Galens telepathischer Notruf hätte ihn fast zu spät erreicht. Wenn es Elena gelungen wäre, Venoms Augen zu erwischen, dann hätte der Vampir kaltblütig zurückgeschlagen, hätte seine giftigen Fangzähne in ihren Hals geschlagen.
Das Gift hätte sie gelähmt, ihr unerträgliche Schmerzen bereitet.
Und war die Gier der Kobra erst einmal geweckt, hätte Venom ihr vielleicht den Kopf abschneiden und ihr damit den sicheren Tod bringen können, bevor Galen Zeit gefunden hätte einzuschreiten.
Raphael legte sie auf das Bett und streckte seinen Geist nach ihr aus. Elena.
Stöhnend warf sie den Kopf hin und her, als würde sie wilde Kämpfe in ihrem Inneren austragen.
Sein Versprechen, nicht unerlaubt in ihren Geist einzudringen, wurde auf eine harte Probe gestellt, denn sein Wunsch, sie zu beschützen, war so stark, dass er sich fast nicht zu helfen wusste. Heute fiel es ihm sogar noch schwerer als gestern. Dabei wäre alles so viel einfacher, wenn er auslöschen könnte, was ihr solche Qualen bereitete.
»Lieber sterbe ich, als dass Elena stirbt und ich nur als mein eigener Schatten weiterlebe.«
Er strich ihr das wirre Haar aus dem Gesicht und wiederholte seinen Befehl diesmal laut. »Elena.«
Mit einem Schlag öffnete sie die Augen, doch hatten sie im ersten Moment nicht ihre gewohnte silbergraue Farbe. Stattdessen waren sie mitternachtsschwarz, voller dunkler böser Schatten. Dann blinzelte sie kurz, und sie waren allesamt verschwunden. Verwirrt sah Elena Raphael an, rieb sich die Stirn. »Ich fühle mich, als hätte mich ein Tanklaster überrollt. Was ist denn geschehen?«
»Ich musste eingreifen, als du dein Training in einen Kampf auf Leben und Tod verwandelt hast.«
»Ich erinnere mich«, flüsterte sie. »Ist Venom okay?«
»Ja.« Aber seine Sorge galt allein ihr. »Die Erinnerungen dringen jetzt auch langsam in dein Bewusstsein, wenn du wach bist.«
Sie richtete sich zum Sitzen auf. »Es war, als wäre ich gar nicht mehr ich selbst. Nicht nur das – als wäre ich eine Maschine, nur auf eine einzige Sache ausgerichtet.«
»Hört sich an wie die Stille.«
Elena erschauderte bei dem Gedanken, was die Stille aus ihm gemacht hatte: eine seelenlose Kreatur, die ein Menschenleben so leicht zum Verlöschen brachte wie eine Kerzenflamme. »Glaubst du, es liegt an der Verwandlung, an der Unsterblichkeit?«
»Das könnte sein.« Er nickte. »Aber vielleicht ist es einfach auch an der Zeit.«
An der Zeit, dass sie sich endlich an alles erinnerte, was sie lieber vergessen würde. »Ich will mit meinem Vater sprechen.«
30
»Er verdient deine Entschuldigung nicht.«
Elena fuhr hoch. »Wie kommst du darauf?«
»Deine Schuldgefühle lasten schwer auf deiner Seele.« Er fuhr ihr sanft mit der Hand über das Gesicht und beugte sich zu ihr vor, bis ihre Lippen nur noch einen Herzschlag voneinander entfernt waren. »Du wirst nicht vor ihm auf den Knien rutschen.«
Sie zuckte zusammen. »Aber ich bin schuld daran, dass Slater sich unsere Familie ausgesucht hat.« Daran war nicht zu rütteln.
»Und dein Vater ist daran schuld, dass der Rest eurer Familie entzweit ist.«
Darauf konnte sie ihm nichts erwidern – denn er hatte ja recht. Jeffrey hatte die Familie gespalten, an jenem Tag, als er sie hinausgeworfen hatte. Ihre Sachen auf dem gepflegten Rasen vor dem Großen Haus hatten wie ein Haufen Müll ausgesehen. Die Nachbarn in ihrer vornehmen Straße waren alle zu wohlerzogen, um sie anzustarren, aber sie hatte die bohrenden Blicke gespürt. Doch das hatte ihr nicht so viel ausgemacht. Für sie zählte nur, dass ihr Vater versucht hatte, ihren Willen zu brechen, und damit ihre ohnehin schon brüchige Beziehung vollends zerstört hatte.
»Auf die Knie und bettle, dann überlege ich es mir vielleicht noch mal.«
»Das steht zwischen uns«, sagte sie und legte die Hand auf Raphaels Herz. »Jetzt weiß ich endlich, dass er mich hasst, weil ich Slater angelockt habe.« Wie Dmitri war auch Slater in der Lage gewesen, Menschen mit seinem Duft zu betören, aber das war nicht sein einziges Talent gewesen. »Kann Dmitri mich aufspüren?«, fragte sie, und auf einmal schien etwas einzurasten.
»Ja.«
Kein Sterblicher, kein Jäger wusste davon. »So hat Slater es also gemacht. Er hat mich irgendwo gewittert und hat sich dann auf den Weg in unser Viertel gemacht.« Slater war noch viel zu jung, eigentlich hätte sein Geruchssinn noch gar nicht so ausgeprägt sein dürfen. Aber dieser Vampir war eben nicht normal, in keinerlei Hinsicht. »Ich habe gespürt, wie er sich uns genähert hat, der Wind hat seinen Geruch zu mir getragen.« Verzweifelt hatte sie ihren Vater zu warnen versucht, hatte ihn angefleht, auf sie zu hören, und am Ende hatte sie sogar getobt und gebrüllt.
»Genug jetzt, Elieanora.« Ein wütend hervorgebrachter Befehl. »Marguerite, ich glaube, du solltest aufhören, den Kindern Märchen zu erzählen.«
»Aber, Daddy …«
»Du bist eine Deveraux.« Ein stahlharter Blick. »Niemand in unserer Familie ist jemals ein Jäger gewesen. Und du wirst bestimmt nicht damit anfangen. Mit diesen Lügengeschichten überzeugst du mich jedenfalls erst recht nicht.«
Später hatte ihre Mutter sie dann tröstend in die Arme genommen, ihr versprochen, mit Jeffrey zu reden. »Gib ihm ein wenig Zeit, Azeeztee. Dein Vater ist sehr traditionell erzogen worden, er muss sich erst langsam an neue Ideen gewöhnen.«
»Mama, das Monster …«
»Vielleicht spürst du die Vampire, mein Liebling. Aber sie gehen einfach ihrer Wege.« Beruhigende Worte einer Mutter. »Nur weil jemand ein Vampir ist, bedeutet es nicht gleich, dass er böse ist.«
Mit ihren zehn Jahren fehlten Elena noch die Worte, um ihr begreiflich zu machen, dass sie den Unterschied zwischen Gut und Böse kannte und dass das Wesen, das sich ihnen näherte, sehr wohl böse war. Als sie dann endlich die Worte gefunden hatte, war es schon zu spät gewesen.
Die restlichen Tage verstrichen in wohltuender Gleichförmigkeit – die meiste Zeit verbrachte Elena damit, unter Raphaels Anleitung ihre Flugkünste zu verbessern. In ihrer Freizeit durchstreifte sie die Zufluchtsstätte, lernte immer mehr dazu und war eine bereitwillige Zuhörerin. Laut Jasons Informationen blieb ungeklärt, wo Anoushka und Dahariel sich aufgehalten hatten, als die Dolche der Gilde gestohlen wurden, aber es gab keine Möglichkeit, den Diebstahl einem der beiden Engel zur Last zu legen. Die guten Nachrichten waren, dass keine weiteren Dolche aufgetaucht waren und dass sich Anoushka und Dahariel – gemeinsam mit Nazarach – angeblich auf dem Weg zurück in ihre eigenen Gebiete befanden. Dennoch blieb Elena auf der Hut. Die ständige Wachsamkeit verlangte ihr neben dem täglichen Flugtraining noch zusätzliche Kraft ab, doch im Grunde war es ihr ganz willkommen, denn sie wollte nicht über ihre Schuld am Tod ihrer Schwestern – und letztendlich auch an dem ihrer Mutter – nachdenken. Also konzentrierte sie sich auf die Jagd, den bevorstehenden Ball und ihre regelmäßigen Besuche bei Sam. Und genau nach einem dieser Besuche, sie ging gerade einen der Krankenhausgänge entlang, brach die Katastrophe über sie herein.
»Michaela.« Entsetzt riss Elena beim Anblick der auf dem Boden liegenden Körper die Augen auf. Zumindest einer davon war ein himmlischer Krankenpfleger, seine Haare waren mit etwas Glänzendem verklebt, über die Wand, vor der er zusammengesunken war, zog sich ein breiter roter Streifen.
»Jägerin.« Der Erzengel kam auf sie zu; Michaela trug ein wallendes burgunderrotes Kleid, das ihre Brüste sanft umschmeichelte, der lange Schlitz am Oberschenkel gab den Blick auf samtig glänzende Haut frei. Niemand hätte sie für weniger als atemberaubend schön gehalten.
Aber heute … Elena schluckte. Das Kleid war gar nicht weinrot. Es war ursprünglich einmal weiß gewesen. Nun aber war es blutdurchtränkt, klebte ihr auf der Haut. Das Gesicht des Erzengels war sauber, sein glänzendes Haar sauber und ordentlich, aber Michaelas Fingernägel waren blutverkrustet. An ihren Händen klebte der Tod.
»Ich bin gekommen, um das Kind zu sehen.«
Elena machte nicht den Fehler zu glauben, Michaela wolle ihr Vorhaben erklären. Nein, sie teilte ihr lediglich einen Beschluss mit. Eigentlich hätte sie den Erzengel ziehen lassen sollen, aber abgesehen von dem irren Zustand ihres Kleides umgab Michaela eine Aura des absolut Bösen, das man auf keinen Fall in die Nähe eines schutzlosen Kindes lassen sollte. »Ist der Besuch genehmigt?« Ihre Hand schloss sich um den Griff der Pistole, die in ihrer Hosentasche steckte.
Michaela holte schnell und weit mit der Hand aus, wie sie es schon einmal getan hatte. Nur diesmal war Raphael nicht dabei, um das Schlimmste zu verhüten. Ein brennender Schmerz auf Elenas Wange, sie spürte etwas Feuchtes, und ihre Haut klaffte auseinander, als sei sie mit einer Rasierklinge aufgeschlitzt worden.
»Ich brauche keine Genehmigung.« Langsam verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln. »Wusstet du, dass man auch Unsterbliche mit Narben zeichnen kann?«.
Einen Moment lang hatte Elena das Gefühl, sie sähe etwas Befremdliches in diesen Augen, ein rotes Flackern. Aber als sie ein zweites Mal hinschaute, blickte sie nur in ein grelles Grün. »Vielleicht«, sagte sie und holte die Waffe hervor, »haben Sie überhaupt nichts mit Sams Verletzungen zu tun, aber der Junge steht unter Raphaels Schutz. Sie erschrecken ihn zu Tode, wenn Sie in diesem Aufzug zu ihm hineingehen.«
Michaela ignorierte den letzten Teil. »Wartest du etwa darauf, dass Raphael dich rettet?« Sie lachte glockenhell. »Er fliegt gerade mit Elias über das andere Ende der Zufluchtsstätte. Offenbar hat man dort die Leiche eines Engels gefunden.«
»Tatsächlich?« Zum Teufel mit ihrem Stolz, sie sandte Raphael einen mentalen Hilferuf, in der Hoffnung, ihr Engel würde sie hören. Raphael!
Ein leichtes Schulterzucken. »Ich sehe mir jetzt das Kind an.«
Elena wurde gegen die Wand geschmettert, ihre Zähne rammten sich in ihre Unterlippe, der Kopf wurde so hart nach hinten gerissen, dass sie Sterne sah. Sie versuchte, den Schwindel wegzublinzeln, kämpfte gegen die unsichtbaren Ketten an, die sie an die Mauer schmiedeten. Mit einem dumpfen Aufprall fiel die Waffe zu Boden.
»Oh, du blutest ja.« Michaela presste ihre Lippen sanft auf Elenas, in diesem makaberen Kuss steckten Heimtücke und …
Moschus und Orchideen … mit einer Spur ätzender Säure.
Die Schwingen des Grauens überschatteten ihre Stirn. Denn die letzte Duftnote, Säure gepaart mit Sonnenlicht, gehörte nicht zu Michaela. Dies war der Duft eines Erzengels, der über dem pechschwarzen Manhattan seinen Tod gefunden hatte. Aber Uram hatte Michaela lange genug in den Fingern gehabt, um ihr das Herz herauszunehmen. Die Frage war nun, was hatte er ihr stattdessen gegeben?
»Ich könnte dich auf der Stelle umbringen«, murmelte der weibliche Erzengel an Elenas Mund, »aber es ist viel unterhaltsamer, dabei zuzusehen, wie Raphael deiner langsam überdrüssig wird.« Ein zweiter Schnitt, diesmal durch Elenas andere Wange, es roch nach Eisen, und Elena blutete das Herz bei Michaelas Worten. »Dann bist du nur noch ein Klumpen Fleisch, leichte Beute für jeden, der einmal einen geschaffenen Engel kosten möchte. Wir werden viel Zeit zum Spielen haben.«
Sekunden später schon war sie einem rostroten Wirbelwind gleich den Gang entlang verschwunden, ihre Worte würden noch lange in Elena nachhallen. Aber im Moment ging es nur um Sam – in seinem Zustand konnte Michaela ihm ernsthaft schaden; es sah so aus, als habe sie völlig den Verstand verloren und werde nur noch von einem perversen, sadistischen Vergnügen getrieben.
Außer sich vor Angst um den Jungen, kämpfte Elena vergeblich gegen ihre Fesseln an, da rauschten Galen und Venom mit übernatürlicher Geschwindigkeit heran. »Uff!« Nicht gerade ein würdevoller Aufschrei, als die Fesseln von ihr abfielen. Sie rappelte sich auf, schnappte sich ihre Pistole und rannte den beiden hinterher … bis sie abrupt vor Michaela zum Stehen kam.
Galen hatte sich vor dem Erzengel aufgebaut, er blutete, hatte Schnitte an Gesicht und Körper. Venom erhob sich gerade an einer Stelle, wo die Steinwand vom Aufprall seines Körpers geborsten war. Blut rann ihm über das Gesicht, doch seine Augen waren immer noch hypnotisierende goldgrüne Schlitze, die Kobra drängte ans Licht.
Michaela starrte Galen an. »Du glaubst also, ich würde dem Kind ein Leid zufügen.«
»Du bist schon jetzt an diesem Ort der Ruhe und Heilung gewalttätig geworden.«
Elena hielt die Luft an, als sie das schwache Leuchten um Michaelas Flügel bemerkte. Oh mein Gott! »Wenn du diese Macht entfesselst«, sagte sie drohend, »dann wird das ganze Gebäude zusammenstürzen und nicht nur Sam, sondern auch alle anderen Kinder hier umbringen.«
Michaela drehte sich um, um Elena mit ihren Augen zu durchbohren, Augen, die nur noch aus Licht bestanden, keine Pupille, keine Iris, nichts Menschliches haftete ihnen mehr an. Natürlich war Michaela nie ein Mensch gewesen. Doch der Unterschied zwischen Engel und Erzengel war ihr nie deutlicher erschienen als in diesem Moment. Unter Tränen hielt Elena ihrem Blick stand.
Es war verlockend, so verlockend, die Pistole auf sie zu richten und einfach abzudrücken, aber wenn die Kugel nun durch Michaela durchschlug, bestand die Gefahr, dass sie von den Mauern abprallen und die Glaswände der Patientenzimmer zertrümmern würde. Elena steckte die Pistole weg und ließ ein Messer in ihre Hand gleiten, die Augen fest auf Michaelas Kehle geheftet.
»Ich werde dem Kind nichts tun.« Michaelas Stimme donnerte, als sprächen der Zorn und die Ohnmacht Tausender aus ihr.
Elena bekämpfte mit Mühe den Drang, vor ihr zurückzuweichen, denn sie wusste, dass sie gegen Michaela keine Chance hatte, doch sie würde alles tun, um sie aufzuhalten, bis mächtigere Hilfe kam. »Wenn Sie sich nicht beruhigen, wird das aber passieren.«
Nach wie vor hatte Michaela ihren Blick auf Elena gerichtet, dabei jedoch ihren Kopf auf merkwürdig angestrengte Weise in den Nacken gelegt. Elena hatte das Gefühl, als bahnten sich neugierige Finger einen Weg in ihren Kopf. Ihr wurde übel, doch sie verhielt sich ruhig. Wenn Michaela Mühe hatte, in ihren Geist einzudringen, konnte das nur bedeuten, dass Raphael sie schützte. Und sie würde ganz gewiss nicht so dumm sein, diesen Schutz abzulehnen.
»So schwach.« Eine schlichte Feststellung, beinahe ohne einen Anflug von Bosheit – als sei es Elena gar nicht wert, überhaupt beachtet zu werden. Das ängstigte Elena fast noch mehr. Denn trotz allem hatte Michaela in Bezug auf Gefühle bislang immer recht menschlich reagiert. Vielleicht befand sie sich im Zustand der Stille.
Michaela drehte sich wieder zu Galen herum und erhob die Hand. Galen schwankte, als hätte er einen Schlag abbekommen, hielt sich aber wacker. Michaela lachte und durchschnitt die Luft mit einer schnellen Handbewegung. Diesmal krachte der schwere, muskulöse Engel gegen die Wand, und seine Flügel konnte er nur retten, indem er sich in letzter Sekunde herumdrehte und mit dem Gesicht zuerst gegen die Wand schlug.
Blut troff von der Steinwand herab, doch Elenas Aufmerksamkeit galt Venom. Während Michaela noch mit Galen beschäftigt war, hatte der Vampir angegriffen, seine giftigen Fangzähne in den Hals des Erzengels gebohrt. Im selben Augenblick schleuderte Elena ihr Messer. Der Wurf saß und traf Michaelas Hals.
Mit einem Wutschrei schleuderte Michaela Venom so heftig von sich, dass er am anderen Ende des Korridors landete, wo er mit verrenkten Gliedmaßen reglos liegen blieb. Dann zog sich Michaela das Messer aus dem Hals, als wäre es nichts weiter als ein Zahnstocher, ihre Schlagader schloss sich so schnell, dass Elena mit den Augen gar nicht folgen konnte. Das Messer fiel scheppernd zu Boden, und Michaela drohte mit dem Finger. »Welchen Körperteil möchtest du als ersten loswerden?«
Oh mein Gott! Oh mein Gott! Elena wusste, dass sie nicht die geringste Chance hatte, Michaela aufzuhalten, wenn es schon zwei viel älteren Unsterblichen nicht gelungen war – der Erzengel würde ihr das Herz zerquetschen, bevor sie überhaupt nach ihrer Waffe greifen, geschweige denn diese abfeuern konnte. Wo bleibst du nur, Raphael?
Schäumende Wogen schlugen über ihrem Geist zusammen, ein wütender Sturm. Ich bin auf dem Weg zu dir. Beruhige sie. Sind ihre Kräfte erst einmal entfesselt, wird sie die gesamte Zufluchtsstätte zerstören.
In der nächsten Sekunde schon hatte Elena ihre Entscheidung getroffen, sie wischte sich mit dem Handrücken über ihre immer noch blutenden Lippen. »Ich bringe Sie zu Sam.«
Der weibliche Erzengel wartete.
Warnend stellten sich Elenas Nackenhaare auf, als sie voranging und hinter sich das Rascheln von Michaelas Seidenkleid vernahm. Galen und Venom sind beide k.o. Galen hatte einmal kurz die Augen aufgeschlagen, aber mit Venom sah es schlimm aus, sehr schlimm. Ich glaube, sie hat ihm das Rückgrat gebrochen, vielleicht auch das Genick. An einem Genickbruch konnte auch ein Vampir sterben, wenn er noch genügend andere Verletzungen hatte.
Noch ist er nicht tot.
Das letzte Wort klang barsch. Elena wurde kalt ums Herz. Nie hätte sie gedacht, dass sie einmal um Venom trauern würde, aber er hatte sein Leben dafür geopfert, um ein Kind zu schützen. Und das wertete ihn moralisch auf, machte ihn zu einem weitaus besseren Wesen als einen Erzengel, der in einem Anfall von Wut kurz davorstand, die Zufluchtsstätte dem Erdboden gleichzumachen. Elena musste sofort wieder an einen anderen Erzengel denken, einen, der mit Gift vollgepumpt gewesen war. Wie viel von Uram steckte in Michaela?
Mit klopfendem Herzen trat Elena vor die Glasscheibe, hinter der Sam friedlich schlief. Aus den Augenwinkeln sah sie Keir herbeieilen und versuchte ihn sogleich mit einer wilden Handbewegung zu warnen, aber Keir schüttelte bloß den Kopf. »Sam ruht sich aus«, sagte er ganz unbefangen, als würde er nicht gerade neben einer nuklearen Sprengladung stehen. »Der Heilungsprozess verläuft überaus günstig.«
»Wird er Narben zurückbehalten?«
Elena fand Michaelas Frage äußerst befremdlich, bis ihr klar wurde, dass Michaela nicht die oberflächlichen Verletzungen im Sinn hatte.
»Nein, er wird keine bleibenden Schäden davontragen.« Keir legte beruhigend die Hand auf Michaelas Arm und ließ sich durch die Hitze ihrer glühenden Haut nicht irritieren. »Er wird ganz normal aufwachsen.«
Michaela berührte vorsichtig die Glasscheibe. »Er wirkt so schwach.« Wellenartig ebbte ihr Glühen ab. »So zerbrechlich.«
»Das sind Kinder immer«, sagte Keir sanft, in dem jungen Gesicht wirkten die Augen uralt. »Das ist das Risiko, das wir eingehen.«
»Zu groß«, flüsterte Michaela. »Das Risiko ist zu groß.«
Dieses Bild brannte sich für immer in Elenas Gedächtnis ein: ein in Blut gekleideter Erzengel von vollkommener Schönheit, die zitternden Hände an Glas gepresst, so aufgelöst, dass Elena vor Rührung einen Kloß im Hals bekam. Was wäre wohl aus Michaela geworden, wenn sie ihr Kind nicht verloren hätte? Hätte ihre selbstsüchtige Art, die ihr ganzes Denken und Handeln bestimmte, vielleicht zu etwas Größerem reifen können? Oder hätte sie wie Neha ihr Kind in ihr eigenes vergiftetes Ebenbild verwandelt?
»Am besten, man bricht ihnen gleich nach der Geburt das Genick.«
Elena zog ihre Pistole. Wenn Michaela auch nur eine einzige falsche Bewegung machte, würde sie ihr, noch bevor sie sich umdrehen und sie entwaffnen konnte, ihr ganzes Magazin in den Flügel geleert haben. Denn wenn sie sich zwischen Sams sicherem Tod und der Gefahr möglicher Querschläger entscheiden musste, nahm sie eindeutig die Querschläger in Kauf.
»Meinen Sie nicht?«, sagte sie in einem Ton zu Keir, der ihn aus seinen Gedanken schreckte.
»Wir töten unsere Kinder nicht.«
Stille. Als der Erzengel sich von der Scheibe löste, war sein Gesicht so wie immer: makellos und unbarmherzig. Mit einem Kopfnicken wandte Michaela sich zum Gehen und entschwebte in einer Wolke aus bronzefarbenen Flügeln und weißer, dunkelrot gefärbter Seide. Ihre Schönheit wirkte noch lange nach.
Zitternd stieß Elena die Luft aus. Sie ist weg.
Bring Keir zu Venom.
Elena war mit Keir schon auf dem Weg. So trafen sie auf Galen – sein Gesicht blutig, die Haut abgeschürft –, der bereits neben dem gefallenen Vampir kniete. »Er ist schwer verletzt. Gebrochenes Rückgrat, Schädelfraktur, Atmung kollabiert. Vielleicht hat eine gebrochene Rippe sein Herz durchbohrt.«
»Er hat Michaela gebissen«, sagte Elena, unsicher, ob das überhaupt eine Rolle spielte.
»Dann hat er sehr wahrscheinlich das Gift in seinen Reißzähnen eingesetzt.« Federleicht strichen Keirs Hände über Venoms Körper. »Ohne Gift ist er leichter zu handhaben.«
»Kann das Gift denn einem Engel etwas anhaben?«
»Nicht auf Dauer«, antwortete Galen, »aber es löst meist heftige Schmerzen aus.«
»Er liegt im Sterben.« Keir setzte sich auf. Mit einem vor Anspannung kalkweißen Gesicht nickte er Galen zu. »Könntest du ihn ins Behandlungszimmer bringen?«
Galen schob die Arme unter Venoms verletzten Körper. Elena hielt sich mit Kommentaren zurück, denn als Mensch hatte sie gelernt, dass Patienten mit Rückenmarksverletzungen nicht bewegt werden sollten. Doch Keir wusste sicher viel mehr über die Behandlung solcher Verletzungen bei Vampiren als sie. Auf dem Weg zum Behandlungszimmer roch sie das Meer, spürte, wie der Wind ihren Geist erfüllte. Mit einem Seufzer der Erleichterung sagte sie: »Raphael ist hier.«
Aber nicht einmal ein Erzengel würde einen so schwer verwundeten Vampir retten können. Und wie würde Raphael auf den Verlust eines seiner sieben Tapferen reagieren?
31
Elena tupfte sich gerade das Blut von den Wangen, als Raphael aus Venoms Krankenzimmer kam. »Ich brauche dich und deine Fähigkeiten, Elena.«
Rasch legte sie das feuchte Handtuch beiseite, das sie in einem der Behandlungsräume gefunden hatte. Ihr Gesicht brannte zwar immer noch von den Schnittwunden, aber als Mensch würde sie die Schmerzen als weitaus schlimmer empfunden haben – in ihrem Fall hatte die Heilung bereits eingesetzt. »Für den toten Engel?«
Ein Nicken.
»Und Venom – ist er …?«
»So leicht stirbt er nicht.«
Während des Fluges sprachen sie nicht über den Toten. An der Fundstelle sahen sie riesige Felsbrocken. Nachdem Elena sich einen kurzen Überblick über das gefährliche, unebene Gelände verschafft hatte, wusste sie, dass eine Landung schwierig werden würde. Aus Stolz hätte sie es am liebsten trotzdem versucht, aber Raphael brauchte sie jetzt, sie musste funktionsfähig bleiben, um eine Aufgabe zu lösen, die nur sie allein bewältigen konnte. Hilf mir ein wenig.
Raphael änderte seinen Kurs, flog jetzt über ihr und wies sie an, die Flügel zusammenzufalten. Zu ihrer eigenen Überraschung fiel es ihr enorm schwer, gegen ihre neu erwachten Instinkte zu handeln, aber es gelang ihr schließlich. Noch bevor sie fallen konnte, hatte Raphael sie schon ergriffen und landete sicher mit ihr auf einem dafür geeigneten nahen Felsbrocken.
»Danke!« In Gedanken war sie bereits bei der Leiche. Aus der Luft hatte es so ausgesehen, als habe man den Engel auf die Felsen geschmettert, nichts war heil geblieben, die Knochen zertrümmert, die Gliedmaßen zerschlagen. Nun erkannte sie auch, dass der Kopf vom Körper abgetrennt worden war und dass in der Brust ein riesiges Loch klaffte; es fehlte nicht nur das Herz, sondern sämtliche inneren Organe waren entfernt worden.
»Irgendjemand wollte ganz sicher sein, dass er nie wieder aufsteht.« Der Brustkorb des Engels strahlte im Sonnenlicht, zwar war das Blut bereits getrocknet, doch glänzte es so hell, dass Elena sich verwundert über den Torso beugte. »Als würde sein Körper langsam zu Stein werden.« Die panzerartige dunkelrote Blutkruste war auf sonderbare Weise schön.
»Das sieht nur so aus«, sagte Raphael. »Seine Zellen versuchen, den Schaden zu reparieren.«
Sie zuckte zurück. »Lebt er etwa noch?«
»Nein. Aber es dauert sehr lange, bis ein Unsterblicher wirklich tot ist.«
»Eigentlich ist es doch dann gar keine Unsterblichkeit, oder? Ich meine, wenn man trotzdem sterben kann?«
»Im Vergleich zu einem Menschenleben …«
Ja. »Also einfach den Kopf abschneiden, und um auf Nummer sicher zu gehen, die Organe auch noch raus.«
»Sein Gehirn wurde auch entnommen.«
Elena starrte den Kopf an. »Es scheint aber unversehrt zu sein.« Sie streckte die Hand danach aus, zog sie aber sogleich wieder zurück. »Kann auf diese Weise nichts übertragen werden?«, fragte sie, ihre Finger hatten sich instinktiv zusammengekrümmt, als sie sich dem blutverklebten Haar, das wohl einmal blond gewesen war, genähert hatten.
»Nein.« Und schon kauerte er auf der anderen Seite der Leiche und nahm die Überreste des Kopfes in die Hand.
Der Hinterkopf fehlte. Eine leere Schale. Elena spürte, wie ihr heiß wurde. Ungläubig starrte sie auf den Schädel und gab Raphael zu verstehen, dass er ihn wieder hinlegen möge. »Ganze Arbeit.«
Er legte den Kopf mit dem Gesicht nach oben auf einen Stein. »Er hieß Aloysius. War 410 Jahre alt.«
Irgendwie machte es die Sache schlimmer, wenn man den Namen kannte. Elena holte tief Luft und begann die einzelnen Gerüche zu erkunden. Es waren sehr viele. »Eine Menge Engel sind hier unten gewesen.« Es sah ganz danach aus, als würde sie ihr neuer Engelssinn heute nicht im Stich lassen.
»Anfangs haben wir noch gehofft, ihn wiederbeleben zu können, bis wir feststellten, dass sein Gehirn fehlte.«
Ihre Blicke glitten über den Körper, der nur noch eine leere Hülle war. Zwar hatte Raphael ihr das vorher schon einmal gesagt, aber … »Im Ernst, das Opfer hätte den Rest überleben können?«
»Unsterblichkeit ist nicht immer schön.« Seine Antwort war ganz unmissverständlich. »Mit großer Wahrscheinlichkeit war er bei Bewusstsein, als man ihm die Organe entnommen hat.«
Elena würgte, schüttelte dann den Kopf. »Ich bin doch dafür noch zu jung, nicht wahr? Wenn es jemandem einfällt, mich zu sezieren, dann verliere ich doch das Bewusstsein, ja?«
»Ja.«
»Gut.« Sie gehörte nicht gerade zu den Leuten, die schnell aufgaben, aber auf diese Art von Qualen war sie nicht gerade scharf. »Den Blutspritzern nach zu urteilen, ist er aus einer ziemlichen Höhe fallen gelassen worden.« Sie hatte jedenfalls keine Lust nachzuschauen, was ihr möglicherweise unter den Schuhsohlen klebte – staatliche Leichenbeschauer hätten sie wahrscheinlich sofort hinter Schloss und Riegel gebracht, wenn sie die Spuren an einem Tatort wie diesem so missachtet hätte. Aber sie beruhigte ihr Gewissen, indem sie sich sagte, dass schon so viele vor ihr hier gewesen waren, dass er für jeden, außer für eine geborene Jägerin, ohnehin unbrauchbar war.
»Allerdings«, sagte sie, »war die Höhe nun auch wieder nicht groß genug, um seinen Körper vollends in Stücke zu reißen. Hast du eine Ahnung, ob er zu diesem Zeitpunkt seine Organe noch hatte?« Bei all dem geronnenen Blut war es unmöglich, das festzustellen.
»Ja.« Raphael deutete auf den offenen Brustkorb. »Sie haben kleine Reste übrig gelassen.« Er griff hinein und holte ein Stückchen heraus, das aussah wie ein rosaroter Stein mit gezackten Kanten. Im Sonnenlicht leuchtete der Stein wie Rosenquarz. »Ein Stück Leber.«
Elena überlief es kalt. »Bist du sicher, dass er es nicht mehr spürt?«
»Er ist tot. Und was sein Körper jetzt macht, ist vergleichbar mit einem geköpften Huhn, das auch noch ohne Kopf weiterrennt.«
»Nervenreize.« Es leuchtete ihr ein, dass diese umso langsamer erloschen, je älter der Unsterbliche war.
Raphael legte das Stückchen zurück in den Brustkorb und deutete auf den Kopf. »Teile des Gehirns wurden auf den Felsen verteilt gefunden.«
Sobald sie zu Hause war, würde sie ihre Schuhe wegwerfen. »Ein solch heftiger Aufprall hätte doch aus den Organen Brei gemacht«, sagte sie. »Macht es das nicht viel schwerer, sie herauszuholen?«
»Nicht wenn der ›Operateur‹ wartet, bis die Organe wieder geheilt und funktionsfähig sind.«
Bislang war sie mit dem Anblick des geronnenen Bluts ganz gut klargekommen, doch die Kaltblütigkeit der Mörder ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. »Um Gottes willen.«
»Gebrauch deine Nase, Jägerin.« Es war ein zarter Wink. »Noch steht der Wind günstig, aber das kann sich jederzeit ändern.«
Sie schüttelte die grauenhaften Gedanken ab und begann die ihr bereits bekannten Gerüche herauszufiltern. Sie hatte es schon halb geschafft, als ihr Engelssinn ohne Vorwarnung aussetzte und nur eine einzige klare Spur zurückließ. »Ein Vampir ist hier gewesen.«
»Nicht mit der Rettungsmannschaft«, sagte Raphael mit gespanntem Blick.
»Dann muss er also schon vorher hier gewesen sein.« Der Tote verströmte einen ekelhaft süßen Geruch, roch gar nicht nach Tod – Elena kämpfte mit dem Würgereiz und konzentrierte sich auf den Vampirgeruch.
Vereistes Zedernholz, ein ungewöhnlicher Duft, voller Eleganz.
Dann weiteten sich ihre Augen. »Riker. Riker ist hier gewesen.«
Stunden später erst erwischte Raphael Michaela; hoch am Nachthimmel direkt über ihrem Haus, in einem schwarzen Catsuit, der sie in ein geschmeidiges, gefährliches Raubtier verwandelte. Von dem Wahnsinn, den Elena und Galen noch vor Kurzem bei ihr erlebt hatten, war ihr nichts mehr anzumerken, ihr Körper war so rein und anmutig wie eh und je.
»Raphael«, sagte sie und schwebte auf ihn zu. »Bist du etwa hier, um mich wegen deiner Jägerin zu maßregeln?«
Elena hätte vielleicht vermutet, dass ein frühes Leid Michaela hatte verbittern lassen, aber Raphael wusste es besser, er hatte sie schon als jungen Engel gekannt und wusste, dass sie auf dem Altar ihres Ehrgeizes alles geopfert hätte. »Du bist voller böser Absichten ins Medica gekommen.«
Ein boshaftes Lächeln umspielte ihren Mund. »Ich hatte überhaupt keine Absichten, bis deine Lieblingsjägerin und ihre Freunde sich mir in den Weg gestellt haben.«
»Bis dahin hattest du bereits mehrere Heiler verletzt. Und dann hast du drinnen auf Elena gewartet.«
»Ekelt es dich nicht an«, flüsterte sie, ihre Stimme schlug im Nu von Hohn zu Erotik um, »dass sie so schwach ist?«
»Macht ohne Gewissen lässt die Seele verrotten«, sagte er, und Michaelas Augen verhärteten sich bei seinen Worten, auch wenn ihre Lippen immer noch zu einem Lächeln verzogen waren, das tiefste Sündhaftigkeit und unerträgliche Lust versprach. Raphael dachte an Uram, der auf dieses Lächeln, auf die selbstsüchtige Schönheit hereingefallen war. Aber letztlich hatte der verstorbene Engel den Weg des Bösen schon lange vor Michaelas Geburt betreten. »Warum hast du Aloysius umgebracht?«
»Ganz schön clever, Raphael.« Sie verneigte sich leicht vor ihm, ihre Augen strahlten vor Freude. »Er gehörte zu mir, ist in meinen Besitz übergegangen, als ich Teile von Urams Gebiet übernommen habe.«
»Was hat er getan, um so hingerichtet zu werden?« Als Erzengel, der über Aloysius’ Territorium herrschte, hatte Michaela zwar das Recht, ihn zu töten, aber ihn von einem Geschaffenen töten zu lassen – einem Vampir, der sehr wahrscheinlich auch noch von dem sterbenden Engel hatte trinken dürfen, war ein Sakrileg.
Michaelas grüne Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Er hat bei Sams Entführung mitgeholfen.«
Jegliches Mitgefühl, das Raphael für Aloysius empfunden haben mochte, war sofort verschwunden. »Hast du seine Erinnerungen an dich genommen?«
»Unbrauchbar.« Mit einer verächtlichen Handbewegung fuhr sie fort: »Er war nur ein kleines Rädchen, ein einfältiges Schaf in dieser gesichtslosen Erzengel-Möchtegern-Armee.«
»Hast du etwas herausgefunden, was uns bei der Suche nach dem Drahtzieher behilflich sein könnte?«
»Nein. Aloysius war nur eine unbedeutende Schachfigur.«
Raphael deutete das leise Lächeln, das Michaelas Lippen umspielte, richtig. Es war kalt und unbarmherzig und zufrieden. »Du hast die Nerven verloren und ihn umgebracht, bevor du seine gesamten Erinnerungen hattest.«
»Er hat gelacht, als er Sam in diese Truhe gesperrt hat.« Um ihre Iris war ein schmaler roter Kranz. »Ich habe es in seinem Kopf gesehen.«
»Und dann hast du ihn fallen gelassen?«
»Ja«, sagte sie achselzuckend. »Die Flügel hatte ich ihm schon gebrochen, und Riker hatte den Rest besorgt.«
Raphael machte aus seiner Enttäuschung kein Hehl. »Wie hast du überhaupt von seiner Beteiligung erfahren?«
»Er litt unter der Vorstellung, er sei für seinen Meister entbehrlich geworden. Und diese Ängste hat er seiner Geliebten gestanden.« Ein gedehntes Lächeln, wie das einer Schlange. »Treue ist eine seltene Tugend, wenn es um Reichtümer geht.«
Als Elena am nächsten Tag ins Flugzeug stieg, fühlte sie sich beinahe erschreckend ruhig. Sie wollten schon zwei Tage vor dem Ball nach Beijin fliegen, würden einen Tag vor allen anderen Erzengeln ankommen. »Was ist aus Venom geworden?«, fragte sie.
»Er ist in Sicherheit«, sagte Raphael, als sie abhoben. »Ich habe alle drei verlegen lassen: Sam, Noel und Venom. Galen passt auf sie auf.«
»Gut.« Sie hielt sich an den Armlehnen fest. »Mir tut Michaela leid, wirklich.« Ein Kind zu verlieren … das musste ein unvorstellbarer Schmerz sein.
Ihr Vater hatte zwei Töchter verloren.
Ihretwegen.
Sie versuchte, das Schuldgefühl abzuschütteln, das zentnerschwer auf ihr lastete, und wandte sich dem Erzengel zu, den sie ihr Eigen nannte. »Aber im Krankenhaus war sie außer sich. Wenn du da gewesen wärst und mit ihr gesprochen hättest, wäre es erst gar nicht zu Ausschreitungen gekommen.«
»Du erwartest von ihr, dass sie sich wie ein Mensch verhält, Elena.« Kälte schwang in seiner Stimme mit. »Erzengel sind es nicht gewohnt, um Erlaubnis zu bitten.«
Sie war nicht mehr dieselbe Frau, die damals aus dem Koma erwachte und eine Beziehung voller Rätsel eingegangen war. Heute kannte sie ihn zumindest ein wenig besser. Jedenfalls genug, um ihn fragen zu können: »Und was stimmt daran nicht?«
Raphael sah sie an, und seine Augen hatten diese metallische Farbe angenommen, die nichts Gutes verhieß. »Was Michaela mit Aloysius gemacht hat? Ich wäre nicht so gütig gewesen.«
Elena bekam feuchte Hände. »Das nennst du Güte?«
»Er hatte einen raschen Tod.« Wie ein gnadenloser Winter, so eisig war sein Blick. »Ich hätte ihn noch tagelang am Leben gehalten, während ich sein Gehirn Stück für Stück auseinandergenommen hätte.«
Ihr stockte der Atem. »Warum erzählst du mir das alles?«
Du musst wissen, wer ich bin.
Elena ließ sich seine Worte durch den Kopf gehen und gab ihm dann zur Antwort: »Wenn Slater Patalis vor mir stünde, würde ich es genauso machen.«
Raphael streichelte ihr übers Gesicht. »Nein, Elena. Ich glaube, dein Zorn brennt viel heißer.«
Sie ergriff seine Hand und verschränkte ihre Finger mit seinen. »Wenn es bei dir einmal so weit sein sollte, werde ich versuchen, dich aufzuhalten.«
»Warum? Hast du etwa Mitleid mit denen, die Unschuldigen etwas zuleide tun?«
»Nein.« Sie brachte seine Hand an die Lippen. »Ich sorge mich nur um dich.«
Raphael spürte, wie die Kälte in ihm einem wärmeren Gefühl wich. »Du willst mich also retten.«
»Ich glaube, das beruht auf Gegenseitigkeit.« Ihre Stimme war heiser, die dunklen Schatten der Erinnerung lasteten auf ihr. Heute war sie wieder schreiend erwacht, gefangen in einem Albtraum, der sie nun schon fast zwei Jahrzehnte lang verfolgte.
Er tat es ihr gleich und presste ihre Hand an seine Lippen. »Wir retten uns gegenseitig.«
Worte waren überflüssig, bis seine Jägerin das Schweigen brach und den Kopf schüttelte. »Was, wenn dieser Möchtegern-Erzengel während unserer Abwesenheit aktiv wird?«
»Nazarach, Dahariel und Anoushka sind alle zum Ball geladen, genau wie die anderen mächtigen Engel.«
Elena wurde ganz still. »Dort werden sie zuschlagen, nicht wahr? Das ist der perfekte Rahmen, besonders, da kurz vor dem Ball noch der Kader tagt.«
»Ja.« Er sah sie an, ihr Blut pochte wild. »Lass sie nicht an dich heran. Du bleibst die Zielscheibe, mit der sich der Erzengel-Anwärter die meiste Aufmerksamkeit verschaffen kann.«
»Keine Angst. Das ist nicht unbedingt die Sorte von Leuten, mit denen ich gerne meine Zeit verbringe.« Ein Schauder lief ihr über den Rücken, doch hatte er nichts mit dem drohenden Anschlag auf sie zu tun, das wusste Raphael, noch bevor sie sprach. »Lijuan … hast du etwas von ihr gehört?«
»Sie hat ihre Wiedergeborenen in die Verbotene Stadt gebracht. Wir werden dem leibhaftigen Tod begegnen.«
32
Die Verbotene Stadt verschlug Elena den Atem. Ein Labyrinth ausgefallener Bauwerke und halb versteckter Wege, war dies eine Stadt in der Stadt. Und sie steckte voller Wunder – weiße Marmorbrücken mit schlafenden Drachen vor den Toren, gepflasterte Innenhöfe voller Bäume, die statt Früchte kleine Lampions trugen; Höflinge, die in den Farben von Juwelen gekleidet waren. Es war wie im Märchen.
»Schmetterlinge«, flüsterte sie vom Balkon der vornehmen Residenz herunter, die man ihnen zur Verfügung gestellt hatte. »Sie erinnern mich an Schmetterlinge.«
Hinter sich spürte sie Raphaels beruhigende Wärme, mit den Händen stützte er sich zu beiden Seiten von ihr an die Brüstung. Elena genoss die Hitze seines Körpers, fühlte, wie sein Brustkorb beim Sprechen vibrierte. »Neha und ein paar der anderen halten auch Hof, aber Lijuan übertrifft sie alle.«
»Sie ist eine wahrhafte Königin.« Elena sah, wie die Höflinge ihre Fächer entfalteten und ihr kokett zulächelten. Die Frauen trugen knöchellange Kleider, die statt von Erotik von Eleganz kündeten. »Glaubst du, sie wissen über die Wiedergeborenen Bescheid?«
»Ja.« Seine Hände schlossen sich um ihre, dunkel und verheißungsvoll klang seine Stimme an ihrem Ohr. »Jason wurde von seinen Männern berichtet, dass sie ein paar ihrer Wiedergeborenen zur allgemeinen Belustigung an den Hof gebracht habe.«
Umrahmt von Raphaels kraftvollen Armen klammerten sich Elenas Hände an die vom Alter abgenutzte Steinbrüstung. »Demnach erniedrigt sie sie? Ich dachte, sie sieht sie als ihre Schöpfungen an.«
»Manche mag sie wohl mehr als andere.« Er strich ihr über die Arme, drückte sie an sich. »Morgen früh treffe ich mich mit dem Kader. Sieh dich vor, wenn du hier herumläufst – Lijuan könnte nur so zum Spaß jemanden auf dich ansetzen.«
»Wer ist mein Leibwächter?«
»Aodhan.« Er zögerte. »Bist du damit nicht einverstanden?«
»Mir gefällt es nicht, immer noch einen Babysitter zu haben.«
»Es ist notwendig.«
»Vorläufig.«
Eine gefährliche Stille trat ein. Elena wusste, dass sie diesen Kampf immer wieder von Neuem führen müsste. Ihr würde es nicht viel ausmachen – und Raphael ebenso wenig, dachte sie. »Du hast dir eine Kriegerin ausgesucht. Vergiss das nicht.«
Ein Kuss auf die sensible Stelle direkt unter ihrem Ohr. »So wie du dir einen Erzengel ausgesucht hast.«
Von Anfang an hatte sie gewusst, dass sie es mit Raphael nicht leicht haben würde. Er aber umgekehrt mit ihr auch nicht. »Wir waren bislang noch nie Sparringpartner«, forderte sie ihn spielerisch heraus. »Stehst du auf Messer?«
Mit dem Anflug eines Lächelns berührten seine Lippen ihren Nacken. »Nach dem Ball werden wir tanzend die Schwerter zum Klingen bringen.« Wenn er ihr so nah war, konnte sie kaum einen klaren Gedanken fassen.
Zu ihren Füßen lag die Verbotene Stadt in all ihrer Schönheit und summte vor lauter Geschäftigkeit. »Du hast nicht gerade viele Männer mitgebracht.« Jason war mit ihnen geflogen, und rechnete man Aodhan dazu, waren also nur zwei seiner Sieben hier.
»Wenn es zu einem Kampf kommt, wird es sowieso zu spät sein.«
Elena hatte ihr Haar in eine elegante Hochfrisur verwandelt, die Sara ihr gezeigt hatte – sie hatte das Gefühl, mindestens fünfhundert Haarklemmen für ihr glattes Haar gebraucht zu haben –, und musterte sich nun im Spiegel. Das eisblaue Kleid mit den Fledermausärmeln war rückenfrei, beidseitig geschlitzt und reichte ihr knapp über den Po – und trotz der eingearbeiteten feuersprühenden Edelsteine schmiegte es sich wie eine zweite Haut an ihren Leib. Sie hatte große Augen gemacht, als der Schneider ihr das Kleid zum ersten Mal gezeigt hatte, doch der Vampir hatte alles sorgsam durchdacht. Mit Strumpfhosen und hohen Stiefeln, beides schwarz, hatte sie sich von einem schmückenden Beiwerk in eine seidig glänzende Schützin mit genügend Bewegungsfreiheit verwandelt.
Warme Männerhände umfassten ihre Taille. »Perfekt.« Glühendes Verlangen steckte in diesem einen Wort, das ihr jetzt langsam und genüsslich über den Körper kroch. Wie zwei Perlen drängten sich ihre Brustwarzen gegen den weichen Stoff.
»Make-up«, keuchte sie.
Raphael lockerte seinen Griff, sodass sie bronzefarbenes Rouge auf die Wangen auftragen und sich die Wimpern noch etwas tuschen konnte. Als sie das Kästchen öffnete, das mit den Kleidern zusammen geliefert worden war, fand sie einen knallroten Lippenstift. »Das ist nicht unbedingt mein Geschmack.«
»Betrachte es als Tarnung«, sagte Raphael und zog sie mit dem Lippenstift in der Hand an seinen halb nackten Körper. Sie spürte das Blut in seinem Geschlecht pulsieren, und in ihren Flügeln brannte die Lust. »Um dich deiner feindlichen Umgebung anzupassen.«
»Wie die Vampire und Engel, die hier herumlaufen, sehe ich nicht gerade aus.« Ihr Kleid oder ihre Tunika konnte in keiner Weise züchtig genannt werden. Dann gab es da noch die Messer. Ganz zu schweigen von der Pistole. Heute Nacht waren sie allesamt verborgen, eine Geste der Höflichkeit, die Elena ziemlich gegen den Strich ging nach dem, was Lijuan sich alles erlaubt hatte. Aber allmählich lernte sie, ihre Kämpfe selbst zu bestimmen. »Und selbst wenn du mir mit einem Fächer einen Streich versetzen würdest, wüsste ich nicht, wie man ihn einsetzt.«
»Du bist eben durch und durch eine Jägerin.« So fiebrig war sein Blick, dass sie schon fast befürchtete, der Spiegel würde schmelzen. Am liebsten hätte sie sich jetzt auf ihn gestürzt, ihn gleich hier auf dem Boden genommen, ihn bis zur Ekstase geritten. Schnell presste sie die Schenkel zusammen.
»Aber das wird sie gar nicht bemerken«, murmelte er. »Sie wird in dir nur einen jungen, schwachen Engel sehen – faszinierend aufgrund seiner Entstehung, aber sonst ihrer Aufmerksamkeit unwürdig.«
»Sehr gut.« Das würde ihr gestatten, Lijuan unbemerkt zu beobachten. Natürlich machte sie sich keine Hoffnungen, ihr körperlich in irgendeiner Form Paroli bieten zu können, aber vielleicht konnte sie ja Einblicke in Lijuans Innenleben bekommen, irgendeine Kleinigkeit, die Raphael helfen konnte.
Er ließ sie los und wandte sich dem Beistelltisch zu. »Illium hat um Erlaubnis gebeten, dir ein Geschenk machen zu dürfen.«
Neugierig drehte Elena sich herum … und sah sich stahlblauen Augen gegenüber. »Was hat er denn diesmal getan, um dich aufzubringen?«
Sein Mund verzog sich zu einem gefährlichen Lächeln. »Messer und Scheiden«, murrte er.
Mit der Hand tippte sie sich an den rechten Stiefel. »Meines habe ich jedenfalls …«
»Hmm.« Raphael nahm etwas aus einem glänzenden Holzkasten heraus und kam damit zu ihr. »Aber meins hast du noch nicht.« Er legte ihr die Hand in den Nacken und küsste sie so leidenschaftlich und fordernd, dass ihr die Knie weich wurden vor Verlangen.
»Wenn du so weitermachst, kommen wir nie zum Dinner.« Tief blickte sie ihm in die Augen, ertrug die Schönheit und auch die Grausamkeit darin. Dabei ruhte ihre Hand auf seiner nackten Brust.
Er ließ die Hand über die Rückseite ihrer Schenkel gleiten, seine Finger streiften ihre überempfindliche Stelle zwischen den Beinen. Sie hielt die Luft an. »Willst du mich martern?«
Seine Zähne schrammten über ihre Lippen. »Merk dir eins, Elena – du wirst nie das Messer eines anderen Mannes tragen.«
Verwundert blickte sie auf. »Er wollte mir ein Messer schenken? Was ist denn daran nicht recht?«
»Klingen«, flüsterte er, »und Scheiden gehören zusammen. Und in deiner Scheide wird immer nur meine Klinge stecken.«
Elena brauchte einen Moment, begriff nicht gleich, denn Verlangen hatte ihre Sinne vernebelt. Röte schoss ihr ins Gesicht. »Raphael, das ist …« Kopfschüttelnd rang sie nach Worten. »Kämpfen hat doch mit Sex nichts zu tun.«
»Ach ja?« In seinen Augen tobte die See, heftig, wild und berauschend.
Der Hitze in ihr entsprang ein Feuer, geschürt von dem Wissen, dass dieser gefährliche und schöne Mann ihr gehörte. »Besitzansprüche sind gegenseitig.«
»Akzeptiert, Jägerin.« Er trat einen Schritt zurück und öffnete die Hand.
Ihre Augen wurden von dem Glanz geblendet, sie war überwältigt. »Sind die Steine echt?« Schon hatte sie es ihm aus der Hand genommen, die wunderschöne Klinge bereits aus der Scheide gezogen. Im Licht blitzte sie rasiermesserscharf auf, ihr Glanz konkurrierte mit den Juwelen auf Scheide und Heft.
»Natürlich.«
Natürlich. Sie ließ das Messer durch die Hand gleiten, prüfte sein Gewicht und wie es austariert war. Es lag perfekt in der Hand. »Mein Gott ist das schön.« Auch wenn die Steine atemberaubend waren, so war es doch die Klinge, die ihre Aufmerksamkeit am meisten fesselte, zart und kraftvoll zugleich. »Wirf mir mal den Schal rüber.«
Raphael hob den hauchdünnen Stoff hoch und warf ihn in die Luft. Wie Nebel sank er wieder zu Boden … teilte sich zu beiden Seiten der Klinge, als wäre er in zwei Hälften zerbrochen. »Oh Mann!« So scharf, so herrlich scharf. »Du hast es für mich anfertigen lassen?« Ohne seine Antwort abzuwarten, ging sie zu ihm und küsste ihn.
Raphaels Augen strahlten hell genug, um mit den Diamanten und blauen Saphiren konkurrieren zu können. »Du hörst dich ja an wie beim Sex.«
»Eine solche Klinge in der Hand zu halten ist so gut wie Sex.« Sie drehte die Scheide hin und her, betrachtete sie voll Bewunderung. Eigentlich war sie keine Sammlerin. Nur bei ihrer Wohnung hatte sie eine Ausnahme gemacht – selbst der Gedanke daran tat immer noch weh. Aber diese Klinge sprach genau diese Seite in ihr an. Meine, dachte sie. »Ich brauche ein …«
Doch Raphael war schon dabei, ein Halfter aus der Schachtel zu holen. Aus weichem, glänzend schwarzem Leder mit einem Gürtel, der durch die zwei Schlitze in der Scheide passte, und sich angenehm um ihren Oberarm schmiegte. »Perfekt.« Sie schob die Waffe zurecht. »Messer und Scheide sind so leicht, dass sie nicht verrutschen werden. Und außerdem so schön, dass sie eher wie Schmuckstücke wirken.«
Raphael sah seiner Jägerin zu, die mit ihrem Geschenk spielte. Er war selbst ganz erstaunt, wie glücklich ihn ihre Freude machte. Dieses Geschenk bedeutete ihr etwas. Er hatte genau das Richtige gewählt.
Beinahe hätte er Illium umgebracht, weil er sich etwas hatte nehmen wollen, was allein ihm gebührte.
»Meinst du nicht, dass ich solch ein Geschenk für meine Gefährtin bereits habe?«
»Sire, ich wollte Sie nicht beleidigen.«
»Verschwinde, Illium, bevor ich vergesse, wie sehr sie an dir hängt.«
Er hatte vollkommen irrational reagiert, zumal einem Engel gegenüber, der schon längst seine Loyalität unter Beweis gestellt hatte, der sein Leben für Elena geben würde. Noch nie hatte sich Raphael so hilflos seinen Emotionen ausgesetzt gefühlt.
»Eines Tages wird sie dich töten. Sie wird dich zu einem Sterblichen machen.«
Er hatte darunter eine körperliche Schwächung verstanden, aber was nun, wenn Lijuan ihn eigentlich hatte warnen wollen vor einem immer weicher werdenden Herzen, das seine kalte Vernunft, mit der er bislang geherrscht hatte, zum Schmelzen brachte? »Verstand oder Gefühl«, sagte er zu Elena, die das Messer nach einer komplizierten Bewegungsabfolge wieder zurück in die Scheide steckte, »wofür würdest du dich entscheiden?«
Über die Schulter hinweg lächelte sie ihn belustigt an. »So einfach ist das nicht. Verstand ohne Gefühl ist doch oft nur ein Deckmäntelchen für Grausamkeit, und Gefühl ohne Verstand dient als Entschuldigung für alle möglichen Ausschweifungen.«
»Ja«, sagte er und dachte dabei an das unbarmherzige Monster, zu dem er in dem Zustand der Stille geworden war.
Als Elena auf ihn zukam, schwenkte sie provozierend ihre Hüften, durch die hohen, dünnen Stiefelabsätze reichte sie ihm jetzt knapp übers Kinn. »Vergisst du auch nicht, dass Besitzansprüche gegenseitig sind?«
»Ich werde dich nicht betrügen, Elena.« Allein dass sie ihm das zutraute, brachte ihn auf.
»Du brauchst mich nicht anzufauchen, Erzengel.« Sie schlüpfte an ihm vorbei, öffnete einen Reißverschluss ihrer Tasche, in der sie ihre Waffen aufbewahrte, und holte ein kleines Kästchen hervor. »Ich habe auch ein Geschenk für dich.«
Freudige Überraschung malte sich auf seinen Zügen. Seit so vielen Jahrhunderten bekam er schon Geschenke. Aber meist hatten sie ihm nichts bedeutet, Sterbliche und Unsterbliche buhlten gleichermaßen um seine Gunst, um Macht und Besitz, kleine oder große Erfolge. »Hast du es in der Zufluchtsstätte gekauft?«
»Nein.«
»Wie hast du es denn besorgt?«
»Ich habe da so meine Quellen.«
Sie stellte sich vor ihn, öffnete das Kästchen und holte einen Ring heraus.
Einen Ring aus Bernstein.
»Jetzt«, sagte sie und schob ihm den Ring auf den entsprechenden Finger der linken Hand, »bist du für alle Zeit gebunden.«
Ein ganz neues Gefühl erfasste ihn, ließ sein Herz höher schlagen; er hielt den Ring dicht vor die Augen. Die Fassung war aus Platin, massiv und solide, der Bernstein ein polierter quadratischer Würfel. Sehr dunkel, noch nie hatte er so dunklen Bernstein gesehen … und im Herzen des Steins schimmerte es weiß. Fasziniert zog er den Ring ab und hielt ihn ins Licht. Die Farbtöne änderten sich fortwährend, bald wurden sie hell, bald dunkel.
Dann sah er auf einmal die Inschrift. Knhebek.
Eine Zeit lang hatte er in Maghreb gelebt, war durch Marokko gereist, bevor er Erzengel wurde, dort hatten die jungen Männer dieses Wort den schwarzäugigen Schönheiten zugeflüstert, die dann errötend die Augen niederschlugen.
Ich liebe dich.
Sein Herz machte einen Sprung. Und als er den Ring auf den Finger zurückschob, sagte er: »Shokran.«
Ein Strahlen breitete sich über ihr Gesicht aus. »Gern geschehen.«
»Sprichst du die Sprache deiner Großmutter?« Schützend umschloss er den Ring mit den Fingern, seit Jahrhunderten schon hatte ihm nicht mehr so viel an einem Gegenstand gelegen.
»Ich kenne nur die paar Worte meiner Mutter.« Lächelnd erinnerte sie sich – es waren glückliche Erinnerungen. »Sie hat das marokkanische Arabisch immer mit dem Pariser Französisch und dem Englischen durcheinandergebracht. Aber wir waren ja daran gewöhnt, wir wussten schon, was sie gemeint hat.« Selbst Jeffrey.
Damals hatte er gelacht, dachte sie und erinnerte sich plötzlich wieder daran. Ihr Vater hatte über das Sprachendurcheinander ihrer Mutter gelacht, aber eigentlich nicht über sie, sondern über sich selbst.
»Gnade«, sagte er und hielt sich den Kopf. »Ich bin doch nur ein einfacher Junge vom Land. Ich kann keine exotischen Sprachen.«
»Mädchen.« Glitzernde, blasssilberne Augen, aus denen der Schalk sprach. »Glaubt eurem Vater kein Wort. Er spricht Französisch wie ein Franzose.«
»Elena, wo bist du denn gerade?« Sanft hob er ihr Kinn, bis sie in seine blauen Augen sah, ein Blau, in dem sie ertrinken wollte.
»Zu Hause«, flüsterte sie. »Mein Zuhause, bevor es mir weggenommen wurde.«
»Wir schaffen uns unser eigenes Zuhause.«
Tief bewegt und strahlend vor Glück fragte sie: »In Manhattan?«
»Wo sonst.« Ein ganz, ganz zaghaftes Lächeln spielte um seinen Mund. »Was für eine Art Villa schwebt dir denn vor?«
Verwünscht, der Erzengel nahm sie schon wieder hoch. Und das Glück strahlte noch heller in ihr, füllte selbst den letzten Winkel. »Eigentlich gefällt mir dein Haus ganz gut.« Sie schlang die Arme um seinen Hals. »Kann ich es haben? Oh und kann ich Jeeves gleich mit dazu haben? Ich wollte schon immer einen Butler haben.«
»Ja.«
Verwundert blinzelte sie ihn an. »Einfach so?«
»Ist doch nur ein Haus.«
»Wir machen mehr daraus«, versprach sie, ihren Mund auf seinem. »Wir machen es zu unserem.«
Aber zunächst einmal, dachte sie, als es an die Tür klopfte, müssen wir Lijuans Wahnsinn überstehen.
33
Elena konnte kaum an sich halten, als sie Raphael im Smoking sah. Scharf zeichnete sich sein Profil gegen den Nachthimmel ab, während sie ihrer Eskorte folgend den gewundenen Weg in die Verbotene Stadt hinunter nahmen. Ihr Erzengel trug ein weißes Hemd zu seiner schwarzen Hose, aber das Hemd war ein Kunstwerk an sich. Der Stoff war zu beiden Seiten der Flügel entlang der Schlitze mit Ranken und Blumenmustern bestickt – gerade noch verspielt genug für den Erzengel von New York.
»Sexy« reichte bei Weitem nicht aus, um ihn zu beschreiben.
Und ganz offenkundig dachten die Vampirschönheiten mit ihren seidigen Mähnen genau dasselbe. Elena heftete die Augen auf eine, die die Frechheit besaß, Raphael mit ihrem Fächer Luft zuzuwedeln. Sie ließ den Fächer vor Schreck fallen.
Zufrieden wandte sie sich wieder Raphael zu. »Was machen Jason und Aodhan?«
»Sie haben ihre eigenen Aufgaben.«
Weiß sie von Jason?
Ja.
Und dann wurden sie in einen Raum mit kunstvoll bemalten Türen geleitet – einen Raum, der alles Licht, allen Sauerstoff zu schlucken schien, ihr die Brust eng machte. Raphael fing ihren Blick auf und half ihr, sich zu konzentrieren, sodass das Gefühl der Beklemmung ein wenig nachließ. Elena kam es vor, als seien Stunden vergangen, aber es konnten höchstens zwei Sekunden gewesen sein. Als sie sich aber wieder dem Raum zuwandte, immer noch mit stolperndem Herzen, wurde ihr Blick von einer Sitzgruppe angezogen, die vor einer Wand mit Schmetterlingen stand. Sie hatten ihre Flügel für alle Zeiten ausgebreitet, denn sie waren mit einer spitzen Nadel aufgespießt worden.
»Raphael«, flüsterte Lijuan zur Begrüßung durch den Raum, ihre Pupillen hatten einen eigenartigen Perlmuttglanz, ihr Abendkleid war ein beunruhigend mädchenhaftes Gewand aus mehreren Lagen fließender Gazestoffe, die ihr in einem weißgrauen Nebel um den Leib wirbelten. Ein Wind, den Elena nicht spürte und der weder die schweren Brokatvorhänge noch die erlesenen Wandteppiche bewegte, wehte Lijuan das Haar aus dem Gesicht.
Ein ungutes Gefühl überkam Elena, Erfahrungen, die Menschen in Jahrtausenden gemacht und weitergegeben hatten, sagten ihr, dass sie am besten nie, nie im Leben die Aufmerksamkeit dieses Wesens auf sich ziehen sollte. Denn es war nicht der Raum, der alles Licht schluckte. Es war Lijuan. Als Elena wie erstarrt stehen blieb, schickte ihr Kleinhirn einen Adrenalinstoß durch den Körper, gab ihr den Befehl, davonzulaufen und sich zu verstecken.
Aber dafür war es natürlich schon viel zu spät.
Raphael ergriff Lijuans Hand, neigte den Kopf und berührte mit den Lippen leicht ihre blasse, makellose Haut. Über Raphaels Schultern hinweg sah Lijuan sie an, in ihren Augen war nichts Menschliches, nichts, was Elena hätte deuten können.
Der zierliche Engel zog die Hand zurück und wandte sich mit ihren gespenstischen Augen wieder Raphael zu. »Du hast dich verändert.«
»Und du veränderst dich nie.«
Ein klirrendes Lachen, das auf Elenas Haut ein Gefühl hinterließ, als schnitten Rasierklingen Glas. »Warum sind wir uns nicht begegnet, als ich noch jung war?«
»Damals hättest du dich nicht für mich interessiert«, gab Raphael zurück und drehte sich herum, um Elena die Hand um die Schulter zu legen. »Das ist Elena.«
»Deine Jägerin.« Lijuans bleiche Augen ruhten auf Elena, die es eine ungeheure Willensanstrengung kostete, nicht zurückzuweichen und wegzulaufen.
Denn Lijuan war das Gespenst im Schrank. Das, mit dem einem die Geschwister Angst machten, das sich jedoch nie zeigte.
»Lady Lijuan.« Den offiziellen Titel hatte sie von Jessamy erfahren, ihre Stimme klang ganz normal. Wie ihr das gelang, wusste Elena selbst nicht.
Lijuans Augen blieben an Elenas Hals hängen. »Du trägst gar keine Kette.«
Obwohl jähe Wut und Abscheu sie überkamen, senkte sie den Blick nicht. »Ich ziehe Raphaels Geschenk vor.«
»Ein Messer – diese Art von Schmuck war in einem anderen Jahrhundert beliebt.« Lijuan wandte ihre Aufmerksamkeit nun anderen Dingen zu, als spielte die Halskette, die Elena so viel Kummer bereitet hatte, gar keine Rolle mehr. »Was für wunderschöne Flügel. Zeigst du sie mir?«
Am liebsten wollte Elena dieser Kreatur gar nichts von sich zeigen, aber der Wunsch war höflich vorgebracht worden. Und sie würde es nicht zu einem politischen Zwischenfall kommen lassen, nur weil Lijuan solch ein unglaubliches Scheusal war. Elena trat einen Schritt vor, um Platz zu haben, und breitete dann die Flügel aus, die ihr Erzengel ihr geschenkt hatte, als er ihr das Leben schenkte. Doch als Lijuan Anstalten machte, sie anzufassen, klappte sie sie sofort wieder zu.
Raphael ergriff das Wort: »Es sieht dir aber gar nicht ähnlich, das Protokoll zu verletzen.«
»Verzeihung.« Lijuan ließ die Hand sinken, aber ihre Augen ruhten noch auf dem sichtbaren Teil der Flügel. »Meine einzige Entschuldigung ist, dass sie außergewöhnlich sind.«
Elena wünschte, sie könnte die Flügel noch enger an sich ziehen. »Vielen Dank!«
Wie selbstverständlich nahm Lijuan Elenas Dank entgegen. »Meine eigenen sind, wie du sehen kannst, sehr schlicht.« Sie entfaltete ihre Flügel.
Sie waren dezent taubengrau. Zart. Exquisit in ihrer seidigen Pracht. »Schlicht vielleicht«, hörte Elena sich sagen, »aber dafür umso schöner.«
Lijuan faltete ihre Flügel wieder zusammen. »So aufrichtig. Macht das ihre Faszination aus?«
Raphael antwortete mit einer indirekten Frage. »Dir liegt wenig an irdischen Gefühlen.«
»Ach, aber du faszinierst mich.« Lijuan tätschelte seine Hand und deutete auf die Sitzgruppe. »Ich dachte, wir könnten ganz zwanglos und bescheiden zusammen das Abendessen einnehmen.«
Bei dieser Bemerkung musste Elena sich auf die Zunge beißen. Der Raum war kein schlichtes Esszimmer, sondern vielmehr über alle Maßen prächtig. Die hintere Wand bestand aus goldumrandeten, verspiegelten Paneelen, an der rechten Wand hingen Teppiche, die gewiss ein Vermögen wert waren, und durch die vordere Fensterfront konnte man Höflinge in festlicher Stimmung in ihren eleganten Kleidern bewundern. Die linke Wandseite, vor der sie Platz nehmen sollten, war die Schmetterlingswand.
Widerstrebend näherte sich Elena der Sitzgruppe, stellte sich neben einen mit fantastischem Jadegrün bezogenen Stuhl, und ihr Blick glitt unwillkürlich zu den für immer in stasis erstarrten Geschöpfen hinüber. »Da ist ja überhaupt kein Glas davor«, sagte sie mehr zu sich selbst. »Wie verhindern Sie denn ihren Verfall?«
Wieder dieses klingende Lachen. Ihr wurde eiskalt, als sie sich die Bedeutung ihrer Worte klarmachte.
»Hast du ihr denn mein kleines Geheimnis nicht verraten, Raphael?« Ihre Augen blitzten voll mädchenhaftem Schalk.
Unheimlich.
Raphael berührte sie sanft im Rücken. »So groß ist das Geheimnis nun auch nicht mehr. Favashi hat gestern mit mir darüber gesprochen.«
»Aber du hast es vor allen anderen gewusst.« Lijuan setzte sich in einen Stuhl, der mit seiner stützenden Mittellehne und den ausgeschnittenen Seiten genügend Platz für Flügel bot. »Wie geht es denn dem schwarz geflügelten Engel?«
Raphael wartete, bis Elena sich gesetzt hatte, bevor er neben ihr Platz nahm. »Jason freut sich schon auf den Ball.«
Unter den höflichen Worten brodelte es gefährlich, Elena spürte eine brennende Hitze in sich aufsteigen. Raphael hatte ihr erzählt, dass Jason von einem der Wiedergeborenen verletzt worden war. Jetzt fragte sie sich, ob der Angriff mit Absicht geschehen war. Eine Warnung?
Lijuan hob gebieterisch die Hand, und der Körper eines leuchtend blauen Schmetterlings fiel von der Wand direkt in ihre Hand. Die Nadel hatte sich gelöst und war lautlos auf den Teppich gefallen. »Und dieser Junge? Der Hübsche?«
»Ich habe entschieden, dass es besser ist, wenn Illium nicht mitkommt«, sagte Raphael sogleich. »Er wäre vielleicht eine zu große Versuchung gewesen.«
Lijuan ließ den Schmetterling auf den Tisch fallen und lachte, diesmal war es dunkler, ein Lachen voll echter Freude – wenn man es überhaupt so nennen konnte. »Hmm, ja, diese Flügel sind in der Tat herrlich.« Ihre Augen wanderten wieder zu Elenas Flügeln. »So ungewöhnlich wie deine.«
»Leider«, sagte Elena, die wusste, dass sie jetzt Rückgrat zeigen musste, auch wenn dieser Engel sie mit einem einzigen Gedanken töten konnte, »bin auch ich kein Sammlerobjekt.«
»Oh, ich möchte deine Flügel nicht ausstopfen«, sagte Lijuan, derweil tanzte ihr Haar sanft in der unheimlichen Brise, die sonst nichts zu berühren schien. »Lebend bist du viel interessanter.«
»Da habe ich ja Glück gehabt.« Nur empfand sie es nicht so. Elena lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und überließ Raphael und Lijuan das Gespräch. Während sie redeten, hörte sie zu, beobachtete … und versuchte herauszufinden, was mit Lijuan nicht stimmte.
Sicher, ihre Gabe trieb Elena kalte Schauer über den Rücken, aber Raphael hatte auch schon einmal einem Vampir alle Knochen gebrochen und ihn zur Warnung aller leiden lassen. Und ihre Unterhaltung heute im Flugzeug hatte ihr klargemacht, dass er zu dieser Art von Grausamkeit noch genauso im Stande war wie am Tag ihrer ersten Begegnung.
Dennoch schlief sie jede Nacht mit ihm in einem Bett, klammerte sich an ihn, wenn die Albträume wieder einmal übermächtig wurden. Vertrauen, zwischen ihnen herrschte Vertrauen. Aber selbst in der Zeit davor, als er für sie lediglich der Erzengel von New York war – hart, grausam, unerbittlich –, hatte sie bei ihm nie dieses unheimliche Kribbeln verspürt, das Gefühl, sich in der Gegenwart von etwas zu befinden, das es eigentlich nicht geben durfte.
»Ah, da kommt ja das Essen.«
Elena hatte ihren Kopf schon zur Tür gedreht, denn sie hatte die Vampire bereits gerochen.
Jasmin und Honig.
Mit Zimt bestäubtes süßes Fichtenholz.
Ein Sonnenkuss mit einem Hauch frischer Farbe.
Seltsame Kombinationen, ungewöhnliche Düfte, aber so waren die Vampire nun einmal. Einmal hatte sie Dmitri gefragt, welche Düfte sie untereinander von sich wahrnähmen. Mit einem höhnischen Lächeln, das eigens für sie reserviert war, hatte er ihr geantwortet: »Überhaupt keine. Wir sparen uns unsere Sinne auf für die Sterblichen – für die Mahlzeiten.«
Die drei Vampire, die den Raum betraten, waren alle Männer, doch nur einer hatte die für Lijuans Heimatland typischen schwarzen, seidig glänzenden Haare und mandelförmigen Augen. Er war das Fichtenholz. Neben ihm stand ein Eurasier mit den breiten Schultern eines Boxers und den himmelblauen Augen eines Jungen aus Kansas, sein Gesicht war nicht ganz richtig zusammengesetzt, aber trotzdem oder gerade deshalb fesselte es einen. Er war der Jasmin. Und der Sonnenkuss – bei der Erinnerung an diesen Duft drehte sich ihr der Magen um: Blut und Tod, verwestes Fleisch und Uram, der ihren zertrümmerten Fußknöchel malträtierte.
Der Sonnenkuss kam näher, deckte den niedrigen Tisch mit den Holzschnitzereien, den einzigen Gegenstand zwischen ihr, Raphael und Lijuan, mit zartem, handbemaltem Porzellangeschirr. Seine Hände glänzten so dunkel wie das Mark eines Mpingo-Baums, ein Holz, das so edel war, dass Möbel daraus ein Vermögen kosteten.
Seine schöne Haut erinnerte sie an die Monate, die sie in Afrika verbracht hatte, und erst, als sie ihm in die Augen sah, bemerkte sie, dass er tot war.
Raphael schloss sofort aus Elenas Reaktion, dass etwas nicht stimmte. Erkannte, dass der Vampir, der ihr den honigfarbenen Oolongtee in die Tasse goss, ein Wiedergeborener war. Elena verharrte vollkommen reglos, so reglos wie ein Jäger auf der Pirsch.
Natürlich hätte er mit ihr telepathisch kommunizieren können, ihr einschärfen, auf keinen Fall Angst zu zeigen, doch bei Lijuans umfassend gewordenen Fähigkeiten war zu befürchten, dass sie die Warnung hören konnte – und Raphael wollte auf gar keinen Fall irgendetwas tun, das Elena schwach erscheinen ließ. Stattdessen vertraute er seiner Jägerin, und sie enttäuschte ihn nicht.
»Vielen Dank!«, sagte sie, nachdem der Wiedergeborene eingeschenkt hatte.
Ein winziges Kopfnicken von dem Vampir, der noch so frisch wirkte, so neu, dass er noch nicht lange wiedergeboren sein konnte. Aber die Augen – ja, in diesen Augen stand, dass er um sein Schicksal wusste. Raphael wartete geduldig ab, bis der Wiedergeborene auch ihm eingeschenkt hatte, Lijuans Tasse wurde von dem blauäugigen Vampir gefüllt.
»Einen Toast«, verlangte Lijuan und hob ihre Tasse, die Männer brachten derweil das Essen von dem hölzernen mit Gold verzierten Teewagen zum Tisch. »Auf den Neuanfang.« Ihr Blick war auf Elena gerichtet.
Raphael kämpfte mit dem animalischen Verlangen, etwas zu unternehmen, um Elena vor einer Gefahr zu schützen, die sie unmöglich überleben konnte … aber schließlich hatte seine Jägerin ja auch ihn überlebt. »Auf die Veränderung«, sagte er.
Lijuans Augen wanderten zu Raphael, aber sie stellte die kleine Variation des Trinkspruchs nicht infrage. »So sei es.« Mit einer unauffälligen Geste bedeutete sie den drei Männern zu gehen, und sie verschwanden ebenso lautlos, wie sie gekommen waren.
»Kein Publikum?« Raphael reichte Elena einen kleinen Teller mit süßem Kuchen aus roten Bohnen, von denen er wusste, dass sie sie gern mochte.
»Heute nicht.« Lijuan beobachtete, wie Elena ihren Kuchen aß. »Findest du am Essen immer noch Genuss, Raphael?«
»Ja.« Die Antwort war leicht gewesen. Immer noch war er auf dieser Erde, in dieser Welt fest verwurzelt. »Isst du denn nicht mehr?« Eigentlich war es reine Spekulation, denn er hatte überhaupt nicht damit gerechnet, dass sie zustimmend nicken würde.
»Essen ist überflüssig geworden.« Sie nippte an ihrer Teetasse. »Wenn Freunde zu Gast sind, dann mache ich mir die Mühe, aber …«
Raphael verstand, was sie sagen wollte. Verhungern würde kein Erzengel, selbst wenn er oder sie völlig das Essen einstellen würde. Doch der Mangel an Nahrung würde irgendwann zu einem Kräfteverlust führen. Vielleicht würde es Jahre oder sogar Jahrzehnte dauern, aber der Verlust könnte irreparabel sein. Ein Erzengel konnte ein solches Risiko nicht eingehen.
Lijuan hatte sich darüber hinweggesetzt. Was die Frage aufwarf, woraus sie jetzt ihre Kraft zog.
»Blut und Fleisch?«, fragte er. Ihm war aufgefallen wie außergewöhnlich still Elena neben ihm war. Nach außen hin konnte es durchaus den Anschein erwecken, dass sie zu eingeschüchtert war, um sich an dem Gespräch zu beteiligen. Doch er wusste nur zu gut, dass sie ganz genau zuhörte, ihr Wissen weiter ausbaute, jede potenzielle Schwäche registrierte.
»Das wäre Degeneration«, sagte Lijuan, ihr Haar bewegte sich, als würden Geisterfinger es durchkämmen, »und bei mir ist es die Evolution.«
Erst hinter ihren verschlossenen Schlafzimmertüren ließ Elena ihrem Entsetzen freien Lauf. »Sie ist … was ist sie?«
»Macht in ihrer reinsten Form.« Er öffnete die bemalten Holztüren, die auf einen kleinen Innenhof und von dort aus auf den Balkon führten. »Komm. Die Luft ist frisch und reinigend.«
Sie ergriff seine ausgestreckte Hand, ließ sich von ihm in die prickelnde Winterluft hinausgeleiten. Wie ein buntes Sternenmeer erstreckte sich die Verbotene Stadt unter ihnen, immer noch drehten sich die Tänzer im Haupthof elegant, während die Musiker so schön und schwermütig spielten, dass Elenas Augen sich mit Tränen füllten.
Eng umschlungen und den Kopf an seine Schulter gelehnt, schöpfte Elena tief Atem. Endlich. Wie eine Ertrinkende sog sie die Luft in die Lungen, ihre Kehle entspannte sich mit einem erleichterten Zittern. »Diese Musik … was ist das für ein Instrument?«
»Ein Erhu.«
Lange Zeit standen sie einfach nur da, tranken die Musik. Elena fand als Erste die Sprache wieder. »Du glaubst also nicht, dass sie ihre Macht von anderen bezieht?«
»Nein.« Raphael strich ihr mit den Händen über die Flügel, die Welle der Gefühle, die sie plötzlich ergriff, machte sie froh, zeigte sie ihr doch, dass sie im Gegensatz zu dem Geschöpf, das ihr in diesem stummen Zimmer gegenübergesessen hatte, am Leben und sehr lebendig war. »Wenn das so wäre, sähen ihre Höflinge nicht so gesund und munter aus. Lijuan hat immer zuerst in ihrem eigenen Sandkasten gespielt.«
»So wie mit den Wiedergeborenen.« Wieder überlief es sie kalt, sie schob die Hand unter Raphaels Hemd, um die Wärme seines Körpers zu spüren. »Dieser Vampir – hat nach Sonnenschein und Farbe gerochen. Er war neu … frisch.«
»Er glaubt, eine zweite Chance bekommen zu haben«, sagte Raphael und vergegenwärtigte sich noch einmal, wie loyal diese dunklen Augen Lijuan angeschaut hatten.
»Wann fangen sie denn an zu verwesen?«, zwang sie sich zu fragen.
»Jason ist schon fast hier.« Sein Meisterspion kam immer näher, das spürte er. »Er wird uns die neuesten Neuigkeiten bringen. Aber soweit wir wissen, hängt das nicht nur von dem Energieaufwand ab, sondern auch davon, womit sie sie füttert.«
»Fleisch«, flüsterte sie. »Menschenfleisch?«
»Oder Vampirfleisch. Es scheint keinen Unterschied zu machen.« Bislang gab es noch keine Hinweise darauf, dass auch Engel für Lijuans Lieblinge geopfert wurden, aber Raphael würde dem ältesten Erzengel auch eine solche Schändlichkeit zutrauen.
In diesem Moment hob Elena den Kopf. »Sturm«, flüsterte sie. »Jason riecht nach Regenschauern, nach Blitz und Feuer.«
»Hat sich deine neue Fähigkeit stabilisiert?«
»Nein.« Mit den Augen folgte sie Jasons Sinkflug, wenngleich der schwarz geflügelte Engel bislang nur ein Schatten am Firmament war. »Sie kommt und geht. Meistens geht sie.« Sie drückte ihre Lippen auf seine Wange. »Aber du bist immer der Regen und der Wind in mir gewesen. Ich schmecke dich, wenn ich schlafe, wenn ich wach bin, wenn ich atme.«
Wenn Jason jetzt nicht gerade gelandet wäre, hätte Raphael sich Elena geschnappt und sich an ihrem einzigartigen Duft berauscht. So strich er ihr nur mit der Hand über den Nacken, fuhr mit den Lippen über ihr Ohr. Heute Nacht werde ich dich verzehren, Elena. Sei bereit für mich – ich werde nicht eher Ruhe geben, bis du schreist vor Lust.
Er spürte, wie ihr Herz aussetzte und ihr Atem kurz wurde. Aber seine Jägerin hatte sich immer noch jeder Herausforderung gestellt. Jederzeit, Himmelsknabe.
34
»Sire.« Jason klappte seine Flügel ein und wartete auf die Aufforderung, Bericht zu erstatten.
Raphael begrüßte ihn mit einem Nicken. »Komm, wir unterhalten uns drinnen.« Lijuan würde sie weder persönlich noch mit technischen Hilfsmitteln in ihrem Wohnzimmer bespitzeln, das würde der seltsame Ehrenkodex ihr verbieten. Die Privatsphäre von Gästen war ihr heilig.
Elena lehnte mit dem Rücken an der Anrichte, Raphael und Jason gesellten sich zu ihr. Jasons Tätowierung war schon wieder fast vollständig erneuert worden, seine linke Gesichtshälfte war ein richtiges Kunstwerk. Man sah ihm an, dass seine Vorfahren aus sehr unterschiedlichen Kulturkreisen stammten. Unter den Engeln galten seine Eltern als das Liebespaar schlechthin. Und eine Zeit lang waren sie das wohl auch gewesen.
»Haben deine Männer noch mehr herausfinden können?«, fragte Raphael den Meisterspitzel.
»Was immer in dem Raum in Lijuans Festung verborgen war«, sagte der schwarz geflügelte Engel mit klarer, wohltönender Stimme, »sie hat es inzwischen herschaffen lassen.«
»Ist es einer der Wiedergeborenen?«
»Ja, aber offensichtlich ein ganz besonderer, denn der Transport wurde sorgfältig bewacht.« Deutliche Abscheu lag in seinen nächsten Worten, trübte den reinen Klang der Stimme. »Man hört immer wieder Berichte über junge Frauen, die auf den Karawanenwegen verschwinden.«
»Versorgt Lijuan ihre Wiedergeborenen mit Lebendfutter?« Zwar war das Töten von Menschen nicht verboten, aber auf diese Weise und für diesen Zweck … selbst Charisemnon wäre davon angewidert.
»Bis jetzt haben wir noch keine Überreste finden können, um unseren Verdacht zu erhärten«, sagte Jason. »Doch das Verschwinden stimmt genau mit der Reiseroute der Karawane überein – und sie wollten ihre Toten, solche, die die Dorfbewohner erst kürzlich bestattet hatten.«
»Lijuan wird als Göttin verehrt«, sagte Raphael und dachte dabei an einen anderen Erzengel, der sich auch für einen Gott gehalten hatte. »Die Dorfbewohner würden sich nie laut beschweren.«
»Bestimmt nicht.« Als Jason den Kopf senkte, verfing sich das Licht in seinem offenen, pechschwarzen Haar. »Aber das ist noch nicht das Schlimmste.«
»Noch etwas Schlimmeres?«, fragte Elena entsetzt.
Jason hob den Kopf. »Es geht das Gerücht um, ein Gerücht, das sich hartnäckig hält, dass Sterbliche, die zu ihrem engsten Kreis zählen und die nicht auserwählt wurden, Vampire zu werden …«
»Oh mein Gott!«, flüsterte Elena. »Wollen sie etwa wiedergeboren werden?«
»Anscheinend werden sie von den jüngeren Wiedergeborenen dazu verführt«, sagte Jason bekräftigend. »Von denen, die langfristig in einem lebensähnlichen Zustand gehalten werden, indem man ihnen Fleisch zu essen gibt.«
»Die Jungen oder die Alten?«, fragte Raphael.
»Die Älteren, aber dabei wird es bestimmt nicht bleiben.«
»Warum?« Elena sah Raphael verständnislos an. »Die müssen doch wissen oder zumindest ahnen, dass sie auf diese Weise ein viel kürzeres Leben haben als normal.«
Jason antwortete ihr, noch bevor Raphael dazu kam. »Es lockt die Unsterblichkeit, die Hoffnung, dass Lijuan einen Weg finden wird, sie für immer am Leben zu erhalten. Manche würden alles dafür geben.«
In dieser Bemerkung steckte noch mehr, der Unterton ließ eine Fülle von Bedeutungen erahnen. Elena musterte das schöne, unergründliche Gesicht des exotischen Engels, der immer ein Schatten war, dessen rußschwarze Flügel übergangslos mit der Nacht verschmolzen. »Nur für ein Versprechen?« Fassungslos schüttelte sie den Kopf. »Ich verstehe das einfach nicht, denn sie sind ja in Wahrheit weniger als Sklaven.«
»Du hast die Unsterblichkeit nie begehrt«, antwortete Raphael. »Du verstehst also dieses Verlangen nicht.«
Darüber musste sie erst einmal nachdenken. »Vielleicht tue ich es doch«, sagte sie und wünschte sich, es wäre anders. »Mein Schwager liebt meine Schwester … aber er hat nicht erst abgewartet, bis auch sie als Kandidatin angenommen wurde. Das ewige Leben lag ihm mehr am Herzen als die Liebe zu meiner Schwester.« Und jetzt würde Beth alt werden, während Harry für immer jung blieb.
Harry hatte geschworen, bei Beth zu bleiben, und Elena glaubte ihm. Aber sie fragte sich, wie Beth damit zurechtkäme. Würde ihre Schwester ihren Mann trotzdem weiter lieben, auch wenn sie wusste, dass sie erst an zweiter Stelle bei ihm kam, nach der Unsterblichkeit? Dass sie eines Tages sterben würde, und Harry dann eine Neue kennen-und lieben lernen könnte?
Ihr Blick verschmolz mit dem Raphaels, eine zentnerschwere Last lag ihr auf der Seele. Denn auch sie würde Beths Tod mit ansehen müssen.
Ich werde mich nicht bei dir entschuldigen, Elena – ich konnte es nicht zulassen, dass du mich verlässt.
Die Ehrlichkeit und Leidenschaft in seinen Worten bewegten sie tief. Ich vergesse es nur immer wieder, und wenn es mir dann einfällt, dann schmerzt es umso mehr.
Wenn ihre Zeit gekommen ist, wird Beth zu Staub werden, aber sie wird in der Gewissheit sterben, dass ein Engel über ihre Kinder wacht.
Elena nickte kurz, und als sie dann in Jasons Augen blickte, bemerkte sie zum ersten Mal, dass seine Augen so schwarz waren, dass man die Pupillen kaum erkennen konnte. »Würden sich die Höflinge gegen Lijuan wenden, wenn wir ihnen beweisen, dass die Wiedergeborenen gar nicht unsterblich sind?«
Jasons Flügel raschelten, als er sie zusammenlegte, aber selbst in diesem hell erleuchteten Raum fand er noch Schatten, und nur mit Mühe konnte sie seine Umrisse sehen. »Vielleicht könnten wir ein paar von ihnen umstimmen, aber die meisten sehen in ihr eine Göttin. Sie folgen ihr blindlings.«
Und damit würden sie für Lijuan zu einem schier unerschöpflichen Nachschub für ihre Armee der Toten.
35
Erschöpft und befriedigt lag Elena in Raphaels Armen. Der Erzengel hatte Wort gehalten. Sie hatte geschrien – vor Leidenschaft. Und glücklich sank sie in einen friedlichen Schlaf. So friedlich, dass es eine Zeit lang dauerte, bis sie verstand, was sie hörte.
Tropf.
Tropf.
Tropf.
»Komm, kleine Jägerin. Koste.« Ein Finger an ihrem Mund.
Sie presste die Lippen zusammen, aber der Geruch drang trotzdem durch sie hindurch, heimtückisch, unaussprechlich. Nein! Ihr Verstand weigerte sich zu erkennen, was es war, lehnte ab, etwas zu begreifen.
Doch das Monster ließ ihr keine Wahl. »Schmeckt Belle nicht köstlich?« Seine Augen waren dunkelbraun, mit einem blutroten Kreis darum. »Ich habe dir etwas übrig gelassen. Hier.« Mit den Händen schob er die goldblonden Haare ihrer Schwester beiseite, entblößte das offene Fleisch ihrer Kehle. »Ich glaube, es ist noch warm.« Er vergrub das Gesicht in Belles Hals, seine Hände lagen auf den knospenden Brüsten.
Ein Schrei entrang sich ihrer Kehle. »Nein!« Dann stürzte sie sich wie eine Furie auf ihn und bearbeitete ihn mit Fäusten und Nägeln, Zähnen und Tritten.
Aber selbst eine geborene Jägerin kam nicht gegen einen großen Vampir an. Einen Vampir, der satt ist von Blut. Er spielte bloß mit ihr, ließ sie glauben, sie habe ihn verletzt. Und als sie einen Moment unvorsichtig war, sich keuchend von dem Kampf erholte … küsste er sie.
Röchelnd erwachte Elena.
Schwarze Flecken vernebelten ihr die Sicht, sie drohte ohnmächtig zu werden, bis der Duft von Regen und Meer in ihren Geist drang. Frisch und ungestüm und so ganz anders als das Grauen, das sie in ihrem Mund schmeckte, riss es sie aus ihrem immer wiederkehrenden Albtraum, sorgte dafür, dass sie wieder Luft bekam. Voller Verzweiflung warf sie sich in Raphaels Arme.
Wie ein unverrückbarer Felsen, so hielt er sie sicher und geborgen. »Sch, ich bin ja bei dir.«
»Oh Gott, oh Gott!«
Raphael hielt Elena so fest an sich gepresst, dass er fürchtete, sie zu zerbrechen. Aber sie zitterte immer noch, überschlug sich beim Sprechen, und er spürte ihre große Angst. »Elena.« Wieder und wieder sagte er ihren Namen, ließ seinen Geist über ihren streifen, bis sie ihn endlich zu erkennen schien. Während er sie in den Armen hielt, streichelte er ihr tröstend über die Flügel, erinnerte sie daran, dass sie hier bei ihm war und nicht für immer gefangen in der Vergangenheit.
Mühsam hielt Raphael seinen eigenen Ärger, seinen Zorn im Zaum, verschlossen hinter eisernen Schilden. Als Erzengel war er zu vielem imstande, nur die Zeit zurückdrehen und das Böse, das Elena schon so früh gezeichnet hatte, auslöschen, das konnte er nicht.
»Er hat mir Belles Blut eingeflößt.« Ihre Stimme war nur mehr ein heiseres Flüstern, als sei ihre Kehle wund vom vielen Schreien.
»Sprich mit mir darüber.«
»Das Blut meiner Schwester. Er hat mich geküsst, mich dabei Belles Blut trinken lassen.« Wut, Entsetzen und Panik. »Ich habe ja versucht, es auszuspucken, aber er hat meinen Mund und meine Nase bedeckt, da habe ich es runtergeschluckt. Oh Gott, ich habe es getrunken!«
Raphael spürte, dass sie einem hysterischen Anfall nahe war, und so hob er ihren Kopf von seiner Brust und küsste sie hemmungslos und leidenschaftlich. Einen Moment lang erstarrte sie, doch dann packte sie sein Haar, glitt unter ihn und schlang die Beine um seine Hüfte.
In diesem Kuss, der vom Salz ihrer Tränen benetzt war, lag abgrundtiefe Verzweiflung. Elena wollte vergessen. Und Raphael würde alles in seiner Macht Stehende tun, um ihr Frieden zu schenken. Er nahm sie so hart, wie sie es wollte, drückte ihre Handgelenke in das Laken, spreizte ihre Beine und drang mit einem einzigen Stoß in sie ein.
Ihr Schrei hallte in seinem Mund wieder. Während er sie nahm, während ihrer groben, beinahe schmerzhaften Vereinigung hörte er nicht auf, sie zu küssen. Er küsste sie, bis sie keuchend nach Atem rang, bis ihre Augen vor Lust und Ekstase leuchteten. Und dann erneut, als sie nach ihrem Höhepunkt langsam wieder Luft bekam.
»Noch einmal«, flüsterte er an ihren Lippen.
Sie kam ihm bei jedem Stoß entgegen, ihre Hüften hoben sich einladend, fordernd. Nachdem sie ihre Hände befreit hatte, presste sie ihn an sich, fuhr ihm mit den Lippen über die Wangen, das Kinn, den Nacken. Am Ende vergrub sie ihren Kopf einfach in seinem Nacken und hielt sich an ihm fest … ließ sich von ihm halten, sich beschützen.
Und dann war sie es, die ihn bezwang, ihn in ihren Armen die höchste Lust empfinden ließ.
»Danke!« Elena ließ ihn nicht von sich hinunter, ihre Lippen berührten beim Sprechen sein Ohr, sein dunkles, seidiges Haar fühlte sich kühl auf ihrer Haut an. »Danke!«
»Nur zu gerne würde ich dir deine Albträume nehmen.«
»Ich weiß.« Und dass er sie ihr nicht mit Gewalt entrissen hatte, wenngleich sein Wunsch, ihr den Schmerz zu nehmen, übermächtig war, ließ ihr Herz für ihn noch höher schlagen. »Aber sie gehören zu mir.«
Sie brauchte die Frage gar nicht erst aussprechen, er verstand sie auch so.
Ohne zu zögern oder den Eindruck zu erwecken, als wollte er sich drücken, sagte er: »Und du gehörst zu mir.«
»Ich bin völlig durcheinander. Macht dir das denn gar nichts aus?«
»Du hast gelebt.« Er stützte sich auf, seine Arme wirkten wie zwei Stützpfeiler zu beiden Seiten ihres Kopfes. »Und ich ebenso. Würdest du mich deswegen fallen lassen?«
Allein der Gedanke, ihn zu verlieren, schnürte ihr die Brust zu. »Ich habe doch gesagt – du bist mein. Da gibt es jetzt kein Zurück mehr.«
Seine Lippen lagen auf ihren, langsam, ganz langsam küsste er sie, ein Schauer durchrieselte sie, und der Albtraum schien ein ganzes Menschenleben weit entfernt zu sein. Ihr Atem ging unregelmäßig, während sie ihre Brüste an seiner breiten Brust rieb. »Es liegt an diesem Ort …« Sie schüttelte den Kopf, schob sich eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht. »Der Tod, hier lauert überall der Tod. Das beeinflusst meine Fantasie.«
»Du hältst es also nicht für eine wirkliche Erinnerung?«
»Ich wünschte, es wäre nicht wahr.« Nur ein Flüstern, denn in ihrem Herzen wusste sie, dass es nicht nur eine Ausgeburt ihrer Einbildungskraft war. »Wenn es sich so zugetragen hat …« Tränen standen ihr in den Augen. »Dann ist er meinetwegen gekommen und hat einen Teil von sich in mir hinterlassen.«
»Nein.« Raphael drängte sie, ihm in die Augen zu sehen, die sich verdunkelten, bis nur noch Kobaltblau in ihnen war. »Wenn er dich gezwungen hat, das Blut deiner Schwester zu trinken« – seine Stimme durchschnitt den Schrei, den sie nun nicht länger zurückhalten konnte – »dann war es ein Teil von ihr.«
»Inwiefern ist das besser? Ich kann sie schmecken.« Sie griff sich an die Kehle. »Es war dickflüssig, schwer und voller Lebenskraft.« Wie eine Schlinge lag das Entsetzen um ihren Hals.
»Selbst meine Mutter«, sagte Raphael, schmiegte seine Hand um ihre Wange, »ganz gleich, was aus ihr geworden ist, hat mich nie für etwas verantwortlich gemacht, das nicht mehr zu ändern war. Deine Schwester hatte ein weitaus sanftmütigeres Wesen – sie hat dich geliebt.«
»Ja. Belle hat mich geliebt.« Sie musste es jetzt einfach aussprechen, es hören. »Sie hat es mir andauernd gesagt. Sie hätte mich nie ein Monster genannt.« Ihr Vater nannte sie so.
»Ich lasse es nicht zu, dass eines meiner Kinder zum Abschaum gehört!« Hände schütteln sie, schütteln sie so kräftig, dass sie kein Wort mehr herausbringt. »Erwähne ja nie wieder diesen Geruchsquatsch! Haben wir uns verstanden?«
»Erzähle mir von deiner Mutter«, sagte sie mit einem Mal, denn sie spürte, dass sie im Moment den Erinnerungen an jene Nacht, in der ihr Vater sie so gekränkt hatte, nicht gewachsen war.
Es passierte einen Monat nach der Beerdigung ihrer Mutter. Im Eifer des Gefechts hatte sie etwas zur Sprache gebracht, über das sie drei Jahre lang geschwiegen hatte. Ihre Jagdinstinkte waren die einzige Konstante in ihrem Leben, und sie hatte geglaubt, Jeffrey würde verstehen, dass sie etwas brauchte, woran sie sich festhalten konnte. Aber sein Zorn in jener Nacht … »Etwas Schönes«, fügte sie hinzu. »Erzähl mir eine schöne Geschichte über deine Mutter.«
»Caliane hatte eine himmlische Stimme«, sagte er. »Nicht einmal Jason kann so schön singen wie meine Mutter.«
»Jason – singt?«
»Er hat wahrscheinlich die herrlichste Stimme unter den Engeln, aber er hat schon seit Jahrzehnten nicht mehr gesungen.« Auf Elenas fragenden Blick hin schüttelte er nur den Kopf. »Das sind seine Geheimnisse, Elena, nicht meine, und es ist nicht an mir, sie zu erzählen.«
Das verstand sie gut – Loyalität und Freundschaft waren schließlich keine Fremdworte für sie. »Hat er es von deiner Mutter gelernt?«
»Nein. Caliane war schon lange fort, als Jason geboren wurde.« Er lehnte seine Stirn an ihre, ihr Atem verschmolz miteinander. »Sie hat mir immer vorgesungen, als ich noch sehr klein war, kaum laufen konnte. Und wenn sie sang, hielt die gesamte Zufluchtsstätte den Atem an, denn ihr Gesang öffnete die Herzen, ließ die Seelen frei. Alle lauschten ihr … doch sie sang nur für mich.«
»Ich war«, fuhr er gedankenversunken fort, »so stolz auf dieses Vorrecht, das Vorrecht auf ihren Gesang. Nicht einmal mein Vater machte mir dieses Recht streitig.« Damals fing es mit seinem Vater schon an, bergab zu gehen, aber Raphael hatte auch noch schöne Erinnerungen an die Zeit, bevor er ganz dem Wahnsinn verfiel. »Mein Vater hat immer gesagt, meine Mutter singe so schön, weil ihr Lied aus reiner Liebe bestehe – einer Liebe, wie sie nur eine Mutter für ihr Kind empfinde.«
»Ich wünschte, ich hätte sie singen gehört.«
»Eines Tages«, sagte er, »wenn unsere Seelen wahrhaft miteinander verschmelzen, wenn du reif genug bist, werde ich meine Erinnerungen an ihren Gesang mit dir teilen.« Das war sein größter Schatz, ein größeres Geschenk konnte er ihr nicht machen.
Selbst in der Dunkelheit leuchteten ihre Augen, und er wusste, dass sie ihn verstand. Eines Tages.
Eng umschlungen verbrachten sie den Rest der Nacht. Mehr als einmal suchte sie Zuflucht bei ihm, und bereitwillig half er ihr zu vergessen.
Am nächsten Morgen ertappte Elena sich dabei, wie sie dem Engel, der neben ihr herging, immer wieder Blicke zuwarf – wie um sich zu vergewissern, dass es ihn wirklich gab. Sein Haar leuchtete wie die gleißende Sonne. Noch nie zuvor hatte sie solch hellblondes Haar gesehen, es war heller als ihr eigenes. Hätte sie die Farbe benennen müssen, so hätte sie sie als Weißgold bezeichnet, doch selbst das war nicht ganz richtig. Denn das Haar dieses Engels war farblos, es schimmerte im Sonnenschein, als wäre jede einzelne Strähne mit Diamantstaub überzogen.
Dem Haar entsprechend war auch sein Teint. Bleich, so bleich – man hätte ihn für eine Marmorstatue halten können, wäre da nicht dieser goldene Glanz gewesen, der ihn in einen lebendigen, atmenden Mann verwandelte. Alabaster im Sonnenlicht, so könnte man seinen Teint beschreiben, dachte sie.
Und dann diese Augen.
Die schwarzen Pupillen gingen über in gezackte Ringe aus kristallklarem Grün und Blau. Immer wieder konnte man in diese Augen blicken und doch nichts anderes sehen als nur das eigene Spiegelbild. Sie waren mehr als durchsichtig, mehr als durchscheinend und trotzdem undurchdringlich.
Seine Flügel waren weiß. Makellos weiß und von demselben diamantenen Glanz wie sein Haar. In der Wintersonne glitzerten die Flügel so hell, dass Elena die Augen abwenden musste. Er hätte schön genannt werden können. Und das war er auch. So schön, wie niemals ein Mensch hätte aussehen können. Doch er schien der Welt so entrückt, dass man eine Statue oder ein Kunstwerk vor sich zu haben glaubte.
Tatsächlich war dieser Engel einer von Raphaels Sieben. Er hieß Aodhan und trug auf dem Rücken zwei Schwerter, deren Griffe schmucklos waren bis auf ein Symbol, das einem keltischen Knotenmuster glich und sich dennoch von diesen abhob in seiner Einzigartigkeit. Wenn sie ihn besser kannte, würde Elena ihn danach fragen, doch bis jetzt hatte er so wenig gesprochen, dass selbst der Klang seiner Stimme ihr noch fremd war. Nach Illiums Späßen, Venoms bissigen Bemerkungen und Dmitris Anzüglichkeiten kam ihr sein Schweigen seltsam vor. Aber so konnte sie sich voll und ganz auf ihre ungewohnte Umgebung konzentrieren.
Als sie an einer Treppenflucht vorbeikamen, fiel ihr Blick auf eine ganz besondere Holzschnitzarbeit am Fuß der Treppe. Sie stieg die Stufen hinab und war nun auf einer Höhe mit dem Haupthof, links von ihr ein Baum, winterlich kahl, rechts das Holzpaneel. Die anwesenden Höflinge nahmen keine Notiz von ihr, und Elena tat es ihnen gleich, widmete sich stattdessen der Holzschnitzerei.
Sobald sie sie berührt hatte, wusste sie, dass sie alt war. Schon immer hatte sie das Alter von Dingen, besonders Gebäuden, gut schätzen können. Und dieser Holzschnitt war mindestens mehrere Jahrhunderte alt. Mit größter Sorgfalt war eine Szene herausgearbeitet worden, die das Leben bei Hof darstellte. Lijuan saß auf ihrem Thron, zu ihren Füßen tanzten Höflinge, und Akrobaten vollführten ihre Kunststücke. Nichts Ungewöhnliches … aber dennoch. Stirnrunzelnd betrachtete sie ihn erneut.
Da.
»Das ist ja Uram.« Eigentlich hätte es sie nicht weiter überraschen sollen, hier auf eine Darstellung von Uram zu stoßen. »So habe ich ihn noch nie gesehen.« Neben der eleganten Lijuan war seine dunkle Schönheit geradezu unwiderstehlich. »Ich habe ihn nur als Monster kennengelernt.«
Elena war überrascht zu hören, dass in Aodhans Stimme die ganze Musik des Landes der grünen Hügel und Elfengräber lag. »Das war er auch damals schon«, antwortete er.
»Ja«, sagte sie, überzeugt, dass solche Verderbtheit nicht über Nacht gekommen sein konnte. »Aber wahrscheinlich hat er es damals besser verbergen können.«
Gerade wollte sie einen schmalen Weg einschlagen, als ihre Instinkte sie davon abhielten. Elena machte kehrt und sah einen Engel auf sich zukommen. Seine Augen waren bernsteinfarben, ebenso seine Flügel, die Haut dunkler als die Naasirs.
Auch wenn sie ihm noch nie begegnet war, erkannte sie ihn. Nazarach.
Ashwini hatte mit Grauen in der Stimme von ihm gesprochen.
»Die Schreie dort, Ellie.« Sie erschauderte, ihre braunen Augen verdunkelten sich, wurden pechschwarz. »Mehr als irgendjemand sonst ergötzt er sich an Leid und Schmerz.«
»Raphaels Jägerin.« Der Engel neigte den Kopf zum Gruß.
»Elena.« Sie fuhr in die Tasche und schloss die Hand um die Waffe. Das Kurzschwert, für das sie und Galen sich entschieden hatten, da es ihr für ihre Kampftechnik am besten lag, hing an ihrer rechten Hüfte. Aber selbst Galen hatte einsehen müssen, dass das Schwert nur im Notfall zum Einsatz kommen konnte – im Kampf gegen andere Engel war sie damit einfach noch nicht schnell genug.
»Ich bin Nazarach.« Seine bernsteinfarbenen Augen wanderten zu Aodhan. »Dich habe ich ja schon seit Jahrhunderten nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen.«
Aodhan antwortete nicht, aber Nazarach erschien auch keine Antwort zu erwarten, seine Aufmerksamkeit galt wieder Elena. »Ich freue mich schon darauf, mit Ihnen zu tanzen, Elena.«
Elena war sich absolut sicher, dass sie diese Hände keinesfalls in ihrer Nähe wollte. Vielleicht war sie nicht wie Ashwini mit einem siebten Sinn geboren, aber so wie Nazarach sie ansah … als stellte er sich schon ihre Schreie vor. »Tut mir leid, aber meine Tänze sind schon alle für Raphael reserviert.«
Bei seinem Lächeln zog sich alles in ihr zusammen. »Ich gebe nicht so leicht auf.«
»Dann sehen wir uns wohl heute Abend.«
»Ja.« Sein Blick schoss nach rechts. »Ich muss mit meinen Männern reden.«
Nachdem Nazarach gegangen war, bemerkte Elena, wie angespannt Aodhan dastand. »Geht es Ihnen gut?«
Überrascht sah er sie an, nickte dann kurz.
Offenbar trieb Nazarach selbst einem der Sieben Schauer über den Rücken; Elena deutete auf einen schmalen Durchgang, der sie von Nazarach wegführen würde. »Nehmen wir diesen Weg.«
Aodhan folgte ihr wortlos, und als sie in den Weg einbogen, berührten sich ihre Flügel. »Verzeihung«, sagte sie und ging rasch weiter.
Schnell presste er die Flügel an sich.
Anscheinend hatte Aodhan es gar nicht gerne, wenn man seine Flügel berührte. Seine Flügel … oder sonst irgendetwas. Erst verspätet bemerkte sie, dass er, seit Raphael ihn ihr vorgestellt hatte, mit niemandem Körperkontakt gehabt hatte. Im Geiste machte sie sich eine Notiz, auf Abstand zu gehen. Als sie am anderen Ende des Durchgangs herauskamen, musste sie blinzeln, so hell war das Licht.
Sie waren in einen kleinen, menschenleeren Hof gelangt, der von kunstvoll bemalten Holzwänden umgeben war, die ländliche Szenen darstellten: Bauern bei der Feldarbeit, junge Mädchen auf dem Markt, ein alter Mann in der Sonne sitzend. Mit seinen Nadelbäumen, die für eine wohltuende Mischung aus Sonne und Schatten sorgten, und seiner Stille war der ganze Hof ein Ort des Friedens. Buntes Licht fiel auf das Pflaster, und als Elena hochblickte, um festzustellen, woher es kam, entdeckte sie ein altes, gewölbtes Buntglasfenster.
Hübsch. Und ablenkend.
Deshalb merkte sie erst einen Sekundenbruchteil zu spät, dass die fremden Gerüche viel zu nah waren, dass der kleine Gegenstand, der in dem Baumstamm direkt neben ihr steckte, ein Dolch der Gilde war … und dass das kaum hörbare Geräusch vom Spannen einer Armbrust stammte.
36
»Los, runter!«, brüllte Elena in dem Augenblick, als geschossen wurde.
Nicht eine, nein zwei Armbrüste.
Aodhan kam, um sie zu schützen, und das war sein Verhängnis. Während Elena sich mit dem Gesicht nach unten aufs Pflaster warf und einer der Bolzen über sie hinwegpfiff, durchbohrte ein zweiter Aodhans Flügel und nagelte ihn an die Wand. Er griff danach, wollte ihn herausziehen, doch noch bevor es ihm gelang, heftete ein weiteres Geschoss ihn mit der anderen Schulter an die Wand.
Elena rollte sich über die Seite – ein schwieriges Manöver, das sie mit ihren Flügeln ganz neu hatte erlernen müssen – hinter einen der Bäume unweit von Aodhan ab. Instinktiv wollte sie die Pistole ziehen, aber die Kugeln waren dafür gedacht, Engelsflügel in Stücke zu reißen. Sie wusste nicht, welchen Schaden sie bei Vampiren anrichten würden, doch wenn sie wie normale Kugeln funktionierten, bestand die Gefahr, dass sie ihre Angreifer damit tötete – und sie wollte sie lebend, um der Angelegenheit auf den Grund gehen zu können.
Nachdem sie sich für ihre Messer entschieden hatte, ließ sie sie aus ihren Armscheiden in die Hände gleiten, blendete die Projektile aus, die hinter ihr in den Stamm schlugen … und konzentrierte sich.
Um sie herum wurde es totenstill, bis sich die Welt nur noch in Zeitlupe zu drehen schien und die Sonnenstrahlen wie ein greller Nebel vor ihren Augen tanzten. Wieder hörte sie, wie die Armbrust gespannt, der Bolzen eingelegt wurde. Doch sie hatte sich noch nie auf ihr Gehör verlassen.
Gezuckerte Holunderbeeren.
Sie zielte, warf.
Splitternd zerbrach das bunte Glas, hinterließ nichts als Tausende winziger bunter Scherben. Ihr zweites Messer war schon unterwegs, traf den Vampir hinter dem Fenster in den Hals. Das Blut sprudelte nur so hervor, doch Elenas Aufmerksamkeit galt dem zweiten Schützen. Er hielt die Stellung, stand versteckt hinter einer niedrigen, massiven Mauer. In Sicherheit. Aber um schießen zu können, musste er seine Deckung aufgeben.
Elena kroch aus ihrem Versteck, war mit drei Schritten bei Aodhan und riss ihm den Bolzen aus dem Flügel, während er sich um seine Schulter kümmerte. »Hinter der Mau…« Sie riss den Kopf hoch, als sie Holunderduft in die Nase bekam. Einen Moment später hatte sich ein reicher, bitterer Kaffeeduft zu ihm gesellt.
Sofort ließ sie das blutige Projektil fallen, rannte zu einer Treppe, die aus dem Hof nach oben führte, und verfluchte den Umstand, dass sie nicht senkrecht starten konnte. Hinter ihr erhob sich Aodhan in die Lüfte, und sie spürte den Aufwind, erreichte den höher gelegenen Pavillon, der den Vampiren als Versteck gedient hatte. Der Duft von Kaffee war sehr stark, der von Holunderbeeren war mit Blut versetzt.
Sie hatten die Treppe auf der anderen Seite nach unten genommen.
Elena trat ein paar Schritte zurück, nahm Anlauf und war im selben Augenblick schon in der Luft. Ein Hochgefühl ergriff von ihr Besitz, ein Rausch, den sie beim Fliegen jedes Mal aufs Neue empfand. Am liebsten hätte sie sich jetzt einfach der Luftströmung überlassen, aber sie widerstand der Versuchung. Sie blickte auf die Verbotene Stadt hinunter, die von hier oben sogar noch größer aussah, ein weitverzweigtes Labyrinth aus hoch und tief gelegenen Höfen, die durch zierliche Stege und Brücken miteinander verbunden waren, und sich immer wieder gabelnden Straßen, die schließlich zu eleganten Häusern und der Privatsphäre geschlossener Tore führten.
Über dem Haupthof traf sie in der Luft mit Aodhan zusammen. Seine Schulter blutete, einer seiner Flügel war verletzt, aber dennoch zu gebrauchen. »Sie haben sich unter die Höflinge gemischt.«
»Zeit für die Jagd. Gib mir Deckung!« Sie konzentrierte sich auf ihren Geruchssinn, entschied sich für den verletzten Vampir. Er wäre der Langsamere und somit leichter zu jagen.
Wie ein buntes Band wirbelten ihr die Gerüche um die Nase.
Veilchen. Üppig. Süß. Betörend.
Holz. Frisch geschlagen.
Sommerregen. Erfrischend.
Champagner und zerwühlte Laken. Schwer. Weiblich.
Dunkelrote, tropfende Holunderbeeren.
Von Jagdfieber gepackt, flog Elena dorthin, wo der Duft der Holunderbeeren herkam. Es war beinahe zu einfach. Der Vampir war in einen pfauenblauen Mantel gekleidet, trug einen Schal um den Hals und befand sich inmitten einer Gruppe von Höflingen. Der Schal war getränkt mit seinem Lebenselixier.
Gerade wollte sie Aodhan auf ihn aufmerksam machen, da ging ein Zucken durch den Vampir, und er fiel um, als erlitte er einen epileptischen Anfall. Bestürzte Schreie ertönten, und die anderen Höflinge umschwärmten ihn wie bunte Schmetterlinge. Elena landete neben dem Vampir, rüttelte ihn leicht und rollte ihn auf die Seite, blutiger Schaum quoll ihm aus dem Mund. »Halt ihm den Mund auf!«, rief sie Aodhan zu, der neben ihr gelandet war. »Wenn er sich an seiner eigenen Zunge verschluckt …«
Aber noch unter ihren Händen wurde der Körper reglos.
Vampire konnten eine Menge aushalten, aber dieser hier war tot, ein Werkzeug, das seine Schuldigkeit getan hatte. »Was für eine sinnlose Verschwendung.« Er war noch so jung. Wahrscheinlich noch nicht einmal ein Jahrzehnt lang ein Vampir gewesen. Seinem Gesicht nach zu urteilen, musste er bei seiner Verwandlung gerade mal Ende zwanzig gewesen sein. »Eine schöne Unsterblichkeit ist das.«
Mit eisigem Blick sagte Aodhan: »Verfolge den anderen! Ich komme gleich nach.«
»Wir brauchen die Leiche.«
Er nickte kurz.
Mit der Pistole in der Hand richtete Elena sich auf, witternd hielt sie die Nase in die Luft. Der Duft hatte sich verändert, Angst und eine unterschwellige sexuelle Erregung waren hinzugekommen. Angeekelt schob sie den Gedanken beiseite und machte sich zu Fuß auf die Suche nach dem zweiten Schützen.
Er war ziemlich weit gekommen, hatte den gesamten Hof hinter sich gebracht, einen Durchgang mit Schnitzereien, der auf einen sonnigen Platz mündete, passiert, Stufen erklommen, drei Brücken überquert und war dann in einen abgeschiedenen Teil der Stadt abgetaucht. An dem einzigen Baum, der weit und breit zu sehen war, hingen keine Lampions. Hier kokettierten keine schön gekleideten Frauen mit ihren Fächern. Und Musik war auch nicht zu hören.
Stattdessen saß ein weiblicher Engel auf der Marmorbank unter dem kahlen Baum, zu seinen Füßen ein Vampir. Und dann geschah etwas völlig Überraschendes. Eben noch hatte der Vampir heftig atmend vor dem Engel gekniet, und im nächsten Augenblick schon rollte sein Kopf auf Elena zu. Unvermittelt und ungerührt hatte der Engel ihm den Kopf abgeschlagen.
»Ein Dummkopf«, murmelte Anoushka, legte den Krummdolch neben sich auf die Bank und klopfte sich den weißen Rock ab, als hätte sie gar nicht bemerkt, dass die winzig kleinen eingestickten Spiegelpailletten voller Blutspritzer waren. »Er hat dich direkt zu mir geführt.«
Elena spürte den Schädel an ihren Stiefeln, einzelne Haarsträhnen lagen auf dem schwarzen Leder. Angewidert machte sie einen Schritt zur Seite, und um Anoushkas Mundwinkel spielte ein Lächeln. »Sie werden bald keine Leute mehr haben, wenn Sie sie einfach so niedermetzeln«, sagte Elena und schätzte ab, ob sie aus diesem Winkel eine Chance hätte, Anoushkas Flügel zu treffen.
Zweifelhaft, war die Erkenntnis.
Weglaufen war auch keine Alternative. Es sei denn, sie wäre scharf darauf, eine Klinge in den Rücken gestoßen zu bekommen.
»Wenn du auf den Zerbrochenen wartest«, sagte Anoushka, »der wurde aufgehalten. Unglücklicherweise, noch bevor er Verstärkung anfordern konnte.« Der Engel erhob sich. »Hast du gehört?«
Es war unheimlich, wie schwer Stille wiegen konnte. »Warum haben Sie es auf mich abgesehen?«
»Das weißt du doch längst, willst nur Zeit schinden. Soll ich dir den Gefallen tun?« Anoushka hielt ihre Flügel eng an den Körper gepresst und griff nach ihrem Messer, immer noch bot sie Elena kein gutes Ziel. Einem Engel in den Körper zu schießen, selbst mit Viveks Spezialmunition, war ungefähr so, als würde sie mit einer Fliegenklatsche auf sie losgehen. Einzig die Flügel waren verletzlich.
Ihre Augen wanderten zu Anoushkas Messer. Sie kannte es aus ihrem Unterricht an der Gilde-Akademie. Es war ein Kukri. Die gebogene Klinge hatte eine sehr scharfe Schneide. Perfekt geeignet, um jemandem den Kopf abzuschneiden.
Und Anoushkas nächste Worte bestätigten das. »Es wird ein fabelhafter Auftritt – wenn ich mit deinem Kopf in das Kadertreffen hineinplatze. Es wird für einige Aufregung sorgen, und niemand wird mich mehr ignorieren können. Eigentlich wollte ich ja bis zum Ball warten, aber man muss flexibel sein.« Sie seufzte. »Schade, dass wir nur so wenig Zeit füreinander hatten. Vielleicht hätte ich sogar Gefallen an dir gefunden, wenn die Dinge sich anders entwickelt hätten.« Das Kukri verschwamm vor Elenas Augen.
Ihr war klar, dass die Prinzessin sehr wohl wusste, wie sie mit einer Klinge umzugehen hatte.
Sobald Anoushka ihre Flügel ein wenig ausbreitete, zögerte Elena deshalb keine Sekunde, sondern feuerte. Aber Nehas Tochter bewegte sich reptilienschnell, faltete die Flügel zusammen, bevor die Kugel sie erreichte. Mörtel rieselte aus der Wand, als das Projektil einschlug. Mist! Elena feuerte ein zweites Mal und sah voll Genugtuung, dass aus Anoushkas Wade Blut sickerte, doch ohne Notiz davon zu nehmen, griff der Engel nach etwas, das Elena für einen Gürtel gehalten hatte.
Was es aber nicht war.
Die Peitsche wickelte sich um Elenas Handgelenke wie eine Schlangenzunge, drohte ihr die Knochen zu brechen. Noch im Fallen schoss sie ein weiteres Mal. Damit lenkte sie Anoushka zumindest so weit ab, dass sie ihre Hand wieder frei bekam. Aber jetzt war das Magazin leer, und bei einer Gegnerin, die sie in Sekundenbruchteilen töten könnte, konnte sie es sich nicht leisten nachzuladen – genau davor hatte Galen sie gewarnt.
Sie ließ das unnütze Metallding fallen, nahm ein Messer zur Hand und baute sich vor Anoushka auf.
»So, so«, zischte Anoushka vor Schmerz, oben an ihrem linken Flügel hatte sie ein Brandmal. »Hat dir dieser Grobian, den Raphael so unbedingt bei seinen Sieben behalten will, also doch etwas beigebracht.«
»Ich bin eine geborene Jägerin«, antwortete sie, blieb ständig in Bewegung, um Anoushka kein Angriffsziel zu bieten.
Geschmeidig und elegant folgte der Engel all ihren Bewegungen.
Elena erinnerte sich an Venoms kleinen Kniff und versuchte, mit den Augen zu täuschen. Anoushka lachte. »Du bist wirklich clever. Schade, dass du damals noch zu jung warst, um deine Familie zu retten.«
Elena zuckte zusammen, als sei sie getreten worden, und war einen Moment unvorsichtig. Darauf hatte Anoushka nur gewartet, griff an und schnitt ihr tief in den Arm. Ohne auf die brennenden Schmerzen in ihrem Arm und ihrem Herzen zu achten, ließ Elena ein zweites Messer in die andere Hand gleiten. »Auf Leben und Tod also?«
»Hast du denn etwas anderes erwartet?« Anoushka holte mit ihrem Kukri mit unvorstellbarer Schnelligkeit aus.
Elena warf beide Messer gleichzeitig; eines blockte Anoushka mit ihrer Klinge ab, während sie sich zugleich aus der Reichweite des zweiten wand. Und dennoch gelang es ihr, auch Elenas zweitem Arm eine Schnittwunde beizubringen.
Das Aas spielte mit ihr.
Und genau das sollte sich als Anoushkas Schwachpunkt herausstellen. Das und ihr übergroßes Ego, das sie glauben ließ, sie sei würdig, ein Erzengel zu werden. »Es heißt, Ihr Blut sei reines Gift.«
»Thomas hat von mir getrunken, bevor er dir einen Schrecken eingejagt hat.« Geschickt wirbelte Anoushka ihre Klinge durch die Luft, Elena warf sich zu Boden und konnte sich gerade noch rechtzeitig zur Seite rollen, sonst hätte sie einen Teil ihres Flügels eingebüßt. »Beeindruckend.« Höhnisch verbeugte sie sich, als käme es jetzt noch auf Etikette an.
Allmählich machte sich der Blutverlust bei Elena bemerkbar. Noch war sie kampffähig. Noch. Aber bald schon würde sie nicht mehr so reaktionsschnell sein. »Thomas’ Tod war eine Spätfolge des Gifts?«
»Er glaubte, aus meinen Adern zu trinken sei eine besondere Ehre.«
»Also stand sein Tod schon fest, ganz gleich, ob er mich finden würde oder nicht?«
»Der Gute wurde ein wenig besitzergreifend.« Sie seufzte. »Männer sind solche Dummköpfe. Selbst Raphael – gleich bei eurer ersten Begegnung hätte er dich töten sollen. Nun ist er durch dich verwundbar geworden.«
In diesem Augenblick veränderte sich Anoushkas Gesichtsausdruck, und Elena wusste, dass sie dem Tod ins Auge blickte. Sie warf ihr Messer. Anoushka wich ihm aus, und es landete harmlos auf dem Boden … aber durch das Ausweichmanöver wurde Anoushka einen kurzen Moment von der Sonne geblendet. Elenas nächste beiden Messer trafen ins Ziel, schlugen ihr in die Augenhöhlen, sodass sie nach hinten taumelte.
Anoushka schrie und ließ das Kukri fallen. Elena schnappte sich das kurze Schwert an ihrem Gürtel, und ohne groß zu überlegen, stach sie es dem Engel mitten durch das Herz, streckte ihn nieder. Blut quoll aus der Wunde, tränkte das weiße Gewand; Elena öffnete ihren Geist und rief: Raphael! Dabei war es ihr völlig gleichgültig, wer sie sonst noch hörte, solange es Raphael tat.
Wutschäumend riss sich Anoushka die Messer aus den Augen und schleuderte sie von sich. Obwohl das Schwert sie am Boden festhielt, versuchte sie sich aufzurichten und streckte ihr die zu Krallen gekrümmten Finger entgegen. Geschickt wich Elena ihren Klauen aus und drehte ihr das Schwert in der Brust herum. Mit einem langen, dünnen Schrei, der Elena das Blut in den Adern gefrieren ließ, sank Anoushka wieder auf den Boden, ihre hochgiftigen Finger, ein Erbe ihrer Mutter, zitterten und öffneten sich kraftlos. Elena bezwang die aufsteigende Übelkeit und drehte die Klinge abermals herum, bis nichts mehr von Anoushkas Herz zu erkennen war.
Zwar würde es sich wieder erholen, aber im Augenblick lag sie zuckend am Boden, aus den blinden Augenhöhlen rann das Blut.
Die Augen ihrer Mutter, so schön, genau wie ihre eigenen, tot und entstellt, scharlachrot leuchten die Gefäße in dem Weiß.
Elena riss sich von ihren Erinnerungen los, kämpfte gegen den Abgrund, der sie zu verschlingen drohte und sie immer hilflos zurückließ.
»Ich bin nicht stark genug. Verzeiht mir, meine Lieblinge.«
Verzweifelt hatte sie damals versucht, die geflüsterten Worte ihrer Mutter zu überhören. In jener Nacht war sie schon fast eingeschlafen, die kleine Beth unter der Decke an sie gekuschelt. Ihre kleine Schwester hatte Angst, alleine in ihrem neuen Zimmer in dem Großen Haus zu bleiben. Aber in der Nacht schlief sie tief und fest, als wüsste sie, dass sie bei Elena sicher war. Nur Elena hatte vernommen, dass die Mutter ins Zimmer gekommen war, und Elena hatte nichts begreifen wollen.
Elena.
Der Duft von Regen und Wind ließ sie erschauern. Grenzenlose Erleichterung durchströmte sie, machte sie unvorsichtig, und mit einem Aufschrei schnellte Anoushka hoch, trat nach Elena und krallte sich in ihren vor Überraschung wehrlosen Körper.
Ein stechender Schmerz durchfuhr ihren Oberschenkel. Elena fiel auf die Knie und hörte, wie Anoushka beinahe gleichzeitig mit einem heftigen Aufprall auf dem Boden aufschlug. Kurz darauf berührte Raphael ihr Bein … nichts, sie hatte kein Gefühl mehr darin.
»Raphael«, flüsterte sie panisch. Die Taubheit breitete sich in ihrem ganzen Körper aus, ihr Herz begann zu flattern.
Er schirmte sie mit seinen Flügeln vor den Blicken anderer ab, beugte sich dann näher über sie. »Nur ein Kratzer.«
Elena wusste, dass es mehr sein musste. Hatte es gefühlt, aber sie verstand den Wink. Nickte, biss sich auf die Lippen und versuchte ruhig zu bleiben. Als sie sich ihr Bein ansah, lagen Raphaels Hände zu beiden Seiten der Wunde. Sie glühten blau.
Es jagte ihr Angst ein, auch wenn sie sicher war, dass das kein Himmlisches Feuer sein konnte. Ebenso empfand sie keinen Schmerz. Eigentlich spürte sie nur eine angenehme Wärme. Ihre Augen wurden immer größer, als eine bersteinfarbene Flüssigkeit aus der Wunde trat und die Pflastersteine ringsum färbte. »Oh Gott«, flüsterte sie unhörbar. Das Zeug verätzte selbst die Steine.
»Alles in Ordnung, Elena. Es war nur der Schreck.« Zeig keine Schwäche!
Elena ließ sich von ihm hochziehen und verdeckte die verfärbten Steine mit dem Fuß. Raphael faltete seine Flügel zusammen, und ihr wurden zwei Dinge bewusst: Zum einen hatten die Kratzwunden und die Schnitte an ihren Armen aufgehört zu bluten, zum anderen hatte Raphael den gesamten Kader mitgebracht. Neha kniete neben ihrer Tochter. Das Schwert hatte sie weit weg geschleudert, Blutsprenkel säumten die Spur. Auf ihrer dunklen Haut glänzte das Blut ihrer Tochter tiefrot, mit eisigem Blick wandte sie sich um: »Sie wird sterben.«
Elena nahm nicht einen Moment lang an, dass sie Anoushka meinte.
37
Mit ausdrucksloser Stimme entgegnete Raphael: »Elena ist jedenfalls nicht für die Misshandlung eines Kindes verantwortlich.«
Laut hörbar hielt jemand den Atem an, es war Michaela. Sie stand neben Raphael, lehnte sich jetzt aber weit zu Anoushka vor.
»Lügen«, sagte Anoushka, die mit zunehmender Heilung ihres Körpers wieder atmen konnte. »Die Jägerin wollte sich mit dem Tod eines Engels einen Namen machen.«
Sie konnte nichts dagegen tun, sie musste es einfach sagen: »Ich habe mitgeholfen, einen Erzengel zu töten. Ich habe es nicht mehr nötig, mich zu beweisen.«
Neha erhob sich, sanft und schlängelnd wie die Pythonschlangen, die sie als Haustiere hielt. »Gib mir deinen Geist.«
Auf einmal schwappte eine Woge aus salziger See über Elena hinweg, und Raphael hob seine mit Himmlischem Feuer gefüllte Hand. »Niemand rührt Elena an. Du solltest lieber Anoushkas Geist inspizieren.«
Über ihnen waren undeutliche Bewegungen in der Luft zu spüren, und dann landete Aodhan direkt neben Elena. Der Engel war so mit Blut besudelt, dass seine diamanthellen Flügel die Farbe von Rost angenommen hatten. Doch das war es nicht, was den Ort mit eisigem Schweigen erfüllte. Im Arm hielt Aodhan einen Vampir. Dem Vampir fehlten alle Gliedmaßen. Aber er lebte noch.
Elena versuchte ihr Entsetzen zu verbergen. Als sie das letzte Mal einen Vampir in einem solchen Zustand gesehen hatte, hatte es sich um das Opfer von Vampirhassern gehandelt, die ihn tagelang gefoltert hatten.
»Sire.« Aodhan legte seine Last auf den Steinen ab. »Anoushkas Meisterwächter hat mich aufgehalten. In seinem Geist steckt die Wahrheit.«
Anoushkas Gesichtsausdruck nach zu urteilen, bestand kein Zweifel an der Identität des Vampirs. Nur weil Elena die Prinzessin ganz aufmerksam ansah, erkannte sie einen Funken von Trauer und Abschiedsschmerz in ihren Augen. Anoushka empfand also tatsächlich etwas für diesen Vampir. Offenbar aber nicht genug, denn sie sprang auf die Beine, schnappte sich das Kukri und schleuderte es dem Vampir in den Hals.
Raphael fing die Klinge im Flug, aus seiner Hand tropfte Blut auf die übel zugerichtete Brust des Vampirs. »Favashi, Titus, schnappt euch seinen Geist.«
Der stille persische Engel schloss die Augen, der massige schwarze Erzengel tat es ihm gleich.
»Schuldig«, sagte Favashi leise und schaute Neha dabei an. »Selbst wenn Astaad ihr vergeben sollte, dass sie seine Mätresse ermordet, Titus, dass sie eine Bewohnerin seines Landes getötet, und Raphael, dass sie einen seiner Männer gefoltert und versucht hat, seine Gefährtin zu töten, kannst du sie nicht retten.«
»Sie hat unser oberstes Gesetz gebrochen.« Für einen Mann mit seiner Statur, dessen muskulöse Arme aus dem stahlgrauen Brustpanzer hervortraten, hatte Titus eine ungewöhnlich sanfte Stimme.
»Kindesmisshandlung«, murmelte Astaad in einem geradezu schulmeisterlichen Ton und strich sich dabei mit zwei Fingern über sein gepflegtes Bärtchen, »ist vielleicht das letzte Tabu, was wir noch haben. Wenn wir diese Grenze auch noch überschreiten, dann werden wir untergehen in unserer eigenen Dunkelheit.«
»Der Junge ist ja nicht tot«, erwiderte Neha.
»Mord oder brutale Körperverletzung, die Strafe ist dieselbe – und das Kind war dem Tod schon so nah, dass es wahrlich keinen Unterschied macht.« Der Erzengel, der dies gesagt hatte, hatte eine eiserne Stimme und goldbraune Augen. Elias. »Das Schlimme daran ist, dass sie es nicht allein getan hat. Sie hat andere gelehrt, sich am Schmerz Unschuldiger zu weiden.«
»Als Mitglied des Kaders hätte sie noch mehr Engelskinder entführt«, sagte Favashi sorgenvoll. »Die Kinder als Geiseln, um die Eltern nach Gutdünken zu lenken.«
»Das kann ich bezeugen«, erklang Titus’ weiche Stimme.
»Nicht einmal ich bin so weit gegangen«, murmelte Lijuan überrascht. Im Tageslicht waren ihre hellen Augen kaum zu erkennen. »Was hast du nur für eine Bestie in die Welt gesetzt, Neha.«
Das Folgende nahm Elena nur undeutlich wahr. Michaela holte zu einem blitzschnellen harten Schlag aus. Es dauerte einen Augenblick, bis Anoushkas Kopf fiel, das Blut spritzte aus ihrer Aorta wie aus einer Fontäne. Elenas Gesicht, ihre Kleidung, alles war nass von Blut, doch sie blieb, wo sie war. Mit einem Schrei bäumte Neha sich auf, ihre Nägel wurden immer länger, färbten sich schwarz, doch Michaela ließ sich nicht aufhalten, ließ einen Schlag auf den anderen folgen.
Erbarmen! Anoushka wurde langsam zerstückelt.
Da schlug die rasende Neha ihre Krallen in Michaelas Gesicht, auf dem sie tiefe schwarze Spuren hinterließen. Michaela stieß sie mit einer Hand brutal zurück. Die Spuren nahmen eine ungesunde, faulige Grünfärbung an … und verblassten, als hätte der Körper das Gift sogleich ausgeschieden. Als Neha wieder auf den Beinen war, war Michaelas Gesicht schon wieder geheilt, das Gift tropfte auf die Pflastersteine.
Voller Verzweiflung wandte Neha sich ihrer Tochter zu. »Sie ist alt genug, um …«
Himmlisches Feuer, kalt und blau, verschlang alles, was von Anoushka noch übrig geblieben war. Raphaels Gesichtszüge waren hart, die Strafe eines Erzengels war gnadenlos. Elena war zwar entsetzt darüber, wie schnell diese Hinrichtung vonstattenging, dem Urteil an sich aber stimmte sie zu – der Anblick des kleinen Sams, blutig und zusammengekrümmt in der Truhe, würde sie wohl für immer begleiten.
Nehas Schrei durchbrach die Stille, er war so wild und markerschütternd, als sei er nicht von dieser Welt. Die Königin der Schlangen und der Gifte fiel auf die Knie und raufte sich mit ihren Klauen die Haare. Raphael trat einen Schritt zurück und begegnete Elenas Blick. Es war an der Zeit aufzubrechen. Sie machten sich schweigend zu Fuß auf den Weg, auch Lijuan. Aus Respekt vor der Trauernden.
Auch als sie in das gleißende Licht des Haupthofes traten, hielt das Schweigen an. Zum ersten Mal erlebte Elena den Hof menschenleer. Kurze Zeit später verdunkelte sich die Sonne, von Osten her war eine riesige Wolkenbank aufgezogen. Elena schaute in den Himmel, eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken.
Das war erst der Anfang.
Elena ließ Raphael den Vortritt beim Betreten des Zimmers, Aodhan bildete den Schluss. Jason hatte sich ausnahmsweise einmal bei Tage blicken lassen, um Anoushkas Oberwächter zu den Heilern zu bringen, deshalb hatte Aodhan die beiden anderen begleiten können. »Sire«, sagte Aodhan, nachdem sich die Türen hinter ihnen geschlossen hatten. »Ich bin verletzt.« Seine Stimme hatte ganz ruhig geklungen.
Unter dem blutigen Hemd kam ein Schnitt zum Vorschein, der so tief ging, dass nicht viel gefehlt hätte und er wäre in zwei Hälften geteilt worden. »Mein Gott! Wie haben Sie es damit nur bis zu uns geschafft?«
Aodhan antwortete Elena nicht, stattdessen richtete er seine Worte an Raphael, der direkt vor ihm stand. »Ich bin heute Nacht vielleicht ein wenig langsam.«
»Bleib stehen!« Raphael legte ihm die Hand auf, die ein warmer blauer Feuerschein umgab.
Zum ersten Mal zeigte Aodhan Gefühle. Panik, Wut, Angst wechselten sich in seinen Augen ab. Aber er rührte sich nicht vom Fleck, ließ sich von Raphael berühren, und man musste schon sehr genau hinschauen, um sein Zucken zu sehen. Einen Moment später ließ ihn Raphael wieder los. Die Wunde sah längst nicht mehr so gefährlich aus.
Die Erleichterung war Aodhan anzumerken, aber Elena war sich nicht sicher, ob es etwas mit der Heilung zu tun hatte. Erst als er sich in sein eigenes Zimmer zurückgezogen hatte, ergriff sie das Wort: »Er mag nicht angefasst werden.«
»Nein«, bestätigte Raphael, zog sich das Hemd aus und wischte seine blutigen Hände damit ab.
Verwundert fragte sie sich, was – oder wer – einen Unsterblichen wohl so traumatisiert haben mochte, dass er schon bei einer zufälligen Berührung zusammenzuckte. Elena begann ihre Waffen abzulegen. »Zum Glück hatte ich reichlich Reserven dabei.« Sie besah sich ihren Oberschenkel. Zwar war die Wunde noch gerötet, aber sie brauchte keinen Verband. »Dusche?«
»Ja.«
Erst als sie beide geduscht hatten und in die wohlverdiente wohlige Wärme der Wanne tauchten, sagte sie: »Du bist der Grund dafür, dass Sam sich schneller als erwartet erholt.« Ihr Herz machte einen Hüpfer vor Stolz.
»Ich habe mich wieder ein Stück weiterentwickelt«, sagte er und machte einen beinahe verlorenen Eindruck. In der Hand, die er aus dem Wasser hob, brannte ein blauer Feuerring. »Diese Gabe ist neu, schwach … vollständig habe ich Sam damit jedoch nicht heilen können, auch wenn ich viele Male bei ihm gewesen bin.«
»Aber du hast den Heilungsprozess beschleunigt.« Sie umfing sein Gesicht mit beiden Händen, lehnte ihre Stirn an seine. »Du hast alles wiedergutgemacht, Raphael.«
»Nein«, sagte er. »Es wird nie wieder gut sein. Ich darf nie vergessen, was in der Stille aus mir geworden ist.«
Sie musste daran denken, wie schnell am heutigen Abend ein Urteil gefällt worden war, wie schmal der Grat zwischen Macht und Grausamkeit war, und musste ihm letztlich zustimmen. »Eins steht aber fest, wenn du heute Abend nicht da gewesen wärst, wäre ich jetzt tot.«
Seine Augen wurden wieder so unendlich blau, ein blaues Meer, in dem sie unterzugehen drohte. »Du darfst dich niemals von Neha berühren lassen«, sagte er und zog sie näher zu sich heran. »Anoushkas Gift habe ich nur aufhalten können, weil es noch nicht eingedrungen war. Nehas Sekret ist tausendmal giftiger.«
Elena ließ ihn gewähren, spürte seine Angst und war sich doch sicher, dass er sie niemals offen zeigen würde. Sie wusste, wie viel sie ihm bedeutete. Jedenfalls wusste sie das meistens, manchmal aber fand sie sich in der Rolle eines verschüchterten Teenagers wieder, der ängstlich darauf wartete, dass Raphael ihrer bald überdrüssig würde, dass ihre Liebe ihm nicht reichen könnte.
»So viele Albträume«, flüsterte er und fuhr ihr sanft über den Rücken, während sie sich rittlings auf ihn setzte.
»Sie hat mich verlassen«, hauchte Elena. »Sie hat mich geliebt, aber sie hat mich dennoch verlassen.«
»Ich werde dich niemals verlassen, Elena.« Als Erzengel war er Herrschaft und Macht gewöhnt, diese Seite ließ er nun durchscheinen. »Und ich werde dich auch niemals gehen lassen.«
Andere Frauen hätten gegen diese besitzergreifenden Worte sicher aufbegehrt, aber Elena hatte noch nie zu jemandem gehört. Nun endlich tat sie es, und diese Gewissheit hatte einen inneren Heilungsprozess in Gang gesetzt. »Das gilt aber für uns beide, Erzengel«, erinnerte sie ihn.
»Von dieser Jägerin in Besitz genommen zu werden – dagegen habe ich nicht das Mindeste.« Kräftig und fordernd packte er sie bei den Hüften. »Nimm mich in dir auf. Lass uns eins werden.«
Seine Worte mochten sanft sein, doch nicht sein Geschlecht, das sich jetzt in sie schob. Mit den Händen hielt sie sich an seinen Schultern fest, ließ sich auf ihn hinunter, zitternd nahm sie seine ganze Länge in sich auf, spürte, wie sie gedehnt wurde. »Raphael«, flüsterte sie an seinen Lippen, während sie ihn einschloss in sich.
Er rang nach Atem, senkte den Kopf. Mit den Lippen fuhr er ihr über den Hals, und dann spürte sie seine Zähne. Er biss zu. Gar nicht sanft. Sie hielt die Luft an, dann besänftigte er die schmerzende Stelle mit seiner Zunge, wanderte dann weiter mit dem Mund bis zu ihrem Kinn. Du hast mich nicht gerufen, als Anoushka angegriffen hat.
Sie zerwühlte ihm das Haar, biss ihm in die Unterlippe, als er seinen Kopf hob. Ich habe dich gerufen, als ich dich brauchte.
Ihre Blicke verschmolzen miteinander. Als wenn er ihr ins Herz, ja bis in die Seele hineinsehen könnte.
Aber auch sie erkannte ihn, dieses herrliche Wesen voller Macht und Geheimnisse, die so alt und gut gehütet waren, dass Elena nicht wusste, ob sie je alle erfahren würde.
Der Kuss raubte ihr den Atem, die Gedanken. Stöhnend strich sie ihm über den Bogen seines Flügels und spürte ihn in sich noch härter werden. Beinahe unerträgliche Lust erfüllte sie. Mit quälender Langsamkeit erhob sie sich, er küsste sie, bis sie nur noch Verlangen und Wolllust war.
Er zog sie ebenso langsam wieder zu sich herunter. Und sie verging fast vor Lust. »Raphael.« Seine Lippen ließen von ihrem Mund ab, und er streichelte ihre Brust, rieb über die harten Brustwarzen, die sich ihm entgegenstreckten.
Es erregte sie zuzusehen, wie er sie mit seinen erfahrenen Fingern berührte, seine Augen brannten wie zwei Fackeln. In seine Flügel gekrallt, stieß sie ihn ungeduldig. Er fuhr hoch, seine Augen glänzten fiebrig. Nun begann er die so unglaublich empfindliche Innenseite ihrer Flügel zu streicheln.
»Lass das!«, sagte sie gegen seine Lippen gepresst, doch sie konnte sich nicht gegen ihn behaupten, bei jeder seiner Berührungen wurde ihr Atem schneller.
So empfindlich, Hbeebti.
Sie kannte das Wort nicht, und dennoch verstand sie es. Er hatte etwas Wundervolles zu ihr gesagt, in einer Sprache, die sie nur noch verschwommen aus ihren Träumen kannte, die aber – ganz gleich, wie viele schmerzhafte Erinnerungen damit verbunden waren – immer nur Liebe für sie bedeutet hatte.
Elena führte seine Hand an ihre Lippen. Sanft drückte sie ihren Mund in seine Handfläche, kobaltblau loderten seine Augen auf. Und dann gab es keine Worte mehr. Nur noch Lust. Zügellose, leidenschaftliche Lust. Sie explodierte in den Armen eines Erzengels, der sie für immer halten würde.
»Mama?« Was machte denn der hochhackige Schuh ihrer Mutter hier auf den Dielenfliesen? Und wo war der andere? Mama hatte diese Schuhe schon seit … Ewigkeiten nicht mehr getragen. Wahrscheinlich war sie nur ungeduldig gewesen und hatte den Schuh von den Füßen geschleudert. Ja, so musste es sein. Aber wenn sie sie wieder trug … vielleicht würde alles wieder besser werden, vielleicht würde sie wieder lächeln, und alles wäre wieder in Ordnung.
Ihre Brust schmerzte vor quälender Hoffnung.
Sie betrat die kühle Eingangshalle des Großen Hauses, des Hauses, das ihren Vater in einen Menschen verwandelt hatte, den sie nicht mehr kannte, und näherte sich dem verwaisten Schuh. In diesem Augenblick sah sie den Schatten. Schmal, sanft in der Luft schwingend.
Sie hatte es gewusst.
Sie hatte es gewusst.
Wollte es aber nicht wissen.
Ihr Herz krampfte sich in ihrer Brust zu einem Stacheldrahtknäuel zusammen, sie schaute hoch. »Mama.« Sie schrie nicht. Denn sie hatte es gewusst.
Das Geräusch von Autoreifen auf Kies, Beth wurde von der Grundschule nach Hause gebracht. Elena ließ ihre Schultasche fallen und rannte hinaus. Sie hatte es gewusst. Aber Beth durfte es nie erfahren. Beth durfte es nie zu Gesicht bekommen. Sie schnappte sich den zarten Körper ihrer Schwester, zwängte sich an dem Mann vorbei, der einst ihr Vater war, und schoss hinaus in den strahlend hellen Sommertag.
Wünschte, sie hätte es nicht gewusst.
Am Abend des Balls kleidete sich Elena mit wilder Entschlossenheit an. Wie ein dickes schwarzes Laken lag die Vergangenheit auf ihr und drohte sie zu ersticken. Sie hätte sich am liebsten durch Schreien Luft verschafft, aber sie durfte keine Schwäche zeigen. Denn hier wäre jedes Zeichen von Schwäche Blut, das die Haie anlockte, die sich dort unten im Takt einer Musik wiegten, die die ganze Stadt erfüllte.
Hinter ihr hing das kleine Blaue, das der Schneider ihr eigens für den Ball angefertigt hatte. Es war ein Kleid, aber ein Kleid für eine Kriegerin. Den Slip und schwarze, schenkelhohe Stiefel mit Pfennigabsätzen trug sie bereits, ihre Waffen waren an ihrem Körper befestigt, es fehlte also nur noch das Kleid. Als sie es in die Hand nahm, rann ihr der Stoff wie Wasser durch die Finger.
»Du führst ja jeden Mann in Versuchung.«
Als sie einen Blick auf ihren Erzengel warf, wie er mit bloßer Brust und schwarzer Hose vor ihr stand, musste sie tief durchatmen. »Das musst gerade du sagen.« Er war eine Schönheit, der das Alter nichts anhaben konnte, eine tödliche Waffe, geschliffen durch die Jahrhunderte.
Elena stieg in das Kleid. Beim Hochziehen blieb es ihr an den Hüften hängen. Raphael kam angeschlichen, seine Augen glitten über ihren nackten Busen, und ohne weitere Vorwarnung küsste er sie stürmisch, streichelte sie … Engelsstaub kroch ihr in jede Pore.
Er wollte sie schon loslassen, als sie ihn festhielt. »Noch nicht.« Dann küsste sie ihren Erzengel so leidenschaftlich, bis jede Ader, jede einzelne Zelle mit seinem Duft gefüllt war.
»Du«, flüsterte Raphael an ihren Lippen, als sie ihn endlich freigab, »wirst mich heute Nacht noch einmal so küssen.«
Mit solchen Anweisungen konnte sie leben. »Abgemacht.«
Raphael streichelte ihre Brüste, nahm die beiden Stoffteile in die Hand, die das Oberteil ausmachten, kreuzte sie in ihrem Nacken und verknüpfte sie schließlich mit einem Knoten.
»Ich glaube«, sagte sie und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, spürte, wie sich ihre Schenkel zusammenpressten, »Make-up brauche ich heute nicht.« Wie Diamanten schimmerte der Engelsstaub auf ihrer Haut.
Nachdem der Knoten gebunden war, umfing Raphael sie und drückte ihr einen Kuss auf den bloßen Nacken. Sie hatte sich für eine Hochfrisur entschieden, die sie am liebsten mit einem Paar Stäbchen verziert hätte, aber ihr Haar war dafür zu glatt. Stattdessen steckte sie sich eine mit einer kleinen Wildblume verzierte Haarnadel in die Frisur.
Einfach. Passend. Nicht umzubringen.
Sara hatte ihr die Nadel geschenkt, als sie sie gebeten hatte, den Ring für Raphael zu bestellen. Der Bernstein stammte von einem Händler, der Elena einen Gefallen schuldig war, und dieser besondere Ring hatte zu seiner Privatsammlung gehört. Balli hatte ihr den Wunsch nicht abschlagen können, natürlich nicht, aber es musste ihm wehgetan haben, sich davon zu trennen. Als er jedoch erfahren hatte, für wen der Ring bestimmt war, hatte das natürlich alles geändert… Die Vorstellung, wie sein rundes Gesicht sich zu einem Lachen verzogen hatte, ließ Elena leicht ums Herz werden.
Raphael rieb ihr gedankenverloren über den Bauch, in seinem Ring fing sich das Licht. »Und deine Verletzungen?«
»Alles halb so wild.« Ihr Oberschenkel tat immerhin noch so weh, dass sie Anoushkas Übergriff nicht so schnell vergessen würde, aber die Schnitte an ihren Armen waren schon verschorft.
»Kannst du dich frei bewegen?«
Elena wirbelte herum, griff nach den Messern, die für jedermann sichtbar in dem geschmeidigen Leder ihrer Armscheiden steckten. Zur Hölle mit dem Protokoll. Die Röcke ihres Kleides waren weit genug, vollzogen jede ihrer Bewegungen nach. In hohem Bogen warf sie Raphael das Messer zu.
Mühelos fing er es auf und warf es ihr zurück. Sie versenkte es in der Armscheide, dann probierte sie, ob es ihr wohl schwerfallen würde, an die am Oberschenkel fixierte Pistole zu gelangen. »Kein Problem.«
Als Elena sich erhob, war sie wieder vollkommen von dem Stoff umhüllt, alle Schlitze raffiniert verborgen. »Was meinst du, werde ich meine Waffen heute Abend brauchen?«
Raphaels unverblümte Antwort war ein Schock für sie. »Lijuans Wiedergeborene geistern durch die Säle.«
38
Der Ball fand im Freien auf einem gewaltigen Hof statt, der von niedrigen, hell erleuchteten Gebäuden umgeben war, in denen üppig aufgetafelt worden war und sich auch die Musiker befanden – die Luft war angefüllt mit dem hypnotisierenden Klang der Ehru. Elena konnte nicht umhin, die atemberaubende Einfachheit ihrer Umgebung zu bewundern: Die hübschen quadratischen Pflastersteine waren zu Ehren der Gäste geschrubbt worden und glänzten jetzt in hellem Beige, das gesamte Geviert wurde von Lämpchen erleuchtet, die in tausend verschiedenen Farben strahlten und deren Lichter durch die Sterne am Himmel vervielfacht wurden.
Kirschbäume in voller Blüte – wie ein Wunder – breiteten ihre üppigen rosa Blütenzweige schützend über die Höflinge, wie Diamanten glitzerten die Lichterketten, die um ihre Äste geschlungen waren. Elena pflückte sich eine einzelne makellose Blüte aus dem Haar, die herabgefallen war. »Ganz lässt sich die Wirklichkeit nicht verbergen«, sagte sie und nahm einen Hauch von Moder und Tod wahr, »aber nach außen hin ist es schön wie in einem Märchen.«
»Über den Hof einer Königin spricht man. Der Hof einer Göttin jedoch bleibt unvergesslich.«
Flügel so weit das Auge reichte; ein Engel nach dem anderen setzte anmutig zur Landung an, ihre wunderbare Schönheit wurde durch die elegante Kleidung noch unterstrichen. Sogar die Vampire, die ja selbst recht ansehnlich waren, starrten sie wie verzaubert an. Die wenigen Menschen, die geladen oder als Begleitung erschienen waren, bemühten sich, sich ihre Bewunderung nicht zu sehr anmerken zu lassen – vergeblich.
Vielleicht hätte Elena genauso reagiert, wenn sie nicht gerade selbst neben dem unwiderstehlichsten Mann gestanden hätte. Raphael hatte sich an diesem Abend für Schwarz entschieden, der strenge Ton brachte die Farbe seiner Augen ganz besonders zum Leuchten. Er war überirdische Schönheit und kriegerischer Herrscher in einem, jemand, der sich nicht scheuen würde, Blut zu vergießen.
»Mit ihrer Anwesenheit habe ich eigentlich nicht gerechnet.«
Als Elena seinem Blick folgte, erkannte sie Neha, die einen schmucklosen weißen Sari trug und ihr Haar zu einem strengen Knoten geschlungen hatte. Hasserfüllt bohrte sich der Blick ihrer dunklen Augen in Michaela.
Michaela schien das nicht zu kümmern, ein knöchellanges Kleid in den Farben der untergehenden Sonne umschmeichelte ihren Körper. Sie hatte sich bei Dahariel untergehakt, auf dessen Gesicht sich noch nicht einmal der Anflug eines Lächelns zeigte. Er wirkte unbeteiligt wie ein Raubvogel, an den nur noch die Flügel erinnerten. Doch gab es keinen Zweifel, dass zwischen den beiden eine sexuelle Spannung herrschte.
Elena wandte die Augen ab, und ihr Blick kreuzte sich mit dem Nehas, die gerade in diesem Augenblick zu ihr und Raphael herüberschaute. Elena erstarrte. Neha war eine eiskalte Kreatur ohne Seele und Gefühle, älter als das ganze Menschengeschlecht. Elena gefror das Blut in den Adern, als sie sich ihnen, entgegen ihrer sonstigen Grazie, mit unbeholfenen Schritten näherte.
Flügel raschelten, Aodhan und Jason tauchten aus dem Dunkel auf, flankierten sie.
Neha sah niemanden außer Raphael. »Ich vergebe dir, Raphael«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme. »Anoushka hat unser wichtigstes Gesetz gebrochen. Dafür musste sie sterben.«
Schweigend sah Raphael zu, wie Neha sich umdrehte und sich ohne ein weiteres Wort zu einer Gruppe von Vampiren begab, deren dunkle Augen und Haut von einem uralten heißen Land und gefährlicher Hinterlist und Gewalt kündeten, gleich den Tigern, die die Wälder dieses Landes durchstreiften.
»Was sollte das bedeuten?«, fragte Elena und nahm die Hand wieder von der Pistole.
»Alles und nichts.« Neha wird sich wie ein Erzengel verhalten, aber der Hass vergiftet ihre Seele.
Elena hatte gar nicht gemerkt, dass sie die ganze Zeit den Atem angehalten hatte. Nun ließ sie die Luft erleichtert wieder entweichen und ihre Blicke zu den Treppenstufen schweifen, die ganz offensichtlich zu einem Thron hinaufführten. Lijuan saß auf einem kunstvoll geschnitzten Stuhl aus Elfenbein. Neben ihr standen drei Männer: Xi mit seinen rot gemusterten Flügeln auf grauem Grund, ein chinesischer Vampir mit glattem Gesicht und der Wiedergeborene, der Elena und Raphael am ersten Abend den Tee serviert hatte. Doch nun war er nicht mehr der Einzige seiner Art.
Um die Menge herum standen sie, eine stumme Armee, die mit ihren Augen alle Bewegungen der Anwesenden verfolgte. Ein seltsamer Glanz lag in ihrem Blick, ein Hunger, der Elenas Instinkte in Alarmbereitschaft versetzte. Fleisch, dachte sie, und rief sich noch einmal den Bericht ins Gedächtnis zurück, den sie in Jessamys sonnigem Klassenraum gelesen hatte: Sie ernährten sich von Fleisch. »Ihre Wiedergeborenen umzingeln uns«, sagte sie und wunderte sich, dass die anderen Gäste die Verwesung und den Moder geschändeter Gräber nicht riechen konnten.
Raphael nahm seine Augen keinen Moment von Lijuan, doch seine Worte verrieten ihr, dass ihm trotzdem nichts entging. »Ein Engel ohne Flügel ist ein Krüppel, eine leichte Beute.«
Elena atmete tief durch, Bilder von dem wilden Garten in der Abendsonne drängten sich in ihren Geist, verschwommen sah sie Illiums Schwert vor Augen, das Michaelas Wachen die Flügel amputierte. Instinktiv zog sie ihre eigenen Flügel noch enger an den Körper, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Thron zuwandte.
Um festzustellen, dass Lijuan sie jetzt direkt ansah.
Selbst noch aus dieser Entfernung spürte Elena das Bezwingende ihres Blicks. Und es überraschte sie nicht im Mindesten, dass die gesamte Gesellschaft verstummte, als Lijuan sich erhob.
»Heute Abend«, sagte Lijuan, und ihre Stimme übertrug sich mühelos mittels unheimlicher, warmer Luftströme, »feiern wir den Beginn einer neuen Ära, die Erschaffung eines Engels.«
Die Köpfe der Anwesenden folgten Lijuans Blick, bis Elena ihre Aufmerksamkeit spürte. Neugier, Argwohn, Böswilligkeit schlugen ihr entgegen. Und … Die Haare in ihrem Nacken stellten sich auf. Das Böse. Es strich über sie hinweg, ein vergifteter Kuss, den sie bis zum letzten Atemzug bekämpfen wollte. Aber sie blieb unbewegt, still. Sollten sie doch ruhig glauben, sie merke nichts, sei nicht vorbereitet.
»Elena«, fuhr Lijuan fort und stieg die Stufen zu ihr hinab, »ist eine einzigartige Schöpfung, eine Unsterbliche mit dem Herzen einer Sterblichen.« Die Menge teilte sich vor ihr … nur ein von Ehrfurcht ergriffenes Menschen-Vampir-Paar räumte den Weg nicht schnell genug. »Adrian.« Ein kaum hörbares Flüstern.
Der wiedergeborene Mann – der, dessen Teint an die afrikanische Savanne erinnerte – riss der Frau das Herz heraus, schlug ihr fast gleichzeitig die Reißzähne in den Hals und zerfetzte ihr die Halsschlagader. Die Frau stand noch, als Adrian sich bereits die Kehle des Vampirs vornahm, den Unglückseligen mit bloßen Händen in Stücke riss, bis er nur noch ein Haufen rohes Fleisch war. Die tote Frau war neben ihm zusammengebrochen, Dampf stieg von den warmen Eingeweiden auf; einen Moment zögerte Adrian, als sei er versucht, sich das Blut von den Händen zu lecken, bevor er schließlich ein Taschentuch hervorholte und sich damit säuberte.
Als sei nichts geschehen, ging Lijuan an dem niedergemetzelten Paar vorbei und blieb schließlich vor Elena stehen. »Manche würden sagen, dass dieses menschliche Herz eine Schwäche ist, die Raphaels Geschenk der Unsterblichkeit zunichtemacht.«
»Lieber ein menschliches Herz als ein kaltes Herz, das gar nichts fühlt«, sagte Elena leise.
Mit einem beinahe unheimlichen, mädchenhaften Lächeln antwortete Lijuan: »Schön gesagt, Elena. Schön gesagt.« Sie klatschte einmal kurz in die Hände, ein wortloser Befehl. »Um diesen Augenblick, diese Begegnung zwischen dem Neuen und dem Althergebrachten zu feiern, möchte ich dir ein Geschenk machen. Es ist so besonders, so einzigartig, dass ich es selbst vor meinem eigenen Hofstaat versteckt gehalten habe.«
Noch immer brannte der Schmerz von Lijuans letztem Geschenk ihr in der Seele, aber Elena nahm allen Mut zusammen, wich keinen Millimeter, denn sie wusste, dass sie diese Prüfung bestehen musste – sonst würde sie bis an ihr Lebensende nur als Raphaels ehemals sterbliches Spielzeug gelten.
»Philip.« Lijuan richtete ihren Blick auf den chinesischen Vampir mit dem herzzerreißend schönen Gesicht.
Er verschwand daraufhin in der Menge.
»Es dauert nur einen kleinen Moment.« Lijuan wandte sich Raphael zu. »Wie geht es Keir? Ich habe ihn schon seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen.«
Es war ein Versuch, Konversation zu machen, aber er ging völlig daneben, denn Lijuan wollte eine Rolle spielen, die ihr nicht lag. Elena hörte zwar, dass Raphael ihr antwortete, aber ihre Augen waren auf die Stelle gerichtet, an der Philip verschwunden war. Mit dumpfen Schlägen hörte sie ihr Herz gegen die Brust hämmern, eine Schweißperle rann ihr den Rücken hinab.
Mit jedem Herzschlag spürte sie das Böse näher kommen, bis sie es förmlich auf der Zunge schmecken konnte.
Die süße Fäulnis, die den Wiedergeborenen anhaftete.
Ein Gewürz, dessen Namen sie nicht kannte, ein Hauch von Ingwer, goldenem Sonnenlicht.
Elena wusste, was ihr bevorstand, noch ehe Philip mit dem attraktiven Mann mit dem rotbraunen Haar zurückkehrte, dessen dunkelbraune Augen jede Frau um den Verstand gebracht hätten. Vor seiner Verwandlung war er ein Filmstar gewesen. Junge Mädchen hatten Poster von ihm in ihren Zimmern hängen gehabt, kichernd seinen Namen geflüstert.
Er sah ihr in die Augen.
»Komm, kleine Jägerin. Koste.«
Heiseres Geflüster in ihrem Kopf, tausend Schreie zu einem einzigen vereint. Lijuan sagte etwas zu ihr, aber Elena hörte nur diesen Singsang, der sie nun schon seit zwei Jahrzehnten quälte.
»Lauf, lauf weg.« Lachend äffte er Aris verzweifelten Versuch, ihr zu helfen, nach. »Sie wird nicht weglaufen. Siehst du, es gefällt ihr.«
Ein Abgrund tat sich vor Elena auf, der sie zu verschlingen drohte. Das Monster lachte sie mit seinen Augen aus, ein widerwärtiges Vergnügen lag darin – als wären sie für alle Zeiten aneinandergekettet, als hätte er einen Anspruch auf sie. Ihre Beine zitterten, das Herz blieb ihr stehen, im Geist war sie wieder in der Küche ihres Elternhauses, kroch rückwärts auf den blutigen Fliesen, immer wieder rutschten ihr die Hände weg – für immer eine Gefangene. Kalt und nass war der Boden, aber Aris Augen …
Regen peitschte in ihre Gedanken, rein und unverdorben, der Duft der tosenden See, der stürmischen Winde. Elena, ich bin bei dir.
Mit einem Schlag wurde ihr klar, dass sie nicht allein in dieser Küche war. Nicht mehr. Beseelt von diesem Gedanken trat sie von dem Abgrund zurück, der sich vor ihr aufgetan hatte, und kehrte in die Gegenwart zurück.
Vor ihr, direkt neben Lijuan, stand der Widerling Slater Patalis.
Der Ausschnitt seines T-Shirts zeigte deutlich, dass seine Haut glatt und makellos war – von der hässlichen Y-förmigen Narbe, die ihm der Pathologe der Gilde bei der Autopsie beigebracht hatte, war nichts mehr zu sehen. Immer wieder hatte sich Elena das Video angesehen, bis sie sich davon überzeugt hatte, dass Patalis wirklich tot war. Für das, was er ihr genommen hatte, war sein Tod eine viel zu milde Strafe gewesen, aber immerhin war es eine Strafe. Lijuan hatte kein Recht, das ungeschehen zu machen, kein Recht, aus dem Tod ihrer Schwestern einen Zeitvertreib zu machen.
Wut stieg in ihr auf, rein und klar. Noch nie im Leben hatte Elena eine solche Wut verspürt. Das Monster stand grinsend vor ihr, während ihre Schwestern unter der Erde lagen und ihre tote Mutter nur noch als ein leise sich im Wind bewegender Schatten in den Katakomben ihrer Erinnerung weiterlebte.
Trauer und Schmerz hatten sie hart gemacht. »Aodhan, würde es Ihnen etwas ausmachen, kurz niederzuknien?«, fragte Elena. Sie war überzeugt davon, dass Lijuan ihre Absicht nicht erahnen würde, ihr eine Tat wie diese nicht zutrauen würde.
Anmutig kniete der Engel nieder, neigte den Kopf … ermöglichte es ihr, eines der Schwerter zu ziehen, die eng an seinem Rücken lagen. Elena zog eine der tödlich scharfen Klingen aus der Scheide und schlug Slater Patalis mit einem einzigen Streich den grinsenden Kopf ab – der Kummer so vieler Jahre hatte ihr ungeahnte Kräfte verliehen.
Eine Fontäne aus Blut traf sie ins Gesicht, färbte die Kirschblüten schwarz, sie aber stieß ihm noch einmal das Schwert ins Herz, zermalmte es. Als sie die glänzend rote Klinge herauszog, fiel der zuckende Körper zu Boden. »Wird sie ihn aus diesem Zustand wiedererwecken können?«, fragte sie Raphael. Dabei verriet ihre Stimme nicht die geringste Gefühlsregung. Slater verdiente kein Mitgefühl, das Einzige, was er verdiente, war der Tod.
»Vielleicht.« Ein blauer Feuerreif tanzte in Raphaels Hand. »Aber hiermit müsste sein Tod endgültig sein.«
Und von dem schrecklichsten Vampirmörder aller Zeiten blieb nichts weiter übrig als ein Häufchen dunkler grauer Asche.
Alles hatte nur Sekunden gedauert. Immer noch mit dem Schwert in der Hand sah Elena Lijuan an. »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte sie in die Stille hinein, »aber das Geschenk hat mir nicht gefallen.«
Gespenstisch flatterte das Haar des chinesischen Erzengels, als er vortrat, nur durch Slaters Überreste von Elena getrennt. »Du hast mir den Spaß verdorben.«
»Wenn der Tod das Einzige ist, was dir noch Freude macht, solltest du dich vielleicht aus der Welt der Lebenden zurückziehen«, sagte Raphael mit schneidender Stimme.
Lijuan sah ihn an, ihre Augen waren so blass, dass weder Iris noch Pupille zu erkennen waren, nur ein perlweißes Meer. »Nein, die Zeit des Schlafens ist für mich noch nicht gekommen.« Mit dem Handrücken strich sie dem dunkelhäutigen Wiedergeborenen über das Gesicht. »Adrian ist auch noch nicht bereit zu sterben.«
Macht erfüllte die Luft, bis Elena die Spannung auf der Haut spürte. Raphael begann zu leuchten, Aodhan erhob sich und zog das zweite Schwert aus der Scheide, Jason löste sich aus den Schatten, und sie wusste, dass dieser Kampf sie alle das Leben kosten konnte. Der Tod ist ein geringer Preis, um Lijuan Einhalt zu gebieten, Raphael.
Du bist so tapfer, meine Jägerin. Er küsste sie.
Nachdem sie Aodhan das Schwert zurückgegeben hatte, zog sie die Pistole. Zwar würde sie damit keinen Vampir ausschalten können, aber möglicherweise einen Engel, wenn auch nur für Sekundenbruchteile. Dann spürte sie zu Raphaels Rechter ein Aufflackern von Macht. Macht, die sie schon einmal gespürt hatte. Michaela. Stand neben Raphael.
Noch ein Aufflackern von Macht. Dann noch eins und noch eins und noch eins.
Elias, Titus, Charisemnon, Favashi, Astaad.
Was auch immer die Erzengel bewogen hatte, sich mit Raphael gegen Lijuan zu verbünden, ihre vereinte Macht verströmte eine Glut, die Elena aus dem Kreis gedrängt haben würde, hätte sie nicht zwischen Raphael und Aodhan gestanden.
Ein kalter, eiskalter Wind. Macht, unvorstellbare Macht. Gezeichnet vom Tod.
Lijuan lachte. »Ihr würdet euch also alle gegen mich stellen«, stellte sie vergnügt fest. »Ihr habt ja keine Ahnung, was ich bin.«
Lijuans Macht war kalt und eisig, im Gegensatz zu der Hitze der anderen. Zu ihrem Entsetzen musste Elena feststellen, dass Raphael recht gehabt hatte, der älteste Erzengel war möglicherweise wahrhaftig unsterblich geworden, hatte den Tod hinter sich gelassen. Da begegnete sie Adrians Blick.
Feuchte, dunkle Augen schauten sie geduldig an … unendlicher Schmerz lag darin. Er wusste es jetzt, wusste, was er war. Doch trotz allem spürte sie seine Ergebenheit, es tat Elena in der Seele weh. Adrian trat hinter Lijuan, strich ihr das Haar aus dem Nacken. Der Erzengel schien es nicht zu bemerken, vielleicht war er als ihre Schöpfung so sehr Teil von ihr, dass sie seine Nähe einfach hinnahm.
Als Adrian seinen Kopf neigte und seine Lippen auf Lijuans Hals drückte, hielt Elena es einfach für eine makabere Geste, einen Kuss zu Ehren der Göttin. Dann aber sah sie eine einzelne Träne auf seiner mitternachtsfarbenen Haut glitzern – er liebt sie, dachte Elena voller Mitleid, aber gefangen in der Stummheit, ihrem Geschenk an ihn, sah er auch die Gräuel in ihr. Noch bevor die Träne sein Kinn erreicht hatte, fing Lijuan an zu bluten. Zwei dünne rote Rinnsale schlängelten sich ihren Hals hinab, wurden von dem durchsichtigen Stoff ihres Kleides aufgesogen.
Lijuan geriet ins Taumeln. »Adrian?« Vor lauter Verblüffung klang sie fast menschlich. »Was machst du denn da?«
»Er tötet dich«, sagte Raphael. »Du hast deinen eigenen Tod erschaffen.«
Sie versetzte Adrian einen solchen Stoß, dass er gegen Favashi stieß und sie mit zu Boden riss. Der persische Engel war Sekunden später schon wieder auf den Beinen, aber der Wiedergeborene blieb leblos liegen.
»Ich bin der Tod«, sagte Lijuan, und obwohl ihr das Blut nach wie vor in das Kleid rann, war ihre Stimme schon wieder kräftig. »Ihr habt kein Recht, hier in diesem Land zu sein. Wenn ihr es sofort verlasst, werde ich euch verschonen.«
Elias schüttelte den Kopf. »Deine Wiedergeborenen sind ansteckend.«
Elena folgte seinem Blick, und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sie sah, dass die Frau, die Adrian umgebracht hatte, aufzustehen versuchte. Ihre Finger scharrten über die Pflastersteine, während ihr die Leute ringsum ungläubig zusahen.
Um Gottes willen.
39
»Ich werde nicht zulassen, dass sich die Seuche auch über meine Länder ausbreitet.« Neha, Lijuans unmittelbare Nachbarin, trat als Letzte in den Kreis, endlich hatte ihr Zorn ein Ventil gefunden.
Lijuan machte eine rasche Bewegung mit der Hand, und ohne Ausnahme begannen alle Erzengel aus Schnitten an Gesicht und Brust zu bluten. »Vielleicht ist es an der Zeit, dass die Welt nur noch einen Erzengel hat.«
Elena fragte sich, ob die anderen Engel bemerkten, dass auch Lijuan nach wie vor blutete. Und dass ihr Blut sich langsam dunkel, fast schwarz färbte. Elenas Blick wanderte zu Adrians leblosem Körper hinüber. Einen Vampir schuf man, indem man ihn mit dem Gift eines Engels vollpumpte. Wenn alles seinen gewohnten Gang ging, dann wandelte das Gift den Menschen in einen Vampir, und dadurch wurde das Gift für Engel und Vampir gleichermaßen ungefährlich. Aber – Was geschah mit dem Gift, wenn ein Vampir von den Toten erweckt wurde? Wenn er ein Wiedergeborener war?
Raphael streifte sie mit dem Flügel. Anscheinend wurde das Gift selbst auch wiedergeboren. Und damit noch stärker, tödlicher.
Wird es sie töten?
Nein. Aber es wird es einfacher machen, sie zu besiegen. Sanft berührte er ihren Geist. Du würdest diesen Kampf nicht überleben. Zieh dich aus der vordersten Front zurück und nimm die anderen mit.
Elena stockte das Herz. Wenn du stirbst, dann zwinge ich sie, dich von den Toten zurückzuholen.
Das würdest du mir nicht antun, Elena. Eine frische Meeresbrise durchflutete ihre Sinne. Außerdem habe ich nicht die Absicht zu sterben – wir haben noch nicht im Himmel getanzt.
Dann war er aus ihrem Kopf verschwunden. Sie unterdrückte ihre Angst und ihren Schmerz und wandte sich Aodhan zu, um Raphaels Wunsch zu entsprechen. Zusammen mit Jason und überraschenderweise auch Nazarach und Dahariel gelang es ihnen, die Höflinge mit Feuer in die Flucht zu schlagen. Nur die Wiedergeborenen blieben zurück.
»Tötet die Wiedergeborenen«, befahl Elena, ihr Mitgefühl hatte sie in der hintersten Ecke begraben. »Wenn Lijuan sie erst einmal ruft …«
»Lijuan könnte Raphael und den übrigen Kader ausschalten.« Jason blickte auf die Pistole in Elenas Hand. »Köpfen geht am schnellsten.« Und er zog ein glänzend schwarzes Schwert hinter dem Rücken hervor, das ihr bis dahin noch gar nicht aufgefallen war. »Nimm du dir ihr Herz vor, Elena. Wir kümmern uns um den Rest, bis sie ein für alle Mal tot sind.«
»Einverstanden.« Elena eröffnete das Feuer. Es stellte sich heraus, dass die Kugeln, die dafür vorgesehen waren, Engelsflügel zu pulverisieren, bei den Herzen der Wiedergeborenen – Menschen wie Vampiren – nicht ganz so viel anrichteten wie herkömmliche Munition, aber sie taten ihren Dienst. Als sie alle Kugeln verschossen hatte, wechselte sie zu ihren Messern.
Grausam und auch traurig war die Aufgabe. Ohne Lijuans Anweisungen wussten die Wiedergeborenen nicht, was sie tun sollten. Viele standen nur unentschlossen herum. Ein paar von ihnen versuchten wegzulaufen, aber selbst das taten sie ohne große innere Überzeugung. Elena fühlte sich überhaupt nicht wohl in ihrer Haut, aber sie wusste, dass all diese Wesen getötet werden mussten. Denn wenn die Wiedergeborenen erst einmal damit anfangen würden, auf Nahrungssuche zu gehen, wenn sie ihre Opfer zwar tot, aber doch als Ganzes hinterließen, würden diese wiederauferstehen. Und eine todbringende Welle von Wiedergeborenen würde die Erde überschwemmen.
Wenn doch nur einer von ihnen es einsehen würde …
Als sie das nächste Mal das Messer einsetzte, blickte sie in ein Paar blauer Augen. Und darin las sie nur Dankbarkeit, als ihr Messer in das Herz traf. Kurz darauf schlug Jason dem Wiedergeborenen den Kopf ab, und die Glut seines schwarzen Schwerts verwandelte ihn binnen kürzester Zeit in Asche. Elena starrte auf die Klinge und auf den Engel der Dunkelheit.
»Es ist vollbracht«, sagte Aodhan und steckte sein Schwert zurück in die Scheide; alle Wiedergeborenen, die Jason nicht eingeäschert hatte, hatte er zerstückelt.
Nazarach und Dahariel hatten ihre eigenen Methoden, doch das Ergebnis war ein Ort, an dem es, abgesehen von ihrem kleinen Grüppchen und dem Kader, kein Leben mehr gab.
»Ich glaube, wir sollten uns zurückziehen.« Nazarach hielt ihr seine Hand hin. »Ein Tanz zum Abschied?«
»Ich kann allein nach Hause fliegen.« Lieber würde sie sich die Gurgel durchschneiden, als irgendwo mit ihm hinzugehen.
Der Engel mit den Bernsteinaugen verbeugte sich höflich. »Dann hoffe ich, dass Sie mir beim nächsten Mal einen Tanz gewähren.« Er erhob sich in die Lüfte.
Dahariel wartete noch, bis Nazarach verschwunden war, und sagte dann: »Wenn Raphael das hier überlebt, sagt ihm, er kann den Vampir haben, den er mir unbedingt abkaufen wollte. Der Junge nützt mir nichts mehr, er ist zu gebrochen.« Die Worte waren noch nicht ganz verklungen, da hatte er sich schon in die Lüfte geschwungen.
»Wir müssen von hier verschwinden.« Elena verstand ihn kaum, denn Jason stieß die Worte mit zusammengepressten Zähnen hervor.
Als sie einen Blick zurückwarf, sah sie nur einen weißen Feuerball, ihre Versuche, Raphael mit ihrem Geist zu erreichen, prallten an einer elektrostatischen Mauer ab. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Aber sie verließ den Platz trotzdem, denn sie hatte es ihrem Erzengel versprochen. Und er würde es ihr übel nehmen, wenn er überlebte – und er würde auf jeden Fall überleben – und dann feststellen musste, dass sie tot war. Während Jason, Aodhan und Elena ihre Schritte beschleunigten, spürten sie die Macht hinter sich immer größer werden, ein Flammenmeer, das ihnen bereits den Rücken versengte.
Jason und Aodhan liefen im Eilschritt neben Elena die Stufen einer Treppenflucht hoch. »Es ist nicht hoch genug!«, schrie sie und wusste, dass sie von hier aus nicht in die Luft kommen würde.
Eine Hand griff ihr unter den linken, die andere unter den rechten Arm. Im Nu klappte Elena die Flügel ein. Da trat auf einmal eine ungeheuer große Stille ein. Energie wurde abgezogen, hinterließ ein Vakuum, bevor sie sich wieder ausdehnte, und sie wären fast von diesem mächtigen Vakuum zermalmt worden. Aber irgendwie gelang es den beiden Engeln trotzdem, sich dagegen zu behaupten und sich mit Elena zusammen in die Luft emporzuheben.
»Lasst mich los!«
Aber die Engel warteten noch ein wenig damit, sie alleine fliegen zu lassen. Instinktiv breitete Elena ihre Flügel aus, die Spitzen krümmten sich, um der unter ihr lauernden Todesgefahr zu entkommen. Gefährliche Hitzewellen schlugen ihnen entgegen. Elena hörte Schreie, als menschliche Behausungen in Flammen aufgingen, sah, wie Vampire zu Fall kamen, wie fliehende Engel immer höher stiegen. Doch Jason und Aodhan blieben stoisch an ihrer Seite, obwohl sie so schwach und so langsam war.
Feuer leckte ihr am Hals. Das Flammenmeer war direkt hinter ihnen. »Runter!«, schrie sie. »Runter!«
Die Welle überholte sie mit tonnenschwerer Wucht, zerquetschte ihnen die Flügel und schmetterte sie mit ihrer ganzen Gewalt auf den Boden.
Lijuan umzubringen war unmöglich, das war Raphael schon gleich nach ihrer ersten Angriffswelle klar gewesen. Sie hatte Leben und Tod miteinander vereint, ihr gelang der Spagat zwischen den Welten.
Immer noch lief ihr das Blut den Hals hinunter, schwarz und zähflüssig, doch ihre Macht wuchs unaufhörlich. Ihre Flügel leuchteten im Widerschein des blendenden Lichts, bis sie ganz in ihm aufgegangen waren. Der Kader hielt mit ihrem Machtzuwachs mit, zügelte aber dennoch die Lichtwelle, die die Welt zerstören konnte. Schon jetzt hatten vermutlich Tausende den Tod gefunden. Wenn der Kader jetzt aufgab und Lijuan ihre Wut mit ungeminderter Kraft entlud, würde die Zahl der Todesopfer immer weiter wachsen.
Doch nicht aus diesem Grund kämpften Raphaels Mitstreiter. Menschenleben bedeuteten den meisten von ihnen wenig. Sie kämpften um ihr eigenes Leben und weil Lijuan einen Fehler gemacht hatte. Noch immer spürte Raphael ihren Schock, als Adrian den unglückseligen Vampir, der so gebannt von Lijuan war, in Stücke gerissen hatte. Das Blut und der Tod waren nichts Neues. Aber die Macht, die sie als Alleinherrscherin über ihre Wiedergeborenen hatte, und mit welcher Leichtigkeit diese die Vampire niedergemetzelt hatten … kein Erzengel wollte einer solchen Armee gegenübertreten. Und dass diese Armee eine Seuche war, die sie eines Tages alle ausrotten würde – all dies hatte sie in ihrem Entschluss bestärkt, gemeinsam den Kampf gegen Lijuan aufzunehmen.
Man kann mich nicht aufhalten. Niemand wird mich aufhalten.
Lijuans klare, von keinem Irrsinn getrübte Stimme hallte in ihren Köpfen wider, und das war noch viel verstörender, als Urams Grausamkeiten es damals in New York gewesen waren. Beijin stand in Flammen. Und irgendwo unter den Trümmern lag Elena. Verzweifelt kämpfte Raphael gegen den Wunsch an, sie zu suchen. Doch er musste die Stellung halten. Denn seine Kriegerin mit dem allzu menschlichen Herzen würde nichts anderes von ihm erwarten.
Wieder und wieder wirkten ungeheure Kräfte auf ihn ein, bis schließlich eine Sehne in seinem linken Flügel nachgab. Nur Favashi, die noch jünger als er war, zeigte ähnliche Ermüdungserscheinungen.
»Dann wird sie dich töten. Sie wird dich sterblich machen.«
Raphael war schwächer, als er eigentlich hätte sein sollen, gleichzeitig aber auch stärker. Aus Lijuans Gesicht war jede Menschlichkeit gewichen, nur noch namenlose Dunkelheit stand in ihm. »Jetzt«, sagte Raphael zu den sie umringenden Erzengeln, Lijuan selbst hörte schon längst nichts mehr. Jetzt!
Wogen der Macht konzentrierten sich auf ein einziges Ziel. Lijuan krümmte sich unter dieser Macht, und einen kurzen Augenblick lang war der Himmel taghell erleuchtet. Als die Nacht zurückkehrte, war Zhou Lijuan verschwunden, die Verbotene Stadt nur noch ein schwarzer Krater, Beijin lediglich eine Erinnerung in den Köpfen sterblicher und unsterblicher Seelen.
Und die Qualen der Sterbenden wurden nur noch von der Stille des Todes übertönt.
Begraben unter den Flügeln seiner beiden Sieben fand er sie. Jason und Aodhan waren bewusstlos, ihre Beine unnatürlich verdreht. Aber solche Verletzungen waren für Unsterbliche ihres Alters nicht weiter schlimm. Sie würden schon durchkommen. Elena aber war wesentlich jünger.
Allerdings hatte sie die Zähigkeit einer geborenen Jägerin.
Raphael spürte ihren beharrlichen Überlebenswillen, als er ihren geschundenen Körper schließlich ganz vor sich sah. Ihre Hände waren aufgerissen, im Gesicht hatte sie Prellungen, aber der Rest ihres Körpers … Als er sie mit den Händen abtastete, konnte er nur ein paar gebrochene Knochen feststellen. Unbedeutend. Selbst für einen solch jungen Engel. Eigentlich hätte er sie weiterschlafen lassen sollen, aber er konnte die Stille nicht ertragen.
Elena.
Ihre Lider flatterten.
Da er seine Kräfte im Kampf gegen Lijuan fast ganz aufgebraucht hatte, konnte er ihre Heilung nicht beschleunigen. Es würde einige Zeit dauern, bis sie sich ganz erholt hatte.
Meine Jägerin.
Aus blassen silbernen Augen sah sie ihn an.
Und während er sie an sein Herz drückte, dachte er, welch unendliche Qual die Liebe doch war.
EPILOG
Raphael war nicht sonderlich überrascht, als vor ihm im klaren Regenwasserpool Lijuans Gesicht auftauchte. Er kniete am Rand und blickte hinein, während Elena in eine Decke gehüllt ihr Gesicht in die Sonne hielt. Aber sobald Lijuans Abbild auf dem Wasser aufgetaucht war, hatte sie zu ihm hinübergeschaut, auch wenn sie unmöglich etwas gesehen haben konnte.
»Ich lebe, Raphael.« Lijuans Stimme war erfüllt von endloser Stille und den Schreien Abertausender. »Hast du gar keine Angst?«
»Du hast dich weiterentwickelt«, sagte er. Ihre Hand löste sich in Nebel auf, die Hälfte ihres Gesichtes verschwamm, bevor die Züge wieder deutlicher wurden. »Du brauchst keinen Körper mehr. Und deine Belange gehen uns nichts mehr an.«
Ein Lachen, Geflüster und etwas, das von düsterer Zärtlichkeit kündete, warmes, dickes Blut. »Ich habe meinen letzten Wiedergeborenen getötet.« Ihre Umrisse wurden klarer, bis sie beinahe normal wirkten. »Manchmal brauche ich doch noch Fleisch.«
»Warum erzählst du mir das?«, fragte er. »Die Wiedergeborenen sind dein schwacher Punkt.«
»Ich mag dich, Raphael.« Ihr Lächeln brachte das Wasser im Pool zum Gefrieren, ihr Gesicht war von Eis gerahmt.
Er sah ihr in die Augen und wollte die Wahrheit wissen: »Musstest du sterben, um dich weiterzuentwickeln?«
»Stell mir die Frage, wenn wir uns das nächste Mal begegnen. Vielleicht beantworte ich sie dir dann.«
»Du wandelst zwischen Leben und Tod«, sagte er. »Was siehst du da?«
»Geheimnisse, Antworten, Vergangenes, Zukünftiges.« Mit einem rätselhaften Lächeln verabschiedete sie sich: »Wir unterhalten uns wieder. Ich mag dich wirklich, Raphael.«
Ihre Worte klangen immer noch nach, als ihr Bildnis längst schon erloschen war. Er stand auf, ergriff Elenas ausgestreckte Hand und zog sie sanft hoch. Bekümmert schaute sie ihn an. »Lijuan?«
»Von ihr droht keine Gefahr.« Er schloss sie fest in die Arme. »Ich glaube, Lijuan hat im Moment wenig Interesse an unserer Welt.« In ihrem Gesicht hatte eine fast unheimliche kindliche Freude über ihr neues Leben gestanden, ihre neue Existenz.
»Mehr wollte ich nicht wissen.« Elena atmete tief durch, warf die Decke von sich und schlang die Arme um ihn. »Ich will nach Hause, Erzengel.«
Er fuhr die hinreißende Linie ihrer Hüften nach und fragte sich, ob New York wohl schon bereit war für eine Jägerin, die zum Engel geworden war. »Bei Sonnenaufgang brechen wir auf.«
EPILOG
Raphael war nicht sonderlich überrascht, als vor ihm im klaren Regenwasserpool Lijuans Gesicht auftauchte. Er kniete am Rand und blickte hinein, während Elena in eine Decke gehüllt ihr Gesicht in die Sonne hielt. Aber sobald Lijuans Abbild auf dem Wasser aufgetaucht war, hatte sie zu ihm hinübergeschaut, auch wenn sie unmöglich etwas gesehen haben konnte.
»Ich lebe, Raphael.« Lijuans Stimme war erfüllt von endloser Stille und den Schreien Abertausender. »Hast du gar keine Angst?«
»Du hast dich weiterentwickelt«, sagte er. Ihre Hand löste sich in Nebel auf, die Hälfte ihres Gesichtes verschwamm, bevor die Züge wieder deutlicher wurden. »Du brauchst keinen Körper mehr. Und deine Belange gehen uns nichts mehr an.«
Ein Lachen, Geflüster und etwas, das von düsterer Zärtlichkeit kündete, warmes, dickes Blut. »Ich habe meinen letzten Wiedergeborenen getötet.« Ihre Umrisse wurden klarer, bis sie beinahe normal wirkten. »Manchmal brauche ich doch noch Fleisch.«
»Warum erzählst du mir das?«, fragte er. »Die Wiedergeborenen sind dein schwacher Punkt.«
»Ich mag dich, Raphael.« Ihr Lächeln brachte das Wasser im Pool zum Gefrieren, ihr Gesicht war von Eis gerahmt.
Er sah ihr in die Augen und wollte die Wahrheit wissen: »Musstest du sterben, um dich weiterzuentwickeln?«
»Stell mir die Frage, wenn wir uns das nächste Mal begegnen. Vielleicht beantworte ich sie dir dann.«
»Du wandelst zwischen Leben und Tod«, sagte er. »Was siehst du da?«
»Geheimnisse, Antworten, Vergangenes, Zukünftiges.« Mit einem rätselhaften Lächeln verabschiedete sie sich: »Wir unterhalten uns wieder. Ich mag dich wirklich, Raphael.«
Ihre Worte klangen immer noch nach, als ihr Bildnis längst schon erloschen war. Er stand auf, ergriff Elenas ausgestreckte Hand und zog sie sanft hoch. Bekümmert schaute sie ihn an. »Lijuan?«
»Von ihr droht keine Gefahr.« Er schloss sie fest in die Arme. »Ich glaube, Lijuan hat im Moment wenig Interesse an unserer Welt.« In ihrem Gesicht hatte eine fast unheimliche kindliche Freude über ihr neues Leben gestanden, ihre neue Existenz.
»Mehr wollte ich nicht wissen.« Elena atmete tief durch, warf die Decke von sich und schlang die Arme um ihn. »Ich will nach Hause, Erzengel.«
Er fuhr die hinreißende Linie ihrer Hüften nach und fragte sich, ob New York wohl schon bereit war für eine Jägerin, die zum Engel geworden war. »Bei Sonnenaufgang brechen wir auf.«
Danksagung
Mir hat es unglaubliche Freude gemacht, dieses Buch zu schreiben, und das lag nicht zuletzt an der begeisterten Resonanz auf den ersten Band Engelskuss. Ich möchte mich bei all denen bedanken, die für diese neue Serie offen waren, selbstverständlich auch für die vielen E-Mails und Briefe, die mich außerordentlich gefreut haben.
Ganz besonderen Dank schulde ich Tiazza, die mir mit dem Marokkanischen geholfen hat, Helen und Pamela, die meinem Französisch auf die Sprünge geholfen haben, und Travis für die Spitzentipps (das meine ich ganz ohne Hintergedanken) bezüglich geeigneter Hieb-und Stichwaffen. Sie alle verstehen ihr Handwerk, und sollten Fehler in dem Buch stecken, sind sie ganz sicher mir zuzuschreiben.
Ein Riesendankeschön gebührt auch meinen Eltern für ihre allumfassende Anwesenheit, während der Abgabetermin näher rückte, und meiner Schwester, die eine gesunde Portion Wahnsinn beisteuerte. Genauso dankbar bin ich meinen Freunden von RWNZ und Online: Ihr seid einfach fabelhaft! Ganz, ganz herzlich danke ich insbesondere Hari Aja für ihre Unterstützung.
Und zu guter Letzt gilt mein Dank jedem Einzelnen bei Night Agency und Berkley Sensation, ganz besonders meiner Agentin Nephele Tempest und meiner Lektorin Cindy Hwang. Ihr dürft euch nie zur Ruhe setzen. Hört ihr: Nie!
Die Originalausgabe erschien 2010
unter dem Titel Archangel’s Kiss. A Guild Hunter Novel
bei Berkley Sensation/The Berkley Publishing Group, New York.
Deutschsprachige Erstausgabe August 2010 bei LYX
verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH,
Gertrudenstr. 30–36, 50667 Köln.
Copyright © 2010 by Nalini Singh
Published by Arrangement with Nalini Singh
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 bei
EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
Alle Rechte vorbehalten.
Redaktion: Angela Herrmann
Umschlaggestaltung: HildenDesign, München,
www.hildendesign.de
Umschlagillustration: © HildenDesign, München,
unter Verwendung eines Motives von Bliznetsov / Shutterstock
Satz: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-8025-8439-8
www.egmont-lyx.de
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titelei
Genesis
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
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EPILOG
Danksagung
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titelei
Genesis
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3
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6
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10
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EPILOG
Danksagung
Impressum
Table of Contents
Cover
Titelei
Genesis
1
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3
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Danksagung
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