An einem ganz normalen Sonntag im September eilt zur Mittagszeit ein junger Mann den Boulevard du Montparnasse hinab. Seine Kleidung ist nicht mehr die neueste, und er drückt einen von Postschnur zusammengehaltenen Stapel Papier an seine Brust. Er passiert die Église Notre-Dame-des-Champs, dann das Select, überquert die Rue Vavin und kommt vor der großen Terrasse der Rotonde zu stehen, überwältigt und auch überfordert von den vielen Menschen, den vollbesetzten Tischen, und den unzähligen Straßen, die an diesem Ort zusammenlaufen. Da ist die Metrostation, dort die Straßenbahn, die grünen Busse, die roten Taxis, die alten Kutschen, das Dôme auf der anderen Straßenseite, die Litfaßsäule mit der Werbung für ein magisches Varieté heute Abend, da sind die Gaslaternen, die Rosskastanien, Balzac zu seiner Linken und die Schuhputzer und die Blumenfrauen, die Zeitungsverkäufer und die Sonntagsspaziergänger überall um ihn herum.
Er steht da und nimmt einfach nur wahr, fühlt sich wie ein winziger Teil eines enormen Kosmos von Ängsten und Absichten, und fragt sich, was in all den Menschen wohl vor sich geht, den Männern in den Anzügen, die sich laut in fremden Sprachen unterhalten, den Frauen mit den zierlichen Hüten, die bei ihnen sitzen, den Kellnern der Rotonde mit ihren weißen Schürzen dazwischen. Ebenso wenig wissen sie, was in ihm vor sich geht, dem jungen Mann mit dem struppigen blonden Haar und den abgewetzten Ellenbogen, der nun vorsichtig in die Kreuzung hinauswandert, und nach einem Zeichen Ausschau hält, was als nächstes mit ihm geschehen soll.
Ein Kind ruft.
Ein Kutscher schimpft.
Eine Elster lässt eine Kastanie fallen.
Der Blick des Jungen trifft sich mit dem einer Kellnerin auf der anderen Straßenseite, und unwillkürlich lenkt er seine Schritte in ihre Richtung. Irgendwie scheint sie ebenso verloren wie er selbst, wie sie da steht, eine blonde Strähne in ihrem Gesicht, ein Tablett auf dem Arm, und sie scheint so voller Möglichkeiten zu sein, dass er sich fragt, wie es wäre, ihre Geschichte zu erzählen. Eine Straßenbahn nimmt ihm kurz die Sicht auf sie, doch als sie vorüber ist, ist das Mädchen noch da, alleine zwischen ihren Gästen, und schaut immer noch zu ihm herüber, ist voller Erinnerungen an eine Zukunft, die sich niemals ereignen mag – und er weiß, dass er eine Entscheidung fällen muss.
Einen Moment nur zögert er, dann überquert er schnellen Schrittes die Straße.
Bald sitzen sie gemeinsam an einem Tisch auf der Terrasse. Das Mädchen ist so überrascht von diesem unverhofften Gang der Dinge, dass sie ihre Schürze abgelegt und eine Pause gemacht hat, und ein grimmiger Mann mit dunklem Stoppelbart bedient nun die Gäste. Sie und der Junge fragen einander nicht, warum sie das tun; stattdessen reden sie miteinander, als ob es die natürlichste Sache auf der Welt ist, und sie sagen einander mehr in dieser halben Stunde als manche Menschen in vielen Jahren. Sie spüren beide, wie unwahrscheinlich es ist, dass sie an diesem Ort, in diesem Moment hier zusammensitzen, und sie spüren, dass es etwas Besonderes ist, und dass es vorübergehen wird, und das macht sie traurig.
Es ist seltsam, sagt sie, und schade. Da nehmen Sie all das auf sich, nur um hierherzukommen. Und ich glaube, ich habe endlich einen Grund gefunden, um zu gehen.
Sie wollen gehen?, fragt er.
Immer schon. Aber ich schaffe es nicht.
Vielleicht, sagt er, schaffen wir es gemeinsam?
Wieso denn nicht?
Wir kennen uns seit einer halben Stunde!
Und wenn schon, lächelt er. Sie deutet hilflos umher.
Ich kann hier nicht weg. Sehen Sie doch – meine Arbeit.
Später, sagt er. Heute Abend, wenn ich ihn gefunden habe.
Wen gefunden?
Den Mann, sagt er, nach dem ich suche – der, dessentwegen ich hier bin.
Wissen Sie denn, wo Sie ihn finden?
Es dauert sicher nicht lang, sagt er, und dann komme ich wieder. Sie sieht ihn an, wie sie nie aussehen wollte, fast flehentlich, und fasst ihn am Arm.
Sie werden auch wirklich kommen? Sie sagen das nicht bloß?
Werden Sie denn auf mich warten?
Ich kann warten, sagt sie. Solang wir uns wiedersehen, kann ich das tun.
Ich werde da sein, sagt er und erhebt sich. Sie reichen sich die Hände, dann legt sie wieder ihre Schürze um, und er eilt davon, verschwindet im Strom des Boulevards.
Die Stunden verstreichen, gemessen von der alten Standuhr im Obergeschoss des Cafés, in deren Schatten Justine am Abend ihre Tasche richtet – nur für den Fall, sagt sie sich, nur für den Fall. Und als die Sonne über Montparnasse untergeht, die letzten Strahlen vom Carrefour Vavin verschwinden, als das Auerlicht erwacht, und all die Dinge, die nur ein Traum bleiben sollen, in die Herzen der Menschen schleichen wie Diebe, die für eine Stunde oder zwei verweilen und sich dann mit vollen Taschen davonstehlen, so dass es scheint, als ob es immer mehr zu verlieren als zu gewinnen gäbe für die Menschen, die ihre Herzen einem solchen Traume öffnen, blickt Justine auf den Boulevard hinaus und schließt das Bild des Jungen fest in sich ein, damit sie es nicht auch noch verliert.
Die Welt, denkt sie, ist ihr eine Menge Antworten schuldig, aber solange ihre Sachen dort oben am Treppenabsatz auf sie warten, braucht sie keine Frage zu stellen, die ihr vielleicht Angst machen würde. Sie kann den Traum festhalten, solange sie will, wie einen jungen Vogel, solange sie die Fenster ihres Herzens nur geschlossen hält.
Es wird frisch auf der Terrasse, und sie schlingt die Arme um sich. Die letzten Gäste gehen zu Bett. Justine lässt den Blick über die verlassenen Tische schweifen.
Ein Taxi fährt den leeren Boulevard hinab.
Es ist seltsam, denkt sie, kurz bevor sie nach drinnen geht, und vielleicht auch schön – zu wissen, was alles geschehen könnte, gleich im nächsten Augenblick.