DREI

»¿Porque no te alegras?« – Warum freust du dich nicht?

Der Fahrer des Toyota richtete diese Frage an seine Beifahrerin, ohne sie anzuschauen. Seine volle Konzentration galt der kurvenreichen und abschüssigen Straße, die sein ganzes fahrerisches Können verlangte.

Sie befanden sich auf der schmalen Landstraße zwischen Jánico und Santiago. Als das Auto sich mit quietschenden Reifen der Stelle näherte, wo mitten auf der Straße ein platt gefahrener Tierkadaver undefinierbarer Art auf dem Asphalt klebte, erhob sich ein Schwarm Aasgeier in die Luft, um das Fahrzeug passieren zu lassen. Erst nachdem der Störenfried vorbeigerast war, setzten die Geier ihre Aufräumarbeit fort.

Allmählich blieben die Berge zurück. Vor ihnen öffnete sich das weite Panorama des fruchtbaren Cibao-Tals mit dem Fluss Yaque del Norte. Die ersten Tabakfelder tauchten am Straßenrand auf; in der Ferne konnte man bereits die Silhouette von Santiago de los Caballeros ausmachen, der zweitgrößten Stadt der Dominikanischen Republik.

Der Fahrer stellte das Autoradio leiser, obwohl gerade der neuste Merengue-Hit von Juan Luis Guerra gespielt wurde.

»Kopf hoch, Schwesterchen«, sagte er mit einem breiten Grienen. »Du machst doch ‘ne tolle Reise. Um die halbe Welt, nach Europa, nach Alemania. In das Land von BMW und Mercedes Benz. Ich beneide dich darum. Wer bekommt als Dominikaner schon so ‘ne Chance?«

Doch ihr Gesichtsausdruck blieb wie versteinert. Unbewegt starrte sie nach vorn, schien aber den klapprigen Bus, der vor ihnen die Straße blockierte und ihren Bruder zum Abbremsen zwang, gar nicht wahrzunehmen. Wie mit einem Röntgenblick schaute sie durch den Bus hindurch in die Ferne.

»Tut mir leid«, sagte sie nach einer Weile, »aber ich hab so eine Ahnung. Eine böse Ahnung.«

* * *

Das Haus der Kreinbrinks lag östlich der Bundesstraße 191, am Rande von Eschede. Es handelte sich um ein ehemaliges Bauernhaus, eines dieser liebevoll bis ins Detail wieder hergerichteten, riesigen niedersächsischen Vierständerhäuser. Ein Querbalken des Fachwerkhauses trug die Jahreszahl 1798.

Anzeichen von praktizierter Landwirtschaft, Ackerbau und Viehzucht gab es nicht; Landmaschinen wie Traktoren, Anhänger und dergleichen waren auf dem gepflegten Hofgelände nicht zu entdecken. Wo sich einst die Mistkuhle befand, dümpelten nun Seerosen auf einem kleinen Teich, die ursprünglich mit Heu und Stroh gefüllte Scheune hatte man zu einem Atelier umfunktioniert, der ehemalige Hühnerstall diente als Carport für mindestens zwei Fahrzeuge.

Knorrige, steinalte Eichen, aus deren Kronen die Totholzanteile feinsäuberlich herausgesägt und die Schnittstellen mit Baumwachs versiegelt worden waren, bildeten ein Hofgehölz, welches das Fachwerkhaus zur Straße und zum übrigen Dorf hin abschirmte.

Mendelski steuerte seinen Privatwagen – denn damit war er ja an diesem ursprünglichen Urlaubstag zur Jagd gefahren – im Schatten der Eichen über eine holprige, aus Feldsteinen und Kies gefertigte Einfahrt. Sichtlich beeindruckt flüsterte Maike Schnur auf der Rückbank: »Wow! Wie ich diese alten Höfe liebe!«

»Ja, nicht schlecht«, erwiderte der Kommissar, während er in den Rückspiegel schaute. Den Satz »Steuerberater müsste man sein« verkniff er sich, da Kai Kreinbrink als Passagier im Auto mitfuhr.

Sie kamen neben den Wagen von Kreinbrink senior und Irene Hogreve zum Stehen. Die beiden schienen kurz vor ihnen angekommen zu sein und warteten neben ihren Fahrzeugen. Nach Mimik und Körpersprache zu urteilen – so befand der aufmerksame Kommissar –, musste es zwischen den beiden unmittelbar zuvor zu einer Auseinandersetzung gekommen sein. Doch als die drei Neuankömmlinge ausstiegen, gaben sich Hausherr und Haushälterin unverfänglich freundlich.

»Kommen Sie doch herein«, bat Konrad Kreinbrink Mendelski und Maike Schnur, nachdem er seinem Sohn einen aufmunternden Blick zugeworfen hatte. »Frau Hogreve, machen Sie uns bitte einen Kaffee.«

* * *

Als sie den Gasthof Cohrs in Endeholz erreichten, waren die Parkplätze schon rar. Rechts und links der Straße reihte sich Wagen an Wagen. Großvolumige Geländewagen und grüne Kombis stellten die Mehrzahl; die meisten brauchten dringend eine Wagenwäsche. Da wirkte ihr schneeweißer VW Caravelle, der langsam zwischen den beiden Autoreihen hindurchtuckerte, wie ein Exot.

Heiko Strunz hatte Mühe, einen Parkplatz für den nicht gerade handlichen Kleinbus zu finden. Bei der Abzweigung nach Kragen fand er schließlich doch eine Lücke, versteckt unter den tief hängenden Ästen eines Haselnussstrauchs. Nachdem sie ihre für die Befragungen nötigen Utensilien zusammengesucht hatten, machten sich Strunz und Kleinschmidt auf den Weg zur Gastwirtschaft.

Ellen Vogelsang blieb noch beim Wagen, da sie sich bei ihrer Tochter telefonisch für den verspäteten Feierabend entschuldigen wollte. Die Kriminalkommissarin war alleinerziehende Mutter einer vierzehnjährigen Tochter, und eigentlich war für den heutigen Abend ein gemeinsamer Besuch im Celler Schlosstheater geplant gewesen.

Um ungestört sprechen zu können, zog sie sich für das Telefonat unter den Haselnussstrauch zurück. Als sie kurze Zeit später – ihre Tochter Maren hatte ungewöhnlich verständnisvoll reagiert – unter dem Strauch hervortreten wollte, um den anderen zu folgen, vernahm sie plötzlich aufgeregte Stimmen vor sich.

»Aber Jochen, gib’s doch zu«, sagte eine Männerstimme verständnislos. »Gerade du kanntest das Mädchen doch besonders gut.«

»Halt bloß den Mund«, quiekte eine zweite Stimme leise. Sie klang ängstlich. »Wenn das einer von den Kripo-Leuten …«

Ellen Vogelsang, die wie angewurzelt stehen geblieben war, machte intuitiv einen Schritt zur Seite, um nicht entdeckt zu werden. Äste und Laub des Haselnussstrauchs kitzelten sie im Nacken.

»Mensch, die sind doch längst in der Kneipe«, hörte sie den Ersten ungeduldig sagen. »Hier steht doch der Wagen von denen.«

»Lass es einfach«, flehte derjenige, der Jochen genannt worden war. »Du weißt am besten von nichts.«

»Wovor hast du denn solche Angst?«

»Du stellst Fragen!« Er hüstelte. »Kannst du dich nicht mehr an Pfingsten, an das letzte Schützenfest erinnern? Da hat sie mich doch zum Tanzen aufgefordert – und ganz schön lächerlich gemacht. Mein Gott, was das für ein Spießrutenlaufen hinterher war: Tollpatschiger, geiler Pauker lässt sich von exotischer, bildschöner Schülerin becircen. Ruck, zuck ging das rum – wie ein Lauffeuer.«

»Ach das. Meinst du nicht, dass du das viel zu dramatisch siehst?«

»Zu dramatisch? Hast du denn nie die Fotos gesehen?«

»Nein, was denn für Fotos?«

»Ist jetzt auch egal – also bitte, halt dich zurück.«

»Okay, versprochen.«

»Danke, Horst, du bist ein echter Freund.« Die Stimme des Lehrers wurde merklich ruhiger: »Los, lass uns reingehen. Sonst machen die sich noch Gedanken.«

»Warte, ich muss nur noch eben pinkeln – am besten gleich hier in den Busch!«

Ellen Vogelsang stockte der Atem.

* * *

»Wann haben Sie …« Mendelski ließ sich von Maike Schnur den Notizblock reichen und las ab: »… Yadira Martinéz zum letzten Mal lebend gesehen?«

Sie saßen im Wohnzimmer an einem Esstisch, um den zwölf Stühle standen. Das antike Stück mit aufwendig gedrechselten Beinen und einer massiven Tischplatte aus Eiche prägte den großen Raum. In der Mitte des Tisches stand auf einem Bastset eine Blumenvase mit gelben Rosen.

Auch die übrige Wohnzimmereinrichtung bestand aus einer Ansammlung von antiken Möbeln, altertümlichen Ölgemälden und einigen Jagdtrophäen an den Wänden. In einem Kamin loderte ein Feuer. Nur der Flachbildschirm des neumodischen TV-Geräts und die dazugehörigen, getarnt im Raum platzierten Lautsprecherboxen wiesen auf die hoch technisierte Gegenwart des 21. Jahrhunderts hin.

Frau Hogreve war gerade aus der Küche gekommen, stellte einen Teller mit Gebäck auf den Tisch und setzte sich zu ihnen.

Kreinbrink senior hatte in der Zwischenzeit seinen dicken Jagdpullover ausgezogen und sah seinen Sohn an. Vater und Sohn, beide mit roten Gesichtern, begannen in ihren Thermohosen zu schwitzen. Die Wärme des Kamins tat ihre Wirkung. Maike dagegen wirkte in ihrem leichten Top und der dünnen Jacke reichlich sommerlich.

»Ich habe sie zuletzt am Montag gesehen«, sagte Konrad Kreinbrink. »Montagmorgen, genau genommen beim Frühstück, bevor ich nach Berlin zu einem Kongress gefahren bin. Ich bin erst gestern spät in der Nacht, so gegen ein Uhr heimgekommen und heute zur Jagd gleich wieder früh los. Da sind mir lediglich Frau Hogreve und mein Sohn begegnet.«

Irene Hogreve nickte bestätigend und wollte gerade etwas sagen, als ihr Blick auf Kai fiel.

»Sie war so ein fröhliches Mädchen«, murmelte er und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen »So lebensfroh, so natürlich und arglos, so … unheimlich nett. Was ist bloß mit ihr geschehen?«

Mendelski rückte auf seinem Stuhl ein Stück nach vorn. »Wann«, fragte er mit sanfter Stimme, »haben Sie Yadira das letzte Mal gesehen?«

Kai Kreinbrink schaute ihn mit geröteten Augen an. »Gestern«, sagte er. »Gestern Abend. Wir hatten Spanisch bei ihr, wie jeden Mittwoch.«

»Wer ist ›wir‹?« Auch Maike Schnur sprach leise und einfühlsam. Sie hielt ihren Notizblock bereit, um mitzuschreiben. »Wer, außer Ihnen, war noch dabei?«

»Finn, Lasche und Mira«, antwortete er.

Maike schaute ihn fragend an, die Kugelschreiberspitze einen Zentimeter über dem Papier.

»Finn Braukmann, Hanno ›Lasche‹ Stucke und Mira Köhne. Alles Freunde von mir.« Kai ließ der Kommissarin Zeit zum Schreiben. Dann fuhr er fort: »Yadira hat uns Spanisch beigebracht. Als so ‘ne Art Privatlehrerin. Gestern Abend haben wir hier einen Film auf DVD angeguckt. Die Reise des jungen Che. Auf Spanisch natürlich.«

»Privatlehrerin?« Maike Schnur sah vom Block auf. »Sie war doch noch sehr jung.«

»Wieso denn nicht?« Über Kais Gesicht huschte der Anflug eines Lächelns. »Sie brauchte doch keine Lehrerausbildung, um uns die Grundlagen ihrer Muttersprache beizubringen. Das hat sie super gemacht, auch ohne große pädagogische Kenntnisse.«

»Und Ihre Schwester?«, fragte Mendelski. »Hat die auch am Spanischunterricht teilgenommen?«

»Nur dann, wenn sie unter der Woche mal zu Hause war.«

»Ihre Schwester wohnt nicht mehr hier?«

»Nein«, mischte sich Konrad Kreinbrink unwillig ein. »Kathrin lebt und studiert seit einigen Wochen in Lüneburg; sie ist nur noch sporadisch hier.« Dem Hausherrn gingen solche Fragen offenbar zu weit. »Können wir diese Details nicht später klären?«, fragte er. »Ich meine, Yadira ist erst wenige Stunden tot. Da dürften wir, die ihr sehr nahestanden, doch etwas mehr Rücksichtnahme erwarten können.«

»Ich kann Sie verstehen«, erwiderte Mendelski ruhig und nickte. »Doch die Statistik beweist, dass die ersten Stunden der Ermittlungsarbeit bei Todesfällen mit unnatürlicher Ursache die wichtigsten sind. Den Betroffenen eine Trauerzeit zuzugestehen, können wir uns einfach nicht leisten – so leid es mir tut.«

Konrad Kreinbrink nahm seine Brille ab und tupfte sich mit einer Serviette den Schweiß von der Stirn. Er seufzte. »Dann tun Sie in Gottes Namen Ihre Pflicht. Aber beeilen Sie sich bitte.«

»Was geschah nach dem Spanischunterricht?«, ergriff Maike Schnur wieder das Wort.

»Wir haben noch zusammengesessen, bis Mitternacht. Alle fünf.« Kai kamen wieder die Tränen. »Wir hatten so viel Spaß, haben gelacht, getanzt … Yadira hat uns Salsa und Merengue beigebracht. Zumindest hat sie’s versucht. Denn anders als wir steifen Deutschen bewegte sie sich unnachahmlich … so geschmeidig und elegant aus der Hüfte. War schon irre, ihr zuzusehen.«

»Da gab’s doch sicher auch was zu trinken?«

»Na klar!« Kai Kreinbrink lachte kurz auf. »Yadira hat uns Piña colada und Cuba libre gemixt. Mit echtem dominikanischem Rum. Das machte das Tanzen leichter.«

»Haben Sie viel getrunken?«

»Was heißt viel? Vielleicht jeder zwei, drei Cocktails.«

»Wie sind Sie auseinandergegangen?«

»Finn, Hanno und Mira sind zu Fuß nach Hause. Hier in Eschede. Mira ist eigentlich aus Marwede, übernachtet aber öfter bei Hanno.«

»Und Yadira und Sie?«

»Wir sind hiergeblieben. Hier im Haus natürlich.«

»Und …«

»Nichts und!« Kai guckte ärgerlich drein. »Jeder ist brav auf sein Zimmer gegangen und gut. Aber eigentlich war gar nichts gut …«

Wütend hämmerte er mit der Faust auf den Tisch.

* * *

»Lassen Sie mal lieber stecken«, sagte Ellen Vogelsang resolut. Sie bog die Zweige zur Seite und trat aus dem Schatten des Haselnussstrauchs. Mit Sicherheit hatte sie keine Lust, sich auf die Schuhe pinkeln zu lassen, und deshalb die Flucht nach vorn angetreten.

Der verdutzte Jäger riss Augen und Mund weit auf. Breitbeinig und wie zur Salzsäule erstarrt stand er vor ihr, gerade im Begriff, mit der rechten Hand seinen Hosenstall zu öffnen.

Ellen Vogelsang rückte den Gurt ihrer Notebook-Tasche zurecht, die sie über der Schulter trug, ließ auch den zweiten Jäger – einen kleinen untersetzten Mann mit Nickelbrille – links liegen und marschierte die Straße entlang zur Gaststätte.

Sie würde die Vornamen Jochen und Horst nicht vergessen; außerdem hatte sie sich die Gesichter der beiden genau eingeprägt.

Die beiden Jäger warteten, bis sie außer Hörweite war.

»So ein Mist!«, schimpfte derjenige, der Horst genannt wurde. »Jetzt haben wir den Salat.«

»Reiß dich zusammen, hörst du?«

»Jochen, in was ziehst du mich da bloß rein?«

»In gar nichts! Ist doch alles völlig harmlos.«

»Und warum soll ich dann lügen?«

»Sollst du gar nicht. Du sollst lediglich vorsichtig mit dem sein, was du sagst.«

»Aber die von der Kripo hat uns doch belauscht. Sie wird jetzt bestimmt zu ihren Kollegen laufen und denen brühwarm alles auftischen. Und dann nehmen die uns in die Mangel …«

»Ach was. Wer weiß, ob die überhaupt was gehört hat. – Aber sich im Busch zu verkriechen und unbescholtene Bürger zu belauschen, ist doch ‘ne Frechheit.«

»Das ist ihr Job.«

»Und wenn schon! Aber auch egal jetzt, was haben wir schon groß besprochen? Nur, dass meine Schüler mich damit aufgezogen haben, dass ich mit Yadira auf dem Schützenfest getanzt habe. Mehr nicht.«

»Na, wenn du’s so siehst, haste recht.«

Der Lehrer mit der Nickelbrille witterte Oberwasser. »Mit Yadira haben noch ganz andere getanzt! Kein Wunder, so wie die sich bewegt hat – lasziv wie ein Raubtier. Halb Eschede hat ihr den Hof gemacht.«

»War ja kaum zu übersehen.«

»Selbst von Bartling hatte ein Auge auf sie geworfen.«

»Eines nur? Die Szene in der Sektbar, Mann, war das peinlich … Als er ihr – wie er beteuert, aus Versehen – den Schampus über ihr dünnes Kleidchen gekippt hat, direkt in den Ausschnitt … dieser alte Schwerenöter.«

»Siehst du. Ich steh da gar nicht allein. Los, lass uns endlich reingehen. Sonst machen wir uns wirklich noch verdächtig.«

»Wenn das man alles gut geht …«

* * *

»Frau Hogreve, wann haben Sie Yadira das letzte Mal lebend gesehen?« Mendelski hatte sich von Kai abgewandt, um keinen neuen Jähzornausbruch zu provozieren.

»Ebenfalls gestern Abend«, antwortete die Haushälterin. Ihre Hände strichen unruhig über die Tischplatte, während sie die beiden Kreinbrinks beobachtete. »Beim Abendessen. Wir waren zu dritt. Yadira, Kai und ich. Yadira hatte uns ein Chili con Carne gekocht.« Sie seufzte auf. »Für ihr jugendliches Alter war sie wirklich ein Tausendsassa.«

»Wir waren doch zu viert«, korrigierte sie Kai. »Unser Gärtner, Herr Wiegand, war auch noch dabei. Jedenfalls am Anfang.«

»Ach ja, den hatte ich völlig vergessen.« Irene Hogreve zeigte sich untröstlich. »Rolf Wiegand war ausnahmsweise zum Abendessen geblieben, da er gestern erst spät Feierabend gemacht hatte. Yadira hatte ihn eingeladen – die gute Seele.«

Mendelski befiel das untrügliche Gefühl, dass die Haushälterin etwas zu dick auftrug. »Und wie sah Ihr restlicher Abend aus?«, fragte er.

»Ich habe bei mir oben ferngesehen.« Sie deutete mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand nach oben. »Ich habe hier im Haus eine kleine Einliegerwohnung.«

»Ihnen ist gestern Nacht nichts Besonderes aufgefallen?«

»Nein, nichts. Ich bin schon früh schlafen gegangen.«

»Wann genau?«

»So gegen zehn, halb elf.«

Mendelski lehnte sich zurück und schaute zu Maike Schnur hinüber. Die saß vor ihrem aufgeklappten Notizblock, hatte bisher aber noch nicht viel zu Papier gebracht. Das sollte sich nun ändern.

»Erzählen Sie uns doch mal bitte«, sagte sie, indem sie sich Konrad und Kai Kreinbrink zuwandte, »wann, wo und wie Sie Yadira kennengelernt haben.«

Die beiden Männer schauten sich kurz an, dann nickte Kai.

»Kathrin, also meine Schwester, und ich haben Yadira in einer Diskothek kennengelernt«, begann er. »Im ›I‹, im ›Incognito‹ in Celle. Vor ungefähr einem halben Jahr. Da hat sie sich unserer Clique angeschlossen.«

»Clique bedeutet …« Maike las nun vor: »Finn, Lasche und Mira, nicht wahr?«

»Richtig. Und Kathrin natürlich. Meine Schwester versteht sich mit Yadira prima.«

»Sie verstand sich, Kai«, korrigierte Kreinbrink senior leise.

»Ihre Schwester, die zurzeit in Lüneburg studiert«, wiederholte Mendelski.

»Richtig.«

»Weiß sie schon von Yadiras Tod?«

»Nein, wir haben sie noch nicht erreichen können.«

Mit einem kurzen Seitenblick gab Mendelski Maike zu verstehen, dass sie nun fortfahren konnte.

»Was machte Yadira eigentlich hier in Deutschland?«, fragte sie.

Kai holte tief Luft: »Sie hatte eine Anstellung als Au-pair-Mädchen. In Eldingen, nicht weit von hier. Eine Agentur hat sie dorthin vermittelt. Sie war da aber kreuzunglücklich. Der Familienvater, so ‘n schmieriger Typ, hat ihr wohl nachgestellt.«

»Name, Adresse?«, fragte Maike Schnur, während sie vom Block aufsah. Dieser Hinweis erschien ihr von besonderer Bedeutung.

»Äh … Stattler, Stadler, oder so ähnlich. Suchen wir Ihnen raus. Ich habe die Anschrift irgendwo. Jedenfalls hat Yadira im Mai den Job dort geschmissen und ist zu uns gezogen. Zunächst provisorisch, dann ganz offiziell.« Kai schaute seinen Vater an.

»Ja«, sagte dieser. »Ich habe das mit der Vermittlungsagentur und den Behörden geklärt. Geplant war, dass sie bis zum Ablauf ihres Besuchervisums hier bei uns bleiben sollte. Und den Deutschunterricht in Celle hat sie auch weiterhin besucht. Yadira war außergewöhnlich lernbegierig und ehrgeizig.«

»Wann wäre ihr Visum abgelaufen?«

»Zum Februar nächsten Jahres.«

»Haben Sie Kontakt zu ihrer Familie in der Dominikanischen Republik?«

»Nein. Yadira hat nur selten zu Hause angerufen, ist ja recht teuer. Auch E-Mails schreiben war nicht ihr Ding. Zumal ihre Familie auf dem Land lebt und keinen PC im Haus hat.« Konrad Kreinbrink wandte sich an seinen Sohn: »Oder weißt du mehr?«

»Nee.« Kai schüttelte den Kopf. »Sie hat aber oft und gerne von zu Hause erzählt. Von den Bergen, den Bergflüssen, in denen sie und ihre Geschwister immer gebadet haben, und von den Kiefernwäldern.«

»Kiefernwälder?« Maike Schnur stutzte. »Ich dachte, Yadira kommt aus der Karibik. Gibt es dort nicht eher Palmen?«

»Im Küstenbereich schon.« Kais Miene hellte sich kurz auf. »Aber in den Bergen, da, wo Yadira zu Hause war, gibt es auch Nadelwälder. Sie hat mir mal erzählt, dass unsere Heidekiefern den Kiefern in der Dominikanischen Republik sehr ähneln.«

»Gut«, sagte Mendelski und schob seine Kaffeetasse zur Mitte des Tisches. »Wir würden jetzt gern mal Yadiras Zimmer sehen.«

»Sieht aus, als wäre vor uns schon jemand hier gewesen«, flüsterte Maike Schnur. Sie hatten die Zimmertür von Yadiras Zimmer hinter sich geschlossen, um allein und ungestört sprechen zu können. »Besser, wir streifen Handschuhe über.«

Mendelski stand mitten im Raum, hob den Zeigefinger und lauschte. Er hörte, wie die Treppenstufen knarrten. Das Geräusch entfernte sich. Konrad Kreinbrink, der sie hinaufbegleitet hatte, schien wieder hinab ins Erdgeschoss zu gehen.

»Wie kommst du darauf?«, fragte er in normaler Lautstärke, während er Maikes Beispiel folgte und sich Latexhandschuhe überstreifte. »Es ist doch alles picobello. Sie wird das Zimmer letzte Nacht, in der Todesnacht, nicht mehr benutzt haben.«

»Das meine ich nicht«, wehrte Maike ab. »Guck doch mal, sieht so ein normales Teenager-Zimmer aus?«

Mendelski zuckte mit den Schultern.

»Denk mal an Anas Zimmer.« Sie wies auf den bis auf eine Schreibunterlage und eine Klemmlampe leeren Schreibtisch, auf das akkurat gemachte Bett und den verschlossenen Kleiderschrank. »Das hier wirkt doch penetrant aufgeräumt, wie völlig unbenutzt.«

»Vielleicht war Yadira ja eine sehr ordentliche junge Frau«, warf Mendelski unsicher ein, während er die Fotos an der Pinnwand über dem Schreibtisch studierte. Sie zeigten allesamt leicht bekleidete dunkelhäutige Menschen mit fröhlichen Gesichtern in einer sattgrünen, tropischen Umgebung.

»Na, was wir bisher über sie gehört haben, klingt aber ganz anders.« Maike bückte sich, um den Papierkorb unter dem Schreibtisch hervorzuziehen. »Lebensfroh, unbeschwert … solche Mädchen kenne ich.« Sie griente. »Die machen nicht ihr Bett, die lassen den Kleiderschrank offen, und auf dem Schreibtisch türmen sich Zeitschriften, Zettel und Schminkutensilien. Und schau mal: kein einziges Fitzelchen im Papierkorb.« Sie hielt ihm den leeren Blecheimer unter die Nase. »Ich bleibe dabei. Hier hat jemand nach ihrem Tod reinen Tisch gemacht – und vielleicht nach etwas gesucht.«

Mendelski wiegte zweifelnd den Kopf. »Vielleicht hat die Haushälterin hier aufgeräumt«, sagte er. »Im Rahmen des wöchentlichen Hausputzes, oder auf Anordnung von Kreinbrink. Wir werden sie fragen.«

»Genau. Das muss geklärt werden.« Maike begann, die Schubladen des Schreibtisches zu untersuchen. »Hoffentlich hat sie nicht ausgerechnet heute Großreine gemacht. Dann hat sie alle möglichen Spuren verwischt.«

»Tja, das wäre fatal.«

Mendelski stand noch immer in der Mitte des Raumes und schaute sich um.

»Ziemlich spartanisch, findest du nicht?«, stellte er nach einer Weile fest. »Kein Fernseher, kein PC, nicht mal ein Radio. Irgendwie anonym, leblos. Unpersönlich wie ein Hotelzimmer.«

»Sie wohnte ja noch nicht so lange hier. Gerade mal vier Monate.« Maike inspizierte einen Stapel Schulhefte, die sie in einer Schreibtischschublade entdeckt hatte, während sie weitersprach. »Außerdem … vielleicht konnte sie sich im ganzen Haus frei bewegen und hat diesen Raum hier nur zum Schlafen genutzt.«

»Du meinst, dass sie so gut in die Familie integriert war? Möglich wär’s.«

Mendelski ging auf den Kleiderschrank zu und wollte gerade die beiden Flügeltüren öffnen, als sein Handy klingelte. »Ja … wir sind noch bei den Kreinbrinks«, sagte er in sein Mobiltelefon. »Was gibt’s?«

Nachdem er eine Weile zugehört hatte, erwiderte er: »Okay, wir kommen sofort.« Er unterbrach die Verbindung und erklärte auf Maikes fragenden Blick: »Das war Heiko. Im Gasthof Cohrs ist Finn Braukmann aufgetaucht, einer von der Spanischtruppe gestern Abend. Er möchte etwas zum Tod von Yadira aussagen. Es wäre äußerst wichtig, behauptet er, und er will nur mit dem Chef der Mordkommission persönlich sprechen.«

»Wir sind hier doch nicht im Kino«, lästerte sie. »Aber trotzdem musst du da wohl hin.«

»Ja, und dich nehme ich besser mit. Wir versiegeln den Raum und schicken nachher die Spusi-Truppe her.«

»Dann mal los, du Mordkommissions-Chef …«, sagte Maike kichernd und öffnete die Tür.

* * *

»Oh nein, der Schriewe!« Maikes Augen funkelten böse.

Sie hatten gerade den Flur der Gastwirtschaft betreten, als ihnen ein junger Mann mit einem charmanten Lächeln und einem Fotoapparat vor der Brust entgegentrat.

»Axel Schriewe, der rasende Reporter von der ›CZ‹«, ließ Mendelski verlauten, während er raschen Schrittes weiterging. »Sie lassen aber auch gar nichts anbrennen.«

»Aber Herr Kommissar, erinnern Sie sich nicht mehr an Ihr Versprechen?«

Mendelski erwiderte nichts, und an der Tür zur Gaststube endete das kurze Gespräch. Ein uniformierter Polizist, der Mendelski und Maike Schnur aus dem Wald kannte, ließ die beiden passieren, hielt den Reporter jedoch zurück.

»Was für ein Versprechen meint denn der?«, fragte Mendelski Maike, nachdem er die Tür geschlossen hatte.

»Na, das mit der Exklusivstory«, erwiderte sie und grinste vielsagend. »Weißt du das nicht mehr? Weil er sich letztes Jahr beim Fall Wingenfelder so kooperativ gezeigt hat, hattest du ihm doch eine Exklusivstory versprochen.«

»Ach je, die Geschichte mit dem Waldbrand und dem Kohlfuchs. Ich erinnere mich dunkel.« Mendelski winkte ab. »Jetzt habe ich für so was keine Zeit. Komm, da drüben steht Heiko.«

Für das Gespräch mit Finn Braukmann zogen sich Mendelski und Maike Schnur in einen Nebenraum der Gaststätte zurück. Der Junge saß auf seinem Stuhl wie ein Häufchen Elend, den großen, schlaksigen Körper vornübergebeugt wie zu einem überdimensionalen C. Die strähnigen, tiefschwarz gefärbten Haare verdeckten sein halbes Gesicht, aber nicht die traurig dreinschauenden Augen. Mit seinen feingliedrigen Händen, an deren Mittelfingern er jeweils einen Ring trug, umklammerte er die Knie.

Neben ihm auf dem Tisch lag ein abgegriffener brauner DIN-A4-Umschlag ohne Beschriftung.

»Sie sind also Finn Braukmann«, begann Mendelski, nachdem Maike und er sich vorgestellt hatten. »Sie wollten uns sprechen?«

»Ja.« Der junge Mann richtete sich ein wenig auf und strich sich die Haare aus der Stirn, bevor er bedächtig und leise fortfuhr: »Es geht um die Tote im Wald … um Yadira Martinéz.«

»Wir hören.«

»Ich kannte sie recht gut. Sie gehörte zu unserer Clique.« Er stockte kurz, als er sah, dass Maike mitschrieb. »Und gestern Abend hatten wir wieder unseren Spanisch-Abend.«

»Und?«

»Sie wissen das bestimmt bereits. Kai Kreinbrink hat Ihnen doch sicher schon von gestern Abend erzählt?«

»Ja, hat er. Aber erzählen Sie uns ruhig Ihre Version.«

»Na, dann wissen Sie schon, was wir den Abend über gemacht haben, und dass ich mit Hanno und Mira so gegen halb eins gegangen bin.«

»Sind Sie direkt nach Hause gegangen?«

Der Junge überlegte kurz, nickte dann aber. »Ja, ich musste heute zum Zivildienst wieder früh raus.«

»Wo leisten Sie Ihren Zivildienst?«

»In Dalle. In der WLG, einer Werk- und Lebensgemeinschaft für Behinderte.«

»Wann genau waren Sie letzte Nacht zu Hause?«

»So gegen eins.«

»Gibt es dafür Zeugen?«

»Nein, meine Eltern und Geschwister schliefen bereits.«

Mendelski beugte sich vor, stützte die Ellenbogen vor sich auf den Tisch und sah den jungen Mann direkt an. »Haben Sie letzte Nacht irgendeine Beobachtung gemacht?«, fragte er. »Ist Ihnen an Yadira etwas Besonderes aufgefallen? Haben Sie vielleicht ein Auto vor dem Haus der Kreinbrinks gesehen, eins, das da nicht hingehörte? Oder ist Ihnen jemand auf der Straße begegnet – jemand, der sich verdächtig verhielt?«

Finn Braukmann schüttelte langsam den Kopf. »Nein, nichts. Gestern Abend … also, da war eigentlich alles wie immer.«

Maike schaute verwundert von ihrem Notizblock auf. Als sie merkte, dass sich Mendelski mit der nächsten Frage Zeit ließ, fragte sie: »Und warum wollten Sie uns so dringend sprechen?«

»Deswegen«, erwiderte der junge Mann und tippte mit dem Zeigefinger auf den Briefumschlag neben sich.

* * *

»Bist du dir ganz sicher?«, presste er wütend hervor.

»Wenn ich’s dir sage«, zischte sie. »Jetzt lass mich endlich los.«

Karl-Heinz Jagau hielt ihre Handgelenke weiterhin umklammert und beugte sich weit vor. Ihre Nasenspitzen berührten sich fast.

»Mensch, Kalle, du tust mir weh!« Sie wandte ihren Kopf zur Seite.

»Wo soll ich sie sonst herhaben?«, fauchte er, während er sie zurückstieß. Ihr Bademantel öffnete sich, und er sah, dass sie darunter nackt war.

»Weiß ich doch nicht!«, fauchte sie zurück. »Wer weiß, bei welchem Flittchen du heute Nacht noch abgestiegen bist.«

Die Ohrfeige war so hart, dass sie zu Boden ging. Im Fallen riss sie einen Stuhl um, der polternd neben ihr auf dem harten Fliesenboden landete.

»Du Aas!«, giftete er außer sich.

Die Hände schützend um den Kopf gelegt, blieb sie vorsichtshalber einige Sekunden regungslos liegen. Sie kannte Kalle und seine Wutausbrüche und wollte ihn nicht weiter provozieren.

»Das wollt ich nicht«, murmelte Jagau denn auch unvermittelt. Überrascht über seine heftige Reaktion – er hatte doch gar nicht getrunken – bückte er sich zu ihr hinab und zupfte unbeholfen an ihrem Bademantel.

»Doris, komm … tut mir leid.«

»Scheiße«, jammerte sie. »Ich blute.«

Er half ihr auf die Beine.

»Jetzt sind wir quitt.« Er grinste gequält, während er auf die drei Schrammen auf seiner Wange deutete.

Sie presste ein Papiertaschentuch unter ihre blutende Nase und schüttelte den Kopf. »Ich war das nicht«, näselte sie. »Warum sollte ich denn so was machen?«

»Was weiß ich.« Er zuckte mit den Schultern. »Wir waren doch alle drei total stramm. Vielleicht gab’s Zoff wegen irgend’ner Kleinigkeit.«

»Ich weiß nicht mehr viel von letzter Nacht.« Sie hielt das Taschentuch jetzt in der Hand, die Blutung hatte aufgehört. »Nur … ihr beiden, Piet und du, ihr seid doch noch mal los, Zigaretten holen.«

Das wirkte, als hätte ihm jemand in die Magengrube geschlagen.

»Wann … und wie lange?«, stieß er hervor.

»Keine Ahnung.« Sie wandte sich ab. »Es war spät, verdammt spät. Frag doch besser Piet.«

* * *

Oberflächlich betrachtet, wirkten die drei weißen DIN-A4-Blätter unverfänglich, fast harmlos und sogar ein wenig naiv. Die einzelnen Buchstaben, bunt und von verschiedener Größe und Schreibform, waren feinsäuberlich aus Zeitschriften oder Werbebeilagen ausgeschnitten und aufgeklebt worden.

Der Sinn der dort zusammengefügten Worte war jedoch alles andere als unverfänglich, harmlos oder naiv. Auf dem ersten Zettel stand: Verschwinde von hier, sonst ergeht es dir wie Dora K. Das zweite Blatt trug einen längeren Text, der sich reimte.

 

Unter kalten Mörderhänden

musste sie ihr Leben enden.

Ein traurig Los war ihr beschieden,

nun ruht sie fest in Gottes Frieden.

Auf dem dritten Zettel war zu lesen: Allerletzte Warnung!!!

»Woher haben Sie die?«, fragte Mendelski. Er hatte die drei Blätter sorgfältig nebeneinandergelegt, um sie besser studieren zu können. Dabei hatte er sie vorsichtig und nur an den Kanten berührt, um etwaige Fingerabdrücke nicht zu verwischen. Maike Schnur schoss derweil mit ihrem Handy etliche Fotos.

»Von Yadira«, erklärte Finn Braukmann. »Sie gab sie mir … vor acht Tagen.«

»Und?«

»Es sind Drohbriefe, wie Sie unschwer erkennen können. Drohbriefe, die an Yadira gerichtet waren.«

»Woher kamen die denn?« Im selben Augenblick bereute Mendelski die dämliche Frage.

»Die sind natürlich anonym. Sonst hätte sich der Verfasser nicht die Mühe mit den aufgeklebten Buchstaben machen müssen.«

»Ich meine, wie haben die Drohbriefe Yadira erreicht?«, korrigierte Mendelski seine Frage. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass Maike verstohlen grinste.

»Den Ersten fand sie am helllichten Tag auf dem Gepäckträger ihres Fahrrads, am Freibad, irgendwann im Juli. Der Zweite steckte in ihrem Rucksack, einfach so, im August. Sie hat ihn entdeckt, als sie von einem Einkaufsbummel in Celle nach Hause kam. Der Dritte lag ganz offen im Briefkasten der Kreinbrinks, im September, an einem Montagmittag. Also vor knapp vier Wochen.«

»Wer wusste alles von den Zetteln?«

»Nur Yadira, sonst niemand – außer mir.« Finn Braukmann wirkte verlegen, aber irgendwie auch ein wenig stolz. »Sie hat mir vertraut. Anscheinend als Einzigem. Deshalb hat sie mich eingeweiht.«

»Warum ist sie damit nicht zu ihrer Gastfamilie, den Kreinbrinks, gegangen?«

»Das habe ich sie auch gefragt. Aber sie wollte den Kreinbrinks, denen sie so viel zu verdanken hatte, keinen unnötigen Ärger bereiten. Außerdem hat sie immer wieder versucht, die ganze Geschichte herunterzuspielen. Da macht einer einen üblen Scherz, hat sie gesagt. Wer ahnt denn …« Er musste schlucken und brach den Satz ab.

Mendelski nickte ihm aufmunternd zu. »Hat sie Ihnen gegenüber einen Verdacht geäußert?«, fragte er.

»Nicht direkt.«

»Das heißt?«

»Ich glaube, auch, wenn sie es nie offen ausgesprochen hat, dass sie den Vater ihrer ersten Gastfamilie in Betracht zog. Matthias Stadler aus Eldingen, der hat sie belästigt. Vor dem hatte sie Angst.«

»Den haben wir schon auf der Liste«, ließ Maike Schnur verlauten, die dabei recht grimmig dreinschaute.

Mendelski warf ihr einen tadelnden Blick zu und wechselte rasch das Thema. »Herr Braukmann, hatte Yadira eine Idee, was die Zettel bedeuten?«, fragte er.

»Aber klar doch. Ganz so schlecht, wie Sie denken, war ihr Deutsch nicht.«

»Das meine ich nicht.« Er beugte sich über den Tisch, um die drei Zettel ein weiteres Mal zu begutachten. »Es geht ums Detail: ›Verschwinde‹ und ›Allerletzte Warnung‹ ist relativ eindeutig. Doch wer ist ›Dora K.‹? Und was hat es mit diesem altertümlichen Reim auf sich? Haben Sie da vielleicht eine Idee?«

»Sie sind nicht aus Eschede«, erwiderte Finn mit einer Spur Häme. »Dora K. kennt hier jedes Kind. Und auch den Reim.«

»Bitte?«

Finn Braukmann sprang auf. »Haben Sie ‘ne halbe Stunde Zeit? – Okay, dann kommen Sie, ich zeig Ihnen was.«

* * *

Feiner, herbstlich kühler Sprühregen ging auf das abendliche Eschede nieder, als sich die Straßenlaternen automatisch einschalteten. Die Kirchturmuhr zeigte fünf vor halb sieben.

Karl-Heinz Jagau hielt vor dem kleinen Einfamilienhaus in der Nähe des Friedhofs und ließ Motor und Scheinwerfer eingeschaltet. Durch das eine Handbreit geöffnete Seitenfenster drang Zigarettenqualm nach draußen.

Bei Piet war alles dunkel.

Verdammter Mist, dachte Jagau. Ist der etwa doch zur Arbeit gegangen, obwohl er eigentlich krankfeiern wollte? Seine Spätschicht endet erst weit nach Mitternacht, also werde ich nicht vor morgen früh mit ihm sprechen können. Er schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad. »Scheiße!«, entfuhr es ihm. »Diese Ungewissheit macht mich kirre.«

Er schnippte die Zigarettenkippe durch den Fensterspalt und legte den ersten Gang ein. Mit durchgetretenem Gaspedal startete er den Wagen. »Auf zum Schüsseltreiben«, murmelte er. »Da werd ich bestimmt schon vermisst.«

Als er mit quietschenden Reifen in die Südstraße einbog, rammte er um Haaresbreite ein entgegenkommendes Auto, das in der kleinen Straße Richtung Johannis-Kirche verschwand. Unwillkürlich trat er auf die Bremse.

Den VW Passat kannte er doch. Dem hatte er heute früh bei der Jagd einen Parkplatz zugewiesen. Eindeutig: Das war der Wagen dieses Kriminalkommissars aus Celle.

»Was wollen die denn hier?«, fragte er sich, während er vorschriftswidrig ein Stück zurücksetzte. Als der hölzerne Kirchturm in seinem Rückspiegel auftauchte, stoppte er. Direkt davor parkte der Passat, dem gerade drei Personen entstiegen.

Trotz der einsetzenden Dunkelheit erkannte er den Kommissar, der noch immer seinen Lodenmantel und den Hut von der Jagd heute Morgen trug, dessen junge Kollegin – wie so ein fesches Ding nur bei den Bullen arbeiten konnte – und einen jungen Burschen mit Lederjacke.

»Braukmanns Finn?« Karl-Heinz Jagau kratzte sich irritiert am Kopf. »Was wollen die denn von dem?«

In diesem Moment klingelte sein Handy in der Mittelkonsole.

»Bin schon unterwegs«, knurrte er, nachdem er den Namen des Anrufers auf dem Display erkannt hatte. Er drückte die grüne Taste und meldete sich mit Namen. »Ja, tut mir leid. Wurde in Eschede aufgehalten. Bin aber in fünf Minuten da.«

Er sah noch, wie die drei Gestalten zwischen den alten Grabsteinen auf dem Kirchberg verschwanden, dann gab er wieder Gas.

* * *

»Hier habe ich auch mit Yadira gestanden«, erklärte Finn Braukmann leise, während er den Kragen seiner Lederjacke hochschlug. Der kalte Nieselregen war ziemlich ungemütlich. »Und ihr die grausige Geschichte von damals erzählt.«

Mendelski ließ den Strahl seiner Taschenlampe über die verwitterte Oberfläche des Grabsteins wandern. Dann las er langsam und laut vor, was da in altertümlicher Schrift geschrieben stand.

 

HIER RUHT IN GOTT

DORA KLAGES

GEB. ZU HAMELN 22. MÄRZ 1873

ERMORDET, BERAUBT

IM WALDE BEI ESCHEDE

AM 13. AUGUST 1890

AUFGEFUNDEN UND BEGRABEN

AM 21. MÄRZ 1892

Einen Moment lang herrschte Stille. Maike Schnur, bibbernd vor Kälte und bestrebt, so schnell wie möglich wieder ins warme und trockene Auto zu kommen, ergriff die Initiative.

»Dora K. ist also Dora Klages.« Sie musste niesen. »Auch sie wurde ermordet. Mit gerade mal siebzehn Jahren.«

»Genau«, bestätigte Finn Braukmann. »Vor über hundert Jahren. Es war ein Raubmord. Und nun schauen Sie sich mal die Rückseite an.«

Nachdem sie um den Grabstein herumgegangen waren, leuchtete Mendelski wieder mit seiner Taschenlampe auf die verwitterten Buchstaben.

 

Unter kalten Mörderhänden

Musste sie ihr Leben enden

Ein traurig Los war ihr beschieden

Nun ruht sie fest in Gottes Frieden

»Exakt der Text des zweiten Drohbriefes«, bemerkte Maike. Ihr jagte jedoch weniger der Grusel, als vielmehr die Kälte einen Schauer nach dem andern über den Rücken.

»Unser Buchstabenkleber drohte also, ob ernst gemeint oder nicht, ganz offen mit Mord.«

»Wie bitte?«, brauste Finn auf. »Ernst gemeint oder nicht? Ist Yadira nun ermordet worden, oder was?«

»Moment, Moment!« Mendelski versuchte, den Jungen zu beruhigen. »Erstens können wir einen Unfall noch nicht ausschließen. Dazu brauchen wir das Ergebnis der Obduktion. Zweitens muss der Verfasser dieser Briefe, also jemand, der mit Mord droht, nicht zwangsläufig auch der Täter sein.«

»Ach, Sie denken wohl: Hunde, die bellen, beißen nicht.« Finn winkte ab.

»Ich meine gar nichts.« Mendelski blieb die Ruhe selbst. »Natürlich haben Sie recht, wenn Sie den Drohbriefen eine erhebliche Bedeutung beimessen. Das tun wir auch. Deshalb wandern sie zur weiteren Untersuchung noch heute Nacht ins Labor. Was wir dann noch bräuchten, wären Ihre Fingerabdrücke.«

»Meine Fingerabdrücke? Wieso das denn? Ach so, wegen … jetzt verstehe ich.«

»Entschuldigung«, warf Maike ein. »Können wir vielleicht alles Weitere im warmen Auto besprechen? Ich friere wie ein Schneider.«

* * *

»Ach, wir zwei kennen uns doch schon!« Ellen Vogelsang sah von ihrem Notebook auf. Ihr gegenüber hatte – zum wiederholten Mal in den letzten zwei Stunden – ein grünberockter Mann Platz genommen, um mehr oder weniger freiwillig Auskunft über den heutigen Tag und den Leichenfund zu geben.

Der Mann, der jetzt vor ihr saß, war Mitte fünfzig, untersetzt, relativ klein, hatte schütteres farbloses Haar und trug eine Nickelbrille. Seine Stirn glänzte vor Schweiß, was der stickig-warmen Kneipenluft, dem deftigen Essen und wohl auch den dazugehörigen alkoholischen Getränken zuzuschreiben war, die im benachbarten großen Saal, der sogenannten Diele, zum Schüsseltreiben gereicht wurden.

Oder gibt es da noch etwas anderes, was den guten Mann zum Schwitzen bringt?, fragte sich Ellen Vogelsang.

»Sie erinnern sich? An der Straße vorhin«, sagte sie augenzwinkernd und setzte ein um Vertrauen werbendes Lächeln auf. Dann las sie Namen und Wohnort von ihrer Liste ab. »Pagel, Joachim Pagel, wohnhaft in Eschede, richtig?«

»Das stimmt«, erwiderte Pagel, der unsicher ihrem Blick auswich. »Vierundfünfzig Jahre alt, ledig, Lehrer an der HRS, an der Haupt- und Realschule Eschede …«

»Das reicht zunächst«, unterbrach sie ihn, lehnte sich zurück und gähnte ungeniert. »Zumindest, was die Personalien betrifft. Sie sind der Letzte auf meiner Liste für heute. Wird auch langsam Zeit für den Feierabend.«

In Wirklichkeit war sie hellwach. Es stand außer Zweifel, dass die Befragung von Joachim Pagel für sie heute die Wichtigste war. Die anderen Gespräche, die sie geführt hatte, waren nicht besonders ergiebig gewesen.

»Meinetwegen können wir es kurz machen«, schlug Pagel vor. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht viel helfen.« Ihm war anzusehen, dass er sich überhaupt nicht wohlfühlte in seiner Haut – und dass er so schnell wie möglich zurück in den Saal zu seinen Jagdkumpanen wollte.

»Sie meinen also, dass Sie uns gar nichts über Yadira Martinéz sagen können?«

»Genauso ist es.«

»Was habe ich denn dann vorhin unfreiwillig auf dem Parkplatz gehört?« Ihre Stimme wurde schärfer.

»Was denn?«, fragte er schnippisch wie ein beleidigtes Kind. Er rutschte mit seinem Stuhl ein Stück zurück und verschränkte wie zur Abwehr die Arme vor dem Bauch.

»Das wissen Sie doch genau«, gab sie zurück. »Sie sprachen mit Ihrem Jagdkumpan Horst über Yadira. Über das Schützenfest, den für Sie so peinlichen Tanz mit ihr, das Gespött der Schüler und so weiter.«

»Dann wissen Sie ja schon alles«, entgegnete er trotzig. »Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«

Ellen Vogelsang atmete erst mal tief durch, bevor sie lospolterte: »Schön. Dann lade ich Sie eben morgen um vierzehn Uhr zur Vernehmung aufs Präsidium nach Celle vor. Ganz offiziell. Wenn Sie unbedingt den Geheimniskrämer spielen wollen: Wir können auch anders. Es geht hier um Mord, werter Herr Pagel, nicht um irgendwelche Albereien unter pubertierenden Schülern.«

»Dann bringe ich aber meinen Anwalt mit«, wetterte er zurück. »Der wird Ihnen schon Kontra geben.«

»Nur zu, das steht Ihnen frei.«

Wutschnaubend erhob er sich und verließ den Raum.

* * *

»Wissen Sie noch mehr über den Mord an Dora Klages?«, fragte Maike Schnur, nachdem sie es sich auf der Rückbank bequem gemacht hatte. »Wie ist sie umgekommen?«

Sie hatten sich ins Auto zurückgezogen, um vor dem Nieselregen und dem kalten Wind geschützt zu sein. Mendelski zündete den Motor, ließ die Scheinwerfer aber noch ausgeschaltet und machte auch sonst keine Anstalten loszufahren. Maike, in der Regel allergisch gegenüber Autofahrern, die verschwenderisch mit Ressourcen umgingen und unnötig die Luft verpesteten, hielt wegen ihrer Fröstelei ausnahmsweise einmal die Klappe.

»Eigentlich kennt jeder in Eschede die traurige Geschichte der Dora Klages«, antwortete Finn Braukmann, der vorn auf dem Beifahrersitz saß. »Mehr oder weniger. Als ich von Yadira die Drohbriefe bekam, interessierte mich die Sache natürlich besonders. Und weil ich vieles schon wieder vergessen hatte, habe ich mich im Internet schlaugemacht. Ich habe ihr aber nichts davon erzählt, verstehen Sie, damit sie sich nicht noch mehr Sorgen macht.« Er schluckte, fasste sich aber schnell wieder.

»Also«, fuhr er fort, »Dora Klages war ein junges Mädchen aus Hameln. Sie war von einer gewissen Dorothee Buntrock und ihrem Helfershelfer Fritz Erbe mit dem Versprechen nach Eschede gelockt worden, für sie als Reisebegleiterin arbeiten zu können. Mitten im Wald, in der Nähe des Loher Weges, sind sie dann am helllichten Tage über das hilflose Mädchen hergefallen, haben es grausam umgebracht und die Tote im Waldboden verscharrt – alles nur wegen der Kleider, die sie am Leibe trug, und ein paar Pfennig Kleingeld. Die Leiche wurde erst zwei Jahre später gefunden; ein kleiner Gedenkstein an der Stelle im Wald erinnert heute noch an die Gräueltat. Das Mörderpärchen wurde gefasst und hingerichtet, auch wegen eines weiteren Raubmordes. Wenn Sie noch mehr wissen wollen – Aussagen von Zeitzeugen, Zeitungsartikel von damals et cetera –, schauen Sie am besten mal auf der Homepage von Eschede nach.«

»Ist die Geschichte der Dora Klages auch außerhalb von Eschede bekannt?«, fragte Maike.

»Keine Ahnung.« Finn überlegte. »In den umliegenden Dörfern wohl schon, aber weiter weg?« Er zuckte mit den Achseln.

»Na dann …« Mendelski schaltete die Scheinwerfer ein, legte den ersten Gang ein und fuhr los. »Schönen Dank für Ihre ausführlichen Auskünfte«, sagte er freundlich. »Und seien Sie bitte so nett und behalten das mit den Drohbriefen erst mal für sich.«

»Klar doch, wegen der Presse und so.«

»Ja, aber nicht nur der Medien wegen, die so was natürlich sofort ausschlachten würden. Nein, mir geht es auch darum, den Verfasser der Briefe erst einmal in dem Glauben zu lassen, wir wüssten nichts über die Zettel. Das gibt uns einen gewissen Vorsprung.«

»Verstehe.«

»Wo sollen wir Sie absetzen?«

»Ich wohne jenseits der 191, in der Nähe des Bahnhofs.«

»Hier entlang?«

»Ja, genau.«

Sie fuhren die Albert-König-Straße zur B191 hinauf.

»Sie stehen uns bitte noch für weitere Fragen zur Verfügung.« Mendelski überquerte die Bundesstraße, um schräg gegenüber in die Bahnhofstraße einzubiegen. »Schauen Sie, unsere Arbeit hat gerade erst begonnen, wir müssen noch jede Menge Fragen klären.«

»Wenn’s denn sein muss.« Finn Braukmann wirkte plötzlich abweisend und in sich gekehrt. Er sprach wie in Trance, als er bat: »Aber dann müssen Sie mir auch einen Gefallen tun. Hier können Sie übrigens halten.«

»Welchen Gefallen denn?« Mendelski nahm den Fuß vom Gas und fuhr rechts an die Bordsteinkante. Neugierig musterte er seinen Beifahrer.

»Bitte …«, sagte dieser mit einem leisen Flehen in der Stimme. »Bitte verschonen Sie mich mit Einzelheiten. Wie Yadira ums Leben kam … ob sie vergewaltigt wurde oder so. Ich will’s nicht wissen. Dazu habe ich sie zu sehr gemocht.« Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete Finn die Autotür und sprang in die Dunkelheit hinaus. Der Regendunst verschluckte seine Gestalt in Windeseile.

Die Beifahrertür hatte er sperrangelweit offen gelassen.

Als sie das Ortsschild von Endeholz passierten, brachte NDR-Info gerade die Einundzwanzig-Uhr-Nachrichten. Maike Schnur drückte auf die Volume-Taste des Autoradios, denn sie hatte mit einem Ohr mitgekriegt, dass der erste Beitrag irgendetwas mit dem Landkreis Celle und Eschede zu tun hatte.

»… am heutigen Nachmittag im Wald bei Eschede gefunden worden. Bei der Toten handelt es sich um eine achtzehnjährige Frau aus der Dominikanischen Republik, die seit einem Dreivierteljahr in Deutschland lebte. Ob ein Gewaltverbrechen vorliegt oder ob es sich um einen Unfall handelt, kann die Polizei zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen. – Kandahar …«

»Na, das klingt ja einigermaßen moderat«, sagte Maike, nachdem sie das Radio wieder leiser gestellt hatte.

»Das waren ja auch die Öffentlich-Rechtlichen«, knurrte Mendelski. »Schalt bloß nicht auf die Privaten. – Carajo! Wenn man vom Teufel spricht …«

Als sie beim Gasthaus Cohrs um die Ecke bogen, sahen sie die Bescherung. Im grellen Licht einiger Kamerascheinwerfer und dem Blitzlichtgewitter etlicher Fotografen standen Jo Kleinschmidt und Ellen Vogelsang vor der VW Caravelle und versuchten, die Schar von Medienleuten in Schach zu halten.

»Schnell, hier auf den Hof.« Maike Schnur wies nach rechts. »Da gibt es einen Seiteneingang.«

Mendelski tat, wie ihm befohlen. »Hast du Heiko gesehen?«, fragte er, während er in einer dunklen Ecke einparkte. »Oder waren das nur Ellen und Jo?«

»Keine Ahnung, vielleicht sitzt er schon im Bus.«

»Glaube ich nicht. Wenn die hier fertig wären, hätte er bestimmt angerufen.«

In diesem Augenblick klingelte sein Handy.

»Wir sind schon da«, sagte er ins Mobiltelefon. »Sind in zwei Minuten bei dir.«

* * *

Leise knisternd schob das betagte Faxgerät ein Blatt dünnes Papier aus dem Schacht. Als Erstes erschien darauf der Briefkopf eines ausländischen Konsulates, verziert mit einem Logo. Dann folgte ein dürrer Text, der mit der lapidaren Formulierung endete: »… und bitten wir baldmöglichst um konkrete Informationen diesen Todesfall betreffend, damit wir die Angehörigen korrekt informieren können.«

Der diensthabende Polizist zupfte das Papier aus dem Gerät und überflog das Fax. »Jupp«, rief er einem Kollegen zu, der gerade die Wache betreten hatte. »Weißt du was von einer Toten aus der Dominikanischen Republik, die wir hier haben sollen?«

Der Kollege drehte sich um. »Keine Ahnung, was du meinst. Wir haben nur die Leiche im Wald – und die ist aus Eschede. Wieso?«

»Na, die Botschaft von denen – ach nee, das Konsulat –, die wollen wissen, was da passiert ist.«

»Wie, in drei Teufels Namen, sollen wir denen denn das verraten können?« Der Kollege schnappte sich die Zeitung vom Vortag, die herrenlos herumlag.

Der Wachhabende brummte unwillig vor sich hin. »Ich leg das dem Chef ins Fach, soll er doch sehen, was er daraus macht.«

Damit war die Sache für ihn erledigt.

* * *

Der Seiteneingang war weder abgeschlossen, noch stand hier ein Polizist Wache.

»Zustände sind das hier«, knurrte Mendelski und trat durch die Tür, die direkt auf die Diele führte. Maike Schnur folgte ihm auf dem Fuß.

Gleich hinter dem Seiteneingang trafen die beiden auf von Bartling, Heiko Strunz und zwei Polizisten in Uniform.

»Wo stecken Sie denn?«, empfing von Bartling sie mit vorwurfsvoller Miene. »Da draußen ist der Teufel los. Was gedenken Sie dagegen zu tun?«

»Nun …« Mendelski zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Es sind ja wohl in erster Linie unsere Leute, die da bedrängt werden, oder?«

»Ja, noch!«, ereiferte sich von Bartling. »Aber was passiert, wenn meine Jagdgäste nach Hause wollen? Die Journaille wird sich auf sie stürzen wie die Schmeißfliegen.«

»Wir wollten gerade Verstärkung von der Polizeistation Eldingen anfordern«, mischte sich einer der beiden Uniformierten in das Gespräch ein. »Mit dem Medienrummel da draußen kommen wir Escheder allein wohl nicht so ganz zurecht.«

»Machen Sie das.« Mendelski war froh, dass sich jemand um dieses lästige Thema kümmerte, und wandte sich Heiko Strunz zu.

»Wir sind hier mit den Befragungen durch«, erklärte dieser.

»Gut, dann rücken wir jetzt ab.«

Von Bartling schien nicht zufrieden. »Gibt es neue Erkenntnisse?«, wollte er wissen. »Was war das vorhin für ein Junge, mit dem Sie weggefahren sind? Ein Verdächtiger?«

»Keineswegs. Lediglich ein Bekannter der Toten. – So, mir reicht’s. Feierabend für heute.«

»Moment noch!« Der Jagdherr stellte sich Mendelski brüsk in den Weg. »Ich muss mich über Ihre Kollegin beschweren. Sie hat einen meiner Gäste ziemlich rabiat angefasst und ihn für morgen nach Celle aufs Präsidium bestellt – völlig überzogen, meine ich.«

»Das glaube ich kaum.« Mendelski sah, wie Strunz im Hintergrund die Augen verdrehte. »Sie können davon halten, was Sie wollen, aber Hauptkommissarin Vogelsang hatte sicher gute Gründe für ihr Vorgehen. Wenn es Sie beruhigt, werde ich mit ihr sprechen, um zu erfahren, was sie zu diesem Schritt bewogen hat. Gute Nacht.« Mendelski schob sich an dem verdutzten von Bartling vorbei und wollte sich gerade durch das Clubzimmer zum Haupteingang begeben, als Maike Schnur ihn zurückrief.

»Robert, wollen wir nicht lieber den Seitenausgang …«

»Ach ja, natürlich.« Er machte auf dem Absatz kehrt.

»Nehmt ihr mich mit?«, fragte Strunz flink. »Ellen und Jo schaffen das mit der Caravelle auch allein.«

»Mitfahren? Kommt nicht in die Tüte«, sagte Maike mit todernster Miene. »Nur, wenn du brav Bitte sagst.« Sie feixte und stupste ihren Kollegen in die Rippen. »Los jetzt! Wird Zeit, dass wir hier wegkommen. Ich bin hundemüde.«

Als Robert Mendelski den Passat gegen dreiundzwanzig Uhr fünfzehn in Boye auf die Garagenzufahrt lenkte, öffnete sich gerade die Haustür. Drei Personen traten nacheinander in den Lichtkegel der Außenlampe und schauten zu dem Auto hinüber, das unter dem Carport zum Stehen kam.

Trotz des Gegenlichts erkannte Mendelski seine Frau Carmen, die – wie stets leicht fröstelnd – die Arme wärmend um ihren Oberkörper geschlungen hatte. Auch die Silhouette seiner Tochter Ana war ihm wohlvertraut, was sicher mit deren langen Haaren – ihrer Löwenmähne, wie er immer sagte – und der hoch aufgeschossenen, schmalen Mannequinfigur zusammenhing. Nur die dritte Person war ihm fremd. Es handelte sich zweifellos um ein männliches Wesen, das um mindestens einen halben Kopf größer war als Ana. Es musste ihr neuer Freund sein, den sie ihm und Carmen heute hatte vorstellen wollen.

Das schlechte Gewissen plagte ihn. Ohne sich weiter um seine Jagdutensilien zu kümmern, stieg er rasch aus dem Auto und ging zum Haus.

»Oh Paps!«, empfing ihn Ana mit vorwurfsvollem Ton schon von Weitem. »Jetzt, wo wir gehen müssen, da kommst du.«

»Tut mir wirklich leid, aber es ging nicht anders«, erwiderte er, trat zu seiner Frau und gab ihr einen liebevollen Begrüßungskuss. »Ihr wisst doch, Dienst ist Dienst.« Dann wandte er sich an seine Tochter. »Willst du mich nicht wenigstens vorstellen?«

»So zwischen Tür und Angel?«, schmollte sie. »Na toll.«

Indem er dem jungen Mann freundlich zunickte und ihm die Hand reichte, nahm Mendelski die Sache selbst in die Hand. »Ich bin Robert«, sagte er.

»Und ich der Ajub.«

Er hat ein sympathisches und offenes Lächeln, dachte Mendelski. Wirkt so vernünftig und erfrischend normal. Ganz anders als die Leute, mit denen er von Berufs wegen häufig zu tun hatte. Spontan schlug er vor: »Zehn Minuten habt ihr doch noch, ihr beiden? Los, kommt, tut mir den Gefallen.«

»Och nee!« Ana trat unruhig von einem Bein aufs andere. Ajub, ganz Gentleman, nickte diplomatisch. »Aber wirklich nur zehn Minuten«, sagte Ana darum. »Ich muss morgen früh raus.«

»Super. Nett von euch. Geht schon mal vor. Ich muss eben noch meine Jagdsachen aus dem Auto holen.«