen Blättern aus Goldfolie verbunden. Wenn das Elektroskop geladen wurde, flogen die Goldblätter auseinander wie die Fäden der Quaste. Brachte man jedoch eine radioaktive Substanz in die Nähe des Glases, kam es zu einer augenblicklichen Entladung, und die Blätter sanken wieder in ihre ursprüngliche Lage herab. Die Empfindlichkeit, mit der das Elektroskop auf Radium reagierte, war verblüffend - es konnte den tausendmillionstel Teil eines Grains (l Grain = 0,0648 Gramm, A.d.Ü.) entdecken, millionenfach weniger, als sich chemisch nachweisen ließ, und war noch um mehrere tausend Mal empfindlicher als ein Spektroskop.

Gerne beobachtete ich auch Onkel Abes Radiumuhr, im Prinzip ein Goldblattelektroskop, in dessen Innerem sich eigens in einem dünnwandigen Glasgefäß etwas Radium befand. Das Radium, das negative Teilchen emittierte, wurde allmählich positiv geladen, woraufhin die Goldplättchen auseinanderstrebten bis sie die Wände des Gefäßes berührten und sich entluden; daraufhin begann der Zyklus von vorne. Seit mehr als dreißig Jahren öffnete und schloss diese «Uhr» nun schon ihre Goldblätter und würde damit noch eintausend Jahre fortfahren - die größte denkbare Annäherung, so Onkel Abe, an eine ewig laufende Maschine.

Während Uran kaum mehr als leichtes Kopfzerbrechen bereitet hatte, stellten sich die Fragen nach der Radioaktivität sehr viel nachdrücklicher, sobald das Radium isoliert war, denn es war eine Million Mal so radioaktiv wie Uran. Zwar vermochte auch Uran eine fotografische Platte zu verdunkeln (was allerdings einige Tage dauerte) oder ein hochempfindliches Goldblattelektroskop zu entladen, doch Radium leistete dasselbe im Bruchteil einer Sekunde. Mit der Heftigkeit der eigenen Aktivität leuchtete es spontan. Außerdem vermochte es, wie sich im Laufe des nächsten Jahrhunderts herausstellte, undurchsichtige Stoffe zu durchdringen, Luft zu ozonisieren, Glas zu färben, Fluoreszenz anzuregen sowie lebendes Gewebe zu verbrennen und zu zerstören, was therapeutische oder zerstörerische Wirkung haben konnte.

Bei allen anderen Strahlungsarten, von den Röntgenstrahlen bis zu den Radiowellen, musste die Energie von einer äußeren Quelle geliefert werden. Doch radioaktive Elemente hatten offenbar ihre eigene Kraftquelle und konnten Energie über Monate und Jahre ausstrahlen, ohne in ihrer Intensität nachzulassen, und weder Wärme noch Kälte, weder Druck noch magnetische Felder, Bestrahlung oder chemische Reagenzien änderten das Geringste daran.

Woher stammte diese ungeheure Energiemenge? Zu den unverrückbarsten Grundsätzen der Physik gehörte das Prinzip der Energieerhaltung - wonach sich Materie und Energie weder erschaffen noch vernichten lassen. Nie hatte es einen ernst zu nehmenden Hinweis darauf gegeben, dass es irgendwelche Abweichungen von diesen Prinzipien gäbe, und doch hatte es zunächst den Anschein, als sei genau dies beim Radium der Fall - als habe man hier ein Perpetuum mobile, eine kostenlose, dauerhafte und unerschöpfliche Energiequelle.

Ein Ausweg aus dieser logischen Sackgasse bestand in der Annahme, dass die Energie von radioaktiven Stoffen eine äußere Quelle habe. Und genau dies nahm Becquerel zunächst tatsächlich an, indem er von einer Parallele zur Phosphoreszenz ausging - radioaktive Stoffe nähmen von irgendetwas, von irgendwo Energie auf und gäben sie dann langsam, auf ihre eigene Weise wieder ab. (Zur Bezeichnung dieses hypothetischen Geschehens prägte er den Ausdruck Hyperphosphoreszenz.)

Die Annahme einer äußeren Quelle - vielleicht einer röntgenartigen Strahlung, die die Erde einhüllt - hatten sich auch die Curies kurzzeitig zu Eigen gemacht und daher eine Probe Radiumkonzentrat an Hans Geitel und Julius Elster in Deutschland geschickt. Elster und Geitel waren eng befreundet (man bezeichnete sie als «Kastor und Pollux der Physik») und hervorragende Experimentatoren. Sie hatten bereits nachgewiesen, dass Radioaktivität nicht von Vakua, Kathodenstrahlen oder Sonnenlicht beeinträchtigt wurde. Als sie die Probe mehrere Hundert Meter tief in ein Bergwerk im Harz schafften - an einen Ort, wo keine Röntgenstrahlen hinreichen konnten -, stellten sie fest, dass die Radioaktivität unvermindert anhielt.

Konnte die Energie des Radiums aus dem Äther stammen, jenem geheimnisvollen, immateriellen Medium, das angeblich jede Ecke und jeden Winkel des Universums füllte und die Ausbreitung von Licht, Gravitation und allen anderen Formen kosmischer Energie möglich machte? Diese Ansicht äußerte zumindest Mendelejew, als er die Curies besuchte. Dabei gab er seiner Argumentation eine spezifisch chemische Wendung, indem er vermutete, der Äther bestehe aus einem sehr leichten «Ätherelement», einem Edelgas, das in der Lage sei, die gesamte Materie ohne chemische Reaktion zu durchdringen, und dessen Atomgewicht nur halb so groß sei wie das des Wasserstoffs. (Dieses neue Element, so glaubte er, sei bereits in der Sonnenkorona beobachtet worden, daher nannte er es Coronium.) Darüber hinaus ging Mendelejew noch von einem ultraleichten ätherischen, den gesamten Kosmos durchdringenden Element aus, dessen Atomgewicht um einen Faktor von mehr als einer Milliarde kleiner sei als das des Wasserstoffs. Atome dieser ätherischen Elemente, so meinte er, würden von den schweren Atomen des Urans und Thoriums angezogen und irgendwie von ihnen absorbiert, was sie wiederum mit ätherischer Energie ausstatte.[63]

(Ich war verwirrt, als ich zum ersten Mal vom Äther las, und verwechselte ihn mit der leicht entzündlichen, flüchtigen, scharf riechenden Flüssigkeit, die meine Mutter in ihrer Anästhesietasche hatte.) Einen «lichtfortpflanzenden» Äther hatte Newton als das Medium postuliert, in dem sich Lichtwellen ausbreiteten, doch man habe, wie Onkel Abe mir berichtete, schon in seiner Jugend Zweifel an der Existenz des Äthers gehabt. Maxwell war in der Lage gewesen, ihn in seinen Gleichungen außer Acht zu lassen, und ein berühmtes Experiment Anfang der neunziger Jahre hatte keine «Ätherdrift» nachweisen können, keinerlei Auswirkung auf die Erdbewegung oder die Lichtgeschwindigkeit wie man bei einer Existenz von Äther hätte erwarten können. Doch zweifellos war das Ätherkonzept zu der Zeit, als die Radioaktivität entdeckt wurde, in den Köpfen vieler Wissenschaftler noch fest verwurzelt, daher war es selbstverständlich, dass sie zunächst darauf zurückgriffen, als sie nach einer Erklärung für die rätselhaften Energien suchten.[64]

Wenn es bei Uran vielleicht - gerade noch - vorstellbar erschien, dass die langsame, zähflüssige Energieabgabe aus einer äußeren Quelle stammte, ließ sich diese These beim Radium schwerer glauben, denn Radium war (wie Pierre Curie und Albert Laborde im Jahr 1903 nachweisen sollten) in der Lage, innerhalb einer Stunde eine Wassermenge seines eigenen Gewichts vom Gefrierpunkt zum Siedepunkt zu bringen.[65] Noch schwieriger wurde dies bei Stoffen, die sehr viel radioaktiver waren, etwa reinem Polonium (ein kleines Stück davon wurde spontan rotglühend) oder Radon, das 200 000 Mal radioaktiver war als Radium selbst - so radioaktiv, dass ein halber Liter davon jedes mögliche Aufbewahrungsgefäß augenblicklich verdampfen ließe. Eine derartige Wärmeenergie ließ sich mit keiner ätherischen oder kosmischen Hypothese mehr erklären.

Ohne eine plausible äußere Energiequelle mussten die Curies wieder zu ihrer ursprünglichen Annahme zurückkehren, dass nämlich die Energie des Radiums einen inneren Ursprung habe, eine «atomare Eigenschaft» sei - obwohl der zugrunde liegende Mechanismus kaum vorstellbar war. Bereits 1898 brachte Marie Curie eine noch kühnere, ja ungeheuerliche These vor: Die Radioaktivität stamme möglicherweise aus dem Zerfall von Atomen, sie könne «eine Emission materieller Teilchen» sein, die von einem Gewichtsverlust der radioaktiven Substanzen begleitet wird. Diese Hypothese dürfte noch absonderlicher geklungen haben als ihre Alternativen, weil es in der Naturwissenschaft als Axiom, als grundlegende Annahme, galt, dass Atome unzerstörbar, unwandelbar und unspaltbar seien - auf dieser Annahme bauten die gesamte Chemie und die klassische Physik auf. In Maxwells Worten:

Obwohl sich im Laufe der Zeitalter Katastrophen ereignet haben und im Kosmos möglicherweise immer noch ereignen, obwohl sich alte Systeme aufgelöst und sich neue aus ihren Trümmern entwickelt haben mögen, bleiben die [Atome], aus denen diese Systeme aufgebaut sind - die Bausteine des materiellen Universums -, doch heil und unbeschadet. Sie sind heute noch genauso, wie sie erschaffen wurden - vollkommen in Anzahl, Maß und Gewicht.

Alle wissenschaftlichen Traditionen, von Demokrit bis Dalton, von Lukrez bis Maxwell, beriefen sich auf diesen Grundsatz. Da erscheint es nur zu verständlich, dass Marie Curie nach dem ersten kühnen Gedanken an einen möglichen Atomzerfall wieder Abstand nahm von dieser Idee und ihre Dissertation (in ungewöhnlich poetischer Sprache) mit den Worten beendete: «So bleibt doch die Ursache der selbsttätigen Strahlung geheimnisvoll, und die Erscheinung ist für uns noch immer ein Rätsel und ein Gegenstand tiefsten Erstaunens.»

 

KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

STRASSE DER ÖLSARDINEN

In dem Sommer nach dem Krieg reisten wir in die Schweiz, weil es das einzige Land auf dem Kontinent war, das der Krieg nicht verwüstet hatte, und weil wir uns nach sechs Jahren Bombardierung, Rationierung, Sparsamkeit und Einschränkungen ein bisschen Normalität gönnen wollten. Die Veränderung fiel schon bei Überquerung der Grenze ins Auge - die Uniformen der Schweizer Zollbeamten waren neu und glänzend, ganz anders als die schäbigen Uniformen auf der französischen Seite. Sogar der Zug schien sauberer und heller zu werden, sich mit neuer Kraft und Geschwindigkeit vorwärts zu bewegen. In Luzern wurden wir von einem elektrischen Brougham abgeholt. Hoch und altmodisch, mit riesigen Glasfenstern - ein Gefährt, das meine Eltern aus ihrer Kindheit kannten, in dem sie aber noch nie gefahren waren. So brachte uns der alte Brougham lautlos zum Schweizerhof, ein Hotel, das riesiger und prächtiger war als alles, was ich mir je vorgestellt hatte. In der Regel wählten meine Eltern relativ bescheidene Ferienunterkünfte, doch dieses Mal stand ihnen der Sinn nach etwas ganz anderem, nach dem verschwenderischsten, luxuriösesten, opulentesten Hotel von ganz Luzern - eine Extravaganz, die sie nach sechs Kriegsjahren für erlaubt hielten.

Der Schweizerhof ist mir noch aus einem anderen Grund im Gedächtnis geblieben, denn dort habe ich das erste (und letzte) Konzert meines Lebens gegeben. Der Tod meiner Klavierlehrerin Mrs. Silver war etwas mehr als ein Jahr her, und ich hatte seitdem kein Klavier angerührt, doch etwas Lichtes, Befreiendes löste die Erstarrung, weckte plötzlich den Wunsch, wieder zu spielen, und zwar für andere Menschen. Obwohl ich mit Bach und Scarlatti groß geworden war, hatte ich (unter Mrs. Silvers Einfluss) eine große Neigung zu den Romantikern entwickelt vor allem zu Schumann und zu den vorwärts drängenden, mitreißenden Masurken Chopins. Viele waren technisch zu anspruchsvoll für mich, trotzdem kannte ich die etwa fünfzig Masurken auswendig und konnte zumindest (jedenfalls bildete ich es mir ein) ein Gefühl für sie und ihre Vitalität vermitteln. Sie waren zwar nur Miniaturen, doch jede schien eine ganze Welt zu enthalten.

Irgendwie bewogen meine Eltern die Hotelleitung, mir in ihrem Salon Gelegenheit zu einem Konzert zu geben, den Flügel zu benutzen (den größten, den ich je gesehen hatte, ein Bösendorfer mit einigen zusätzlichen Tasten, die der Bechstein nicht hatte) und bekannt zu geben, dass am kommenden Donnerstagabend ein Konzert «des jungen englischen Pianisten Oliver Sacks» stattfinden werde. Das erschreckte mich, und je näher der Tag heranrückte, desto nervöser wurde ich. Doch als der Abend dann kam, zog ich meinen besten Anzug an (ich hatte ihn einen Monat zuvor für meine Bar-Mizwa bekommen), betrat den Salon, verbeugte mich, ordnete meine Gesichtszüge zu einem Lächeln und setzte mich an den Flügel (wobei ich mir vor Angst fast in die Hosen machte). Nach den Eröffnungstakten der ersten Masurka wurde ich von ihr fortgerissen und ließ sie pompös ausklingen. Die Zuhörer reagierten freundlich mit Klatschen, Lächeln und Nachsicht gegenüber meinen Schnitzern, daher nahm ich gleich die nächste in Angriff, und wieder die nächste, und beendete meine Darbietung schließlich mit einem posthumen Werk (von dem ich mich vage zu erinnern meinte, dass es nach Chopins Tod von jemand anderem vollendet worden war).

Der Auftritt bereitete mir ein ganz besonderes, seltenes Vergnügen. Meine Beschäftigung mit der Chemie, Mineralogie oder Physik blieb immer höchst privat - außer meinen Onkeln nahm niemand daran teil. Dieses Klavierkonzert dagegen fand in aller Öffentlichkeit statt, in einem Kontext von Anerkennung, Austausch, Geben und Nehmen. Es war der Beginn von etwas Neuem, der Anfang einer Beziehung.

Schamlos genossen wir den Luxus des Schweizerhofs, lagen stundenlang, wie mir schien, in den riesigen Marmorbädern und stopften in dem noblen Restaurant die üppigen Mahlzeiten in uns hinein. Schließlich bekamen wir das Wohlleben über und unternahmen erste Wanderungen durch die alte Stadt mit ihren winkligen Gassen und den unerwarteten Ausblicken auf Berge und See. Mit der Zahnradbahn fuhren wir auf den Gipfel des Rigi - es war das erste Mal, dass ich mit einer Zahnrad- oder einer Seilbahn fuhr und auf einem Berg stand. Anschließend bezogen wir in dem Bergdorf Arosa Quartier, wo die Luft kühl und trocken war und wo ich zum ersten Mal Edelweiß und Enzian sah. Wir besuchten die Kirchen aus bemaltem Holz und lauschten dem Alphorn, das von Tal zu Tal ertönte. Ich glaube, es war in Arosa mehr noch als in Luzern, dass mich endlich ein Gefühl der Freude überkam, ein plötzlich einsetzendes Empfinden von Freiheit und Erlösung, von der Süße des Lebens, von Zukunft und Verheißung. Ich war dreizehn - dreizehn! -, hatte ich nicht das ganze Leben vor mir?

Auf der Rückreise machten wir in Zürich Halt (der Geburtsstadt des Mathematikers Euler, wie Onkel Abe mir einmal erzählt hatte). Dieser im Großen und Ganzen wenig bemerkenswerte Zwischenstopp ist mir aus einem ganz bestimmten Grund im Gedächtnis geblieben. Mein Vater, der immer gleich Bademöglichkeiten ausfindig machte, egal, wo wir waren, entdeckte ein großes öffentliches Schwimmbad in der Innenstadt. Und dort begann er auch sofort, mit seinen meisterhaften kraftvollen Schwimmzügen das Becken zu durchpflügen, während ich, in trägerer Stimmung, ein Korkbrett fand, auf dem ich mich erst einmal treiben lassen wollte. Bewegungslos auf meinem Brett oder ganz sachte mit den Händen paddelnd, verlor ich jedes Zeitgefühl. Eine merkwürdige Leichtigkeit, eine Art Entrückung überkam mich - ein Gefühl, das ich manchmal in Träumen erlebte. Ich hatte mich schon früher von Korkbrettern, Gummiringen oder Schwimmflügeln tragen lassen, doch dieses Mal geschah etwas Magisches. Ein langsames Anschwellen, eine ungeheure Woge der Freude hob mich höher und höher, schien endlos zu währen und klang schließlich in wohliger Wonne aus. Es war das schönste und friedlichste Empfinden, das ich je gehabt hatte.

Erst als ich meine Badehose auszog, wurde mir klar, dass ich einen Orgasmus gehabt haben musste. Ich kam nicht auf die Idee, ihn mit «Sex» oder mit anderen Menschen in Zusammenhang zu bringen, ich hatte auch keine Angst oder Schuldgefühle - trotzdem behielt ich das Erlebnis für mich, weil es etwas Magisches, Privates hatte, als ein Segen oder eine Gnade mir spontan und ungesucht zuteil geworden war. Ich hatte das Gefühl, ein großes Geheimnis entdeckt zu haben.

Im Januar 1946 wechselte ich von The Hall, meiner Vorbereitungsschule in Hampstead, an die viel größere Schule St. Paul's in Hammersmith. Und in der dortigen Walker Library begegnete ich zum ersten Mal Jonathan Miller: Ich saß versteckt in einer Ecke und las in einem Buch aus dem 19. Jahrhundert über Elektrostatik - aus irgendeinem Grund galt mein Interesse den «elektrischen Eiern» -, als ein Schatten auf die Seite fiel. Vor mir stand ein erstaunlich hoch aufgeschossener Junge mit sehr wandlungsfähigen Gesichtszügen, verschmitzt schauenden Augen und einem ungebärdigen Schöpf roter Haare. Wir kamen ins Gespräch - und sind seither eng befreundet.

Bis dahin hatte ich nur einen richtigen Freund, Eric Korn, den ich fast von Geburt an kannte. Eric folgte mir ein Jahr später von The Hall nach St. Paul's, woraufhin wir nun ein unzertrennliches Trio bildeten, nicht nur persönlich, sondern auch durch Familienbande verknüpft (dreißig Jahre zuvor hatten unsere Väter gemeinsam Medizin studiert, und noch jetzt waren die Familien gut befreundet). Meine Leidenschaft für die Chemie wurde von Jonathan und Eric nicht unbedingt geteilt, obwohl sie an meinem Natrium-Experiment und noch an ein oder zwei anderen teilnahmen. Doch sie hatten großes Interesse an der Biologie, und so blieb es nicht aus, dass wir uns zu gegebener Zeit im selben Biologiekurs einfanden, wo wir alle für unseren Biologielehrer Sid Pask schwärmten.

Sid war ein phantastischer Lehrer. Gewiss, er war auch engstirnig, fanatisch, mit einem Stottern geschlagen (ein Leiden, das wir ewig nachäfften) und keinesfalls übermäßig intelligent. Mit Überredung, Ironie, Spott oder Gewalt versuchte Mr. Pask uns alle von jeder anderen Beschäftigung fernzuhalten - von Sport und Sex, von Religion und Familie oder von allen übrigen Schulfächern. Er verlangte einfach, dass wir ebenso einseitig wären wie er.

Die Mehrheit seiner Schüler empfand ihn als übermäßig anspruchsvollen Zuchtmeister und unternahm alle Anstrengungen, um sich seiner, wie es hieß, kleinlichen Tyrannei zu entziehen. Der Kampf zog sich eine Zeit lang hin, dann gab es plötzlich keinen Widerstand mehr - diese Schüler waren frei. Pask nörgelte nicht mehr an ihnen herum, stellte keine lächerlichen Ansprüche mehr an ihre Zeit und Energie.

Doch jedes Jahr fanden sich einige Schüler bereit, auf Pasks Bedingungen einzugehen. Im Gegenzug bekamen wir alles, was er zu geben hatte: all seine Zeit und seine ganze Liebe zur Biologie. Bis spät abends blieben wir mit ihm im Naturhistorischen Museum (einmal verbarg ich mich in einer Galerie und schaffte es, die ganze Nacht dort zu verbringen). Jedes Wochenende opferten wir für botanische Exkursionen. An klirrend kalten Wintertagen im Januar standen wir in der Morgendämmerung auf, um an seinem Süßwasserkurs teilzunehmen. Und einmal im Jahr - die Erinnerung stimmt mich fast unerträglich wehmütig fuhren wir mit ihm nach Millport zu einem dreiwöchigen Kurs in Meeresbiologie.

Millport (Cumbria) vor der schottischen Westküste hatte eine sehr schön ausgestattete Forschungsstation für Meeresbiologie. Wir wurden stets freundlich willkommen geheißen und in alle laufenden Experimente eingeweiht. (Damals wurden gerade grundlegende Beobachtungen zur Entwicklung von Seeigeln vorgenommen, und Lord Rothschild bewies endlose Geduld mit den begeisterten Schuljungen, die sich um ihn scharten und in seine Petrischalen mit den durchsichtigen Pluteuslarven starrten.) Jonathan, Eric und ich erstellten an der felsigen Küste mehrere Populationsprofile, wobei wir alle Tiere und Meerespflanzen zählten, die wir in aufeinander folgenden Abschnitten von dreißig mal dreißig Zentimetern fanden; von der gelben Wandflechte (Xanthoria parietina, so der wohlklingende lateinische Name) hoch oben auf den Klippen bis zur Küste und zu den Gezeitentümpeln hinunter. Dabei erwies sich Eric als besonders gewitzt und einfallsreich. Als wir einmal eine Senkschnur anbringen wollten, um eine zuverlässige Senkrechte zu erhalten, jedoch nichts fanden, woran wir sie hätten befestigen können, löste Eric eine Napfschnecke vom Fuße eines Steins, legte die Spitze der Senkschnur darunter und setzte die Schnecke wieder an den Stein, sodass sie das Band wie eine natürliche Reißzwecke festhielt.

Jeder von uns nahm sich einer bestimmten zoologischen Gruppe an: Eric entwickelte eine Vorliebe für Seegurken (Holothuridae), Jonathan für schillernde Borstenwürmer (Polychaeten) und ich für Tintenfische, Kraken und Kopffüßer (Cephalopoden) - die intelligentesten und in meinen Augen auch die schönsten Wirbellosen. Jonathans Eltern hatten in Hythe in Kent ein Haus für den Sommer gemietet, und eines Tages fuhren wir alle mit einem Trawler hinaus zum Fischfang. Meist warfen die Fischer die Tintenfische, die sich in ihren Netzen verfingen, wieder ins Meer zurück (damals war man in England noch nicht auf den Geschmack gekommen). Doch ich bat flehentlich darum, sie mir zu überlassen, und als wir wieder in den Hafen einliefen, müssen sich Dutzende von Tintenfischen an Deck befunden haben. Wir trugen sie alle in Eimern und Kübeln mit nach Hause, brachten sie im Keller in großen Gläsern unter und gaben ein bisschen Alkohol hinzu, um sie zu konservieren. Da Jonathans Eltern nicht da waren, konnten wir ungehindert schalten und walten. Alle diese Tintenfische wollten wir mit in die Schule nehmen und Sid bringen - wir malten uns sein erstauntes Lächeln aus, wenn wir damit ankamen. Für jeden in der Klasse würde es einen Tintenfisch zum Sezieren geben, und für jeden Cephalopoden-Fan sogar zwei oder drei. Ich selbst würde im Field Club einen kleinen Vortrag über diese Tiere halten, mich über ihre Intelligenz auslassen, ihre großen Gehirne, ihre Augen mit aufgerichteten Netzhäuten, ihre rasch wechselnde Färbung.

Einige Tage später, an dem Tag, an dem wir Jonathans Eltern zurückerwarteten, hörten wir dumpfe Schläge aus dem Keller. Als wir nachsahen, bot sich uns ein entsetzlicher Anblick: Die unzulänglich konservierten Tintenfische waren verfault und vergoren. Die dabei entstandenen Gase hatten die Gläser zur Explosion gebracht und große Klumpen Tintenfisch überall an die Wände und über den Fußboden geschleudert; sogar an der Decke klebten Tintenfischreste. Der Verwesungsgestank spottete jeder Beschreibung. Wir gaben uns alle Mühe, die explodierten, zerquetschten Reste der Tintenfische von den Wänden zu kratzen. Mit Brechreiz kämpfend, spritzten wir den Keller ab, und als wir Fenster und Türen öffneten, um ihn durchzulüften, breitete sich der Gestank nach draußen aus. Wie eine Art Miasma kroch der unerträgliche Geruch fünfzig Meter in jede Richtung.

Eric, nie um einen Einfall verlegen, schlug vor, den Gestank mit einem noch stärkeren, aber angenehmeren Geruch zu überdecken oder zu vertreiben - eine Kokosnuss-Essenz hielten wir für genau das Richtige. Wir legten zusammen und kauften eine große Flasche, mit der wir erst den Keller einsprengten und sie dann großzügig auf den Rest des Hauses und das Grundstück verteilten.

Als Jonathans Eltern eine Stunde später eintrafen und auf ihr Haus zugingen, nahmen sie einen überwältigenden Kokosnußgeruch wahr. In unmittelbarer Nähe des Hauses gerieten sie jedoch in eine Gestankzone des verdorbenen Tintenfisches - die beiden Gerüche beziehungsweise das Gemisch hatte sich aus unerfindlichen Gründen in einander ablösende Zonen von zwei oder drei Metern Breite gesondert. Als die Eltern den Schauplatz unseres Missgeschicks, unseres Verbrechens, erreichten den Keller -, war der Geruch dort nicht länger als Sekunden auszuhalten. Alle drei fielen wir in tiefe Ungnade, vor allem ich, weil meine Gier (hätte es nicht auch ein einziger Tintenfisch getan?) und Dummheit, nicht zu wissen, wie viel Alkohol wir brauchten, an allem schuld waren. Jonathans Eltern mussten ihren Urlaub abbrechen und das Haus verlassen (es blieb, so hörten wir, für Monate unbewohnbar). Das alles konnte jedoch meiner Liebe zu Tintenfischen keinen Abbruch tun.

Und vielleicht gab es neben den biologischen Gründen auch einen chemischen, denn Tintenfische besitzen (wie viele andere Weichtiere und Krebstiere) nicht rotes, sondern blaues Blut, weil sie im Zuge der Evolution ein vollkommen anderes System zum Sauerstofftransport entwickelt haben als die Wirbeltiere. Während unser roter, der Atmung dienender Blutfarbstoff, das Hämoglobin, Eisen enthält, findet sich in ihrem blaugrünen Pigment, dem Hämozyanin, Kupfer. Eisen wie Kupfer verfügen über ein ausgezeichnetes Reduktionspotential: Sie können leicht Sauerstoff aufnehmen und in einen höheren Oxidationszustand gelangen, und ihn dann nach Bedarf abgeben und reduziert werden. Ich fragte mich, ob ihre Nachbarn im Periodensystem (einige mit größerem Redoxpotential) auch für den Sauerstofftransport im Blut Verwendung fänden, und war äußerst fasziniert zu hören, dass einige Manteltiere (Tunicaten) große Mengen des Elements Vanadium in ihrem Körper aufweisen und spezielle Zellen besitzen, die Vanadozyten, um es zu speichern. Warum dies so war, blieb ein Rätsel, offenbar hatte es nichts mit dem Sauerstofftransportsystem zu tun. Absurder- und anmaßenderweise glaubte ich, das Rätsel während einer unserer jährlichen Exkursionen nach Millport lösen zu können. Doch ich brachte nicht mehr zustande, als eine Menge Manteltiere zu sammeln (mit der gleichen Unersättlichkeit, die mich hatte zu viele Tintenfische horten lassen). Man könnte sie verbrennen, überlegte ich, und den Vanadiumgehalt in ihrer Asche ermitteln. (Ich hatte gelesen, dass er bei manchen Arten mehr als vierzig Prozent ausmachte.) Das brachte mich auf die einzige kaufmännische Idee, die ich jemals hatte: eine Vanadiumfarm aufzumachen - viele Hektar Meereswiesen, mit Manteltieren bepflanzt. Ich würde sie das kostbare Vanadium aus dem Meereswasser extrahieren lassen, wie sie es mit so viel Erfolg seit 300 Millionen Jahren taten, und es dann für 500 Pfund Sterling pro Tonne verkaufen. Das einzige Problem, so erkannte ich bestürzt über meine mörderischen Gedanken, wäre die Tatsache, dass ich für dieses Unterfangen einen Holocaust an den Manteltieren in Kauf nehmen müsste.

Das Organische in seiner ganzen Komplexität drang nun auf mein eigenes Leben ein und veränderte mich bis in die Grundfesten meines Körpers. Plötzlich begann ich sehr rasch zu wachsen, Haare sprossen mir im Gesicht, in den Achselhöhlen, um die Genitalien; und meine Stimme - immer noch ein heller Diskant, wenn ich meine Haftorah sang - begann jetzt zu brechen und unberechenbar zwischen den Tonlagen hin und her zu springen. Im Biologieunterricht entwickelte ich ein plötzliches, eingehendes Interesse an den Reproduktionssystemen von Tieren und Pflanzen, besonders den «niederen», Wirbellosen und Nacktsamern. Die Sexualität von Palmfarnen und Ginkgos faszinierte mich - dass Letztere wie Farne frei bewegliche Spermatozoen bewahrten, aber große und gut geschützte Samen besaßen. Noch interessanter fand ich die Cephalopoden, Tintenfische, weil die Männchen einen modifizierten Arm mit Spermatozoen in die Mantelhöhle des Weibchens schoben. Das war zwar immer noch weit entfernt von menschlicher, von meiner eigenen Sexualität, aber ich begann die Sexualität als Thema zu entdecken und auf ihre Art fast so interessant zu finden wie Valenz oder Periodizität.

So angetan wir auch von der Biologie waren, niemand von uns konnte so monomanisch sein wie Mr. Pask. Da gab es all die Anziehungskräfte der Jugend, der Entwicklungsjahre, die Energie erwachender Geisteskräfte, die sich in alle Richtungen entfalten und noch nicht einer einzigen Sache verschreiben wollten.

Seit vier Jahren schwang in mir ein vorwiegend wissenschaftlicher Geist. Ein leidenschaftlicher Sinn für Ordnung, für formale Schönheit hatte mich für die Wohlgestaltheit des Periodensystems oder von Daltons Atomen empfänglich gemacht. Bohrs Quantenatome schienen mir von himmlischer Beschaffenheit zu sein, wie für die Ewigkeit gemacht. Manchmal hatte mich die formale, geistige Schönheit des Universums in eine Art Ekstase versetzt, doch jetzt, mit Einsetzen anderer Interessen, kamen auch ganz entgegengesetzte Gefühle, der Eindruck von Leere oder Freudlosigkeit in mir auf. Diese Schönheit und Liebe zur Naturwissenschaft befriedigten mich nicht mehr, ich hungerte nach Menschlichem, Persönlichem.

Vor allem die Musik nährte und stillte zugleich diesen Hunger, Musik, die mich zittern machte und den Wunsch weckte, zu weinen oder aufzuheulen, Musik, die mich tief berührte und in meinem Innersten ansprach - obwohl ich nicht sagen konnte, «worum» es ging, warum sie derart auf mich wirkte. Vor allem Mozart rief Empfindungen von fast unerträglicher Intensität in mir hervor, aber diese Gefühle näher zu beschreiben, überstieg meine Möglichkeiten, vielleicht sogar das Sprachvermögen selbst.

Die Poesie bekam eine neue, persönliche Bedeutung. Wir «hatten» Milton und Pope in der Schule, aber jetzt begann ich, sie für mich selbst zu entdecken. Bei Pope gab es Zeilen von überwältigender Zartheit - «Die of a rose in aromatic pain»[66] - die ich mir unablässig wiederholte, bis sie mich in eine andere Welt entrückten.

Jonathan, Eric und ich waren alle mit der Liebe zum Lesen und zur Literatur aufgewachsen. Jonathans Mutter schrieb Romane und Biographien. Eric, frühreifer als wir anderen, las seit seinem achten Lebensjahr Gedichte. Ich selbst tendierte mehr zu historischen und biographischen Schriften, vor allem Erinnerungen und Tagebüchern. (Damals begann ich auch, ein eigenes Tagebuch zu führen.) Da meine Lektüreinteressen (nach Erics und Jonathans Ansicht) etwas eingeschränkt waren, versuchten sie jetzt, meinen literarischen Horizont zu erweitern - Jonathan durch Selma Lagerlöf und Proust (ich hatte bisher nur von Joseph-Louis Proust, dem Chemiker, gehört, nicht von Marcel) und Eric durch T. S. Eliot, der seiner Ansicht nach ein größerer Dichter war als Shakespeare. Eric nahm mich auch ins Cosmo Restaurant in der Finchley Road mit, wo wir bei Zitronentee und Strudel den Gedichten von Dannie Abse lauschten, damals ein junger Medizinstudent.

Frech beschlossen wir drei, an der Schule eine literarische Gesellschaft zu gründen. Zwar gab es schon die Milton Society, doch die siechte seit vielen Jahren vor sich hin. Jonathan wurde unser Sekretär, Eric der Schatzmeister und ich (obwohl ich fand, dass ich am wenigsten Ahnung hatte und am schüchternsten war) der Präsident.

Zu unserer Gründungssitzung fand sich eine Gruppe von Neugierigen ein. Man erwies sich als sehr interessiert an der Einladung von Gastrednern - Dichtern, Dramatikern, Romanciers, Journalisten -, und mir als Präsident fiel die Aufgabe zu, sie zum Kommen zu bewegen. Eine erstaunliche Anzahl von Schriftstellern erschien zu unseren Treffen - angelockt von dem exzentrischen Stil der Einladungen (denke ich), einer absurden Mischung aus halb kindisch und halb erwachsen, und vielleicht von der Aussicht, vor einer Schar begeisterter Jungen zu sprechen, die tatsächlich einige ihrer Werke gelesen hatten und darauf erpicht waren, sie kennen zu lernen. Der größte Coup wäre George Bernard Shaw gewesen - er schickte mir jedoch eine reizende Postkarte, auf der er mir in zittriger Schrift mitteilte, er wäre zwar gerne gekommen, sei aber zu alt zum Reisen (er sei dreiundneunzig und drei Viertel, schrieb er). Dank der eingeladenen Redner und der lebhaften Diskussionen anschließend brachten wir es zu einer gewissen Beliebtheit. Bis zu siebzig Jungen erschienen zu unseren wöchentlichen Veranstaltungen, weit mehr als jemals zu den steifen Treffen der Milton Society gekommen waren. Außerdem gaben wir Prickly Pear heraus, eine mit etwas verschmierter lila Tinte vervielfältigte Zeitschrift. Sie enthielt Beiträge von Schülern, gelegentlich den Text eines Lehrers und ganz selten auch einmal etwas von einem «echten» Schriftsteller.

Doch eben dieser Erfolg und vielleicht noch einige andere, nie ausdrücklich eingestandene Gründe - dass wir uns über Autoritäten lustig machten, subversive Absichten hegten, das Schicksal der Milton Society endgültig besiegelt hatten (die angesichts unseres Erfolgs ihre nie sehr zahlreich besuchten Treffen ganz einschlafen ließ) und dass wir eine Horde lästiger, lärmender, schlauer jüdischer Jungen waren, die einen Dämpfer brauchten - führten zum Ende unserer Gesellschaft. Der Direktor rief mich eines Tages zu sich und erklärte ohne Umschweife: «Sacks, ihr seid aufgelöst.»

«Was meinen Sie damit, Sir?», stammelte ich. «Sie können uns doch nicht so einfach auflösen.»

«Sacks, ich kann tun, was mir passt. Eure literarische Gesellschaft ist von diesem Augenblick an aufgelöst.»

«Aber warum, Sir?», fragte ich. «Was sind Ihre Gründe?»

«Die nenne ich dir nicht, Sacks. Ich muss keine Gründe haben. Du kannst jetzt gehen, Sacks. Es gibt euch nicht. Es gibt euch nicht mehr.» Daraufhin schnippte er mit den Fingern eine Geste, die Entlassung, die Vernichtung bedeutete - und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

Ich machte Eric, Jonathan und anderen Mitgliedern unserer Gesellschaft davon Mitteilung. Wir waren empört und verwirrt und fühlten uns völlig hilflos. Der Direktor verkörperte die Autorität, die absolute Macht, wir konnten ihm nicht widersprechen und uns ihm nicht widersetzen.

Cannery Row. Die Straße der Ölsardinen von John Steinbeck erschien 1945 oder 1946, und ich muss das Buch kurz darauf gelesen haben - vielleicht 1948, als ich neben der Biologie in der Schule die Meeresbiologie als neues Interessengebiet entdeckte. Besonderen Gefallen fand ich an Doc, wie er nach kleinen Tintenfischen in den Gezeitentümpeln bei Monterey suchte, mit den Jungen Bier-Milchshakes trank, die idyllische Beschaulichkeit und Annehmlichkeit seines Lebens genoss. Ich glaubte, ein solches Leben könnte auch mir gefallen, ein Leben im magischen, mythischen Kalifornien (das bereits durch die Cowboyfilme zum Phantasieland für mich geworden war). In meinen Teenagerjahren nahm Amerika immer größeren Raum in meinen Gedanken ein - im Krieg war es unser großer Verbündeter gewesen, seine Macht und seine Mittel wirkten fast unbegrenzt. Hatte es nicht die erste Atombombe der Welt gebaut? Auf den Straßen Londons sah ich amerikanische Soldaten - ihre Gesten, ihre Sprechweise strahlten Selbstvertrauen aus, eine Ungezwungenheit und Unbekümmertheit, die uns nach sechs Jahren Krieg fast unvorstellbar erschien. Die Zeitschrift Life präsentierte doppelseitige Bilder von Bergen, Canyons, Wüsten und Landschaften von einer Weite und Großartigkeit, die man in Europa nicht kannte, dazu amerikanische Städte voll von lächelnden, optimistischen, gut genährten Menschen, deren Häuser neu und glänzend, deren Läden prall gefüllt waren und deren Alltag von einem Überfluss und einer Lebensfreude geprägt schien, die einfach überwältigend wirkten auf uns mit unserer strengen Rationierung und unseren bedrückenden Erinnerungen an die Kriegsjahre. Zu diesem verlockenden Bild von transatlantischer Unbeschwertheit, von überlebensgroßem Glanz und Glamour trugen Musicals wie Annie Get Your Gun und Oklahoma noch mit eigener mythenbildender Kraft bei. In dieser Atmosphäre romantischer Verklärung machten die Straße der Ölsardinen und (trotz gewisser Schwächen) ihre Fortsetzung Sweet Thursday (Wonniger Donnerstag) ungeheuren Eindruck auf mich.

Hatte ich mir (in den Tagen von St. Lawrence) manchmal eine mythische Vergangenheit ausgemalt, begann ich jetzt von der Zukunft zu phantasieren, mich als Wissenschaftler oder Naturforscher an den Küsten oder im weiten Hinterland Nordamerikas zu sehen. Ich las Berichte über die Reisen von Lewis und Clark, ich las Emerson und Thoreau, und vor allem las ich John Muir. Ich ließ mich verzaubern von Albert Bierstadts erhabenen und romantischen Landschaften und von Ansei Adams' schönen, sinnlichen Fotografien (gelegentlich träumte ich davon, selbst Landschaftsfotograf zu werden).

Mit sechzehn oder siebzehn Jahren war ich hellauf begeistert für die Meeresbiologie und schrieb einschlägige Institute überall in den Vereinigten Staaten an - Wood's Hole in Massachusetts, das Scripps Institute in La Jolla, das Golden Gate Aquarium in San Francisco und natürlich Cannery Row in Monterey (der Straße oder, besser, dem Viertel der Ölsardinen, in dem das reale Vorbild für «Doc», Ed Ricketts, sein Forschungslabor hatte). Ich glaube, ich bekam von allen freundliche Antworten, in denen sie mein Interesse und meine Begeisterung begrüßten, aber auch keinen Zweifel daran ließen, dass ich doch einige richtige Qualifikationen brauchte und mich wieder melden sollte, wenn ich einen Universitätsabschluss in Biologie hätte (als ich zehn Jahre später tatsächlich nach Kalifornien ging, war ich nicht Meeresbiologe, sondern Neurologe).

KAPITEL DREIUNDZWANZIG

BEFREITE WELT

Gleich zu Beginn hatten die Curies bemerkt, dass ihre radioaktiven Substanzen die eigenartige Fähigkeit besaßen, überall in ihrer Umgebung Radioaktivität zu «induzieren». Sie fanden diese Tatsache faszinierend und ärgerlich zugleich, denn infolge der Kontamination ihrer Geräte wurde es fast unmöglich, die Radioaktivität der Proben selbst zu messen:

Die verschiedenen im chemischen Laboratorium gebrauchten Gegenstände, schreibt Marie in ihrer Dissertation, werden bald alle radioaktiv… Der Staub, die Zimmerluft, die Kleider sind radioaktiv. In dem Laboratorium, in dem wir arbeiten, ist das Übel dermaßen akut geworden, daß wir keinen Apparat mehr in gut isolierendem Zustande halten können.[67]

Bei der Lektüre dieses Abschnitts dachte ich an unser und an Onkel Abes Haus und fragte mich, ob sie - natürlich auf ungleich schwächere Weise - ebenfalls radioaktiv geworden waren; ob die Radiumfarbe auf den Zifferblättern von Onkel Abes Uhren in allen Dingen um sie herum Radioaktivität induziert und die Luft stumm und still mit durchdringenden Strahlen erfüllt hatte.

Zunächst waren die Curies (wie Becquerel) geneigt, diese «induzierte Radioaktivität» einer immateriellen Ursache zuzuschreiben, sie als «Resonanz» zu begreifen, vielleicht analog zur Phosphoreszenz oder Fluoreszenz. Aber es gab auch Hinweise auf eine materielle Emission. Bereits 1897 hatten sie festgestellt, dass Thorium, wenn es in einer fest verschlossenen Flasche aufbewahrt wurde, eine erhöhte Radioaktivität aufwies und zu seinem vorherigen Niveau zurückkehrte, sobald die Flasche wieder geöffnet wurde, doch sie gingen dieser Beobachtung nicht weiter nach. Erst Ernest Rutherford erkannte die außerordentliche Bedeutung dieses Umstands: dass nämlich ein neuer Stoff entstand, hervorgebracht durch das Thorium, aber viel radioaktiver als dieses.

Mit Hilfe des jungen Chemikers Frederick Soddy konnte Rutherford zeigen, dass jene «Emanation» des Thoriums tatsächlich eine materielle Substanz war, ein Gas, das sich isolieren ließ. Man konnte es fast so leicht verflüssigen wie Chlor, doch es reagierte auf keinen chemischen Stoff; es war so inaktiv wie Argon und die anderen neu entdeckten Edelgase. Soddy glaubte, die «Emanation» des Thoriums könnte tatsächlich Argon sein. Ihn überkam (wie er später schrieb)

etwas, das mehr als Freude war - ich kann es nicht sehr gut ausdrücken - eine Art Ekstase… Ich weiß noch sehr gut, dass ich dort wie versteinert stand, erschlagen von der Bedeutung der Sache, und laut herausplatzte - zumindest erschien es mir damals so: ‹Rutherford, das ist Transmutation: Das Thorium zerfallt und verwandelt sich in Argongas.)

Rutherfords Antwort zeigte seinen charakteristischen Sinn für praktische Aspekte: ‹Um Himmels willen, Soddy, nennen Sie es nicht Transmutation, sonst köpfen sie uns noch als Alchimisten.›

Doch das neue Gas war nicht Argon, sondern ein vollkommen neues Element mit einem eigenen Emissionsspektrum. Es diffundierte sehr langsam und erwies sich als außerordentlich dicht - 111mal so dicht wie Wasserstoff, während Argon nur 20mal so dicht war. Ging man davon aus, ein Molekül des neuen Gases sei einatomig, enthalte wie die anderen Edelgase also nur ein Atom, so war daraus zu schließen, dass sein Atomgewicht 222 betrug. Damit war es das schwerste und letzte in der Edelgasreihe und in Mendelejews Periodensystem das abschließende Mitglied in der Gruppe null. Rutherford und Soddy bezeichneten es vorläufig als Thoron oder Emanation.

Thoron verflüchtigte sich mit großer Geschwindigkeit - die Hälfte war nach einer Minute verschwunden, drei Viertel nach zwei Minuten, und nach zehn Minuten war es nicht mehr feststellbar. Die Schnelligkeit dieses Abbaus (und die Tatsache, dass an seiner Stelle eine radioaktive Ablagerung zurückblieb) gestatteten Rutherford und Soddy wahrzunehmen, was bei Uran oder Radium unklar geblieben war - dass es bei Atomen radioaktiver Elemente tatsächlich zu einem ständigen Zerfall kam und damit zur Umwandlung in andere Atome.

Wie sie feststellten, hatte jedes radioaktive Element eine charakteristische Zerfallsrate, seine besondere «Halbwertzeit». Die Halbwertzeit eines Elements ließ sich mit außerordentlicher Genauigkeit errechnen, die Halbwertzeit eines Radonisotops ergab beispielsweise 3,8235 Tage. Die Lebensdauer eines einzelnen Atoms hingegen ließ sich nicht im Mindesten vorhersagen. Dieser Gedanke stürzte mich in tiefe Verwirrung. Wieder und wieder nahm ich mir Soddys Bericht vor:

Zu jedem Zeitpunkt liegt die Wahrscheinlichkeit fest, ob ein Atom in einer bestimmten Sekunde zerfallt oder nicht zerfällt. Nach unserem Wissen hat sie nichts mit irgendwelchen inneren oder äußeren Gründen zu tun, vor allem wird sie nicht durch den Umstand erhöht, dass das Atom bereits einen bestimmten Zeitraum überlebt hat… wir können hier nur sagen, dass die unmittelbare Ursache des Atomzerfalls offenbar vom Zufall abhängt.

Die Lebensspanne einzelner Atome schwankte allem Anschein nach zwischen null und unendlich, und es gab nichts, wodurch man zwischen einem Atom, das «fällig» war, bereit zu zerfallen, und einem anderen, das noch eine Milliarde Jahre vor sich hatte, hätte unterscheiden können.

Ich fand es äußerst rätselhaft und beunruhigend, dass ein Atom jederzeit zerfallen konnte - ohne einen «Grund». Dies schien die Radioaktivität aus dem Reich der Kontinuität und des prozesshaften Geschehens, aus dem verstehbaren, kausalen Universum zu verbannen - und auf einen Bereich zu verweisen, in dem Gesetze klassischer Art keine Bedeutung hatten.

Die Halbwertzeit des Radiums war sehr viel länger als die seiner Emanation, des Radons, nämlich 1600 Jahre. Doch das war noch immer sehr wenig im Vergleich zum Alter der Erde. Wenn Radium ständig zerfiel, warum war es dann noch nicht vollständig von der Erde verschwunden? Die Antwort leitete Rutherford zunächst theoretisch ab; er konnte sie aber bald auch empirisch belegen: Radium wird durch Elemente mit einer weit längeren Halbwertzeit erzeugt, einer ganzen Kette von Stoffen, die Rutherford bis zum Mutterelement, Uran, zurückverfolgen konnte. Für das Uran hatte man eine Halbwertzeit von viereinhalb Milliarden Jahren ermittelt, was in etwa dem Alter der Erde entsprach. Andere radioaktive Zerfallsreihen begannen mit Thorium, das eine noch längere Halbwertzeit hatte als das Uran. Die Erde lebte also, was die Atomenergie anging, immer noch von Uran und Thorium, das schon bei der Entstehung des Planeten zugegen gewesen war.

Diese Entdeckungen hatten entscheidende Bedeutung für einen lang andauernden Streit über das Alter der Erde. Der namhafte Physiker Kelvin schrieb Anfang der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts, kurz nach dem Erscheinen von Darwins Entstehung der Arten, wenn man von der Abkühlungsrate der Erde ausgehe und keine weitere Wärmequelle außer der Sonne annehme, dann könne die Erde nicht älter als zwanzig Millionen Jahre sein und werde in fünf Millionen Jahren wiederum zu kalt sein, um noch Leben zu erhalten. Diese Berechnung war nicht nur an sich bestürzend, sie ließ sich auch nicht mit den fossilen Funden vereinbaren, die darauf hinwiesen, dass es bereits seit vielen hundert Millionen Jahren Leben gab - und doch schien es keine Möglichkeit zu geben, Kelvins Argument zu widerlegen. Darwin hat dieser Umstand sehr zu schaffen gemacht.

Erst mit Entdeckung der Radioaktivität ließ sich das Rätsel lösen. Es heißt, der junge Rutherford habe, sehr nervös, als er dem berühmten, inzwischen achtzigjährigen Lord Kelvin gegenüberstand, die Meinung vertreten, Kelvins Berechnung gründe sich auf eine falsche Annahme. Neben der Sonne gebe es durchaus noch eine weitere Wärmequelle, so Rutherford, eine, die für die Erde sehr bedeutend sei. Radioaktive Elemente (vor allem Uran und Thorium sowie ihre Zerfallsprodukte, aber auch ein radioaktives Kaliumisotop) würden die Erde seit Jahrmilliarden erwärmen und sie vor dem frühzeitigen Wärmetod bewahren, den Kelvin ihr vorhergesagt habe. Rutherford hielt ein Stück Pechblende hoch, dessen Alter er nach der Heliummenge berechnet hatte, die es enthielt. Dieses Stück Erde, sagte er, sei mindestens 500 Millionen Jahre alt.

Am Ende waren Rutherford und Soddy in der Lage, drei gesonderte radioaktive Zerfallsreihen nachzuzeichnen, jede mit etwa einem Dutzend Stoffen, die aus dem Zerfall der ursprünglichen Mutterelemente hervorgingen. Waren alle diese Zerfallsprodukte möglicherweise verschiedene Elemente? Im Periodensystem war kein Platz für drei Dutzend Elemente zwischen Wismut und Thorium - vielleicht für ein halbes Dutzend, aber nicht viel mehr. Erst allmählich stellten sich viele dieser Elemente einfach als andere Versionen ihrer selbst heraus; beispielsweise waren die Emanationen von Radium, Thorium und Actinium trotz erheblich abweichender Halbwertzeiten chemisch identisch mit ihren Mutterelementen, die gleichen Elemente, wenn auch mit etwas anderen Atomgewichten. (Soddy nannte sie später Isotope.) Ähnlich verhielt es sich mit den Endpunkten jeder Reihe - Radium G, Actinium E und Thorium E, wie sie genannt wurden, waren alle Bleiisotope.

Jeder Stoff in diesen Zerfallsreihen hatte seine eigene Radiosignatur, eine Halbwertzeit von feststehender und unveränderlicher Dauer und eine charakteristische Strahlenemission. Diese Eigenschaften ermöglichten es Rutherford und Soddy, die verschiedenen Stoffe zu unterscheiden, ein Prozess, in dessen Verlauf sie eine neue Wissenschaft aus der Taufe hoben: die Radiochemie.

Damit ließ sich das Konzept des Atomzerfalls, das Marie Curie als Erste vorgeschlagen, dann aber wieder fallen gelassen hatte, nicht länger in Abrede stellen. Es war offenkundig, dass jede radioaktive Substanz unter Abgabe von Energie zerfiel und sich in ein anderes Element verwandelte. Diese Transmutation bildete das Kernstück der Radioaktivität.

Meine Liebe zur Chemie rührte nicht zuletzt daher, dass sie eine Wissenschaft von den Verwandlungen war, von den unzähligen Verbindungen, die sich aus einigen Dutzend Elementen aufbauten, die ihrerseits unveränderlich und ewig blieben. Das Gefühl der Verlässlichkeit und Unveränderlichkeit der Elemente hatte für mich große psychologische Bedeutung. Ich sah die Elemente als Fixpunkte, als Anker in einer unbeständigen Welt. Doch nun wurden mit der Radioaktivität Veränderungen der unglaublichsten Art möglich. Welcher Chemiker hätte sich träumen lassen, dass aus Uran, einem harten, wolframartigen Metall, derart verschiedene Stoffe hervorgehen konnten: ein Erdalkalimetall wie Radium, ein Edelgas wie Radon, ein tellurartiges Element wie Polonium, radioaktive Formen von Wismut und Thallium und schließlich Blei - womit fast jede Gruppe des Periodensystems vertreten war.

Kein Chemiker hätte sich so etwas vorstellen können (allenfalls die Alchimisten), weil die Umwandlungen sich außerhalb chemischer Grenzen vollzogen. Kein chemischer Prozess, keine noch so heftige chemische Reaktion konnte je die Identität eines Elements verändern. Das galt auch für die radioaktiven Elemente. Radium verhielt sich chemisch ähnlich wie Barium, seine Radioaktivität war eine vollkommen andere Eigenschaft, ohne Bezug zu seinen chemischen oder physikalischen Eigenschaften. Die Radioaktivität bildete ein wunderbares (oder schreckliches) Extra, eine vollkommen andere Eigenschaft (eine, die ich gelegentlich ärgerlich fand, denn ich mochte die wolframartige Dichte des metallischen Urans, seine Fluoreszenz sowie die Schönheit seiner Mineralien und Salze, doch ich konnte nicht lange damit hantieren, weil es zu gefährlich gewesen wäre, entsprechend empörte mich die starke Radioaktivität von Radon, das sonst ein ideales schweres Gas gewesen wäre).

Dabei veränderte die Radioaktivität gar nichts an der Realität der Chemie oder am Begriff der Elemente, sie erschütterte weder das Prinzip ihrer Stabilität noch das ihrer Identität. Sie war lediglich ein Hinweis darauf, dass es zwei Bereiche im Atom gab - einen relativ oberflächlichen und zugänglichen Bereich, der für die chemischen Reaktionen und Verbindungen zuständig war, und einen tieferen Bereich, der für die gewöhnlichen chemischen und physikalischen Agenzien und ihre relativ geringen Energien unzugänglich blieb und wo jede Veränderung die Identität des Elements grundlegend verwandelte.

Onkel Abe hatte in seinem Haus ein «Spinthariskop», genau so eines, wie es in der Anzeige auf Marie Curies Dissertation angepriesen wurde. Es war ein wunderbar einfaches Instrument, das aus einem Fluoreszenzschirm und einem Vergrößerungsglas als Okular bestand und in seinem Inneren ein unendlich kleines Körnchen Radium enthielt. Bei einem Blick durchs Okular bekam man Dutzende von Szintillationen in der Sekunde zu sehen - als Onkel Abe es mir reichte und ich es ans Auge hielt, fand ich das Schauspiel betörend, magisch, als betrachte man eine endlose Folge von Meteoren oder Sternschnuppen.

Spinthariskope, die es für wenige Shillinge gab, waren Anfang des 20. Jahrhunderts beliebte Spielzeuge in englischen Salons - eine Errungenschaft des neuen Jahrhunderts, die sich zu den Stereoskopen und Geißlerschen Röhren aus viktorianischer Zeit gesellten. Doch auch wenn sie zunächst als eine Art Spielzeug dienten, erkannte man doch rasch ihren grundsätzlichen Bedeutungsaspekt, denn die winzigen Funken oder Szintillationen, die man hier sah, stammten aus dem Zerfall einzelner Radiumatome. Es waren die Alphateilchen, die dabei emittiert wurden. Niemand hätte gedacht, sagte Onkel Abe, dass man jemals in der Lage sein würde, die Effekte einzelner Atome zu sehen oder sie gar zu zählen.

«Wir haben hier weniger als ein Millionstel Milligramm Radium, und doch zeigen sich auf der kleinen Fläche des Schirms Dutzende von Szintillationen pro Sekunde. Stell dir vor, wie viele wir bei einem Gramm Radium hätten - bei der milliardenfachen Menge.»

«Hundert Milliarden», sagte ich nach einem schnellen Überschlag.

«Ungefähr», sagte Onkel. «Hundertsechsunddreißig Milliarden, um genau zu sein - die Zahl verändert sich nie. Jede Sekunde zerfallen in einem Gramm Radium hundertsechsunddreißig Milliarden Atome und schießen ihre Alphateilchen ab - wenn du dir überlegst, dass dies auf Tausende von Jahren so weitergeht, bekommst du eine Ahnung davon, wie viele Atome sich in einem einzigen Gramm Radium befinden.»

Um die Jahrhundertwende hatten Experimente gezeigt, dass vom Radium nicht nur Alphateilchen, sondern auch verschiedene andere Strahlenarten emittiert wurden. Die meisten Erscheinungen der Radioaktivität ließen sich auf diese verschiedenen Strahlenarten zurückführen: Die Fähigkeit, Luft zu ionisieren, war das besondere Vorrecht der Alphastrahlen, während die Fähigkeit, Fluoreszenz hervorzurufen oder auf fotografische Platten einzuwirken, sich bei Betastrahlen ausgeprägter zeigte. Jedes radioaktive Element hatte seine eigenen charakteristischen Emissionen: Radiumpräparate emittierten sowohl Alpha- als auch Betastrahlen, Poloniumpräparate hingegen nur Alphastrahlen. Uran schwärzte eine fotografische Platte schneller als Thorium, aber Thorium eignete sich besser, ein Elektroskop zu entladen.

Die beim radioaktiven Zerfall emittierten Alphateilchen (später zeigte sich, dass es sich um Heliumkerne handelte) waren positiv geladen und relativ massereich - tausendmal massereicher als Betateilchen oder Elektronen - und sie bewegten sich vollkommen geradlinig, sie durchquerten Materie direkt, ohne zu streuen oder abgelenkt zu werden (höchstens verloren sie ein bisschen von ihrer Geschwindigkeit). So jedenfalls schien es zu sein, obwohl Rutherford 1906 auch ganz selten mögliche winzige Ablenkungen beobachtete. Andere schenkten dem keine Beachtung, doch Rutherford erschienen diese Beobachtungen als potenziell bedeutungsvoll. Konnten Alphateilchen nicht als ideale Projektile dienen, um andere Atome zu beschießen und ihren Aufbau zu ermitteln? Er forderte seinen jungen Assistenten Hans Geiger und den Studenten Ernest Marsden auf, ein Szintillationsexperiment mit Leuchtschirmen durchzuführen. Sie nahmen dünne Metallfolien und zählten jedes Alphateilchen, das auf die Folien abgefeuert wurde. Als sie Alphateilchen auf ein Stück Goldfolie schössen, beobachteten sie, dass rund ein Teilchen unter achttausend eine starke Ablenkung zeigte - von mehr als 90 Grad, manchmal sogar 180 Grad. Später sagte Rutherford: «Es war das unglaublichste Ereignis, das mir in meinem Leben zugestoßen ist. Es war fast so unglaublich, als würden Sie eine 40-Zentimeter-Granate auf ein Stück Papier abfeuern und sie käme zurück und würde Sie treffen.»

Fast ein Jahr lang dachte Rutherford über diese merkwürdigen Ergebnisse nach, bis er eines Tages, wie Geiger berichtete, «in mein Zimmer kam, offenbar bester Stimmung, und mir mitteilte, er wisse jetzt, wie das Atom aussehe und was die seltsame Streuung bedeute».

Atome, so war Rutherford klar geworden, konnten kein homogenes positives Gelee sein, in dem die Elektronen wie Rosinen saßen (wie es J. J. Thomson mit seinem «Plumpudding-Modell» des Atoms vorgeschlagen hatte), denn dann würden die Alphateilchen sie immer ungehindert durchqueren. Angesichts der großen Energie und Ladung dieser Alphateilchen musste man davon ausgehen, dass sie gelegentlich von etwas abgelenkt wurden, das positiver geladen war als sie selbst. Doch das geschah nur einmal unter achttausend Malen. Die anderen 7999 Teilchen flitzten offenbar unabgelenkt hindurch, als bestünden die Goldatome größtenteils aus leerem Raum. Das achttausendste Teilchen wurde jedoch aufgehalten und prallte zurück wie ein Tennisball, der auf eine Kugel aus massivem Wolfram stieß. Daraus schloss Rutherford, die Masse des Goldatoms müsse im Zentrum konzentriert sein, auf winzigem Raum, sodass sie nicht leicht zu treffen sei - als ein Kern von fast unvorstellbarer Dichte. Das Atom bestehe ganz überwiegend aus leerem Raum und besitze einen dichten, positiv geladenen Kern, der nur ein Hunderttausendstel des Atomdurchmessers ausmache, sowie relativ wenige, negativ geladene Elektronen, die diesen Kern umkreisten - im Grunde ein Sonnensystem en miniature.

Rutherfords Experimente und sein Kernmodell des Atoms boten eine strukturelle Erklärung für die außerordentlichen Unterschiede zwischen radioaktiven und chemischen Prozessen, den millionenfachen Unterschied der beteiligten Energien (Soddy verlieh ihnen in seinen populärwissenschaftlichen Vorträgen dramatischen Ausdruck, indem er ein Glas mit einem Pfund Uranoxid in die Luft reckte und sagte, dies besitze nun die Energie von hundertundsechzig Tonnen Kohle).

Bei chemischer Veränderung oder Ionisierung wurden ein oder zwei Elektronen hinzugefügt oder weggenommen, wozu nur eine bescheidene Energie von zwei oder drei Elektronenvolt erforderlich war. Die ließ sich leicht erzeugen - durch eine chemische Reaktion, durch Wärme oder Licht oder durch eine einfache 3-Volt-Batterie. Doch an radioaktiven Prozessen waren Atomkerne beteiligt, und die wurden durch weit größere Kräfte zusammengehalten. Der Zerfall von Atomkernen konnte Energien von ganz anderer Größenordnung freisetzen - einigen Millionen Elektronenvolt.

Bald nach der Jahrhundertwende prägte Soddy den Begriff Atomenergie, zehn Jahre oder mehr, bevor der Kern entdeckt wurde. Bis dahin wusste niemand oder konnte niemand auch nur einigermaßen plausibel vermuten, wie es der Sonne und den Sternen gelingt, so viel Energie über viele Millionen Jahre abzustrahlen. Chemische Energie wäre lächerlich unzureichend. Eine Sonne aus Kohle wäre in zehntausend Jahren ausgebrannt. Könnte Radioaktivität, Atomenergie die Antwort liefern?

Nehmen wir an, schrieb Soddy, unsere Sonne bestünde aus reinem Radium… dann gäbe es keine Schwierigkeit, ihren Energieausstoß zu erklären.

Ließ sich die Transmutation, wie sie in radioaktiven Stoffen natürlich auftrat, auch künstlich herstellen, fragte Soddy.[68] Dieser Gedanke riss ihn zu einem großartigen, fast mystischen Ausblick hin:

Radium hat uns gelehrt, dass die Energiemenge in der Welt unbegrenzt ist… ein Geschlecht, das Materie transmutieren könnte, hätte es kaum noch nötig, sich den Lebensunterhalt im Schweiße seines Angesichts zu verdienen… Solch ein Geschlecht könnte Wüsten urbar machen, die eisigen Pole auftauen und die ganze Welt in ein lächelndes Paradies verwandeln… Damit eröffnen sich ungeahnte Perspektiven. Das Erbe des Menschen ist reicher geworden, seine Ansprüche sind gestiegen und sein Schicksal hat eine Wende genommen, deren Folgen heute niemand vorherzusagen vermag… eines Tages wird er in der Lage sein, die primären Energiequellen, die die Natur heute noch so eifersüchtig für die Zukunft aufspart, seinen eigenen Zwecken dienstbar zu machen.

Soddys Buch The Interpretation of Radium las ich im letzten Kriegsjahr, fasziniert von seiner Vision unbegrenzter Energie und unbegrenzten Lichts. Soddys begeisterte Worte vermittelten mir eine Ahnung von dem Gefühlsrausch der Macht und Befreiung, den die Entdeckung von Radium und Radioaktivität zu Anfang des Jahrhunderts ausgelöst hatte.

Doch Soddy ging auch auf die düsteren Möglichkeiten ein. Sie waren ihm praktisch von Anfang an bewusst, schon 1903, und er nannte die Erde «ein Lagerhaus, voll gepackt mit Sprengstoffen, deren Zerstörungskraft unvorstellbar größer ist als alles, was wir kennen». Dieser Gedanke klang häufig an in The Interpretation of Radium. Soddys eindrückliche Visionen waren es auch, die H. G. Wells 1914 veranlassten, zum Stil seiner Science-Fiction-Romane zurückzukehren und Befreite Welt zu schreiben (Wells widmete der Roman sogar der Interpretation of Radium). Hier erfand Wells ein neues radioaktives Element namens Carolinum, dessen Energiefreisetzung fast einer Kettenreaktion entsprach.[69]

In der bisherigen Kriegsgeschichte hatten die Geschosse und Raketen nur einmalig explodierende Sprengstoffe enthalten. In einem Augenblick war ihre Wirkung verpufft… Aber Carolinum… setzte nach Beginn des Zerfallsprozesses immer neue wilde Energiemengen frei, und nichts konnte diesen Prozess stoppen.

Ich musste an Soddys Prophezeiungen und Wells' Hellsicht denken, als wir im August 1945 die Nachrichten aus Hiroshima hörten. Merkwürdig gemischte Gefühle hatte ich, was die Atombombe anging. Unser Krieg war schließlich schon vorüber, der Tag des Sieges bereits Vergangenheit. Im Unterschied zu den Amerikanern hatten wir kein Pearl Harbor erlebt, nicht die schrecklichen Kämpfe in Guam und Saipan, wir hatten keinen direkten Krieg gegen die Japaner geführt. Irgendwie erschienen die Atombomben als schreckliches Postskriptum zum Krieg, eine entsetzliche Machtdemonstration, die vielleicht nicht mehr nötig gewesen wäre.

Und doch empfand ich wie viele andere ein Gefühl des Triumphs angesichts der wissenschaftlichen Leistung der Atomspaltung, und ich verschlang den Smyth-Report, der im August 1945 erschien und die Herstellung der Bombe in allen Einzelheiten beschrieb. Den ganzen Schrecken der Bombe begriff ich erst im folgenden Sommer, als John Herseys «Hiroshima»-Artikel in einem Sonderdruck des New Yorker veröffentlicht wurde (Einstein soll tausend Exemplare dieser Ausgabe gekauft haben) und bald darauf im dritten Programm der BBC gesendet wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Physik und Chemie für mich nur ein Gegenstand reinen Vergnügens und Staunens gewesen, und vielleicht war ich mir ihrer zerstörerischen Kräfte nicht genügend bewusst gewesen. Die Atombombe erschütterte mich wie alle anderen. Man spürte, Atom- und Kernphysik konnten nie wieder die Unschuld und Unbekümmertheit zurückgewinnen, die sie in den Tagen von Rutherford und den Curies besessen hatten.

KAPITEL VIERUNDZWANZIG

STRAHLENDES LICHT

Wie viele Elemente brauchte Gott, um ein Universum zu schaffen? Im Jahr 1815 waren rund fünfzig bekannt, und wenn Dalton Recht hatte, bedeuteten sie fünfzig verschiedene Arten von Atomen. Doch Gott würde gewiss nicht fünfzig verschiedene Bausteine für sein Universum brauchen - er würde es bestimmt ökonomischer konstruieren. Als William Prout, einem chemisch gesonnenen Arzt aus London, auffiel, dass Atomgewichte fast ganzzahlig und daher Vielfache des Atomgewichts von Wasserstoff waren, äußerte er die Vermutung, Wasserstoff sei das Urelement und alle anderen Elemente aus ihm aufgebaut. Gott habe also nur ein Atom erschaffen müssen und alle anderen seien durch natürliche «Kondensation» aus diesem einen hervorgegangen.

Leider stellte sich heraus, dass einige Elemente gebrochenzahlige Atomgewichte besaßen. Man konnte ein Gewicht abrunden, das etwas größer oder etwas kleiner als eine ganze Zahl war (wie es Dalton tat), aber was sollte man beispielsweise mit Chlor anfangen, das ein Atomgewicht von 35,5 hatte? Damit ließ sich Prouts Hypothese schwer aufrechterhalten, und weitere Schwierigkeiten ergaben sich, als Mendelejew sein Periodensystem entwickelte. Beispielsweise musste Tellur, chemisch betrachtet, vor Jod kommen, doch sein Atomgewicht war nicht kleiner, sondern größer. Das verursachte erhebliche Probleme, trotzdem wurde Prouts Hypothese während des 19. Jahrhunderts nie ganz ad acta gelegt - sie war so elegant, so einfach, dass viele Chemiker und Physiker glaubten, sie müsse eine wesentliche Wahrheit enthalten.

Gab es vielleicht eine atomare Eigenschaft, die ganzzahliger, fundamentaler war als das Atomgewicht? Diese Frage ließ sich erst klären, als man die Möglichkeit hatte, das Atom zu «sondieren», vor allem seinen zentralen Bestandteil, den Kern. Ein Jahrhundert nach Prout, 1913, begann Harry Moseley, ein hochbegabter junger Physiker, der bei Rutherford arbeitete, Atome mit der gerade entwickelten Technik der Röntgenspektroskopie zu erforschen. Seine Versuchsanordnung bewies kindlichen Charme: Moseley ließ einen Spielzeugzug, der in jedem Waggon ein anderes Element geladen hatte, in einer Vakuumröhre von einem Meter Länge fahren und beschoss jedes Element mit Kathodenstrahlen, damit sie charakteristische Röntgenstrahlen emittierten. Als er die Beziehung zwischen den Quadratwurzeln der Frequenzen und den Ordnungszahlen der Elemente in einem Diagramm darstellte, erhielt er eine gerade Linie; eine andere Darstellungsform zeigte, dass die Frequenzzunahme beim Übergang von einem Element zum nächsten in deutlich abgegrenzten, diskreten Schritten oder Sprüngen erfolgte. Darin offenbare sich eine fundamentale Eigenschaft der Atome, glaubte Moseley, und diese Eigenschaft müsse die Kernladung sein.

Dank seiner Entdeckung war Moseley in der Lage, eine vollständige «Anwesenheitsliste» aufzustellen (wie Soddy es formulierte). In der Aufstellung durfte es keine Lücken mehr geben, nur noch gleichmäßige, regelmäßige Schritte. Eine Lücke bedeutete das Fehlen eines Elementes. Von nun an kannte man die Reihenfolge der Elemente genau und wusste, dass es zweiundneunzig und nur zweiundneunzig an der Zahl waren - von Wasserstoff bis Uran. Nun war auch klar, dass es nur noch sieben fehlende Elemente zu finden galt. Die «Anomalien», die die Atomgewichte zeigten, waren geklärt: Tellur mochte ein etwas höheres Atomgewicht haben als Jod, trotzdem blieb es Element Nummer 52 und Jod Nummer 53. Entscheidend war die Ordnungszahl, nicht das Atomgewicht.

Die Perfektion und Geschwindigkeit, mit der Moseley diese Untersuchung durchführte - innerhalb weniger Monate der Jahre 1913/1914 -, rief in der chemischen Community etwas gemischte Gefühle hervor. Einige der gestandenen Wissenschaftler fragten sich, was dieser Grünschnabel sich eigentlich einbilde. Der kam daher und behauptete, er habe das Periodensystem vervollständigt, und schloss einfach die Möglichkeit aus, dass es noch andere als die von ihm berücksichtigten Elemente gebe. Was wusste der schon von der Chemie - ihren langen, mühseligen Prozessen, den Destillationen, Filtrationen, Kristallisationen, die unter Umständen erforderlich waren, um ein neues Element zu isolieren oder eine neue Verbindung zu analysieren? Doch Urbain, einer der größten analytischen Chemiker aller Zeiten - ein Mann, der fünfzehntausend fraktionierte Kristallisationen durchgeführt hatte, um Lutetium zu isolieren -, erkannte augenblicklich die Bedeutung dieser Leistung an und vertrat die Auffassung, Moseleys Arbeit stelle keineswegs die Autonomie der Chemie in Frage, sondern erhärte das Periodensystem und bekräftige seine zentrale Bedeutung. «Das Gesetz von Moseley… hat in wenigen Tagen die Ergebnisse meiner zwanzigjährigen, geduldigen Arbeit bestätigt.»

Ordnungszahlen wurden vorher benutzt, um die Reihenfolge der nach ihrem Atomgewicht aufgelisteten Elemente zu bezeichnen, doch Moseley verlieh der Ordnungszahl eine konkrete Bedeutung. Von nun an bezeichnete sie die Kernladung, sie verlieh dem Element eine chemisch absolute und unbezweifelbare Identität. Es gab zum Beispiel verschiedene Formen des Bleis - Isotope - mit verschiedenen Atomgewichten, aber alle hatten sie die gleiche Ordnungszahl 82. Blei war grundsätzlich, seiner innersten Natur nach, Nummer 82 und konnte diese Ordnungszahl nicht verändern, ohne aufzuhören, Blei zu sein. Wolfram war notwendigerweise, unabdingbar, Element 74. Doch wie verlieh ihm diese 74-heit seine Identität?

Zwar hatte Moseley die wahre Zahl und Reihenfolge der Elemente gezeigt, trotzdem blieben noch eine Reihe grundsätzlicher Fragen offen, Fragen, die Mendelejew und die Wissenschaftler seiner Zeit beschäftigt hatten, Fragen, die Onkel Abe in jungen Jahren beschäftigten, Fragen, die nun mich beschäftigen würden, da die Freuden der Chemie, der Spektroskopie und des Spiels mit Radioaktivität eine Vielzahl von Warums eröffneten. Warum? Warum? Warum? Warum gab es überhaupt Elemente, und warum hatten sie genau diese Eigenschaften? Warum waren die Alkalimetalle und die Halogene auf ihre entgegengesetzte Art so außerordentlich aktiv? Was erklärte die Ähnlichkeit der seltenen Erden, die schönen Farben und magnetischen Eigenschaften ihrer Salze? Was erzeugte die unverwechselbaren und komplexen Spektren der Elemente und die numerischen Regelmäßigkeiten, die Balmer in ihnen entdeckt hatte? Was vor allem verlieh den Elementen ihre Stabilität, ihre Fähigkeit, im Laufe von Jahrmilliarden unverändert zu bleiben, nicht nur auf der Erde, sondern offenbar auch in der Sonne und den Sternen? Das war die Art von Fragen, die Onkel Abe vierzig Jahre zuvor als jungen Mann gequält hatten - doch 1913, so erzählte er mir, seien diese Fragen und Dutzende andere, die er sich habe, im Prinzip beantwortet gewesen. Plötzlich habe sich dem Verständnis eine neue Welt erschlossen.

Rutherford und Moseley hatten sich vor allem auf den Kern der Atome konzentriert, seine Masse und die Einheiten der elektrischen Ladung. Doch offenbar wurden die chemischen Eigenschaften der Elemente und (anscheinend) auch viele ihrer physikalischen Eigenschaften von den kreisenden Elektronen, von deren Organisation und Bindung, bestimmt. Und an diesen Elektronen scheiterte Rutherfords Atommodell. Nach der klassischen, Maxwell'schen Physik konnte ein solches Sonnensystem-Modell des Atoms nicht stimmen, denn die Elektronen, die den Atomkern eine Billion Mal pro Sekunde umkreisten, müssten eine Strahlung in Form von sichtbarem Licht erzeugen. Ein solches Atom gäbe einen plötzlichen Lichtblitz ab und stürzte dann in sich zusammen, weil die Elektronen nach dem Verlust ihrer Energie in den Kern fielen. Doch Tatsache war (von der Radioaktivität abgesehen), dass Elemente und ihre Atome Milliarden Jahre Bestand hatten, praktisch von ewiger Dauer waren. Wie konnte ein Atom also seine Stabilität bewahren und dem entgehen, was doch als sein unabwendbares und augenblickliches Schicksal erschien?

Vollkommen neue Prinzipien mussten angewandt oder erfunden werden, um mit dieser Unmöglichkeit zurande zu kommen. Die Kunde davon wurde zum dritten ekstatischen Erlebnis meines Lebens, zumindest meines «chemischen» Lebens - das erste hatten mir Dalton und die Atomtheorie bereitet, das zweite Mendelejew und sein Periodensystem. Doch das dritte war, denke ich, in gewisser Weise das beeindruckendste von allen, weil es zu der gesamten klassischen Wissenschaft, die ich kannte, und zu allem, was ich über Logik und Kausalität wusste, im Widerspruch stand (oder zu stehen schien).

Niels Bohr, der 1913 ebenfalls in Rutherfords Labor arbeitete, gelang es, das Unmögliche zu erklären, indem er Rutherfords Atommodell und Plancks Quantentheorie zusammenführte. Die Idee, dass Energie nicht kontinuierlich, sondern in diskreten Paketen, «Quanten», absorbiert oder emittiert werde, hatte wie eine Zeitbombe fast unbemerkt vor sich hin getickt, seit Planck sie im Jahr 1900 aufgebracht hatte. Von Einstein war sie zur Erklärung des lichtelektrischen Effektes herangezogen worden, ansonsten aber waren die Quantentheorie und ihre revolutionären Möglichkeiten merkwürdig unbeachtet geblieben. Bis Bohr nun auf sie zurückgriff, um die Unmöglichkeiten von Rutherfords Atom zu überwinden. Die klassische Anschauung, das Sonnensystem-Modell, gestattete den Elektronen eine unendliche Zahl von Bahnen, alle instabil, alle in den Kern stürzend. Bohr hingegen schlug ein Atom vor, das eine begrenzte Anzahl diskreter Elektronenbahnen hatte, jede mit einem spezifischen Energieniveau oder Quantenzustand. Den energieärmsten, der dem Kern am nächsten war, bezeichnete Bohr als «Grundzustand» - ein Elektron, das sich im Grundzustand befand, konnte den Kern ewig umkreisen, ohne Energie zu emittieren oder zu verlieren. Das war eine These von verblüffender und ungeheuerlicher Kühnheit, beinhaltete sie doch, dass sich die klassische Theorie des Elektromagnetismus auf die winzigen Abstände des Atoms nicht anwenden ließe.

Damals gab es noch keinen Anhaltspunkt für diese Hypothese. Es war ein Sprung, von der Eingebung, der Phantasie beflügelt - nicht unähnlich den Sprüngen, die Bohr jetzt für die Elektronen selbst postulierte, nämlich Sprünge ohne Vorwarnung oder Zwischenstufen von einem Energieniveau auf das andere. Denn neben dem Grundzustand des Elektrons gab es nach Bohrs These energiereichere Bahnen, energiereichere «stationäre Zustände», auf die die Elektronen kurzzeitig verlagert werden konnten. Wenn also ein Atom Energie von entsprechender Frequenz absorbierte, konnte ein Elektron aus seinem Grundzustand in eine energiereichere Bahn springen, musste jedoch früher oder später wieder in seinen ursprünglichen Grundzustand zurückfallen und Energie genau der gleichen Frequenz emittieren, die es absorbiert hatte - genau dies geschah bei Fluoreszenz und Phosphoreszenz, und es erklärte auch die Identität von spektralen Emissions- und Absorptionslinien, die über mehr als fünfzig Jahre hin ein Rätsel geblieben waren.

Nach Bohrs Vorstellung konnten Atome nur durch solche Quantensprünge Energie absorbieren oder emittieren - und die diskreten Linien ihrer Spektren waren einfach der Ausdruck für die Übergänge zwischen ihren stationären Zuständen. Die Zuwächse zwischen den Energieniveaus nahmen mit dem Abstand vom Kern ab, und diese Intervalle, so berechnete Bohr, entsprachen genau den Linien im Wasserstoffspektrum (und der Formel, die Balmer dafür entwickelt hatte). Diese Übereinstimmung von Theorie und Wirklichkeit bedeutete Bohrs ersten großen Triumph. Einstein hielt Bohrs Arbeit für eine «enorme Leistung», und dreißig Jahre später schrieb er in einem Rückblick: «Sie erscheint mir auch heute noch als ein Wunder. Dies ist höchste Musikalität auf dem Gebiete des Gedankens.» Das Wasserstoffspektrum, Spektren überhaupt seien so schön und so bedeutungslos gewesen wie die Zeichnung auf Schmetterlingsflügeln, meinte Bohr, doch nun könne man erkennen, dass sie die Energiezustände innerhalb des Atoms wiedergäben, die Quantenbahnen, auf denen die Elektronen summten und sängen. «Was wir heutzutage aus der Sprache der Spektren heraushören», schrieb der bedeutende Spektroskopiker Arnold Sommerfeld, «ist eine wirkliche Sphärenmusik des Atoms».

Ließ sich die Quantentheorie auch auf komplexere Mehrelektronenatome erweitern? Konnte sie deren chemische Eigenschaften, das Periodensystem erklären? Für Bohr wurden dies die zentralen Fragen, als die wissenschaftliche Forschung nach dem Ersten Weltkrieg wieder zu neuem Leben erwachte.[70]

Wenn die Ordnungszahl anstieg, die Kernladung oder Anzahl der Protonen im Kern wuchs, musste eine gleiche Zahl von Elektronen hinzukommen, um die Neutralität des Atoms zu bewahren. Doch diese Vermehrung der Elektronen müsse, so meinte Bohr, hierarchisch und geordnet erfolgen. Während er sich bisher mit den potenziellen Bahnen des einen Wässerstoffelektrons beschäftigt hatte, übertrug er sein Konzept jetzt auf eine Hierarchie von Bahnen oder Schalen, die für alle Elemente galt. Diese Schalen, so glaubte er, hätten bestimmte und diskrete Energieniveaus, sodass die Elektronen, wenn sie einzeln hinzugefügt würden, zunächst die energieärmste Bahn besetzten, und wenn diese voll wäre, die nächsthöhere und wieder die nächste und so fort. Bohrs Elektronenschalen entsprachen Mendelejews Perioden, das heißt, die erste, am weitesten innen gelegene Schale bot Platz für zwei und nur zwei Elektronen. Sobald diese Schale mit ihren zwei Elektronen vollständig war, begann eine zweite Schale, die, wie Mendelejews zweite Periode, acht Elektronen und keines mehr aufnehmen konnte. Gleiches galt für die dritte Schale oder Periode. Durch einen solchen Aufbau ließen sich, so Bohr, die Elemente systematisch konstruieren und würden sie von ganz alleine an die richtige Stelle im Periodensystem rücken.

Die Position jedes Elements im Periodensystem repräsentierte also die Anzahl der Elektronen in seinen Atomen, und die Reaktions- und Bindungsfähigkeit ließ sich nun anhand der Elektronenanordnung verstehen, das hieß anhand der Besetzung der äußersten Elektronenschale, der so genannten Valenzelektronen. Die Edelgase hatten die äußeren Valenzschalen mit acht Elektronen vollständig besetzt, was sie praktisch reaktionsunfähig machte. Die Alkalimetalle in Gruppe I hatten nur ein Elektron in ihrer äußersten Schale und waren überaus bestrebt, sich seiner zu entledigen und die Stabilität der Edelgaskonfiguration herzustellen. Die Halogene in Gruppe VII, die sieben Elektronen in ihrer Valenzschale besaßen, waren demgegenüber bestrebt, sich ein zusätzliches Elektron zu verschaffen und damit ebenfalls die Edelgaskonfiguration zu erreichen. Beim Kontakt zwischen Natrium und Chlor kam es nach dieser Theorie also zu einer sofortigen (tatsächlich explosionsartigen) Vereinigung, weil jedes Natriumatom sein zusätzliches Elektron abgab und jedes Chloratom dies fröhlich aufnahm, wodurch beide ionisiert wurden.

Die Einordnung der Übergangselemente und seltenen Erden in das Periodensystem hatte immer besondere Probleme aufgeworfen. Jetzt schlug Bohr eine elegante und einfallsreiche Lösung vor: Danach enthielten die Übergangselemente alle eine zusätzliche Schale mit zehn Elektronen, die seltenen Erden eine zusätzliche Schale mit vierzehn Elektronen. Diese inneren Schalen, im Fall der seltenen Erden tief verborgen, wirkten sich nicht annähernd so stark auf den chemischen Charakter aus wie die äußeren Schalen, daher die relative Ähnlichkeit aller Übergangselemente und die außerordentliche Ähnlichkeit aller seltenen Erden.

Bohrs elektronisches Periodensystem, das von der Atomstruktur ausging, entsprach im Wesentlichen Mendelejews empirischem, das sich auf die chemische Reaktivität gründete (und war fast identisch mit den Blocktabellen aus präelektronischer Zeit, etwa Thomsons Pyramidentabelle und Werners überlanger Tabelle aus dem Jahr 1905). Ob man nun das Periodensystem aus den chemischen Eigenschaften der Elemente ableitete oder aus den Elektronenschalen ihrer Atome, man kam zu genau dem gleichen Ergebnis.[71] Moseley und Bohr hatten eindeutig gezeigt, dass das Periodensystem auf fundamentalen numerischen Reihen basierte, welche die Zahl der Elemente in jeder Periode bestimmten: zwei in der ersten Periode, je acht in der zweiten und dritten, je achtzehn in der vierten und fünften, zweiunddreißig in der sechsten und vielleicht auch in der siebten. Ich sagte mir diese Reihen - 2, 8, 8, 18, 18, 32 - wieder und wieder auf.

Ich begann jetzt erneut, das Science Museum aufzusuchen, und verbrachte wieder Stunden vor der riesigen Tafel des Periodensystems, wobei ich mich dieses Mal auf die rot in jedes Kästchen eingetragenen Ordnungszahlen konzentrierte. Beispielsweise betrachtete ich das Vanadium - in dem Kästchen lag ein glänzender Klumpen - und vergegenwärtigte es mir als Element 23. 23 setzt sich zusammen aus 5+18: fünf Elektronen in einer äußeren Schale um einen «Argonkomplex» von achtzehn. Fünf Elektronen - also eine Maximalvalenz von fünf; doch drei von ihnen bildeten eine unvollständige innere Schale, und diese unvollständige Schale, das hatte ich erfahren, war verantwortlich für die charakteristischen Farben und magnetischen Suszeptibilitäten des Vanadiums. Das Verständnis dieser quantitativen Verhältnisse ersetzte nicht den Sinn für das konkrete Erscheinungsbild des Vanadiums, sondern verstärkte ihn, weil sich mir nun unter dem Gesichtspunkt der Atomstruktur offenbarte, wie Vanadium zu seinen ganz besonderen Eigenschaften kam. Das Qualitative wurde in meiner Vorstellung mit dem Quantitativen verschmolzen. Jetzt konnte ich aus beiden Blickrichtungen einen Begriff von der «Vanadiumhaftigkeit» gewinnen.

Gemeinsam hatten Bohr und Moseley die Arithmetik in meinen Augen rehabilitiert, indem sie die wesentliche, klare Arithmetik des Periodensystems herausgearbeitet hatten, wie sie bereits von den Atomgewichten, allerdings etwas verschwommen, angedeutet wurde. Charakter und Identität der Elemente ließ sich jetzt, jedenfalls größtenteils, aus ihren Atomzahlen ableiten, die nicht mehr nur die Kernladung angaben, sondern für die besondere Architektur jedes Atoms standen. Das alles war von göttlicher Schönheit, Logik, Einfachheit und Ökonomie - Gottes Abakus am Werk.

Was machte Metalle metallisch? Die Elektronenstruktur erklärte, warum der metallische Zustand so fundamental erschien, in seinem Charakter so anders als jeder andere. Einige der mechanischen Eigenschaften der Metalle, ihre hohen Dichten und Schmelzpunkte, ließen sich nun dadurch erklären, dass die Elektronen besonders eng an den Kern gebunden waren. Die hohe «Bindungsenergie» eines Atoms schien mit ungewöhnlicher Härte und Dichte und einem hohen Schmelzpunkt einherzugehen. Es stellte sich heraus, dass meine Lieblingsmetalle - Tantal, Wolfram, Rhenium, Osmium: die Glühfadenmetalle - die höchste Bindungsenergie aller dieser Elemente aufwiesen. (Es gab also, so vernahm ich zu meiner Freude, eine atomare Rechtfertigung für ihre außergewöhnlichen Qualitäten - und für meine eigene Vorliebe.) Die Leitfähigkeit der Metalle wurde einem «Gas» von freien und beweglichen Elektronen zugeschrieben, die sich leicht von ihren Mutteratomen lösten - das erklärte, warum ein elektrisches Feld einen Strom von beweglichen Elektronen durch einen Draht ziehen konnte. Solch ein Meer von freien Elektronen auf der Oberfläche eines Metalls erklärte auch ihren speziellen Glanz, denn unter dem Einfluss von Licht begannen sie lebhaft zu schwingen, wodurch sie alles Licht streuten oder zurückwarfen.

Aus der Elektronengastheorie folgte weiter, dass unter extremen Temperaturen und Drücken alle nichtmetallischen Elemente, die gesamte Materie, in einen metallischen Zustand gebracht werden konnten. Dies war in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts bereits beim Phosphor gelungen, und in den dreißiger Jahren sagte man voraus, dass es bei Drücken von mehr als einer Million Atmosphären auch beim Wasserstoff der Fall sein würde - metallischen Wasserstoff vermutete man beispielsweise im Kern von Gasriesen wie dem Jupiter. Die Idee, dass sich alles «metallisieren» ließe, fand ich zutiefst befriedigend.[72]

Lange hatten mir die besonderen Kräfte des blauen oder violetten kurzwelligen Lichts Kopfzerbrechen bereitet, weil es so ganz anders war als das rote oder langwellige Licht. Deutlich zeigte sich dies in der Dunkelkammer: Bei einem ziemlich hellen Rotlicht konnte man einen Film entwickeln, ohne dass er geschwärzt wurde, während die kleinste Spur von weißem Licht, Tageslicht (das natürlich Blau enthielt), sofort Schaden anrichtete. Offenkundig wurde das auch im Labor, wo man beispielsweise bei Rotlicht gefahrlos Chlor mit Wasserstoff mischen konnte, während die Mischung bei der kleinsten Andeutung von weißem Licht augenblicklich explodiert wäre. Und es zeigte sich genauso in Onkel Daves Mineralienschrank, wo man Phosphoreszenz oder Fluoreszenz mit blauem oder violettem Licht hervorrufen konnte, nicht aber mit dem stärksten roten Licht. Schließlich gab es noch die Fotozellen, die Onkel Abe im Haus hatte. Die konnte man durch einen winzigen Strahl blauen Lichtes aktivieren, und wenn man sie mit rotem Licht überflutete, zeigten sie nicht die geringste Reaktion. Wieso war eine riesige Menge roten Lichts weniger wirksam als eine kleine Menge blauen Lichts? Erst nachdem ich etwas von Bohr und Planck gelernt hatte, wurde mir klar, dass die Lösung dieser scheinbaren Paradoxa mit der Quantennatur von Strahlung und Licht und mit den Quantenzuständen des Atoms zu tun haben musste. Licht oder Strahlung wurde in winzigen Einheiten oder Quanten abgegeben, wobei deren Energie von ihrer Frequenz abhing. Ein Quant kurzwelligen Lichts - ein blaues Quant gewissermaßen - hatte mehr Energie als ein rotes, und ein Quant von Röntgen- oder Gammastrahlen verfügte über noch weit mehr Energie. Jede Atom- oder Molekülart - egal, ob vom Silbersalz in einer fotografischen Emulsion, ob vom Wasserstoff oder Chlor im Labor, vom Zäsium oder Selen in Onkel Abes Fotozellen oder vom Kalziumsulfid und vom Kalziumwolframat in Onkel Daves Mineralienvitrine - reagierte nur bei einem bestimmten Energieniveau. Diese Reaktion konnte schon durch ein einziges energiereiches Quant ausgelöst werden, während tausend energiearme Quanten völlig wirkungslos blieben.

Als Kind dachte ich, Licht hätte immer eine bestimmte Form und Größe, wie die blumenartige Gestalt von Kerzenflammen, die an Magnolienknospen erinnerte, oder die leuchtenden Vielecke in den Wolframlampen meines Onkels. Erst als Onkel Abe mir sein Spinthariskop zeigte und ich die einzelnen Funken darin erblickte, wurde mir klar, dass Licht, alles Licht, von Atomen oder Molekülen stammte, die zunächst angeregt worden waren und dann in ihren Grundzustand zurückkehrten, wobei sie die Überschussenergie als sichtbare Strahlung abgaben. Von einem erwärmten Festkörper, etwa einem weißglühenden Draht, wurden Energien vieler Wellenlängen emittiert. Glühender Dampf, zum Beispiel Natrium in einer Natriumflamme, emittierte dagegen nur sehr spezifische Wellenlängen. (Das blaue Licht in einer Kerzenflamme, das mich als Jungen so fasziniert hatte, wurde, wie ich später erfuhr, von abkühlenden Di-Kohlenstoffmolekülen [C2] erzeugt, die die bei der Erwärmung absorbierte Energie abgaben.)

Doch die Sonne, die Sterne strahlten wie kein Stoff auf der Erde. Sie besaßen einen Glanz, eine Weiße, die noch die heißesten Glühlampen übertraf (einige, Sirius etwa, waren fast blau). Aus der Strahlungsenergie der Sonne ließ sich auf eine Oberflächentemperatur von rund 6000 Grad schließen. Onkel Abe erinnerte sich, dass in seiner Jugend niemand die enorme Weißglut und Energie der Sonne habe erklären können. Weißglut war kaum das richtige Wort, weil keine Verbrennung im herkömmlichen Sinne stattfand - die meisten chemischen Reaktionen hörten nämlich bei mehr als 1000 Grad auf.

War möglicherweise die Gravitationsenergie, die Energie, die durch die Kontraktion einer gigantischen Masse erzeugt wurde, für die Sonnenstrahlung verantwortlich? Auch das schien eine vollkommen unzulängliche Erklärung für die ungeheure Hitze und Energie der Sonne und der Sterne zu sein, die seit Jahrmilliarden ungehindert anhielt. Selbst die Radioaktivität lieferte keine plausible Erklärung, weil radioaktive Elemente bei den Sternen nicht in annähernd ausreichenden Mengen vorhanden waren und ihr Energieausstoß zu langsam erfolgte.

Erst 1929 kam eine andere Hypothese auf: Bei den unvorstellbaren Temperaturen und Drücken im Inneren eines Sterns könnten die Atome leichterer Elemente zu schwereren Atomen verschmelzen, wobei zunächst die Wasserstoffatome Helium bilden würden. Mit anderen Worten, man vertrat die Auffassung, die kosmische Energiequelle sei thermonuklear. Riesige Energiemengen mussten den leichten Kernen zugeführt werden, damit sie miteinander verschmolzen, doch sobald die Fusion vollzogen war, wurde noch mehr Energie freigesetzt. Diese erwärmte und verschmolz ihrerseits andere leichte Kerne, wodurch noch mehr Energie erzeugt wurde - ein Prozess, der für die Fortdauer der thermonuklearen Reaktion sorgte. Im Inneren der Sonne herrschen gewaltige Temperaturen-Temperaturen in der Größenordnung von 20 Millionen Grad. Ich fand es schwierig, mir das vorzustellen; ein Ofen von solcher Temperatur würde (wie George Gamow in Geburt und Tod der Sonne schrieb) auf Hunderte von Kilometern alles um sich herum zerstören.

Bei Temperaturen und Drücken wie diesen würden Atomkerne - nackt, von ihren Elektronen befreit - mit ungeheurer Geschwindigkeit umherjagen (die durchschnittliche Energie ihrer Wärmebewegung entspräche der von Alphateilchen); sie würden ungebremst zusammenstoßen und dabei zu Kernen schwererer Elemente verschmelzen. Gamow schrieb:

Wir müssen uns das Innere der Sonne als eine Art gigantisches alchemistisches Labor der Natur vorstellen, wo sich die Umwandlung verschiedener Elemente in andere so mühelos vollzieht wie gewöhnliche chemische Reaktionen in unseren irdischen Labors.

Die Umwandlung von Wasserstoff in Helium erzeugte gewaltige Mengen von Wärme und Licht, denn die Masse des Heliumatoms war etwas geringer als die von vier Wasserstoffatomen und dieser kleine Massenunterschied wurde gemäß der berühmten Einstein'schen Formel E = mc2 vollständig in Energie umgewandelt.

Um die Energie in der Sonne zu erzeugen, mussten, so Gamow, jede Sekunde Hunderte von Millionen Tonnen Wasserstoff in Helium umgewandelt werden; die Sonne jedoch besteht überwiegend aus Wasserstoff, und angesichts ihrer gewaltigen Masse sei erst ein winziger Bruchteil dieser Masse zu Lebzeiten der Erde verbraucht worden. Würde sich die Fusionsgeschwindigkeit verringern, würde sich die Sonne zusammenziehen und erwärmen, sodass die Fusionsgeschwindigkeit wieder auf den alten Stand gebracht würde. Würde hingegen die Fusionsgeschwindigkeit zu groß werden, würde die Sonne expandieren und sich abkühlen, wodurch sich die Fusionsgeschwindigkeit wieder verringerte. So sei sie, wie Gamow meinte, «die sinnreichste und möglicherweise die einzig mögliche Form einer ‹Nuklearmaschine›», ein sich selbst steuernder Reaktor, in dem die Sprengkraft der Kernfusion ideal durch die Gravitationskraft geregelt wurde. Die Fusion des Wasserstoffs zu Helium lieferte nicht nur eine riesige Energiemenge, sondern schenkte der Welt auch ein neues Element. Und Heliumatome konnten, wenn genügend Wärme vorhanden war, zu schwereren Elementen verschmolzen werden, die ihrerseits zum Ausgangspunkt von noch schwereren Elementen wurden.

Durch eine faszinierende Konvergenz wurden also zwei uralte Probleme gleichzeitig gelöst: das Leuchten der Sterne und die Entstehung der Elemente. Bohr hatte an einen «Aufbau» der Elemente gedacht, eine stufenweise Entstehung aller Elemente, ausgehend vom Wasserstoff, es handelte sich um ein rein theoretisches Modell, doch vollzog sich genau dieser Aufbau in den Sternen. Wasserstoff, Element Nummer l, war nicht nur der Brennstoff des Universums, sondern auch Baustein, das Uratom, wie Prout bereits 1815 behauptet hatte. Das war eine sehr elegante, sehr befriedigende Erklärung, denn sie benötigte als Ausgangspunkt nur das erste, das einfachste Atom.[73]

Bohrs Atom schien mir von unsagbarer, transzendenter Schönheit zu sein - Elektronen, die kreisten, billionenmal pro Sekunde, ewig auf vorherbestimmten Bahnen, das wahre Perpetuum mobile, möglich gemacht durch die Unteilbarkeit des Quants und durch die Tatsache, dass das kreisende Elektron keine Energie verbrauchte, keine Arbeit leistete. Die komplexeren Atome waren noch schöner, denn sie hatten Dutzende von Elektronen, die alle ihren eigenen Bahnen folgten, aber wie winzige Zwiebeln in Schalen und Unterschalen organisiert waren. Nicht nur schön erschienen sie mir, diese hauchfeinen, doch unzerstörbaren Gebilde, sondern auf ihre Weise auch vollkommen, so vollkommen wie Gleichungen (durch die sie sich in der Tat ausdrücken ließen) mit ihrer Ausgewogenheit von Zahlen und Kräften, Abschirmungen und Energien. Und nichts, kein gewöhnlicher Effekt, konnte ihre Vollkommenheit stören. Bohrs Atome waren augenscheinlich nicht mehr weit entfernt von der besten aller Welten, die Leibniz einst beschworen hatte.

«Gott denkt in Zahlen», pflegte Tante Len zu sagen. «Zahlen bestimmen den Aufbau der Welt.» Diesen Gedanken hatte ich nie vergessen, und jetzt schien er tatsächlich die gesamte physikalische Welt zu umfassen. Inzwischen betrieb ich auch ein wenig philosophische Lektüre, und Leibniz sagte mir, soweit ich ihn verstand, besonders zu. Er sprach von einer «göttlichen Mathematik», mit deren Hilfe man die denkbar vielfältigste Wirklichkeit mit den denkbar sparsamsten Mitteln schaffen könne, und das, so schien mir, zeigte sich jetzt überall: in der wunderbaren Sparsamkeit, mit der sich Millionen von Verbindungen aus einigen Dutzend Elementen herstellen ließen und sich die mehr als hundert Elemente selbst aus Wasserstoff aufbauten; in der Sparsamkeit, mit der sich die ganze Bandbreite der verschiedenen Atome aus zwei oder drei Elementarteilchen zusammensetzte; und in der Art und Weise, wie ihre Stabilität und Identität durch die Quantenzahlen der Atome selbst garantiert wurden - all dies war schön genug, um das Werk Gottes zu sein.

KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

DAS ENDE EINER LIEBE

Als ich vierzehn war, galt es als «abgemacht», dass ich Arzt würde. Meine Eltern waren Ärzte, meine Brüder studierten Medizin. Meine Eltern hatten mein frühes Interesse an den Naturwissenschaften mit Toleranz, sogar mit Zufriedenheit aufgenommen, doch jetzt schienen sie zu der Auffassung gelangt zu sein, die Zeit der Spielereien sei vorbei. Ein Vorfall hat sich mir in diesem Zusammenhang besonders lebhaft eingeprägt. Es war 1947, zwei Sommer nach dem Krieg, und ich befand mich mit meinen Eltern auf einer Autoreise in unserem neuen Humber durch Südfrankreich. Ich saß auf dem Rücksitz, sprach über Thallium und leierte herunter, was ich wusste: wie es in den sechziger Jahren zusammen mit Indium durch die kräftigen grünen Linien in seinem Spektrum entdeckt worden sei; wie einige seiner Salze Lösungen bildeten, die fast fünfmal so dicht waren wie Wasser; warum Thallium eigentlich das Schnabeltier unter den Elementen sei, mit paradoxen Eigenschaften, die Zweifel hinsichtlich seiner Einordnung im Periodensystem ausgelöst hatten - weich, schwer und schmelzbar wie Blei, chemisch dem Gallium und Indium verwandt, jedoch mit dunklen Oxiden wie denen des Mangans und Eisens und farblosen Sulfaten wie denen von Natrium und Kalium. Thalliumsalze seien wie Silbersalze lichtempfindlich - es könnte also auch eine fotografische Technik auf Thalliumbasis geben! Das Thallium(I)-Ion habe große Ähnlichkeit mit dem Kaliumion - Ähnlichkeiten, die in der Wissenschaft und Technik hochinteressant seien, aber für den Organismus absolut tödlich wären, denn biologisch sei Thallium fast ununterscheidbar vom Kalium und schlüpfe daher im Körper in alle Rollen und Laufbahnen des Kaliums, was zu schwersten organischen Störungen führe. Während ich so dahinplapperte, fröhlich, narzisstisch, blind, bemerkte ich nicht, dass meine Eltern auf dem Vordersitz sehr schweigsam geworden waren und ihr Gesichtsausdruck Langeweile, Ungeduld und Missbilligung verriet. Nach zwanzig Minuten konnten sie es schließlich nicht mehr ertragen, und mein Vater rief aus: «Schluss jetzt mit dem Thallium!»

Doch es kam nicht plötzlich - ich stellte nicht eines Morgens fest, dass die Chemie für mich gestorben war. Es war ein allmählicher Prozess, es schlich sich langsam ein, Stück für Stück, zunächst, glaube ich, ohne dass ich es überhaupt bemerkte. Irgendwann in meinem fünfzehnten Lebensjahr wachte ich morgens nicht mehr mit dieser freudigen Erregung auf - «Heute besorge ich mir die Clericische Lösung! Heute lese ich über Humphry Davy und elektrische Fische! Heute werde ich vielleicht endlich den Diamagnetismus verstehen!» Offenbar wurden mir nicht mehr diese plötzlichen Erleuchtungen, diese erregenden Erkenntnisse zuteil, die Flaubert (den ich jetzt las) als Erektionen des Geistes bezeichnete. Erektionen des Körpers, gewiss, die waren jetzt ein neuer, exotischer Teil meines Lebens - aber diese plötzlichen rauschhaften Zustände des Geistes, diese inneren Landschaften, die sich unverhofft in strahlendem Glanz auftaten, die hatten mich offenbar verlassen. Oder hatte tatsächlich ich sie verlassen? Denn ich ging nicht mehr in mein kleines Labor. Das wurde mir aber erst klar, als ich dort eines Tages überall eine dünne Staubschicht vorfand. Seit Monaten war ich nicht mehr bei Onkel Dave oder Onkel Abe gewesen, und mein Taschenspektroskop trug ich auch nicht mehr bei mir.

Es hatte Zeiten gegeben, in denen ich stundenlang in der Science Library gesessen und alles um mich her vergessen hatte. Es hatte Zeiten gegeben, da sah ich «Kraftlinien» oder Elektronen, die in ihren Bahnen tanzten und schwebten, doch diese halb halluzinatorische Fähigkeit war mir nun ebenfalls abhanden gekommen. Ich sei nicht mehr so verträumt, stattdessen konzentrierter, hieß es jetzt in meinen Zeugnissen - das war vielleicht der Eindruck, den ich vermittelte -, doch ich selbst empfand tatsächlich etwas ganz anderes. Ich hatte das Gefühl, dass in mir eine Welt gestorben, sie mir geraubt worden sei.

Oft musste ich an Wells' Geschichte von der Tür in der Mauer denken, an den magischen Garten, zu dem der kleine Junge Zutritt erhält, und an seine spätere Vertreibung daraus. Zunächst nimmt ihn das äußere Leben so gefangen, dass sich ein Verlustgefühl gar nicht einstellt, doch dann beginnt dieses Bewusstsein in ihm zu wachsen und ihn zu quälen, bis es ihn schließlich vernichtet. Boyle hatte sein Labor als ein «Elysium», Hertz hatte die Physik als ein «verzaubertes Märchenland» bezeichnet. Mir war, als befände ich mich nun außerhalb dieses Elysiums, als seien die Tore des Märchenlands für mich verschlossen, als hätte man mich aus dem Garten der Zahlen, aus Mendelejews Garten, aus dem magischen Reich der Spiele vertrieben, zu denen ich als Kind doch Zutritt gehabt hatte.

Bei der «neuen» Quantenmechanik, die Mitte der zwanziger Jahre entwickelt wurde, konnte man die Elektronen nicht mehr als kleine Teilchen in Bahnen ansehen, sondern musste sie als Wellen verstehen. Man konnte nicht mehr von der Position eines Elektrons sprechen, nur noch von seiner «Wellenfunktion», der Wahrscheinlichkeit, es an einem bestimmten Ort zu finden. Sein Ort und seine Geschwindigkeit ließen sich nicht gleichzeitig messen. Ein Elektron schien (in gewissem Sinne) überall und nirgends zugleich sein. All das machte mich schwindelig. Ich hatte mich der Chemie, der Naturwissenschaft zugewandt, um Ordnung und Gewissheit zu finden, und plötzlich waren diese nicht mehr vorhanden.[74] Ich befand mich in einer Art Schockzustand, meine Onkel hatte ich nun hinter mir gelassen, ich schwamm im Tiefen, ganz allein.[75]

Diese neue Quantenmechanik versprach, die ganze Chemie zu erklären. So begeistert ich darüber war, ich empfand sie auch als eine gewisse Bedrohung. «Die Chemie», schrieb Crookes, «wird auf eine vollkommen neue Grundlage gestellt werden… Wir werden der Notwendigkeit von Experimenten enthoben sein, weil wir im Voraus wissen werden, wie das Ergebnis jedes einzelnen Experimentes ausfallen muss.» Ich war mir nicht sicher, ob mir diese Aussicht zusagte. Folgte daraus, dass die Chemiker der Zukunft (wenn es sie denn gab) nie wieder eine chemische Substanz würden handhaben müssen, nie die Farben der Vanadiumsalze erblicken, nie Selenwasserstoff riechen, nie die Form eines Kristalls bewundern, sondern in einer farb- und geruchlosen mathematischen Welt leben würden? Das schien mir eine schreckliche Aussicht zu sein, denn ich zumindest musste riechen, anfassen und fühlen können, musste mich mit allen meinen Sinnen mitten in die Wahrnehmungswelt hineinbegeben können.[76]

Ich hatte davon geträumt, Chemiker zu werden, aber die Chemie, die ich meinte, war die wunderbar detaillierte, naturalistische, deskriptive Chemie des 19. Jahrhunderts gewesen und nicht die Chemie des Quantenzeitalters. Die Chemie, wie ich sie kannte, wie ich sie liebte, hatte entweder aufgehört zu existieren oder ihren Charakter verändert, sich an mir vorbei entwickelt zumindest glaubte ich dies damals. Deshalb war ich der Ansicht, ich sei am Ende des Weges angelangt, am Ende meines Weges zumindest - meine Reise in die Chemie habe so weit geführt, wie es mir möglich war.

Ich hatte (so will mir rückwirkend scheinen) in einer Art zauberhafter Zwischenwelt gelebt. Nach den Schrecken und Ängsten von Braefield war ich von zwei sehr klugen, liebevollen und verständnisvollen Onkeln in eine Welt der Ordnung, in die Liebe zur Wissenschaft eingeführt worden. Meine Eltern hatten mir Verständnis und Vertrauen entgegengebracht, mir ein Labor und meine Launen gestattet. Die Schule hatte sich glücklicherweise nicht als Hinderungsgrund erwiesen - ich erledigte meine Schularbeiten und blieb ansonsten mir selbst überlassen. Vielleicht war es auch eine biologische Atempause, eine spezielle Latenzphase.

Doch das hatte sich jetzt alles geändert: Andere Interessen meldeten sich, brachten mich in Wallung, verlockten mich, zogen mich in andere Richtungen. In gewisser Weise war das Leben bunter und reicher geworden, aber auch seichter. Diesen stillen, tiefen Mittelpunkt, meine einstige Leidenschaft, hatte es verloren. Die Entwicklungsjahre hatten mich mit der Gewalt eines Taifuns gepackt und beutelten mich mit unstillbaren Sehnsüchten. In der Schule hatte ich den wenig fordernden humanistischen «Zweig» verlassen und den anspruchsvollen naturwissenschaftlichen Zweig gewählt. Doch in gewisser Weise war ich von meinen beiden Onkeln und der Freiheit und Spontanität meiner Lehrzeit verwöhnt worden. In der Schule musste ich nun in Kursen sitzen, mich um Zensuren und Prüfungen bemühen, aus Lehrbüchern lernen, die oberflächlich, unpersönlich und unerträglich langweilig waren. Was Freude und Vergnügen bereitet hatte, solange ich es auf meine Weise betreiben durfte, wurde lästig und qualvoll, als ich mich dabei an vorgegebene Regeln halten musste. Ein Gegenstand, der für mich heilig und voller Poesie gewesen war, wurde nun prosaisch und profan.

War es also das Ende der Chemie? Oder war ich an die Grenzen meiner geistigen Fähigkeiten gestoßen? Die Entwicklungsjahre? Die Schule? War es das unausweichliche Schicksal, der naturgeschichtliche Verlauf einer jeden menschlichen Begeisterung, dass sie zunächst mit heller, heiliger Flamme brannte, wie ein Stern, um sich dann zu erschöpfen, zu verglühen, zu verlöschen? Hatte ich, zumindest in der materiellen Welt und den Naturwissenschaften, am Ende die Beständigkeit und Ordnung erfahren, nach der ich mich so verzweifelt sehnte, sodass ich mich nun, befreit und weniger zwanghaft, anderen Dingen zuwenden konnte? Oder wurde ich einfach nur erwachsen und bedeutete «Erwachsenwerden», dass man die poetischen, mystischen Wahrnehmungen der Kindheit verlor, den Glanz und die Frische vergaß, von denen Wordsworth schrieb, sodass sie im Licht des Alltags verblassten?