Sie ignorierte die Dunkelheit, die auf einmal in seinen Augen aufflammte, Besitzanspruch. »Wir müssen ins Haus.« Um zur Hintertür zu gelangen, ging sie um ihn herum, da packte er sie am Arm.
Regungslos, aber bereit, ihn jeden Moment abzuschütteln, verharrte sie, doch er war nur daran interessiert, die blaue Feder aus ihrem Haar zu zupfen. »Um Himmels willen«, murmelte sie. »Bist du jetzt zufrieden?«
Er zerquetschte die Feder in der Hand. »Nein, Elena. Bin ich nicht.« Als er die Faust öffnete, rieselte blauer Staub auf den Boden.
Wie er das angestellt hatte, wollte sie lieber gar nicht wissen. »Macht es dir etwas aus, in das Haus einzubrechen?«
»Schlangengift sagte mir, dass kein Herz in diesem Haus mehr schlägt.«
Ihr Magen krampfte sich zusammen. »Tod? Riecht er den Tod?«
»Ja.« Er ließ ihren Arm los und ging voraus.
Elena warf einen Blick auf das Haus und auf die Straße dahinter, wo sie Schlangengift erspähte, der unbeweglich diesseits des Tores verharrte. Er sah aus wie ein Leibwächter, Schrägstrich Chauffeur. Ganz normal für eine stinkreiche Nachbarschaft wie diese. Zufrieden, dass er ihnen etwaige Besucher vom Hals halten würde, folgte sie Raphael zur Eingangstür. »Warte mal«, sagte sie, als er die Hand auf die Klinke legte. »Wir könnten die Alarmanlage auslösen und Aufmerksamkeit erregen.«
»Alles schon erledigt.«
Sie dachte daran, wie schnell sich Vampire bewegen konnten. »Schlangengift?«
Er nickte. »Er ist darin sehr geschickt.«
»Warum überrascht mich das nicht?«, murmelte sie und kämpfte gegen die Übelkeit an, die der vom Haus kommende Geruch bei ihr verursachte. »Oh Gott.«
Raphael schob die Tür ganz auf. »Komm, Elena.« Auffordernd hielt er ihr die Hand hin.
Sie starrte darauf. »Ich bin eine Jägerin.« Dennoch ergriff sie seine Hand. Manche Albträume waren einfach zu schrecklich, um ihnen ganz allein entgegenzutreten.
Gemeinsam traten sie über die Schwelle, Raphaels Flügel passten mühelos durch die Tür. »Für einen Engel entworfen«, sagte sie und blickte erstaunt auf die riesige offene Eingangshalle. Im gesamten Erdgeschoss gab es keine einzige Wand. Der Teppich im Wohnbereich war ein einziger Rorschachtest, Rot auf Weiß.
Eigentlich hätte es eine explosive Farbmischung sein müssen, aber stattdessen war es ein merkwürdiges unspezifisches Grau. Die zugezogenen Vorhänge verliehen dem Raum ein dumpfes und düsteres Flair, das jegliches Geräusch zu dämpfen schien… und alles andere umso intensiver hervortreten ließ.
Verwesung. Säure. Sex.
Von den Aromen, die sich auf ihrer Zunge vermengten, drehte sich ihr der Magen um. »Er hat mit ihnen geschlafen.«
Mit flammend blauen Augen blickte Raphael hoch zu den Leichen, die vom Dachbalken hingen. »Bist du dir sicher?«
»Ich rieche es.« Wenngleich sie nur Vampire mittels ihres Duftes aufspüren konnte, war ihr Geruchssinn dennoch viel besser entwickelt als bei gewöhnlichen Menschen. Und offenbar auch besser als bei Erzengeln.
»Kein Blut.«
Sie starrte auf die Flecke im Teppich. »Und wie nennst du das?« Auf keinen Fall würde sie wieder hochschauen und noch mehr von diesen widerlichen Einzelheiten, die sich ihr schon bei einem einzigen flüchtigen Hinsehen in ihr Gehirn eingebrannt hatten, aufnehmen.
Herabhängende Gliedmaßen, die sich im Luftzug der Klimaanlage hin und her bewegten, vor Entsetzen verzerrte Gesichter. Fahle aufgerissene Haut, blaue Lippen. Mit ihren eigenen Haaren erdrosselte Tote.
Raphael drückte ihre Hand und zog sie fort von dem Abgrund des Entsetzens, vor dem sie stand. »Er hat ihr Blut nicht angerührt. Die Wunden sind zwar brutal, aber es gibt keine Anzeichen dafür, dass er getrunken hat.«
Sie wusste sofort, dass es keine medizinische Untersuchung geben würde, die das bestätigen könnte. Wenn sie überhaupt eine Chance hatten, Uram aufzuspüren und ihm das Handwerk zu legen, dann musste sie sichergehen und sich die Wunden genau ansehen. »Hol sie runter.« Ihre Stimme war heiser. »Ich muss mir die Wunden genau anschauen.«
Er ließ ihre Hand los. »Gib mir dein Messer.«
Sie legte es ihm in die flache Hand und beobachtete, wie er durch die zinnoberrote Explosion im Wohnzimmer schritt. Dabei hielt er die Flügel so von seinem Körper abgespreizt, dass sie nicht auf den Boden auftrafen. Dann stieß er sich mit einem einzigen Flügelschlag ab.
Von dem Lufthauch schwangen die Leichen hin und her.
Elena rannte zur Tür hinaus in den Garten, wo sie nun schon zum zweiten Mal an diesem Tag ihren Magen entleerte. Er krampfte sich schmerzhaft zusammen, selbst dann noch, als alles schon draußen war, und als ihr ein Wasserschlauch hingehalten wurde, griff sie danach wie nach einem Rettungsanker, spülte sich den Mund aus und wusch sich das Gesicht ab, bevor sie das nach Plastik schmeckende Wasser gierig trank, als sei es der köstlichste Nektar. »Danke.« Sie ließ den Schlauch fallen und sah auf.
Schlangengift lächelte spöttisch. »Die große, abgebrühte Jägerin fürchtet sich vor ein bisschen Blut.« Er stellte das Wasser ab. »Das erschüttert mein Weltbild.«
»Armes Schätzchen«, sagte sie und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
Er zeigte ihr seine Zähne, strahlend weiß gegen seine dunkle Haut. »Geht es Ihnen besser?« Jedes Mitleid war geheuchelt.
»Beiß mich.« Sie machte auf dem Absatz kehrt und zwang sich zurück ins Schlachthaus.
»Oh, das werde ich«, sagte er vieldeutig. »Überall.«
Ohne hinzusehen, warf sie ein Messer in seine Richtung und hörte voller Genugtuung, wie er fluchte, als er das Messer am falschen Ende auffing und sich die Handfläche aufschlitzte. Gestärkt trat sie wieder über die Schwelle.
Raphael machte sich im Wohnzimmer zu schaffen, bahrte gerade die letzte Tote auf dem Teppich auf. Sanft und zärtlich hielt er die Frau in den Armen, als er sie ans Ende der Reihe legte. Elena musste schwer schlucken. Sie trat zögernd zu ihm. »Tut mir leid.« Sie erklärte ihm nichts, konnte ihm die Wahrheit nicht sagen. Nicht dieses Mal.
Er blickte sie an. »Braucht dir nicht leidzutun. Es ist ein Privileg, wenn einen das Grauen noch packen kann.«
Sie wunderte sich. »Tut es das?«
»Ja, aber viel zu selten.« Eine uralte Dunkelheit umwölkte sein Gesicht. »Ich habe schon so viel Böses gesehen, dass mich selbst der grauenhafte Tod von so viel Unschuld kaum noch innerlich berühren kann.«
Seine Unmenschlichkeit gab ihr einen Stich. »Erzähl mir davon«, sagte sie, während sie sich hinkniete, »erzähl mir von den schrecklichen Dingen, die du erlebt hast, damit ich das hier vergessen kann.«
»Nein. Du hast schon genug Albträume in deinem Kopf.« Er sah ihr in die Augen. »Geh und spür Uram auf. Das hier kann warten.«
Sie wusste, dass er recht hatte, also ging sie hinaus und versuchte, Urams Fluchtweg zu finden. Enttäuscht und zornig kehrte sie ins Haus zurück. »Von hier aus ist er geflogen.«
Raphael deutete mit dem Kopf auf die Leichen. »Dann müssen wir die Opfer untersuchen, vielleicht können sie uns Hinweise auf ihn geben.«
Sie nickte kurz und begab sich zu der ersten Leiche. »Sie wurde mit einer stumpfen Klinge vom Hals bis zum Bauchnabel aufgeschlitzt.« Die inneren Organe des Mädchens fehlten. »Hast du den Rest irgendwo finden können?«
»Ja. Hinter dir in der Ecke ist eine… Sammlung.«
Die Galle kam ihr hoch, doch sie riss sich zusammen und arbeitete weiter. »Keine Bissspuren, keine Anzeichen dafür, dasseraußer mit dem Messer irgendwie sonst in sie eingedrungen ist.« Als sie sich die nächste Tote vornahm, fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, das Gesicht des Mädchens zu untersuchen. Das musste sie auf jeden Fall noch tun. Uram hätte das Blut auch ihrem Mund entnehmen können. Einmal hatte sie schon einen Körper gesehen, der durch einen Kuss leer gesaugt worden war.
Mit schmerzhaft verkrampftem Magen berührte sie das Gesicht des Mädchens, hielt dann aber inne. »Ich brauche Handschuhe.«
»Sag mir, wonach du suchst.« Raphaels Flügel schoben sich in ihr Gesichtsfeld, als er ihr gegenüber neben der Leiche auftauchte.
»Lass das lieber,« murmelte sie und schob seine Hand beiseite, als er die Leiche berühren wollte. Dabei hatte sie völlig vergessen, dass er sie schließlich auch abgehängt hatte. »Sie könnte mit einem menschlichen Virus infiziert sein, oder Uram hat sie angesteckt, wie du ja schon bei der Überlebenden befürchtet hattest.«
Aus seinen unwahrscheinlich blauen Augen blickte er sie eindringlich an. »Ich bin unsterblich, Elena.« Wie ein Hammerschlag traf sie diese sanfte Erinnerung. Natürlich war er unsterblich. Wie hatte sie das nur vergessen können?
»Der Mund«, sagte sie und wandte ihren Blick von seinem Gesicht ab, ein Gesicht, das auch keinem noch so sehr von der Natur Begünstigten gehören konnte. »Öffne ihr den Mund.«
Geschickt folgte er ihrer Anweisung. Zum Glück war die Leichenstarre schon vorüber, sodass er mühelos die Kiefer bewegen konnte und nicht auch noch dem toten Mädchen Gewalt antun musste. Aus ihren Cargohosen zog Elena eine dünne Taschenlampe hervor und leuchtete der Toten damit in den Mund. »Keine Bissspuren.«
Methodisch nahmen sie sich eine Leiche nach der anderen vor. Jede war von einem Messer zerfetzt worden, manche hatten mehr Glück gehabt als andere. Das erste Opfer hatte noch gelebt, als man ihm die Eingeweide entnommen hatte, das letzte war schon tot gewesen. »Keine Bissspuren. Vielleicht hat er aber auch das Blut aus den Wunden gesaugt.« Oder den Eingeweiden.
»Das Blut mit den Reißzähnen zu trinken gehört aber zum Vergnügen dazu.«
»Dann hat er auf keinen Fall getrunken.« Nur gequält.
»Ein Blutgeborener würde sich aber nicht beherrschen können, er muss einfach trinken.«
Plötzlich ergaben die einzelnen Puzzleteile ein Bild. »Dann hat er das hier zuerst getan und die Toten im Lagerhaus erst danach misshandelt.« Die Klimaanlage hatte die Körper vor der Verwesung bewahrt, aber jetzt, da sie genauer hinsah, erkannte sie Anzeichen dafür, dass die Mädchen schon vor einem, wahrscheinlich zwei Tagen gestorben waren– die Farbe des getrockneten Blutes an der Wand, die fehlende Leichenstarre, und da Blut immer den Gesetzen der Schwerkraft folgte, waren die Mädchenkörper mit Hämatomen übersät.
Alle Jäger mussten einen Einführungskurs in Pathologie belegen– oft waren sie nach einer Vampirattacke die Ersten am Tatort. Als sie jetzt auf die Haut mit den Blutergüssen drückte, konnte sie keine Veränderung in der Verfärbung feststellen– die Haut wurde nicht zuerst bleich, um sich dann wieder mit Blut zu füllen. Livor mortis. »Diese Mädchen haben ihm nur zum Üben gedient.«
»Trotzdem hat dich deine Spurensuche jetzt hierhergeführt.«
30
Sie wippte auf den Fersen und starrte auf den einzelnen Blutfleck, der aufgrund der zeitlichen Abläufe nicht ins Bild passen wollte– den Fleck auf dem Teppich. Er war einfach zu frisch. »Du hast recht. Das Schwein ist zurückgekommen, um sein Werk zu bewundern.«
»Ich lasse Wachen aufstellen.« Raphael erhob sich, seine Finger waren voller Blut, die Kleidung besudelt. Das ließ sie an ihre letzte Begegnung denken, als er in der blutigen Faust ein vor Angst rasendes Herz hielt.
Auf einmal kam ihr das gar nicht mehr so schrecklich vor. Nicht nach diesem Anblick hier. Uram hatte mit seinen Opfern gespielt– so wie eine Katze, die die Maus gar nicht fressen, sondern lediglich quälen will. Dem Erzengel von New York konnte man vieles nachsagen– unbarmherzig zu sein, gefühllos, bestimmt auch todbringend–, aber er folterte nicht um des Folterns willen. Alles, was Raphael tat, diente einem Zweck. Selbst wenn er nur darin bestand, den Leuten solche Angst einzujagen, dass sie ihn niemals mehr hintergehen würden.
Sie folgte ihm auf dem Weg in die Küche, wo er sich die Hände waschen wollte, und sagte: »Ich glaube nicht, dass er zurückkommen wird– nach den Morden im Lagerhaus war er noch einmal hier, vielleicht, um sich an den Toten zu weiden, vielleicht, um sich auszuruhen, aber sieh dir das an.« Sie zeigte auf eine Schüssel, die unter den Tisch gerollt war. »Er hat sie sicher wütend von sich geschleudert, als er merken musste, dass ihm das Blut, das er sich aufgehoben hatte, nicht befriedigte.«
»Das hier war seine Vorratskammer, aber er hat festgestellt, dass ihm lebende Wesen lieber sind.«
»Ja, er wird Frischfleisch haben wollen.« Die Worte klangen kalt und unbeteiligt, aber sie musste auf dieser Ebene bleiben. Wenn sie erst einmal anfing, Gefühle zuzulassen…
Raphael nickte. »Glaubst du, er wird heute Nacht noch einmal zuschlagen?«
»Selbst wenn er sich in einem Dauerblutrausch befindet«– ein albtraumhafter Gedanke, über den sie gar nicht erst nachdenken wollte–, »halte ich es für extrem unwahrscheinlich, vor allem, wenn man bedenkt, wie sehr er sich im Lagerhaus vollgetrunken hat.«
In diesem Moment prasselte draußen der Regen auf die Erde, als hätte jemand einen großen Hahn aufgedreht.
»Mist!« Mit einem Sprung war sie an der Tür. »So ein verdammter Mist!«
Seelenruhig wartete Raphael ihren Ausbruch ab, dann fragte er sie: »Ich dachte, Uram sei geflogen?«
»Alle Spuren, die mich hierhergeführt haben, sind jetzt weg! Aus der gesamten Stadt sind sie gelöscht.« In einem Anfall von Verzweiflung schrie sie auf. »Regen ist das Einzige, was eine Fährte wirklich gründlich versauen kann– wenn ein Vampir intelligent ist, dann zieht er sich so schnell wie möglich dahin zurück, wo es am meisten regnet.« Am liebsten hätte sie diesen Regengott umgebracht. »Scheiße! Das tut richtig weh!«
Mit einem Nicken Richtung Tür sagte er: »Kümmere dich darum.«
Sie musste sich gar nicht erst umdrehen, um zu wissen, dass Dmitri gekommen war. Wie ein verdammter Mantel hüllte sie sein Geruch ein. »Stell es ab, Vampir, oder ich treib dir dein eigenes Bein durchs Herz, so wahr mir Gott helfe.«
»Ich habe überhaupt nichts getan, Elena.«
Sie warf ihm einen schnellen Blick zu, sah die Anspannung in seinem Gesicht und wusste sofort, dass er die Wahrheit sagte. »Verdammt. Ich stehe total unter Strom, zu viel Adrenalin, ich mache es nicht mehr lange.« Vor einem Zusammenbruch intensivierten sich ihre Fähigkeiten immer. »Da kann ich mich genauso gut geschlagen geben und eine Mütze voll Schlaf nehmen.« In den letzten beiden Nächten hatte sie nicht mehr als ein oder zwei Stunden Schlaf bekommen, der verfluchte Stuhl, an den sie gefesselt worden war, war so unbequem gewesen. »Im Moment kann ich ja auch nichts ausrichten, erst wenn Uram den nächsten Schritt tut.«
Wenn er wieder mordete.
»Behältst du Michaela im Auge?«, fragte sie Raphael. »Durch sie haben wir die besten Chancen, ihn zu fassen.«
»Sie ist ein Erzengel«, erinnerte er sie. »Wenn ich ihre eigenen Leute mit meinen aufstocke, dann sage ich ihr im Prinzip, dass ich sie für schwach halte.«
»Sie lehnt deine Hilfe also ab?« Elena schüttelte den Kopf. »Dann kann ich nur hoffen, dass sie gute Männer hat und du gute Späher.« Stocksauer über die Arroganz von Engeln, den Regen und das ganze bescheuerte Universum marschierte sie ohne einen weiteren Blick hinaus. Am Tor begegnete ihr Schlangengift. Die Nässe stand ihm gut. »Ich brauche einen Wagen.«
Zu ihrer Überraschung ließ er einen Bund Autoschlüssel in ihre Hand fallen und deutete auf die gegenüberliegende Straßenseite, wo die Limousine stand, die sie Gott weiß wo in der zweiten Reihe hatte stehen lassen. »Danke.«
»Keine Ursache.«
Der Vampir spielte mit ihr, aber sie konnte sich jetzt nicht aufraffen, sich dagegen zu wehren. Sie drängte sich am Tor an ihm vorbei und ging auf den Wagen zu.
Geh zu mir nach Hause, Elena. Ich werde dort auf dich warten.
Sie öffnete die Wagentür und stieg ein, dabei wischte sie sich den Regen vom Gesicht, spürte die kühle Frische auf ihrer Zunge. Aber nein, das war Raphael. Sie war ihm eine Antwort schuldig. »Weißt du was, Erzengel. Ich glaube, es ist Zeit, auf dein Angebot zurückzukommen.«
Und welches Angebot meinst du damit?
»Na das, mich bis zur Besinnungslosigkeit zu vögeln.« Sie wollte alles vergessen– das Blut, den Tod, die Schatten des Bösen an den Wänden des harmlos wirkenden Stadthauses.
Ein anständiger Mensch würde deine momentane Gefühlslage nicht ausnutzen.
»Wie gut, dass du kein Mensch bist.«
Ja.
In diesem einzigen Wort steckte so viel Erotik, dass sie ihre Schenkel zusammenpresste. Sie steckte den Schlüssel ins Zündschloss, drehte ihn um und fuhr los. Der Duft von Regen und Meer verflüchtigte sich. Raphael war losgeflogen. Aber sie konnte ihn immer noch auf der Zunge schmecken, als verströme er einen Wirkstoff, der ihre Sinne statt auf Vampire auf Engel reagieren ließ.
Nicht dass es ihr etwas ausgemacht hätte.
Die aufgeknüpften Leichen, die Schatten an der Wand…
Nein, Schatten gab es keine. Heute nicht.
Krampfhaft hielt sie das Steuerrad umklammert, als sie an der roten Ampel hielt, Regen und Erinnerungen verschleierten ihre Sicht. »Steck es weg«, gab sie sich selbst Anweisung. »Denk nicht daran.«
Doch zu spät. In ihrem Kopf nahm ein einzelner Schatten Gestalt an, wurde furchterregender und sanft von dem Luftzug hin und her bewegt, der durchs offene Fenster hereinkam.
Frische Luft hatte ihre Mutter immer geliebt.
Irgendjemand hupte, die Ampel war auf Grün umgesprungen. Insgeheim war sie dem Fahrer dankbar, dass er sie aufgerüttelt hatte. Mit jeder Faser ihres Körpers konzentrierte sie sich nun auf das Fahren. Eigentlich hätte der Regen ein Verkehrschaos auslösen müssen, aber die Straßen waren wie leer gefegt. Als seien die Menschen von der sich zusammenbrauenden Dunkelheit wie von einer üblen Macht verschluckt worden, um auf die Erde, in den Tod geschickt zu werden.
Und mit einem Mal stand sie wieder vor der imposanten Einfahrt des großen Hauses, des Hauses, das Jeffrey danach gekauft hatte… Danach. Ein riesiges Haus für nur vier Leute. Über ihr war das Zwischengeschoss mit der hübschen weißen Balustrade aus Schmiedeeisen, nicht aus Holz. Ein elegantes perfektes Heim, eines Mannes würdig, der Bürgermeister werden wollte.
»Mom, ich bin wieder da.«
Stille. Absolute Stille.
Angst schnürte ihr die Kehle zu, brannte in ihren Augen, sie schmeckte Blut.
Sie hatte sich auf die Zunge gebissen. Vor Angst. Vor Entsetzen. Aber nein, keine Spur von einem Vampir.
»Mom?« Angst in der Stimme.
Als sie ihren Blick durch die große Eingangshalle schweifen ließ, wunderte sie sich, dass ihre Mutter einen einzelnen hochhackigen Schuh mitten auf den Fliesen hatte liegen lassen. Vielleicht hatte sie ihn einfach dort vergessen. Ihre Mutter war so anders. Wunderschön, wild, eine Künstlerin. Manchmal wusste sie nicht, welcher Wochentag es war, oder sie trug zwei verschiedene Schuhe, aber das war völlig in Ordnung. Elena störte das nicht.
Dieser Schuh täuschte sie. Verleitete sie dazu, weiterzugehen.
Ein ohrenbetäubender Lärm und die Realität holten sie mit einem Schlag wieder ein, verscheuchten ihre Erinnerungen. Sie trat auf die Bremse und brachte den Wagen quietschend zum Stehen, mit der fürchterlichen Gewissheit, dass irgendetwas gerade von ihrer Windschutzscheibe abgeprallt war. »Oh Gott!« Sie löste den Gurt und stieg aus. Hatte sie jemanden angefahren?
Der Wind zerrte mit aller Macht an ihrem Haar, während ein Platzregen auf sie niederging. Wie aus dem Nichts war ein Sturm aufgezogen, eine Laune der Natur. Durch den Wind kämpfte sie sich bis zur Motorhaube vor, sie schauderte bei dem Gedanken, allein auf weiter Flur zu sein. Vielleicht hatten die meisten den Guss abwarten wollen. Da konnten sie lange warten, dachte sie und blinzelte sich den Regen aus den Augen.
An der Windschutzscheibe klebte ein Blatt, klemmte hinter einem der sich immer noch bewegenden Scheibenwischer. Ein massiver Ast lag ein paar Meter vor dem Wagen. Erleichtert atmete sie auf, aber um ganz sicherzugehen, schaute sie dennoch unter und hinter dem Wagen nach. Nichts. Außer einem Ast, der von dem Sturm hergetragen worden war. Sie zog sich wieder ins Wageninnere zurück, schlug die Tür zu und drehte die Heizung auf, denn sie war bis auf die Knochen durchgefroren. Doch schien die Kälte aus ihrem Inneren zu kommen.
Sie wischte sich mit der Hand übers Gesicht und konzentrierte sich den Rest des Weges nur noch aufs Fahren. Die Gespenster der Vergangenheit säuselten in ihr Ohr, aber sie hörte einfach nicht hin. Wenn sie nicht hinhörte, konnten sie ihr nichts anhaben, konnten sie nicht zurück in diesen Albtraum holen.
Gerade als sie vor Raphaels Haus hielt, klingelte ihr Handy. Sie hatte es in der Hosentasche, und es war völlig durchnässt, aber als sie es aufklappte, funktionierte es trotzdem. Sie erkannte die Rufnummer. »Ransom?«
»Wer sonst?« Im Hintergrund spielte Jazzmusik, die tiefe, rauchige Stimme einer Sängerin. »Mir sind interessante Sachen zu Ohren gekommen, Ellie.«
»Ich darf nichts…«, setzte sie an.
»Nein, das meine ich nicht«, unterbrach er sie. »Mir sind Sachen zu Ohren gekommen, die du erfahren solltest.«
»Schieß los.« Ransom hatte seine eigenen Kontakte; war auf der Straße aufgewachsen. Die meisten verloren ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie den Sprung von der Straße weg geschafft hatten. Nicht so Ransom– als Jäger stand er in der Hierarchie des Ghettos sogar noch über einem Rudel Vergewaltiger.
»In den letzten Tagen waren die Vampire und Engel sehr geschäftig. Man hat sie überall gesehen.«
»Okay.« Das war nichts Neues. Raphaels Leute suchten überall nach Uram oder seinen Opfern.
»Es wird gemunkelt, dass Mädchen verschwinden.«
»Ja.«
»Soll ich die Professionellen warnen?« Seine Stimme klang angespannt.
Mit einigen der Strichmädchen und exklusiven Callgirls war er befreundet. »Lass mich kurz nachdenken.« Alles, was sie über die Opfer bislang wusste, ließ sie sich noch einmal durch den Kopf gehen. »Im Moment besteht noch keine Gefahr.«
»Bist du ganz sicher?«
»Ja. Die Zielpersonen sahen alle… unschuldig aus.«
»Du meinst Jungfrauen?«
Ihr wurde mit einem Mal klar, dass sie das noch nicht überprüft hatte. Ein Versäumnis, das sie so schnell wie möglich nachholen musste. »Ja, wahrscheinlich. Trotzdem kann es sicher nicht schaden, wenn du deinen Freundinnen sagst, sie sollten aufeinander achtgeben.«
»Danke.« Erleichtert atmete er auf. »Deshalb rufe ich eigentlich gar nicht an. Auf deinen Kopf ist eine Belohnung ausgesetzt.«
Sie erstarrte. »Was?«
»Ja, und es kommt noch besser.« Seine Wut war selbst durch die Leitung spürbar. »Offenbar ist es ein Erzengel, der deinen Tod will. Was, zum Teufel, hast du ihm bloß angetan?«
Tiefe Furchen gruben sich in ihre Stirn. »Nicht ihm. Ihr.«
»Na, dann brauchst du dir ja keine Sorgen zu machen.« Reine Ironie. »Schenkt man den Gerüchten Glauben, dann will man deinen Kopf auf einem goldenen Tablett… im wörtlichen Sinne, nebenbei bemerkt…«
»Schön, dann sind ja alle Missverständnisse beseitigt.«
»… aber die Jagd ist noch nicht eröffnet.«
Diese Schlampe Michaela spielte mit ihr. »Danke, dass du mich gewarnt hast.«
»Was, zum Teufel, wirst du tun? Abtauchen oder einen Erzengel töten?«
»Dein Vertrauen rührt mich.«
Prusten. »Scheiße, nein. Ich weiß, dass du mich in deinem Testament bedacht hast.«
»Im Moment bin ich lebend zu wertvoll.«
»Und was ist danach?«
Die Autotür wurde von außen geöffnet, Flügel füllten sie aus. »Dann werde ich meine Möglichkeiten überdenken. Bis bald.« Sie legte auf, bevor er noch irgendetwas sagen konnte, und schaute in Augen, so blau, dass ihr die Knie weich wurden. »Michaela trachtet mir ernsthaft nach dem Leben.«
In Raphaels Gesicht zeigte sich keine Regung. »Niemand vergreift sich an meinem Spielzeug.«
Eigentlich hätte sie das aufbringen müssen, aber sie lächelte bloß. »Mir wird ganz schwindelig vor Glück.«
»Mit wem hast du eben gesprochen?«
»Eifersüchtig?«
Mit nassen Fingern hob er ihr Kinn hoch, sein Griff war unnachgiebig. »Und ich teile mein Spielzeug auch nicht.«
»Sieh dich vor«, murmelte sie und schwang ihre Beine auf die nasse Straße hinaus. »Ich könnte mich sonst noch ärgern. Ich habe eine Frage.«
Schweigen.
»Waren sie noch Jungfrauen?«
»Wie kommst du darauf?«
»Das Böse ist leicht zu durchschauen.« Eine Lüge. Denn manchmal war das Böse ein hinterlistiger Dieb, der einem das Liebste nahm und nur noch die Schatten an der Wand zurückließ.
Ein vager Schatten, der beinahe sanft hin-und herpendelte. Wie auf einer Schaukel.
Raphael fuhr ihr mit dem Daumen über die Unterlippe. »Ich sehe schon wieder Albträume in deinen Augen.«
»Und in deinen sehe ich Sex.«
Er richtete sich auf und zog sie kraftvoll aus dem Wagen. Hinter ihm glänzten seine ausgestellten Flügel im Regen. Sein sinnlicher Mund hatte etwas Hartes, einen leicht grausamen Zug.
Elena lehnte sich vor und legte ihre Arme um seinen Hals, überließ sich ganz seiner reinen Macht. Heute würde sie alle Regeln brechen. Mit einem Vampir zu schlafen, das war doch nichts, sie nahm sich doch nur die Spitze der Hierarchie vor. Zur Hölle mit allen Bedenken. »Wie machen es Erzengel denn eigentlich?«
In diesem Moment wurden sie gerade von einer Böe erwischt, die Elenas Worte mit sich forttrug. Aber Raphael hatte sie trotzdem verstanden. Er beugte sich so weit vor zu ihr, dass sich ihre Lippen berührten. »Ich habe noch nicht Ja gesagt.«
Verständnislos blickte sie ihn an. Als er von ihr abrückte, wurde sie regelrecht sauer. »Tust du jetzt so, als wärst du schwer zu haben?«
Er drehte sich um. »Komm aus dem Regen, Elena. Du darfst nicht krank werden.«
Leise verfluchte sie ihn, warf die Tür zu– das Innere des Wagens war schon völlig durchnässt– und stapfte zum Haus, Raphael folgte ihr ruhig. Aber nicht friedlich. Nein, er war etwa so friedlich wie ein Jaguar. Vorübergehend hielt er seine tödlichen Kräfte im Zaum. Als sie das Haus erreicht hatten, blickte sie immer noch finster drein.
Der Butler hielt ihnen die Tür auf. »Das Bad ist gerichtet, Sir.« Flüchtig sah er sie an, eine Spur von Neugierde. »Mylady.«
Mit einem Blick entließ Raphael Jeeves, der daraufhin unsichtbar wurde. »Das Badezimmer ist im ersten Stock.«
Sie stieg die Treppe hinauf, wobei sie mehr aufstampfte als auftrat. Bis zur äußersten Erregung hatte er sie immer gereizt, aber heute, da sie eine Entspannung bitter nötig hatte, hielt er sie hin. Er wollte nur mit ihr spielen. Na schön, wenn er es so haben wollte, würde sie sich eben auf die Arbeit konzentrieren.
»Hat sich der Verdacht bestätigt– hat er mit den Mädchen geschlafen?«
»Ja, aber nur mit denen in der Villa. Die Opfer im Lagerhaus waren in dieser Hinsicht unberührt– deshalb glauben wir auch, dass die anderen auch noch jungfräulich waren.« Er stieg direkt hinter ihr die Stufen hoch, war ihr so nahe, dass sie seinen Atem im Nacken spürte, als sie oben ankamen. »Den Flur entlang, dritte Tür links.«
»Besten Dank«, sagte sie ironisch, dabei fiel ihr auf, dass außer dem Geländer zu ihrer Rechten alles offen war– das Innere des Hauses glich einem großen freien Platz.
»Spielt es denn eine Rolle, ob Geschlechtsverkehr stattgefunden hat?«
»Eventuell. Aber außer den Wunden, die zum Tode geführt haben, waren die Körper unversehrt, also ist dieser Teil vielleicht in gegenseitigem Einvernehmen geschehen.« Erzengel waren charismatisch, sexy, ziemlich unwiderstehlich. Uram mochte sich in ein Monstrum verwandelt haben, aber rein äußerlich wirkte er wahrscheinlich genauso attraktiv wie der Erzengel von New York. Nein, dachte sie sofort, Raphael war eine Klasse für sich.
»Oder es war erst nach dem Tod.«
Um sich ekeln zu können, war sie viel zu müde. »Möglich.« Sie war an der dritten Tür angekommen, legte die Hand auf den Türgriff. »Vielleicht hat er den Wunsch zu trinken kurzfristig mit Sex kompensiert. Aber jetzt wird ihn nur noch Blut befriedigen.« Ihre Hand verkrampfte sich. »Und jetzt werden noch mehr Frauen ihr Leben lassen müssen, weil ich die Spur verloren habe.«
»Aber weniger, als wenn es dich nicht gegeben hätte«, sagte er nüchtern. »Ich lebe schon seit vielen Jahrhunderten, Elena. Zwei-oder dreihundert Tote sind ein geringer Preis, um einem Blutgeborenen das Handwerk zu legen.«
Zwei-oder dreihundert?
»So weit werde ich es nicht kommen lassen.« Energisch stieß sie die Tür auf– und betrat ein Märchenland. Atemlos und mit großen Augen nahm sie alles in sich auf.
In dem Kamin zu ihrer Linken tanzten Flammen, ihr goldener Glanz ließ die silbernen Flecken auf den schwarzen Steinen ringsum geheimnisvoll schimmern. Vor dem Kamin lag ein riesiger weißer Teppich, der so weich aussah, dass sie sich am liebsten sofort darauf gewälzt hätte– nackt. Der pure Luxus.
Auf der gegenüberliegenden Seite gab eine Tür den Blick ins Bad frei. Sie konnte weiße Porzellanarmaturen erkennen, einen Waschtisch, der aus dem gleichen Marmor wie der Kamin war. Dort drinnen erwartete sie ein heißes Bad, ein Bad, das ihr armer ausgekühlter Leib dringend benötigte. Aber sie verharrte immer noch regungslos.
Denn zwischen dem Kamin und dem verführerischen Bad stand ein Bett. Noch nie hatte sie ein solch großes Bett gesehen. Eines, in das mühelos zehn Leute gepasst hätten, ohne einander auch nur zu berühren. Es stand auf hohen Pfosten, doch gab es weder Kopf-noch Fußende, nur eine ausgedehnte Liegefläche, bedeckt mit mitternachtsblauen Laken, die sich bestimmt herrlich weich um ihre Haut schmiegen würden. Die Kissen lagen von der Tür abgewandt, hätten aber genauso gut am anderen Ende liegen können.
»Warum…«, sie musste sich räuspern, »…warum ist es so groß?«
Hände umfassten ihre Taille, schoben sie vorwärts. »Flügel, Elena.« Ein jähes Rascheln, als Raphael seine Flügel vollständig ausbreitete, dann schloss sich die Tür hinter ihnen mit einem sanften Klick.
Sie war allein mit dem Erzengel von New York. Und vor ihr stand ein Bett, das Platz für Flügel bot.
31
Unwillkürlich zitterte sie am ganzen Körper.
Rau erklang Raphaels Lachen, männlich überlegen, als wüsste er genau, dass er ihrer sicher sein konnte. »Zuerst das Bad, würde ich vorschlagen.«
Mit dem Finger fuhr er ihre Kehle entlang, diesmal hatte ihr Zittern andere Gründe. »Bevor ich darauf eingehe, möchte ich noch ein paar Dinge klarstellen.«
Sie zwang sich dazu, ihre Schritte in Richtung Badezimmer zu lenken.
»Deine Bedingungen kenne ich. Eine nette Nummer ohne irgendwelche Verpflichtungen oder kuhäugigen Liebesgeständnisse.« Auch wenn die Worte schnoddrig dahingesagt waren, fühlte sie in ihrem Herzen einen Stich. Nein, sagte sie sich voller Entsetzen. Elena P. Deveraux würde nicht so dumm sein, ihr Herz an einen Erzengel zu verschenken. »Ist das im… heiliger Strohsack!« Sie betrat das Badezimmer. »Das ist ja größer als das Schlafzimmer.«
Nicht ganz, aber fast. Das »Bad« hatte beinahe die Größe eines kleinen Swimmingpools, der aufsteigende Dampf war die reinste Versuchung der Sinne. Auf der rechten Seite gab es eine Dusche, aber die Glastüren fehlten. Der Bereich wurde nur durch mit goldenen Tupfen versehene Kacheln markiert. Plötzlich ging ihr ein Licht auf. »Flügel«, raunte sie. »Alles ist für die wundervollen Flügel angelegt.«
»Freut mich, dass es deine Zustimmung findet.« Etwas Nasses schlug auf die kühlen weißen Kacheln, sie sah sich danach um.
Raphaels Hemd lag auf dem Boden, der Anblick seiner nackten Brust warf sie schier um. Reiß dich zusammen, sagte sie zu sich. Aber es war schwer, die Augen von diesem Körper abzuwenden. Nie hatte sie einen schöneren Männerkörper gesehen. »Was machst du denn da?«, stieß sie heiser hervor.
Er zog eine Augenbraue hoch. »Baden.«
»Und was ist mit den Bedingungen?« Ihre Finger waren bereits an ihrem T-Shirt, bereit, das völlig durchnässte Ding über den Kopf zu ziehen.
Er schleuderte seine Stiefel von sich, beobachtete, wie sie das T-Shirt auszog, unter dem ein praktischer Sport-BH zum Vorschein kam. »Die können wir ja in der Wanne besprechen.« Seine Stimme war pure Lust, und als sie an sich herabschaute, wusste sie auch, warum. Vom Regen klebte ihr schwarzer BH wie eine zweite Haut an ihr und zeichnete ihre Brustwarzen klar und deutlich ab.
»Soll mir recht sein.« Außerstande, ihm gleichzeitig in die Augen zu sehen und zu denken, kehrte sie ihm den Rücken zu, entledigte sich ihrer Stiefel und Strümpfe, bevor sie sich aus dem BH schälte. Ihre Finger machten sich gerade am Bund ihrer Cargohose zu schaffen, als sie seine Körperwärme hinter sich spürte. Eine Sekunde später hatte er ihren Haargummi gelöst. Überraschenderweise hatte es gar nicht wehgetan. Die nassen Strähnen fielen ihr nur einen Augenblick später in den Nacken.
Lippen an ihrem Nacken. Heiß. Sündig.
Wieder erzitterte sie, bekam am ganzen Körper Gänsehaut. »Nicht mogeln.«
Große, warme Hände fuhren ihren Körper entlang, legten sich über ihre Brüste. Sie fuhr zusammen, stöhnte. »Hör auf, mir ist kalt.« Obwohl er seine Sache recht gut machte, sie auch von innen her zu wärmen.
Weitere Küsse an ihrem Hals.
Sie legte ihre Hände über seine und neigte den Kopf, um ihm ihren Hals darzubieten. Mit der Zunge fuhr er darüber, jagte einen Wassertropfen, der von ihrem Haar gefallen war, den Nacken hinunter bis zur Schulter und wieder zurück. Als sie sich aufrichtete, klemmte er seine Daumen in ihren Hosenbund.
»Nein, nein«, sagte sie und zog sich vor ihm zurück. »Erst die Bedingungen.«
»Ja, die sind sehr wichtig.«
Sie wartete, dass er um sie herumging. Was er jedoch nicht tat. Sie verzog enttäuscht den Mund. Und da sie ohnehin gefährlich lebte, kam es jetzt auch nicht mehr darauf an. Mit einer einzigen Bewegung entledigte sie sich ihrer Hose samt Unterhose und schleuderte sie mit dem Fuß weg. Danach sah sie ihn über die Schulter hinweg an.
Kobaltfarbene Blitze standen in den Augen des Erzengels. Lebendig. Zeugen seiner Unsterblichkeit. Sie hielt die Luft an und wusste, wollte sie sich mit diesem Mann einlassen, musste sie ihm bei diesem Spiel ebenbürtig sein. Also warf sie ihm einen verruchten Blick zu, stieg die Stufen zur Wanne hoch und glitt ins Wasser.
»Ooooooh.« Flüssige Hitze. Himmlisch. Sie tauchte unter und kam wieder hoch, strich sich das Haar aus dem Gesicht.
Er stand noch immer an derselben Stelle, beobachtete sie mit diesen unsäglichen Augen. Aber diesmal war sie nicht wie hypnotisiert. Nicht, wenn sie sich an seinem nackten Körper ergötzen konnte. Traumhaft war er gebaut, die Muskeln seiner Brust wie gemeißelt, ein Mann, der seinen Körper beherrschte– auch im Flug.
Ihre Augen liebkosten seine geschwungenen Brustmuskeln, seinen Bauch, glitten tiefer. Ihr Atem stockte, sie musste sich zwingen, wieder hochzusehen. »Komm her.«
Er zog die Brauen hoch, doch dann, zu ihrer maßlosen Verwunderung, gehorchte er ihr. Als er in die Wanne stieg, taxierte sie seine mächtigen Oberschenkelmuskeln– wie würde es sich wohl anfühlen, wenn sie sich kraftvoll um sie schlangen, während er sich in ihr versenkte? Ihr Bauch krampfte sich zusammen. Noch nie hatte sie einen Mann so heftig begehrt, noch nie hatte sie sich so weiblich gefühlt. Raphael konnte sie zerbrechen wie einen Zweig. Für eine geborene Jägerin wie sie war das keine Bedrohung… sondern die dunkelste Versuchung, die es gab.
Unter Wasser ballte sie die Hand zur Faust, dachte daran, wie er sie gezwungen hatte, sich zu schneiden. Sie hatte es nicht vergessen, hegte keine romantischen Phantasien, dass er sich würde ändern und menschlicher werden können. Nein, Raphael war der Erzengel von New York, und sie musste bereit sein, diesen Mann in ihr Bett zu lassen. Das Wasser umspielte ihre Brüste, als er sich ihr gegenüber mit zusammengefalteten Flügeln in die Wanne setzte. Vom Dampf kräuselten sich seine Haare.
»Warum so zurückhaltend?«, fragte sie, denn sie hatte die offenkundigen Zeichen seiner Erregung sehr wohl gesehen.
»Wenn man schon so lange gelebt hat wie ich«, sagte er mit schweren Lidern, die Augen voll Begierde auf sie gerichtet, »dann lernt man, neue Eindrücke zu schätzen. Sie sind so selten im Leben eines Unsterblichen.«
Sie war näher gerückt. Er legte einen Arm um ihre Taille und zog sie noch dichter zu sich heran, bis sie rittlings auf ihm saß, gerade unterhalb der Wasserlinie, und ihre Beine um ihn schlang.
Er presste sich fest an sie.
Atemlos sagte sie: »Sex ist doch wohl nichts Neues für dich«, fühlte, wie hart er war, und rieb sich mit ihrer heißen Mitte daran. »Gut« beschrieb nur sehr unzulänglich, wie es sich anfühlte. Wie er sich anfühlte.
»Nein. Aber du bist es.«
»Hast du noch nie eine Jägerin gehabt?« Sie lächelte und knabberte an seiner Unterlippe.
Doch er blieb ernst. »Ich habe noch nie Elena gehabt.« Seine Stimme klang heiser, seine Augen blickten sie so besitzergreifend an, als gehörte sie nur ihm allein.
Da legte sie die Arme um seinen Hals und lehnte sich zurück, damit sie sein Gesicht sehen konnte. »Und ich habe noch nie Raphael gehabt.«
In diesem Moment war ihr, als habe sich alles verändert, als sei sie sich selbst fremd geworden.
Dann legte Raphael ihr seine starken Hände auf den Rücken, und das Gefühl verschwand. Es war nichts, dachte sie, nur eine Ausgeburt ihrer Fantasie. Niedergeschlagen und müde war sie, und so verdammt verrückt nach diesem Unsterblichen, der, Lust hin oder her, keinen Hehl daraus machte, dass er sie irgendwann doch töten würde.
»Die Bedingungen«, sagte Raphael und fing ihren Blick auf, hielt ihn fest.
Kraftvoll rieb sie sich entlang seiner Erektion. Heute brauchte sie den Genuss, den Raphael ihr verschaffen konnte. Und wenn in dem Vergnügen auch etwas an Grausamkeit stecken würde, dann nahm sie es in Kauf. »Ja?«
Unvermittelt hielt er ihre Bewegungen auf. »Bis das hier vorbei ist, bin ich der Einzige für dich.«
Ihr Körper versteifte sich bei diesen Worten, dem Ausdruck seiner Besitzgier. »Bis was vorbei ist?«
»Dieses heftige Verlangen.«
Das Problem war nur, dass sie sich nicht vorstellen konnte, dass es jemals nachlassen könnte, sondern sie den Erzengel von New York bis ans Ende ihrer Tage begehren würde. »Nur wenn du auch eine meiner Bedingungen erfüllst.«
Das gefiel ihm ganz und gar nicht, er blickte sie so angespannt an, dass seine Wangenknochen hervortraten. »Schieß los.«
»Auch für dich keine Vampir-, Menschen-oder Engelliebchen.« Sie grub ihm ihre Nägel in die Haut. »Ich teile dich mit niemandem.« Vielleicht war sie ein Spielzeug, aber dieses Spielzeug hatte Krallen.
Endlich entspannten sich seine Gesichtszüge wieder, der zufriedene Blick in seinen kobaltblauen Augen war nicht zu übersehen. »Abgemacht.«
Eigentlich hatte sie mit Widerstand gerechnet. »Ich meine es ernst. Keine andere Frau. Sonst schneide ich die Hände ab, die dich berührt haben, und lade die Leichen dort ab, wo sie niemand finden wird.«
Ihre schauerliche Drohung schien ihn zu amüsieren. »Und was stellst du mit mir an? Schießt du wieder auf mich?«
»Ich habe deswegen kein schlechtes Gewissen.« Aber das hatte sie doch. Wenn auch nur ein klitzekleines. »Tut es noch weh?«
Er lachte, und die unverhohlene Freude, die damit zum Ausdruck kam, war wie eine Liebkosung. »Ach, Elena. Ich kenne niemanden, der so voller Widersprüche ist wie du. Nein, es tut nicht mehr weh. Es ist verheilt.«
Eigentlich wollte sie überlegen wirken, aber sein Lächeln brachte sie zum Schmelzen. »Also, was macht einen Erzengel scharf?«
»Eine nackte Jägerin ist schon mal ein vielversprechender Anfang.« Er drückte sie härter gegen seine Erektion und hielt sie dort fest. »Meine Flügel«, sagte er, küsste ihren Hals genau an ihrer empfindlichen Stelle direkt über dem Schlüsselbein.
Besänftigt küsste sie ihn zurück. »Flügel?« Sie knabberte an seinem Hals, dort, wo sich die Sehnen abzeichneten, fühlte eine heiße Sehnsucht ihren Körper hinaufsteigen– sie hatte gedacht, sie bräuchte nur einen kurzen, heftigen Orgasmus, um von ihrem Adrenalintrip herunterzukommen, doch jetzt, da sie in seinen Armen lag, schien ihr ein langsames Abgleiten ins Reich der Vergessenheit noch viel willkommener.
Als er nicht antwortete, entschloss sie sich, ihn auf eigene Faust zu erkunden. Kräftig strich sie mit der Hand über seine rechte Flügelspitze. Er verkrampfte sich, eine Art abwartende Verkrampfung, also entweder hatte sie etwas sehr Schlimmes oder sehr Schönes getan. Da er immer noch hart und heiß unter ihr pochte, entschied sie sich für Letzteres und fuhr fort. Diesmal erschauderte er.
»Sind Flügel wirklich sexuell erregbar?« Mit zusammengekniffenen Augen ergriff sie ihn herzlos am Schopf und zog ihn von ihrem Hals weg. »Dieses Miststück hat deine Flügel mit ihren gestreift.«
Auch wenn beide wussten, dass er sich in Sekundenschnelle hätte befreien können, ließ er sie gewähren. »Nur in gewissen Situationen.« Mit einem seiner langen Finger umkreiste er ihre Brustwarzen.
Sie schlug ihm auf die Finger. »Das kaufe ich dir nicht ab.«
Er streichelte ihre Armbeuge, und sie bekam eine Gänsehaut. »Ist das bei dir immer so empfindlich?«
»Hmm.« Aber zumindest ließ sie jetzt seine Haare los und gewährte ihm einen richtigen Kuss.
Als sie sich wieder voneinander lösten, um nach Luft zu schnappen, sagte er: »Ja, Flügel sind immer empfindlich. Aber sexuell erregt nur bei einem erotischen Kontakt– was mit dir immer der Fall zu sein scheint.«
»In tausend Jahren oder mehr lernt man wahrscheinlich charmant zu sein«, sagte sie an seinen Lippen. Makellose Lippen, an denen sie Stunden herumknabbern wollte. »Du bist ganz schön gerissen.«
»Für einen Krieger vielleicht.«
Sie war zu sehr damit beschäftigt, ihn zu küssen, um ihm gleich antworten zu können. Ihr ganzer Körper war auf ihn eingestimmt, ihre Haut so empfindlich, dass sie zu zerreißen drohte. »In der Wanne?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich will dich in meinem Bett.«
»Noch ein gefallenes Mädchen«, murmelte sie. »Wo ist die Seife?«
Auf dem Badewannenrand lag eine beinahe durchsichtige Seife. Als er langsam ihre Schultern damit einschäumte, stieg ein klarer, frischer Duft auf– Wasser, Wind und Wald–, ein Duft, der dem seinen ähnlich war. »Fallen denn viele?«, fragte er und widmete sich ihren Brüsten.
Ihr Unterleib zog sich noch etwas mehr zusammen. »Vampire sind sexy«, zog sie ihn auf. »Engel sind im Allgemeinen zu versnobt, um sich mit Menschen abzugeben. Ich habe gedacht, ihr seid zu hoch entwickelt, um jemanden zu lecken.«
Durch seine dichten schwarzen Wimpern sah er sie an, seine seifigen Hände tauchten unter das Wasser und stellten Dinge mit ihr an, die ihr herrlich verboten vorkamen. »Dann werde ich dich heute Nacht einmal aufklären.«
Sie bewegte sich auf seinen Fingern auf und ab, wollte ihn zu mehr verlocken. »Ja, unbedingt.«
Der Erzengel reichte ihr die Seife, ließ die andere Hand aber dort, wo sie war, und streichelte sie mit einer Geduld, die den meisten auch mit mehr als zehntausend Jahren Lebensalter nicht gegeben gewesen wäre. »Komm, Jägerin. Jetzt bist du an der Reihe, mich zu unterrichten.«
»Lektion eins«– sie holte tief Luft–, »man lasse der Jägerin immer ihren Willen.« Während er sie immer mehr in Wallung brachte, hielt sie seinem Blick stand, bediente sich jetzt ebenfalls der Seife und begann seinen Körper zu erkunden. Muskeln, Sehnen, Kraft– in jeder Hinsicht war er ergötzlich. »Oh!« Ihr war die Seife aus der Hand geglitten, mit ihren rutschigen Händen hielt sie sich an seinen Schultern fest, während er ihre Klitoris zwischen seine Finger nahm und drückte, bis sie kurz vor dem Orgasmus stand. »Hör auf«, hauchte sie, und er gehorchte… aber nur, um zwei Finger tief in sie hineinzustecken.
»Lass dich fallen«, sagte er und küsste ihren angespannten Nacken. »Lass dich fallen.«
Fallen lassen? Beim Sex? Das hatte sie nie, nicht seit dem ersten Mal. Unerfahren, wie sie war, hatte sie sich bei ihrem Freund so festgehalten, dass sie ihm das Schlüsselbein gebrochen hatte. Aber Raphael war kein Mensch– er würde nicht so schnell zerbrechen, würde in ihr kein Unweib sehen. Und dann gewann der Genuss die Oberhand. Brutal küsste sie der Erzengel, dabei duellierten sich Zungen und Lippen, während er seine Finger hart in sie trieb. Sie kam heftig, ihr Körper reagierte beinahe schmerzhaft vor Lust.
Danach nahm sie noch undeutlich wahr, dass Raphael das Abseifen beendete. Als er ihr sagte, sie solle sich zurücklehnen, damit er ihre Haare ausspülen konnte, tat sie dies mit einem seligen Lächeln auf den Lippen. Daran würde sie sich gewöhnen können, konnte sie nur noch denken und drängte gleichzeitig alle Gedanken an eine Zukunft beiseite. Denn ihre Lebenserwartung war nicht annähernd so lang wie die eines gewöhnlichen Menschen. Erstens führte sie als Jägerin grundsätzlich ein gefährliches Leben, und zudem verfolgte sie ein monströser, geistig verwirrter Erzengel.
»Steh auf.«
Sie erhob sich und küsste Raphael dabei. Er küsste sie zurück und sah sie überrascht an. »Wie lange wirst du dich meinen Wünschen denn so gehorsam fügen?«
»Warts ab!« Sie ließ sich von ihm unter die Dusche führen, wo er ihr den letzten Schaum abwusch, bevor er nach einem riesigen himmelblauen Handtuch griff. Sie nahm es ihm aus der Hand und trocknete sich ab, beobachtete dann mit angehaltenem Atem die eleganten Bewegungen, mit denen er seinen vollkommenen Leib trocken rieb. Ganz offensichtlich war ihm nicht bewusst, welche Wirkung er dabei ausübte. Dieser Gedanke gefiel ihr.
Zweifellos wusste Raphael um seine Schönheit, welche Reaktion er bei Sterblichen hervorrief. Doch jetzt erlebte sie ihn anders und stellte fest, dass er hinter seiner arroganten Fassade ganz und gar nicht eitel war– je länger sie darüber nachdachte, desto mehr passte auch alles zusammen. Sah man von seinen zivilisierten Umgangsformen ab, war er im Herzen ein Krieger, sein Aussehen war lediglich eine weitere Waffe in seinem Arsenal.
Ohne jede Vorwarnung breitete er seine Flügel aus, und Tausende winziger Wassertropfen regneten auf sie nieder. »He!« Aber sie war schon fest in ein Handtuch gewickelt und streckte jetzt den Arm nach einem weiteren aus, um ihm die Flügel trocken zu tupfen.
»Die trocknen von selbst.«
»Aber macht das auch so viel Spaß?« Mit einem bedeutungsvollen Blick auf seine Erektion ließ sie den weichen Stoff vorsichtig über seine Flügel gleiten.
»Beeil dich, Elena.« Da waren sie wieder, die kobaltblauen Blitze in seinen Augen. »Ich will dich bis zur Besinnungslosigkeit vögeln.«
Oh mein Gott. Sie ließ das Handtuch fallen, zog seinen Kopf zu sich heran und küsste ihn wild und leidenschaftlich. Aus seiner Reaktion schloss sie, dass es ihm gefiel. Er schob das Handtuch, in das sie sich gehüllt hatte, fort und hob sie hoch, bis sie schließlich ihre Beine um ihn geschlungen hatte. Dann löste er sich von ihren Lippen und trug sie aus dem Badezimmer hinaus. »Ich bin dran, Jägerin.«
32
Sanft ließ er sie auf das Bett fallen.
»Herrlich«, sagte sie seufzend und genoss das berauschende Gefühl der Laken auf ihrer Haut, ihre Augen verschmolzen mit Raphaels. Sein Blick war so männlich leidenschaftlich, so besitzergreifend, dass sie eine Sekunde lang befürchtete, einen Fehler gemacht zu haben. Was, wenn er sie für immer behalten wollte? »Hattest du schon mal einen Sklaven?«, fragte sie.
Spöttisch verzog er den Mund, doch neben reiner Belustigung lag auch Verlangen darin. »Viele.« Er griff nach ihren Beinen, spreizte sie. »Alle sehr erpicht darauf, mir zu dienen– in jeder erdenklichen Weise.«
Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, aber er zog sie noch fester an sich, in seinen Augen brannte die reine Begierde. »Manche von ihnen hatten Jahre damit verbracht zu lernen, wie man einem Mann Genuss verschafft. Schließlich hatten die Vampire auch viele Hundert Jahre Zeit zum Üben.«
»Mistkerl.« Eine scharfe Bemerkung zwar, aber ihr Bauch zog sich schon vor Vorfreude zusammen, und ihre Brüste glühten heiß.
»Wie dem auch sei«– er hob sie etwas an, dann bohrte er sich mit einem einzigen mächtigen Stoß in sie–, »keiner von ihnen habe ich verboten, andere Liebhaber zu haben.«
Sie bäumte sich auf, um die Wucht seines Stoßes aufzufangen, ihn ganz in sich aufzunehmen, er füllte sie aus, dehnte sie lustvoll. Als sie wieder zur Besinnung kam, fand sie ihn noch in derselben Stellung, als wenn auch er um Beherrschung ränge. »Du kommst mir nicht gerade wie jemand vor, der gerne teilt.« Ihre Stimme war heiser.
»Nein. Wenn eine von ihnen sich einen anderen Mann genommen hatte…«, langsam und vorsichtig zog er sich zurück, »… dann warteten schon hundert andere darauf, ihren Platz einzunehmen. Mir war das ziemlich einerlei.«
Sie konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen, alles war auf den Punkt gerichtet, an dem sich ihre Körper berührten. Und was immer an Verstand noch übrig war, brach unter der Verführung seiner berauschenden Worte zusammen.
»Wenn du dir einen anderen Liebhaber nimmst, Elena« – sie schnappte nach Luft, als er von Neuem in sie eindrang –, »wird die Menschheit meine Rache nicht vergessen.« Und dann gab es keine Worte mehr, nur noch Körper, die aufeinandertrafen – er stieß, sie parierte –, bis sich ihre Ekstase explosionsartig in einem Orgasmus entlud.
Ihr letzter Gedanke war, dass sie das leidenschaftliche Verlangen, das sie füreinander hegten, wohl unterschätzt hatte.
Beim Erwachen merkte sie, dass sie auf etwas Warmem, Weichem, Seidigem geschlafen hatte. Als sie ihre Finger darübergleiten ließ, stellte sie fest, dass sie… »Oh!« Erschrocken fuhr sie in die Höhe. Ein kräftiger männlicher Arm drückte sie liebevoll wieder zurück.
»Deine Flügel«, flüsterte sie und streichelte eine seiner prächtigen Schwingen.
»Die können das verkraften.« Ein träger, typisch männlicher Kommentar voll von… Gott weiß was.
Gerade wollte sie sich ihm zuwenden, da fiel ihr Blick auf ihren Körper. »Oh nein, du hast doch nicht!« Von Kopf bis Fuß glitzerte sie, in jeder Pore Engelsstaub, auf ihren Wimpern, in ihrem Mund. Seine spezielle Mischung.
Zärtlich ließ er seine Hand über ihre Hüfte gleiten, ihren Bauch, ihre Brust. »Das war… keine Absicht.«
Hörte sie aus seiner Stimme etwa Verlegenheit heraus? Mit gerunzelter Stirn leckte sie sich das glitzernde Zeug von den Lippen. Ein warmes und kribbeliges Gefühl überkam sie– dabei brannte ihr gesamter Körper sowieso schon. »Ist das wie… nun ja… danebengeschossen?«
Er drückte sie. »Willst du dich etwa beschweren?«
Unwillkürlich musste sie lächeln, denn sie hatte mit ihrer Vermutung richtiggelegen– der Erzengel hatte die Beherrschung über sich verloren. »Nein, zum Teufel.« Sie drehte sich aus seiner Umarmung, um ihn anschauen zu können. Ihr Lächeln erstarb. »Du siehst irgendwie… verändert aus.« Doch sie kannte den Grund dafür nicht. Aber…
Ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Du hast mich ein Stück weit zu einem Menschen gemacht.«
Erinnerungen stiegen in ihr auf. Raphael, als er nach dem Schuss blutend dalag. »Was bedeutet das?«
»Ich kann es dir nicht sagen.« Sein Kuss war feurig, und ehe sie sichs versah, war er schon in sie eingedrungen, ihre Vereinigung war schnell und heftig, unglaublich schön.
Sehr viel später, während sie einem neuen, viel versprechenden Tag entgegenblickten, versuchte sie sich den Engelsstaub abzuwaschen, jedoch nur mit mäßigem Erfolg. Nach wie vor lag ein Schimmer auf ihrer Haut, aber seine Herkunft war nicht mehr ganz so offensichtlich. Und zum Glück leuchtete dieses Zeug tatsächlich nicht in der Dunkelheit. »Wenn irgendjemand das hier probiert«, sagte sie zu Raphael, der ihr entspannt vom Kamin her beim Anziehen zusah, »stürzt er sich dann vor Geilheit auf mich?«
»Ja«, sagte er mit strahlenden Augen. »Also lass lieber keinen in deine Nähe kommen.«
Sie erstarrte bei der unterschwelligen Drohung, die sein Befehl enthielt. »Bring meinetwegen bloß niemanden um, Raphael.«
»Du hast dich entschieden.«
Mit einem Erzengel zu schlafen.
»Ich glaube, das sexuelle Hochgefühl lässt langsam nach«, murmelte sie, zog ein frisches Paar khakifarbener Cargohosen und ein schwarzes T-Shirt an. Darüber streifte sie auch noch einen schwarzen Pullover. Es war noch früh am Morgen, alles war dunkel, und der Regen hatte die Temperatur gesenkt. »Ich meine es ernst, Raphael. Wenn du meinetwegen Unschuldige tötest, dann jage ich dich.« Sie gab sich keine Mühe, ihre Waffen zu verbergen– einschließlich der besonderen Pistole–, ganz offen zog sie sie aus ihrer Reisetasche und bewaffnete sich damit.
Sein Gesicht blieb ausdruckslos, während er dasaß und sie einfach nur anstarrte, seine Flügel wurden von den Flammen im Kamin beleuchtet. Bis auf ein Paar schwarzer Hosen war sein prächtiger Körper nackt. »Sind die Flitterwochen schon vorbei?«
Sie ging auf ihn zu und schaute ihm ins Gesicht, ein Gesicht, das sie von nun an für alle Ewigkeit in ihren Träumen sehen würde. »Nein.« Sie legte die Hände auf seine muskulösen Schultern und wartete, bis er den Kopf hob, damit sie ihn küssen konnte. »Ich gebe dir einen Tipp– wenn du in mir dein Spielzeug sehen willst, bitte schön. Erwarte nur nicht, dass ich mich wie eins verhalte.«
Eine feste Hand in ihrem Nacken, eine warnende Geste. »Versuch nicht, mich zu beeinflussen, kleine Jägerin. Ich bin nicht…«
Der Rest seiner Worte ging in einem scheppernden weißen Getöse unter.
Komm, kleine Jägerin. Koste.
»Elena.« Dieses eine schneidende Wort holte sie zurück in die Gegenwart.
»Prima.« Sie räusperte sich. »Gut, dass wir das geklärt haben. Es hat aufgehört zu regnen…«
»Was hast du gesehen?«
Kopfschüttelnd blickte sie ihn an. »Ich bin noch nicht so weit, es dir zu erzählen.« Vielleicht würde sie es auch nie sein.
Gewaltsam wollte er ihr das Geheimnis nicht entreißen. »Es nieselt immer noch leicht. Seine Erstarrung müsste noch anhalten.«
»Ja.« Mit verschränkten Armen wandte sie sich von ihm ab. »Ich hatte gar nicht daran gedacht, aber die Kälte mögen sie nicht, oder?« Es war mehr eine rhetorische Frage. »Besonders nicht nach solch einer Völlerei.«
»Andererseits ist Uram kein Vampir.«
Frustriert stieß sie den Atem aus. »Was, zum Teufel, ist er dann? Sag es mir!«
»Er ist ein Blutengel.« Er trat ans Fenster, doch sie wusste, dass er weitaus düsterere Dinge sah als die nahende Morgendämmerung. »Wahrlich eine Abscheulichkeit, die es nie hätte geben dürfen.«
Sie konnte seinen Ärger förmlich spüren. »Ist er der erste?«
»So weit mein Gedächtnis zurückreicht, ist er der erste blutgeborene Erzengel, aber Lijuan behauptet, es habe auch schon welche vor ihm gegeben.«
Elenas Kopf füllte sich mit Bildern des allerältesten Erzengels. Lijuan zeigte als Einzige des Kaders überhaupt Alterungsspuren. Doch das tat ihrer exotischen Schönheit keinen Abbruch– ihr Gesicht, ihre markanten Züge, ihre blassen, hellen Augen. Und dennoch, irgendetwas stimmte mit ihr nicht. Als sei Lijuan nicht länger Teil dieser Welt.
»Der erste Erzengel, an den du dich erinnerst«, murmelte sie. »Was ist mit den gewöhnlichen Engeln?«
»Bravo, Elena.« Er starrte unverwandt aus dem Fenster, war ihr so fremd wie damals auf dem Dach. Es kam ihr vor, als seien seitdem schon Wochen vergangen. »Mit den anderen sind wir ganz leicht fertig geworden. Die meisten waren junge Männer, die Uram intellektuell nicht das Wasser reichen konnten, selbst nach seiner Verwandlung nicht.«
»Wie viele?« Sie bohrte ihren Blick in seinen Rücken, als könnte sie ihn dadurch zum Sprechen bewegen. »Einer pro Jahr?«
Als sie hinter ihn trat, trafen sich ihre Blicke im Widerschein der düsteren Scheibe. »Nein.«
Sie schluckte ihren Groll hinunter und trat neben ihn an das Fenster, sodass sie sich nun Auge in Auge gegenüberstanden. »Offenbar stellt ihr euch beim Verbergen dieser Blutgeborenen sehr geschickt an– die Menschen erzählen sich noch nicht einmal Märchen über sie.«
»In den meisten Fällen haben nur die Opfer davon erfahren– und das erst wenige Minuten vor ihrem Tod.«
»Das beruhigt mich sehr.« Sie ertappte sich dabei, dass sie an dem zarten Goldsaum einer Feder in der Nähe seines Bizeps entlangstrich. »Sag mal… dieses Blutgeborensein, ist das eine Art Wahnsinn, der von Anfang an in ihnen steckt?«
Mit einem Aufschlag seiner sinnlichen dichten Wimpern, auf die sie noch vor gar nicht allzu langer Zeit ihre Lippen gedrückt hatte, sah er sie an. »In uns allen steckt diese Möglichkeit.«
Verblüfft über seine Ehrlichkeit ließ sie die Hand sinken. »Willst du mich gar nicht davor warnen, dass es gefährlich ist, so viel zu wissen?«
»Du weißt schon zu viel.« Mit einem listigen Lächeln, das Alter, Skrupellosigkeit und andere lieber im Dunkel bleibende Dinge verriet, sagte er: »Gut, dass du mit mir im Bett warst. Niemand wird es wagen, meine Geliebte anzurühren.«
»Schade nur, dass das Interesse von Unsterblichen nur so flüchtig ist.« Obwohl ihr die Kälte der Fensternähe langsam unter die Haut kroch, regte sie sich nicht. »Wenn ich doch sowieso schon zu viel weiß, dann verrate mir doch, warum ein Engel zum Vampir wird.«
Er setzte ein undurchdringliches Gesicht auf. »Du bist immer noch ein Mensch.«
Nur knapp konnte sie sich zurückhalten, ihm einen Schlag zu versetzen. »Ich bin auch eine Jägerin, die einen Erzengel aufspüren soll. Du hast mich da hineingezogen. Jetzt gib mir auch die Waffen, die ich für diesen Kampf brauche.«
»Deine Aufgabe ist es, Uram aufzuspüren. Und dafür brauchen wir deine besonderen Fähigkeiten.«
Wir. Der Kader der Zehn.
»Wie soll ich denn meine Arbeit erledigen, wenn du mich ständig behinderst?« Nur mit Mühe konnte sie sich beherrschen. »Je mehr ich über die Zielperson weiß, desto leichter kann ich ihren nächsten Schritt voraussehen!«
Er strich ihr mit dem Finger über die Wange. »Weißt du, warum Illium seine Federn verloren hat?«
»Weil du schlechte Laune hattest?«, fragte sie wutschnaubend. »Und versuche nicht immer, das Thema zu wechseln.«
»Weil«, sagte Raphael, ließ sich von ihr nicht beirren, »er unser dunkelstes Geheimnis einem Menschen verraten hat.« Die Worte und der Tonfall, die er gebraucht hatte, ließen keinen Zweifel an seiner Macht und seiner Unsterblichkeit.
Gegen ihren Willen war sie tief davon beeindruckt. »Was ist aus der Sterblichen geworden?«
»Wir haben ihr die Erinnerungen genommen.« Er umfing ihre Wange. »Und Illium durfte nie wieder mit ihr auch nur ein Wort wechseln.«
»Hat er sie geliebt?«
»Vielleicht.« Seinem Gesicht entnahm sie, dass das keine Bedeutung hatte. »Er hat den Rest ihrer Tage über sie gewacht, mit dem Bewusstsein, dass sie sich nicht mehr an ihn erinnerte. Ist das Liebe?«
»Weißt du das denn nicht?«
»Im Laufe der Jahrhunderte sind mir so viele verschiedene Varianten von Liebe begegnet. Es gibt da nichts Unveränderliches.« Ausdruckslos sah er sie an. »Wenn Illium seine Sterbliche geliebt hat, dann ist er ein Narr gewesen. Sie wurde schon vor Jahrhunderten zu Staub.«
»Herzlos«, flüsterte sie, während sie die Wärme der aufgehenden Sonne in ihrem Nacken spürte. Wie lange hatten sie schon hier gestanden, seit die Nacht dem Morgengrauen gewichen war? »Hättest du ihm denn nicht ein Leben mit seiner Liebe gewähren können?«
»Nein.« Mit seinen markanten, scharfen Zügen wirkte sein Gesicht geradezu unbarmherzig. »Denn wenn ein Sterblicher unser Geheimnis kennt, weiß es schon bald der nächste. Ihr könnt einfach keine Geheimnisse bewahren.«
In diesen entschiedenen Worten sah Elena ihr eigenes zukünftiges Schicksal. »Nicht meine Erinnerungen«, mahnte sie ihn erneut. »Hetz mich zu Tode, wenn es sein muss, aber wage nicht, mir meine Erinnerungen zu nehmen.«
»Lieber stirbst du?«
»Ja.«
»So sei es.«
Die Endgültigkeit, mit der er diese drei letzten Worte wie ein Gelübde hatte klingen lassen, versetzte ihr einen Adrenalinstoß. »Um mich umzubringen, musst du mich erst einmal haben, ich hoffe, du weißt das.«
Kalt und arrogant lächelte er sie an, das Lächeln eines Mannes, der um seine Gefährlichkeit wusste. »Es wird den Überdruss der Jahrhunderte durchbrechen.«
Sie schnaubte abfällig und sah nach draußen. »Der Regen hat aufgehört. Ich gehe jetzt. Wenn Uram diese Nacht nicht in der Erstarrung verbracht hat, finde ich vielleicht seine Spur.«
»Iss erst einmal etwas.« Er trat vom Fenster weg. »Meine Männer haben die ganze Nacht weitergesucht– wenn er wieder getötet hätte, wüsste ich es längst.«
Auch wenn sie es vor Ungeduld kaum noch aushalten konnte, etwas zu essen würde ihr guttun, deshalb willigte sie ein. »Ich hole mir schnell einen Happen.«
»Fängst du bei Michaela an?«
»Ja, kann ich. Wenn Uram schon wieder auf den Beinen ist, stattet er ihr bestimmt einen Besuch ab. Es gibt…« Das Läuten kam ihr bekannt vor. »Verflucht, wo habe ich es nur gelassen?«
»Hier.« Raphael suchte das Handy aus ihren Sachen heraus, die sie achtlos auf ihre Tasche geworfen hatte. »Fang!«
»Danke.« Nach einem Blick auf das Display drehte sich ihr der Magen um. »Hallo, Jeffrey.« Was ihr Vater wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass sie gerade neben einem halbnackten Erzengel stand? Wahrscheinlich würde er sie anhalten, jetzt gleich einen Handel mit ihm abzuschließen, solange er vor lauter Sex noch ganz benommen war.
Sie betrachtete Raphaels hochintelligentes Gesicht von der Seite, während er einen Laptop anschaltete, der ihrer Aufmerksamkeit bislang entgangen war, dann musste sie unweigerlich grinsen. »Was gibt’s?« Der Wunsch, einfach aufzulegen, war übermächtig, aber eher würde sie sich die Zunge abbeißen, als vor ihrem Vater klein beizugeben.
»Du musst zu mir ins Büro kommen.«
Irgendetwas in seinem Tonfall drang durch ihre komplizierten und vielschichtigen Gefühle der Wut hindurch. »Ist jemand bei dir?«
»Auf der Stelle, Elieanora.« Er hängte ein.
»Mein Vater will mich sehen.«
Raphael wandte sich vom Bildschirm ab und sah sie mit hochgezogener Braue an. »Ich dachte, du hättest deinem Vater schon gestern alles gesagt.«
Sie fragte ihn erst gar nicht, woher er das schon wieder wusste– nicht etwa, dass ihr Vater und sie besonders leise gesprochen hätten. »Da stimmt etwas nicht. Steht das Auto noch vor der Tür?«
Einen Moment lang hielt er inne, und ihr war klar, dass er mit den Vampiren in Gedanken kommunizierte. »Dmitri fährt dich.«
»Na schön.« Sie wandte sich zum Gehen. »Wenn das eines von Jeffreys Machtspielchen ist… Mist, nein, ich lasse nicht alles stehen und liegen, nur weil er es so will.« Sie zerrte ihr Handy raus und rief ihn zurück. »Ich bin auf der Jagd«, sagte sie, sobald er abnahm. »Ich habe keine Zeit, glückliche Familie zu spielen.«
»Dann hast du vielleicht Zeit, die Sauerei hier wegzumachen, die dein Freund hinterlassen hat.«
Ihr stockte das Herz. »Wovon sprichst du?«
»Ich bin ziemlich sicher, dass sie noch am Leben war, als er sie auseinandergebrochen und ihr die Eingeweide aus dem Leib gerissen hat.«
33
Raphael flog sie zum Haus ihres Vaters und landete so anmutig, dass es Zuschauern bestimmt den Atem verschlagen hätte. Aber zu dieser frühen Morgenstunde waren in dieser vornehmen Gegend nur die Vögel unterwegs.
Sobald sie gelandet waren, schlug ihr der Geruch in die Nase. Der mittlerweile vertraute stechende Säuregeruch, versetzt mit sattem, frischem Blut. »Uram«, sagte sie zu Raphael, als sie sich die Stufen zur Haustür hinaufbegaben. »Er weiß, dass ich ihm auf den Fersen bin.«
Prüfend warf Raphael einen Blick auf die Straße zurück. »Entweder hat er die Gedanken von jemandem gelesen, der von deiner Beteiligung weiß, oder er hat dich bei der Jagd beobachtet.«
»Zauber.« Sie kniff die Lippen zusammen und trat durch die Tür, die ihr Vater für sie offen gelassen hatte. »Jeffrey ist in seinem Arbeitszimmer. Er sagte, die Tote befinde sich oben in der Wohnung.« Eine Wohnung, von der sie bislang angenommen hatte, dies sei die Erweiterung der Büroräume ihres Vaters.
Sie gingen direkt die Treppe hoch. Gerade als sie hineingehen wollte, kam ihr Geraldine in den Sinn. Blasse Haut, tadelloses Kostüm, Vampirduft, vermischt mit ihrem Parfüm. »Scheiße.« Sie trat ein.
Das Wohnzimmer war leer. Erst als sie sicher war, keine Beweise zu vernichten, überquerte sie den Teppich und folgte dem Geruch zu einer Tür, die, wie sich herausstellte, in das Schlafzimmer führte. Die Frau lag genauso da, wie Jeffrey es beschrieben hatte. Sie sah aus, als hätte jemand angefangen, eine Autopsie an ihr vorzunehmen, und sei mitten in seiner Arbeit unterbrochen worden. Ihr Brustkorb war aufgebrochen und ließ ihre inneren Organe sehen, Hautlappen hingen zu beiden Seiten herunter.
Aber das war es nicht, was Elena an der Türschwelle plötzlich stocken ließ.
Sie hatte mit Geraldine gerechnet, aber diese Frau war nicht Geraldine. Die goldene Haut der Toten ließ vielmehr an tropische Gefilde denken, und ihre Haare waren ein helles Blond. Sie war von zartem Knochenbau und eher von durchschnittlicher Größe. Ihren weichen Lippen war immer noch anzusehen, dass sie oft gelächelt hatten. Sie ballte die Fäuste. »Das ist Urams Werk.« Sie schleuderte die Worte wütend hervor. »Ich werde mich sofort auf den Weg machen.«
Gerade wollte sie sich an Raphael vorbeidrängen, da hielt er sie am Arm fest. »Geh nicht leichtsinnig Risiken ein, nur weil du sauer auf deinen Vater bist.«
»Ich bin nicht sauer.« Ihre Gefühle gingen wild durcheinander, sie wusste selbst nicht mehr, was sie fühlte. »Sie sieht aus wie meine Mutter«, stieß sie hervor. Eine schwache Nachahmung, eine dürftige Kopie nur. Aber ganz anders als Jeffreys neue kühle Gattin Gwendolyn.
»Sie war seine Geliebte.«
»Du hast Bescheid gewusst?« Natürlich hatte er es gewusst– der Kader der Zehn würde doch niemandem trauen, den er nicht auf Herz und Nieren geprüft hatte. »Ist ja auch egal. Um meinen Vater geht es hier nicht– Uram hat angefangen, mich und die Meinen zu jagen. Er hat uns einen Köder hingeworfen.«
Raphael gab sie frei und trat ins Zimmer. »Dein Vater hat gesagt, sie sei noch warm gewesen, als er sie gefunden hat?«
Mit einer fahrigen Bewegung pflichtete sie ihm bei, ihr ganzer Körper stand unter Schock. »Er hat ihr den Puls gefühlt.« Weiß der Geier, warum. »Das heißt, lange ist Uram noch nicht wieder unterwegs. Höchstens seit ein paar Stunden.«
»Ich glaube, er hat ihr Blut nicht angerührt. Außer den Verletzungen, die zu ihrem Tod geführt haben, gibt es keine Hinweise darauf.«
»Ist wahrscheinlich immer noch übersatt.« Sie konnte es nicht fassen, dass ihre Stimme so normal klang, dabei stand sie kurz vor einem Zusammenbruch. Nach Marguerites Tod hatte Jeffrey ihr und Beth verboten, den Namen der Mutter auch nur zu erwähnen, obgleich er mit diesem Schatten ihrer verstorbenen Mutter gelebt hatte. Aber für Jeffreys Unaufrichtigkeit konnte diese auf brutale Weise ums Leben gekommene fremde Frau nichts– sie hatte es verdient, dass ihr Mörder der gerechten Strafe des Kaders zugeführt wurde.
»Übersättigt«, wiederholte sie, bemüht, ihre immer wieder davonlaufenden Gedanken gewaltsam in den Griff zu bekommen, »aber nicht dumm.« Langsam agierte Uram wie ein verstandesgelenktes Wesen. »Vampire im Blutrausch erreichen dieses Stadium für gewöhnlich erst nach drei oder vier Monaten. Und der Einzige, der seine Verwandlung so lange überlebt hat, war…« Der Name blieb ihr im Halse stecken, tückisch und bösartig.
»Slater Patalis«, vollendete Raphael den Satz für sie. »Schlangengift ist da, um hier aufzuräumen. Ich werde über dem Haus kreisen, und Dmitri hat Befehl, sich fernzuhalten.«
»Gut.« Sie wandte den Blick ab, es war ihr ganz unmöglich, diese Frau auf dem Bett anzuschauen. »Was ist mit meinem Vater?«
»Er weiß lediglich, dass seine Geliebte von einem bösartigen Vampir ermordet wurde. Umso besser für uns, wenn sich seine Version herumspricht.«
Als sie hinuntergingen, nahm Elena Schlangengifts Geruch wahr, der sich die Treppen hochschlängelte. »Die Ermordete hat Angehörige«, sagte der Vampir. »Doch niemanden hier in der Stadt.«
Auf einmal durchfuhr sie ein erschreckender Gedanke. »Hatte sie Kinder?« Einen Bruder oder eine Schwester, von der sie nichts wusste?
Doch Raphael konnte sie beruhigen. »Nein, da bin ich mir ganz sicher.«
Daraufhin nickte Elena nur kurz, und er wandte sich wieder Schlangengift zu. »Die Tote darf auf keinen Fall hier gesucht oder gefunden werden.«
»Selbstverständlich nicht. Ich werde eine falsche Fährte legen, die aus der Stadt hinausführt.« Der Vampir ging an ihnen vorbei die Treppe hoch. »Jason ist zurück.«
Als sie unten in der Halle standen, wollte Elena aus einem Impuls heraus zu ihrem Vater ins Arbeitszimmer gehen, aber sie unterließ es, denn am Ende würden sie sich sowieso nur wieder anschreien. »Wer ist denn Jason?«, fragte sie stattdessen und konzentrierte sich darauf, Schlangengifts Geruch auszublenden, um Urams Witterung aufzunehmen.
»Einer meiner Sieben.«
Der Blutengel ist durch die Hintertür verschwunden, dachte sie und folgte der Fährte. »Warum lässt du die Leiche verschwinden? Sie ist zwar übel zugerichtet, sieht aber doch immer noch nach einem klassischen Vampiropfer aus.«
»Vielleicht hat Uram sie gezeichnet.«
Sie öffnete die Hintertür und fühlte etwas Klebriges an ihren Händen. Rostrote Flecken. Getrocknetes Blut. »Er spielt mit uns.« Sie wischte sich die Hände an der Hose ab. Viel lieber hätte sie sie richtig gewaschen, aber vielleicht würde sie dann die Spur verlieren. Die Fährte war ganz frisch. Durch den vorangegangenen reinigenden Regen waren viele alte Gerüche weggewaschen worden, und die neuen traten nun voller und intensiver hervor.
Ein paar Schritte von der Tür entfernt stieß sie erneut auf Blut. Sie wollte sich nicht ausmalen, woher es stammte, da Uram doch so gerne Souvenirs sammelte. Das brachte sie auf… »Michaela?«
»Ich habe sie schon gewarnt.«
In der frischen, reinen Luft konnte sie Urams Witterung beinahe sehen. Sie lief los, nahm kaum Notiz von dem Wind, den Raphaels Flügel beim Aufsteigen aufwirbelten. Eine Gruppe von Pendlern, die schon früh am Morgen unterwegs waren, wichen ihr aus, als sie aus dem schmalen Durchgang schoss und in die belebte Straße gegenüber einbog, aber niemand sah nach oben. Der Zauber, dachte sie. Bei dem Gedanken, dass Uram sie schon die ganze Zeit während der Jagd beobachtet haben könnte, überkam sie eine Gänsehaut.
Noch ein Blutstropfen, den die vielen Füße schon in den Asphalt gerieben hatten, die schon unterwegs gewesen waren, während die Stadt und ihre Bewohner erst langsam erwachten. Unbeirrt rannte sie weiter, wich gut gekleideten Geschäftsleuten und Obdachlosen, die Einkaufswagen mit ihren Habseligkeiten vor sich herschoben, gleichermaßen geschickt aus. Noch mehr Blut. Dieser Fleck war so groß, dass die Passanten vorsichtig einen Bogen darum machten. Sie fragte sich, ob irgendjemand wohl die Polizei gerufen hatte. Wahrscheinlich nicht, schließlich waren sie hier in New York.
Hierher würde Raphael auch jemanden zum Saubermachen schicken müssen. In Gedanken notierte sie sich die Stelle, dann folgte sie der Fährte weiter; wie eine mächtige Droge pulsierte das Adrenalin in ihrem Blut. Ihr Jagdinstinkt füllte jeden Zentimeter ihres Körpers aus, jeden Winkel ihres Seins.
Sie war jetzt ganz sie selbst: die geborene Jägerin.
Ihr kam es vor, als würde sie durch Säure schwimmen, die in der heißen Sonne brannte, als sie schließlich vor einem Gebäude stand, das ihr verblüffend vertraut vorkam. Wo befand sie sich eigentlich? Verwirrt blinzelte sie, um aus dem tranceähnlichen Zustand zu erwachen, in den sie geraten war. Dann las sie die Tafel.
DAS NEUE KINDERMUSEUM– GESTIFTET VON DEVERAUX ENTERPRISES
Ihr gefror das Blut in den Adern, Entsetzen machte sich auf ihrem Gesicht breit, bis sie den ganzen Text erfasst hatte und wusste, dass das Museum aufgrund von Umbauarbeiten geschlossen war. Gott sei Dank. Wenn sich aber doch ein Kind darin befand…
Ob er dort war?
Sie verspürte auf einmal den dringenden Wunsch, sich mit Raphaels frischem Regenduft zu umgeben, aber sie widerstand der Versuchung, schob Urams Spur wieder in den Vordergrund. »Entweder das, oder wir haben ihn knapp verpasst.« Ob er wohl in das Gebäude eingedrungen war, fragte sie sich. Doch die Eingangstür war fest verschlossen. Mit gerunzelter Stirn stand sie hoch konzentriert da. »An der Tür ist sein Geruch nicht besonders ausgeprägt.«
Sie ging ein paar Schritte zurück und drehte sich dann ganz langsam im Kreis. Dort! Sie zwängte sich an dem Museum vorbei, um auf die Rückseite zu gelangen; ihr Blut klopfte wild vor Wut, Angst und Nervenkitzel. Der Parkplatz davor war leer, doch ihre Neugier wurde durch etwas anderes geweckt. Eine kleine Hintertür stand offen, klappte im Wind sanft auf und zu.
Das Herz rutschte ihr in die Hose, doch sie folgte der Witterung in das Haus hinein. Weit brauchte sie nicht zu gehen.
Direkt hinter der Tür lag Geraldine in sich zusammengesunken, als hätte sie jemand eiligst loswerden wollen. In ihr war noch Leben, Elena kauerte sich neben sie… »Oh, mein Gott!« Geraldines Kehle war aufgeschlitzt, aber sie war bei vollem Bewusstsein, ihre Augen vor Entsetzen weit aufgerissen. Wie, um alles in der Welt, hatte sie es nur geschafft, am Leben zu bleiben?
»Halte durch.« Sie fummelte an ihrem Handy herum. »Ich rufe einen Krankenwagen.«
»Nein.« Raphaels große Gestalt füllte den Türrahmen aus. »Illium wird sie zu einem Heiler bringen. Er ist jeden Moment hier.«
Sie sah ihm in die Augen, zum Streiten blieb keine Zeit.
»Danke.« Mit ihrem Tonfall bat sie darum, der Verletzten nicht noch mehr Leid anzutun.
»Wir werden ihre Erinnerungen löschen.« Unausgesprochen blieb dabei der Rest des Satzes: sollte sie am Leben bleiben.
Als Raphael sie in die Arme nahm, hustete Geraldine. »V-vam…« Es war mehr gehaucht als gesprochen, dabei hielt sie die Hände fest an den Hals gepresst, aber Elena verstand sie. Doch bevor sie noch etwas sagen konnte, war Raphael schon verschwunden.
Elena sog die Gerüche ein, doch weiter war Uram nicht ins Innere vorgedrungen. Sie trat hinaus auf den Parkplatz und begann, immer größer werdende Kreise um das Museum herum zu ziehen, in der Hoffnung, eine weitere Spur zu finden. Nichts. Das Ungeheuer hatte Geraldine einfach dort abgeladen und war dann, als Elena und Raphael sich ihnen genähert hatten, rasch davongeflogen. Als Raphael zurückkehrte, war sie schon wieder am Museum. »Dein Aufräumkommando wird heute Überstunden machen müssen.«
»Das lässt sich nicht ändern.«
»Flieg mich zu Michaela.«
»Du scheinst ja recht sicher zu sein, dass er dort ist.«
»Geraldine hatte einen Diamantring am Finger, als ich sie gestern traf. Heute ist er nicht mehr da, und der weiße Streifen um ihren Finger deutet darauf hin, dass sie ihn bestimmt nie abgenommen hat.«
»Es ist einfacher, wenn ich dich hinfliege.« Ihr erschien es ebenso vernünftig, also nickte sie, und er nahm sie hoch und barg sie in seinen Armen wie ein Kind. Wie Nebel überzog sie der Unsichtbarkeitszauber.
»Hast du es getan?«, fragte sie, während er aufstieg und sie sich mit geschlossenen Augen gut an ihm festhielt– den Anblick ihres Leibes, der sich einfach in Luft auflöste, konnte sie immer noch nicht ertragen. »Angefangen, Geraldine in einen Vampir zu verwandeln?«
»Nein.«
»Warum denn nicht? Sonst wird sie es sicher nicht schaffen. Und sie wäre überglücklich. Gewissermaßen eine Situation, in der man nur gewinnen kann.« Der Wind peitschte ihr durchs Haar, streifte ihre Wangen, sie spürte schon den nahenden Regen.
»Du stellst schon wieder verbotene Fragen.«
»Du hast mich diesem Ungeheuer ausgeliefert– nicht nur mich, auch Leute, die nur entfernt mit mir zu tun haben…« Panik ergriff sie. »Sara und meine Schwester!«
»Wir haben jeden in deinem Umfeld vor einem Vampirangriff gewarnt.«
Sie packte ihn noch fester. »Das hat bloß wenig Zweck bei einem Erzengel, oder?«
»Ja. Nur der Tod kann ihn aufhalten.«
»Und wie wirst du ihn töten?«
»Ihm das Herz herausreißen und dann mit meiner Macht in diese Stelle eindringen und ihn von innen her zerfetzen.«
Bei der bildhaften Schilderung musste sie heftig schlucken. »Kann er dir das Gleiche antun?«
»Er ist ein Erzengel.«
Mit anderen Worten, ja. Das Herz drehte sich ihr im Leibe um aus lauter Angst um ein Wesen, das schon mehr Leben hinter sich hatte, als sie es sich vorstellen konnte. »Warum kann denn ein Erzengel nur von der Hand eines anderen Erzengels getötet werden?«
»Wenn wir älter werden, gewinnen wir immer mehr Macht– einschließlich der Macht, das Leben eines anderen Unsterblichen auszulöschen.« Und vielleicht, dachte Raphael in Bezug auf Lijuans vage Andeutungen, auch die Macht, Leben neu zu wecken. Aber sicher kein Leben, das diesen Namen verdiente. »Es ist eine der Grundvoraussetzungen, um dem Kader der Zehn anzugehören. Wir müssen notfalls in der Lage sein, uns gegenseitig zu töten.«
»Und du hast jetzt nicht zu viele Informationen ausgeplaudert?«
»Das hättest du dir auch selbst zusammenreimen können.« Sie war sehr klug, stur und unnachgiebig. In all diesen Jahrhunderten war ihm noch keine Kriegerin begegnet, die ihn so herausgefordert hatte. »Die Verletzte, die wir gefunden haben, wer ist das?«
»Die Sekretärin meines Vaters, Geraldine.«
»Dein Vater beschäftigt ein Vampirliebchen?«
»Hast du das etwa nicht gewusst?« Vor Lachen verschluckte sie sich fast. »Ich dachte, du kennst jedes winzige Detail meines Lebens?«
»Assistentinnen waren nicht von Belang.«
»Na ja, also Jeffrey ahnt nichts von ihren außergewöhnlichen Vergnügungen.«
»Illium hat sie schon mal im Erotique gesehen. Sie tanzt da.« Das Erotique war ausschließlich für geladene Gäste, ein teurer Schuppen, in dem sich die besseren Vampire im Beisein von Menschen, die wussten, was sich gehörte, entspannen konnten.
»Die Tänzerinnen aus dem Erotique werden die Geishas des Westens genannt.«
Der scharfe Unterton ihrer Worte blieb ihm nicht verborgen. »Ein trefflicher Vergleich.«
Sie grub ihre Nägel in seinen Hals. »Eher wissen sie wahrscheinlich darüber Bescheid, wie man Männern gefällt, die selbst keine Anstrengung unternehmen wollen.«
»Ins Erotique gehen sowohl Vampire als auch Vampirinnen.« Er hielt inne. »Für Engel birgt es keine Reize.«
Langsam fuhr sie ihre Krallen wieder ein. »Diese Tänzerinnen– verdienen sie gut?«
Raphael setzte sich mit Illium in Verbindung und bekam die Antwort. »Ja.«
»Was hat Geraldine also bei Jeffrey gemacht? Schwarzarbeit? Ich glaube, wir sollten die Daumenschrauben herausholen, falls sie überlebt.«
»Nicht nötig. Schlimmstenfalls hat sie für einen Konkurrenten mit Reißzähnen Spitzeldienste geleistet.«
»Was wollte Glockenblümchen denn überhaupt im Erotique?«
»Menschen faszinieren ihn.« Illiums Fehler hatte ihn seine Flügel gekostet. Diese Lektion lehrte man schon die jungen Engel.
»Und wenn er sich wieder verliebt? Was ist dann?«
»Solange er unsere Geheimnisse bewahrt, darf er gerne eine Sterbliche lieben.«
»Nur dass sie in ein paar Jahrzehnten stirbt, während er für immer leben wird.«
»Ja.« Ihm war klar, dass es jetzt nicht mehr um Illium ging. »Auch Unsterblichkeit hat einen Preis.«
Ihre Arme umschlangen ihn fester. »Mir wäre der Preis zu hoch. Vor einem Meister vor Ehrfurcht zu erstarren? Nein, zum Teufel.« Jetzt wurde ihr Ton schärfer. »Vielleicht verwandelt ihr deshalb so viele Schwachköpfe. Das sind die Einzigen, die dumm genug sind, sich zu bewerben.«
Er drückte sie. »Jetzt beleidigst du aber den Kader der Zehn.«
»Du kennst doch Mr Ebose und weißt, wen ich ihm zurückgebracht habe. Sei doch mal ehrlich– was hat ihn, außer hoffnungsloser Dummheit, für die Ewigkeit empfohlen?«
»Das darf ich dir nicht sagen.«
»Ein Geheimnis mehr oder weniger, ich weiß doch sowieso schon viel zu viel.«
Doch da veränderten sich die Luftströme um sie herum, sodass sie sich noch stärker festhalten musste. Raphael hatte zum Sinkflug angesetzt. »Wir sind da.«
Sie seufzte, doch dann fühlte sie seine Lippen an ihrem Kinn. »Bei dir muss man sich ständig auf Ausweichmanöver gefasst machen.«
Er landete in dem Wäldchen, das seinen Besitz von dem Michaelas trennte, und legte den Zauber ab. Dann sah er in Elenas lebhafte Augen. »Ich habe Wachen abgestellt für Sara, Ransom, deinen Vater, deine Geschwister und ihre Familien.«
Schatten huschten über ihr Gesicht, die Augen verdunkelten sich, standen auf Sturm. »Danke.«
»Hältst du Harrison eigentlich auch für einen Idioten?«, fragte er im Hinblick auf ihren Schwager. »Schließlich ist er auch ein Vampir.«
Ihre Augen verengten sich. »Eine Sache muss ich noch unbedingt wissen.«
»Beth«, sagte er und beobachtete ihr ausdrucksstarkes Gesicht. Für eine Jägerin waren ihre Abwehrmechanismen erstaunlich schwach ausgebildet, als wenn sie irgendwie immer noch an die Unschuld in der Welt glaubte.
Dann wird sie dich töten. Wird dich sterblich machen.
War es nicht den Verlust von ein klein wenig Unsterblichkeit wert, diese seltsame Mischung aus Unschuld und Stärke bei sich zu haben? »Harrison wusste von Anfang an, dass es keine Garantie dafür geben würde, dass wir auch seine Frau verwandeln.«
»Ist das denn möglich?«, fragte sie. »Nach welchen Kriterien ihr auch immer eure Wahl trefft, ist es möglich, dass Beth eine von ihnen wird?«
»Was spielt das für eine Rolle für dich?«, fragte er. »Sie behandeln dich doch wie den letzten Abschaum.«
Sie ballte die Faust. »Dann bin ich eben eine Masochistin.« Schulterzuckend fuhr sie fort: »Es ist mir egal, dass sie mich die meiste Zeit wahnsinnig macht. Sie ist aber immer noch meine Schwester.«
»So wie Arielle und Mirabelle deine Schwestern waren?«
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Sie erstarrte. »Darüber spreche ich nicht.«
Die Fakten kannte er, doch beim Klang ihrer Stimme, die seltsam gebrochen klang, wurde ihm klar, dass er eigentlich gar nichts wusste. »Beth ist ungeeignet«, sagte er.
»Bist du sicher?«
»Ja.« Er hatte sich darüber informiert… denn er hatte geahnt, dass Elena fragen würde.
»Verdammter Mist.« Sie rieb sich die Stirn. »Er ist ein Vollidiot, aber er liebt sie.«
»Die Unsterblichkeit liebt er aber noch mehr«, sagte Raphael mit seiner jahrhundertealten Erfahrung. »Wenn es nicht so wäre, hätte er gewartet, bis auch sie angenommen worden wäre.«
Mit unergründlicher Miene blickte Elena ihn an. »Glaubst du überhaupt noch an das Gute?«
»Wenn es uns gelingt, Uram zu töten, glaube ich vielleicht, dass das Böse nicht immer siegt.« Vielleicht. Zu viel Bosheit hatte er erlebt, um an die Märchen zu glauben, mit denen sich die Menschen durch ihr glühwürmchenkurzes Leben trösteten.
Kopfschüttelnd machte sich Elena auf den Weg zu Michaelas Anwesen. »Ich bin am Verhungern.«
»Du bist ja auch eine ziemliche Strecke gerannt.« Er hatte Montgomery die Nachricht zukommen lassen, er möge ein Frühstück für die Jägerin vorbereiten.
»Was passiert, wenn du nicht isst?«
Noch so eine Frage, die ihm schon seit Jahrhunderten keiner mehr gestellt hatte. »Ich verblasse.«
»Du wirst immer schwächer?« Sie bückte sich, berührte die Erde und hielt sich dann den Finger an die Nase. »Ich dachte, ich rieche etwas, aber es ist wieder weg.«
Er wartete mit der Antwort, bis sie sich wieder aufgerichtet hatte. »Nein, ich verblasse buchstäblich, werde ein Geist. Essen sichert gewissermaßen unsere körperliche Gestalt.«
»Warum hungern denn andere Engel nicht einfach– diese Unsichtbarkeitsnummer, du weißt schon.«
»Durch das Verblassen wird man nicht unsichtbar, eher wie ausgewaschen. Und da ein Mangel an Nahrung uns auch aller Kraft beraubt, ist das nicht gerade ein wünschenswerter Zustand.«
»Wenn ich also einen Engel verwundbar machen möchte, müsste ich ihn aushungern?«
»Nur wenn du das fünfzig Jahre lang durchhältst.« Zunächst sah er Schrecken und dann Bestürzung in ihrem Gesicht. »Hungern ist relativ. Im Gegensatz zu einem Vampir verblassen Engel nicht so leicht.«
»Vampire verblassen nicht, sie schrumpfen«, murmelte sie, und er gewann den Eindruck, als erinnerte sie sich an etwas. »Je älter sie sind, desto schrumpeliger werden sie.« An der Stelle, an der der Rasen begann, blieb sie stehen und sah zu Michaelas Fenster hinauf. »Im Grunde wohl das gleiche Prinzip.«
»Ja.« Er folgte ihrem Blick und erinnerte sich, dass sie am Vortag an derselben Stelle gestanden und hochgeblickt hatte. »Witterst du ihn?«
»Ja.« Sie biss sich auf die Unterlippe und warf noch einmal einen Blick zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren, um danach gleich wieder das Fenster in Augenschein zu nehmen. »Irgendetwas stimmt hier nicht.«
»Es ist zu still. Wo sind die Wachen?« Er suchte die Gegend nach Urams charakteristischen Flügeln ab. »Er kann nicht lange vor uns da gewesen sein. In Geraldines Erinnerungen hat er erst von ihr abgelassen, als er sich verfolgt fühlte.«
Aus zusammengekniffenen Augen sah sie ihn an. »Wollte er sie… wollte er sie in ein Kunstwerk verwandeln, um die Leute zu schockieren, die sie finden würden?«
»Ja.«
»Das passt zu ihm. Kannst du mal kurz einen Blick aus der Luft herunterwerfen?«
Er schlug mit den Flügeln und schwang sich in die Lüfte. Eine Freiheit, die für ihn immer selbstverständlich gewesen war, bis er die Sehnsucht nach ihr in den Augen der Jägerin gesehen hatte. Keine offenkundigen Zeichen, teilte er ihr mit, die gedankliche Kommunikation klappte mittlerweile problemlos.
»Ich gehe rein.«
Es war ungewöhnlich, wie leicht die Verständigung war. Ihm war klar, dass Elena dachte, sie spräche die Worte nur laut aus, er hingegen würde die Informationen aus ihrem Kopf erhalten, aber das stimmte nicht ganz– instinktiv wusste sie, wie sie ihre Gedanken kanalisieren musste, damit sie nicht im Chaos untergingen. Wenn sie wollte, konnte sie ihn sogar aussperren. Zwar kränkte das seine Eitelkeit, aber es faszinierte ihn auch.
Von einem Fallwind ließ er sich nach unten befördern und landete direkt hinter ihr. »Alleine gehst du da nicht hinein.« Gegen Uram konnte kein Sterblicher bestehen.
Sie widersprach ihm nicht, ihr Blick– konzentriert, ganz Jägerin– sagte ihm, dass sie in ihm dieses Mal nur eine weitere Waffe sah. Mit einem kurzen Nicken bekundete sie ihr Einvernehmen und wandte sich entschlossen dem Haus zu. Doch statt um das Haus herum zur Eingangstür zu gehen, stemmte sie ein paar seitlich gelegene Schiebetüren auf. »Ich ertrinke in seinem Geruch«, flüsterte sie. »Er ist hier.«
Raphael legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich gehe vor.«
»Für Machoallüren haben wir keine Zeit.«
»Es könnte eine Falle sein. Du bist sterblich.« Er ging hinein und überflog den Raum mit raschem Blick – die Bibliothek. »Komm.«
Auf leisen Sohlen folgte sie ihm. »Die Fährte führt ins Haus hinein.«
Er öffnete die Tür der Bibliothek zum Flur und trat hinaus. Vor ihm an der Wand hing Riker, ein hölzernes Stuhlbein durch die Kehle gerammt. Zwar lebte der Vampir noch, aber er war bewusstlos– vermutlich aufgrund der heftigen Kopfwunde, aus der ihm Blut von den Schläfen rann.
»Mein Gott«, flüsterte Elena. »Der hat vielleicht eine schlimme Woche. Lassen wir ihn hängen?«
»Solange der Pflock in ihm steckt, heilt er nicht.«
»Dann lass uns weitermachen. Mehr als einen Psychopathen zur selben Zeit kann ich nicht verkraften.« Mit dem Kopf deutete sie nach links.
Er ging in die Richtung und war nicht sonderlich überrascht, als er einen weiteren Wächter aufgespießt auf einer Skulptur fand, die noch aus Michaelas gemeinsamer Zeit mit Charisemnon stammte. Für einen Lebenden saß der Kopf nicht fest genug auf dem Hals. »Er ist tot.«
»Genickbruch?«
»Enthauptet«– er zeigte ihr, dass der Kopf nur noch an ein paar Sehnen hing– »unter gleichzeitiger Entfernung des Herzens. Das ist aber wohl eher ein Kollateralschaden. Er sollte nur aus dem Weg geräumt werden.« Dann setzte er einen Fuß auf den Treppenabsatz.
»Nein.« Elena zeigte in die andere Richtung. »Mehr in der Mitte des Hauses.«
Ein Schrei zerriss die Stille.
Schon wollte sie loslaufen, als er sie zurückhielt. »Das will Uram ja gerade.« Daraufhin schob er sie hinter sich und ging in die Richtung, aus der der Laut gekommen war. Uram war ein Meister der strategischen Kriegsführung– offenbar war er darauf gekommen, dass der Erfolg der Jagd mit Elena stand und fiel. War sie erst einmal ausgeschaltet, konnte er den Kader vielleicht jahrelang an der Nase herumführen– zwar gab es andere geborene Jäger, doch niemanden mit Elenas Talenten. Und wenn Uram nicht innerhalb des nächsten halben Jahrhunderts beseitigt wurde, würde er vermutlich mächtig genug werden, um die ganze Welt zu beherrschen. Und sie würde in Blut ertrinken.
Elena zog ihn am Flügel. Warnend sah er sie über die Schulter hinweg an, sie sollte ihn nicht ablenken. Das konnte tödlich ausgehen, selbst für einen Unsterblichen. Sie deutete stumm zu der Zimmerdecke hoch. Er nickte. Ich weiß. Wie die meisten Häuser von Engeln, hatte auch dieses hier sehr hohe Decken. Ihr Wohnzimmer bildete ebenso wie seines den Mittelpunkt des Hauses, während sich die anderen Stockwerke darum herum gruppierten. Uram würde nicht unten warten, er würde ihnen oben auflauern.
Dadurch war Raphael im Nachteil, denn das Anwesen war für einen Menschen umgebaut worden, also nicht mehr auf die Bedürfnisse himmlischer Wesen eingestellt. Es gab keine hohen Fenster, durch die er direkt in den Wohnbereich hätte hineinfliegen können. Er würde die Tür nehmen müssen. Elena zupfte ihn erneut, bis er sich zu ihren Lippen hinunterbeugte.
»Lass mich reingehen, um ihn abzulenken. Du kommst gleich hinterher– da bleibt ihm keine Zeit mich zu töten.«
Hätte ihm jemand, bevor er Elena kennengelernt hatte, dieses Vorgehen empfohlen, hätte er, ohne mit der Wimper zu zucken, geantwortet: »Ja, schickt den Jäger rein, um den Blutgeborenen abzulenken.« Und wenn der Jäger dabei starb, so war das ein geringer Preis für einen gewonnenen Krieg. Aber jetzt kannte er sie, hatte sie genommen, jetzt gehörte sie zu ihm.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, kniff sie die Augen zusammen.
»Duck dich beim Reingehen«, sagte er und wusste, dass sie seine plötzlichen Worte erschreckt hatten. »Er wird auf deinen Kopf zielen. Roll dich zusammen.«
Sie nickte. »Er ist ganz sicher da drin. Die Fährte ist so stark, so intensiv, sein Geruch ist mir schon ins Blut übergegangen.« Dann bewegte sie sich auf den Eingang zu.
Die nächsten Sekunden vergingen in rasender Schnelle. Elena ließ sich hineinrollen, dicke Brocken flogen vom Eingang, Wutgeheul, und dann stand Rapahael mitten im Raum, sah, wie Uram Energieblitze auf seine Jägerin abfeuerte.
Er stieg senkrecht auf, sammelte seine eigene Energie. Auch aus diesem Grund war er mit der Leitung der Jagd beauftragt worden. Nur vier Vertreter des Kaders waren in der Lage, Energieblitze zu schaffen. Eine Fähigkeit, die mit zunehmendem Alter heranreifte– aber nur, wenn die Anlagen dazu bereits vorhanden waren. Und anders als bei der Stille musste diese Energie nicht nur aus ihm selbst herauskommen. Beim Aufsteigen zog er zusätzlich Energie von allen möglichen Stromquellen ab, verursachte einen Kurzschluss in der Lampe, die im Erdgeschoss brannte.
Noch bevor Uram ihn gesehen hatte, feuerte Raphael schon den ersten Blitz auf ihn ab. Er landete mitten auf seiner Brust und schleuderte ihn gegen die Wand. Doch Uram war nicht umsonst ein Erzengel. Er konnte den Zusammenstoß mit der Wand abfangen und konterte mit einem heißen roten Feuerball. Geschickt wich Raphael aus, denn wenn seine Flügel davon getroffen wurden, hätte er sich nicht in der Luft halten können. Himmlisches Feuer gehörte zu den wenigen Dingen, die einem Unsterblichen ernsthaft schaden konnten.
Himmlisches Feuer und die Pistole einer Jägerin, korrigierte er sich. Elena, hast du die kleine Pistole dabei, mit der du mich entmannt hast?
Erneuter Austausch von Blau und Rot, riesige Löcher in den Wänden, Staub rieselte unaufhörlich leise zu Boden. Während sie kämpften, beobachtete er Uram, er wollte das Ungeheuer in ihm sehen. Doch der Erzengel sah aus wie immer, seine neuen Reißzähne verborgen, ganz darauf konzentriert, Raphaels Angriffe abzuwehren und seinerseits anzugreifen.
Ein Feuerball sengte Raphael die Flügelspitzen an. Den Schmerz in seinen verletzten Nervenenden schüttelte er einfach ab, erwiderte das Feuer, erwischte Urams linke Flügelspitze. Mit entblößten Zähnen heulte dieser auf, und das Monstrum in ihm gab sich endlich zu erkennen: rotes Feuer in den Augen, bis weit über die Unterlippe reichende Eckzähne… und tanzende Flammen in den Händen.
Das Blut hatte ihm noch mehr Kraft verliehen.
Das war die Anziehung, die Versuchung, der Wahnsinn. Nachdem das Übel sich erst einmal in ihm ausgebreitet hatte, vervielfältigte das Blut die Kräfte eines Engels ins Unermessliche. Aber zu diesem Zeitpunkt, ganz gleich, wie sie nach außen hin wirken mochten, waren die Blutgeborenen bereits endgültig irrsinnig. Raphael hingegen war kein Anfänger mehr, der sich in die Enge treiben ließ. Im letzten Moment ließ er sich fallen, und das Himmlische Feuer traf die Wand hinter ihm, eine Außenmauer, in deren unmittelbarer Nähe er sich noch Sekunden vorher befunden hatte, vernichtete alles ringsum und riss ein Loch hinein.
Laut krachend erklang ein Schuss. Uram kippte zur Seite, taumelte, und Raphael entdeckte einen Riss im unteren Teil seines Flügels. Er zielte auf die verletzte Stelle, traf wieder und richtete ziemlich viel Schaden an. Aber Uram gab nicht auf. Er wich Raphaels zweitem Angriff aus und flog durch das Loch in der Mauer ins Freie.
Raphael setzte zur Verfolgung an, jetzt, da der Blutgeborene verletzt war, hatte er gute Chancen, ihn zu erwischen. Gerade war er hinausgeflogen, als er mit einem anderen Körper zusammenstieß. Gemeinsam mit diesem trudelte er auf den Bodenhinab, und nur aufgrund seiner großen Erfahrung gelang ihm eine sanfte Landung. Dann legte er den Körper vorsichtig ab.
Michaela.
Dem weiblichen Erzengel fehlte das Herz. An seiner Stelle glühte ein roter Feuerball. Ohne nachzudenken, ergriff er mit seiner Hand, die ganz aus blauem Feuer bestand, den roten Ball, warf ihn gegen die Wand, damit sich seine zerstörerische Energie entladen konnte. Vor seinen Augen begann sich Michaelas Herz zu erneuern.
»Elena!«
»Ich bin hier.« Sie berührte ihn am Arm, starrte mit Entsetzen auf das Loch in Michaelas Brust. »Wa…«
Er ließ Michaela, wo sie war, schlang seinen Arm um Elena und stieg auf. »Spür ihn auf.«
Sofort begriff sie, hielt sich fest und nickte, alle Sinne aufs Äußerste angespannt. Als sie die Öffnung erreichten, durch die Uram entkommen war, zeigte sie zum Himmel hinauf, dann Richtung Manhattan. Raphael war schnell, doch Uram hatte einen Vorsprung, und Raphael hatte noch Elena im Arm. Zwar war der andere Erzengel verwundet, er jedoch war es auch. Aber sie hatten es doch schon fast geschafft, waren ihm so dicht auf den Fersen… bis sie den Teil des Hudson Rivers erreichten, über den die Lincoln Bridge führte.
Unter ihnen schäumte die Gischt– und Elena hatte die Spur verloren. Raphael flog sie so tief über den Fluss, dass der feine Sprühnebel ihre Gesichter benetzte, aber Elena schüttelte den Kopf. »Er kennt den Trick mit dem Wasser.« Tiefe Enttäuschung. »Entweder ist er eingetaucht oder so nah über der Oberfläche geflogen, dass die Feuchtigkeit seinen Geruch verschleiert.«
Raphael kämpfte mit dem Drang, seine Energie in einem nutzlosen Wutanfall zu entladen. Stattdessen überflog er mit langen Flügelschlägen die Stelle, an der sie die Witterung verloren hatte. »Nichts«, sagte Elena. »Verdammter Mist.«
Im Stillen konnte er ihr nur recht geben und flog sie durch den wolkenverhangenen Himmel zurück zu Michaela. Dabei schickte er Dmitri den Befehl, das Flussufer zu beiden Seiten mit einem Suchtrupp zu durchkämmen. Die Chancen standen schlecht, dass eine solche Suche von Erfolg gekrönt sein würde– Uram musste den Zauber nur so lange aufrechterhalten, bis er ein Versteck gefunden hatte. Für einen Erzengel– selbst für einen verletzten– war das ein Kinderspiel.
Michaela befand sich noch an derselben Stelle, an der er sie zurückgelassen hatte, aber jetzt pumpte ihr Herz wieder Leben in ihre misshandelte Brust. Ihre Augen waren geöffnet und von einem so großen Grauen erfüllt, wie er es nicht erwartet hatte. Um wirklich Angst zu haben, war sie eigentlich zu alt und zu erfahren.
»Er ist verrückt«, sagte sie, als er sich zu ihr setzte und ihre Hand ergriff. Vor dem Mund hatte sie blutigen Schaum. »Nichts ist mehr übrig von dem Mann, der er einmal war.«
Raphael bemerkte, dass Elena den Raum verlassen hatte, damit sie ungestört sein konnten. Michaela würde sie eher umbringen, als sie mit einzubeziehen, und Elena konnte es ihr nachfühlen. So menschlich war sie. »Er wird wiederkommen.« Einen anderen Erzengel zu töten war Teil eines grauenhaften Übergangsritus, eine Art Zwang, dem sich Blutgeborene nicht entziehen konnten. Und hatten sie erst einmal ein Opfer gefunden, ließen sie es nicht mehr los.
»Er hat gesagt«– Michaela hustete, immer noch war das Herz durch den sich jetzt langsam schließenden Spalt in ihrer Brust sichtbar–, »ich sei das Letzte, das ihn noch an dieses Dasein binde, und wenn ich erst einmal tot sei, dann könne er sich endlich erheben. Zu was erheben?«
»Zum Tod, zu einem ewig währenden Tod«, sagte Raphael und hielt dabei weiter ihre Hand. Michaela war eine Kobra, doch eine Kobra, die gebraucht wurde. Ohne sie wäre das Gleichgewicht des Kaders empfindlich gestört. Es gab jemanden, der vielleicht in Urams Fußspuren treten konnte, aber keinen zweiten. »Wie ist es passiert?«
»Das erste Mal hat er mir das Herz genommen, bevor er meine Wächter ausgeschaltet hat, dann kam er ein zweites Mal und nahm mir auch das neue. Diesmal ließ er mich bewusstlos auf dem Dach zurück. Mir war es schon fast gelungen, mich so weit zu heilen, dass ich fliegen konnte, als«– sie hustete erneut, aber Blut kam keines mehr– »er mir das Feuer in den offenen Brustkorb gesteckt hat. Er hatte keine Zeit mehr, es zu verteilen.«
Beide wussten, dass sie sonst elendig umgekommen wäre.
»Geh«, sagte sie mit einem Blick auf seinen Flügel. »Du bist verletzt. Heile dich, bevor er wieder genesen ist.«
Nickend erhob er sich, in ein paar Minuten würde Michaela wieder auf den Beinen sein. »Ich habe eine der Wachen im Flur gesehen, Riker ist neben der Bibliothek an die Wand geschlagen. Wo sind die anderen?«
»Alle tot«, sagte sie und hob die linke Hand. An ihrem Ringfinger glitzerte ein blutiger Diamant. »Auf dem Dach.«
»Ich kümmere mich um weitere Verstärkung.«
Dieses Mal widersprach sie ihm nicht. »Keine Einladung zu dir nach Hause?« Langsam kam sie wieder zu sich, die Angst verdrängte sie, so wie es Unsterbliche von klein auf lernen.
Er sah sie an. »Du musst ein attraktiver Lockvogel bleiben.«
Entsetzen malte sich auf ihrem Gesicht. »Heute Nacht wird er nicht mehr kommen.«
»Nein– dafür ist er zu schwer verletzt. Lass das Haus in der Zwischenzeit wieder herrichten.« Er warf einen Blick auf das riesige Loch, das in der Mauer klaffte. »Zumindest weitestgehend. Ich schicke dir auch noch ein paar meiner himmlischen Wächter.«
Michaela setzte sich auf, machte keine Anstalten, ihre nackte Brust zu verbergen. Ihr Körper war eine Waffe, deren Einsatz sie nicht scheute. Doch in diesem Moment hatte sie andere Sorgen. »Wird das meinen Status als attraktiver Lockvogel nicht mindern?« In diesem Moment war sie ganz Erzengel, mit einer einzigen Gewissheit vor Augen: Uram musste sterben.
»Er ist arrogant genug, sich nicht einmal Sorgen wegen anderer Erzengel zu machen, das weißt du doch am besten.«
Als sie aufschaute, lag in ihren Augen ein Anflug unverhüllten Kummers. »Ich habe ihn wirklich geliebt. Soweit ein Erzengel lieben kann.«
Er sagte nichts dazu, überließ sie ihren eigenen Gedanken über die Unsterblichkeit und ihre Wirkungen und machte sich auf die Suche nach Elena. Sie wartete draußen am Waldrand auf ihn. Als Erstes fiel ihr Blick auf seinen Flügel. »Er hat dich verletzt.« Ein Schrei der Empörung peitschte durch die Luft.
»Ich habe ihm mehr Schaden zugefügt.«
»Der Wahnsinnige ist entkommen.« Wütend trat sie die Blätter mit den Füßen. »Wie geht es dem königlichen Miststück?«
»Sie lebt.«
»Schade.« Auch wenn es boshaft klang, erinnerte er sich doch an ihr Mitgefühl.
Er ergriff ihren Oberarm. »Habe niemals Mitleid mit Michaela, sie nutzt es nur aus, um dich zu vernichten.«
»Trotzdem hast du ihr das Leben gerettet.«
Bis zu ihrem Ellenbogen ließ er seine Hand gleiten, dann gab er sie frei. »Wir brauchen sie. So unwahrscheinlich es auch klingen mag, aber Michaela ist menschlicher als Charisemnon und Lijuan.«
Schweigend betraten sie sein Anwesen, gingen dann ins Haus. Montgomery erwartete sie schon. Seine Sorge um Raphaels Verletzungen ließ ihn seine übliche Reserviertheit vergessen. »Sire? Soll ich den Heiler kommen lassen?«
»Das wird nicht nötig sein.« Als der Vampir dann noch verzweifelt die Hände rang, legte Raphael ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter. »Bis zum Einbruch der Dunkelheit ist es verheilt.«
Da beruhigte Montgomery sich. »Soll ich Ihnen das Essen hinaufbringen? Es ist schon fast Mittag.«
»Ja.« Nachdem der Butler im Flur verschwunden war, wandte er sich zu Elena um. »Sieht ganz so aus, als müssten wir noch ein Bad miteinander nehmen.« Geraldine und Michaela hatten beide blutige Flecken auf seinem Körper hinterlassen, ganz zu schweigen von den Spuren seiner eigenen Verletzung.
Bei der Berührung der Schnitte, die sie sich von den herumfliegenden Schuttteilen zugezogen hatte, zuckte sie zusammen. »Mir reicht eine kurze Dusche, sonst habe ich hinterher keine Haut mehr.« Ihre Kleidung war voller Blut, weil Raphael sie auf seinen Armen getragen hatte. »Verdammt, ich glaube, ich habe nichts Sauberes mehr dabei.«
Gerade wollte Raphael ihr antworten, als das Geräusch herannahender Flügelschläge die Ankunft eines anderen Engels ankündigte– der sein Herannahen nicht verbergen wollte. Als er hochblickte, erkannte er Jason. Respektvoll neigte der Engel den Kopf mit dem schwarzen Zopf. »Sire, es ist ein unerwartet großes Problem aufgetaucht.«
35
Elena konnte ihre Augen nicht von dem fremden Engel lösen. Sein Gesicht… Noch nie zuvor hatte sie so etwas gesehen. Die gesamte linke Gesichtshälfte war mit einer exotischen Tätowierung aus zarten Punkten und geschwungenen Linien bedeckt, schwarze Zeichen auf glänzend brauner Haut. Hautfarbe und Tätowierung ließen an Polynesien denken, aber seine Gesichtszüge waren härter und erinnerten sie eher an ihre eigene Herkunft. Das alte Europa, vermischt mit den exotischen pazifischen Passatwinden, eine hocherotische Kombination.
»Hallo, Jason«, sagte Raphael zur Begrüßung.
»Sie sind verletzt.« Der fremde Engel hatte seinen Blick auf Raphaels beschädigten Flügel gerichtet. »Dann kann das andere warten.« Während er verlegen von einem Bein auf das andere trat, raschelten seine Flügel, und Elena wurde bewusst, dass sie sie gar nicht gesehen hatte. Mit gerunzelter Stirn und zusammengekniffenen Augen versuchte sie angestrengt, in der trüben Halle etwas zu erkennen– ohne Sonnenlicht wirkte das bunte Glas ganz matt–, aber außer einem undeutlichen Schatten sah sie nicht das Geringste.
Sie musste einfach fragen: »Wo haben Sie denn Ihre Flügel?«
Jason warf ihr einen unergründlichen Blick zu, dann breitete er schweigend einen Flügel aus. Kohlrabenschwarz war er. Der Flügel glänzte nicht, sondern schien im Gegenteil Licht zu absorbieren, die Flügelspitzen verschmolzen regelrecht mit der düsteren Umgebung. »Nicht zu glauben«, sagte sie. »Nachts sind Sie bestimmt ein teuflisch guter Späher.«
Jason ließ seinen Blick von ihr zu Raphael gleiten. »Der Bericht eilt nicht, aber Sie sollten ihn sich trotzdem anhören.«
»Ich bin in einer Stunde bei dir.«
»Sire, wenn Ihnen die frühen Abendstunden auch recht wären, ich möchte noch einmal kurz etwas überprüfen.«
»Gib mir Bescheid, wenn du so weit bist.«
Mit einem kurzen Kopfnicken verabschiedete sich Jason. Elena sagte gar nichts, bis sie und Raphael sich gesäubert hatten und sich das Essen schmecken ließen, das Jeeves ihnen heraufgebracht hatte. »Dein Butler hat sogar meine Sachen gereinigt«, sagte sie, während sie im Schneidersitz auf seinem Bett saß. Die Kargohosen und ihr T-Shirt vom Vortag hatten gewaschen und gebügelt für sie bereitgelegen.
Raphael zog eine Braue in die Höhe, er saß ebenfalls auf dem Bett, ein Bein hatte er untergeschlagen, das andere baumelte über der Bettkante, während der verletzte Flügel sorgsam ausgebreitet auf einer Decke lag, um so schnell wie möglich zu heilen. Zu ihrer Freude– und sie war zu erschöpft und entmutig, um sich hinsichtlich ihrer Gefühle für ihn etwas vorzumachen– hatte er sie gebeten, den kranken Flügel mit einer Salbe zu behandeln. Sie wusste sehr gut, dass das ein Gratmesser ihrer veränderten Beziehung war, diesmal wollte er sie während der Heilung bei sich haben. Diesmal war kein Dmitri da, der sie an einen Stuhl fesselte.
»Das wage ich zu bezweifeln«, sagte er jetzt. »Montgomery ist hier der Boss und macht sich sicher nicht die Hände selbst schmutzig.«
»Du weißt schon, wie ich es meine, Erzengel. Er ist die Haushaltsfee– nur besser!«
»Irgendwie fällt mir der Gedanke schwer, Montgomery als Fee zu betrachten.«
»Gib dir ein bisschen Zeit.« Genüsslich biss sie in ein Alles-was-draufpasst-Sandwich. »Jason ist also dein Spitzel. Oder sollte ich sagen: Meisterspitzel?«
»Bravo, Gildenjägerin.« In nur drei Bissen hatte er die andere Hälfte des Sandwichs verspeist. »Auch wenn manch einer der Meinung ist, sein Gesicht sei dafür zu auffällig.«
»Die Tätowierung– das muss wehgetan haben.« Sie zuckte zusammen, sie selbst war zu feige gewesen, sich tätowieren zu lassen. Ransom hatte versucht, sie zu überreden, als er sich sein Armband hatte stechen lassen. Als sie gesehen hatte, wie sein Blut aus den Poren quoll, hatte sie das nicht gerade zur Nachahmung animiert. »Was meinst du, wie lange es wohl gedauert hat?«
»Genau zehn Jahre«, sagte Raphael und sah sie an, als könnte er bis auf den Grund ihrer Seele hinabsehen.
Sie schüttelte den Kopf, während sie das restliche Sandwich vertilgte. »Verrückte gibt es wohl überall.«
Raphael hielt ihr einen Apfel hin. »Willst du mal abbeißen?«
»Führst du mich etwa in Versuchung, Erzengel?«
»Du hast doch deine Unschuld schon verloren, Jägerin.« Mit einem scharfen Messer schnitt er eine Spalte heraus und schob sie ihr zwischen die Lippen. Fasziniert betrachtete er, wie sie hineinbiss. »Ich stehe auf deinen Mund.«
Die träge Hitze, die sie in Raphaels Anwesenheit immer verspürte, schien sich plötzlich bis in den letzten Winkel ihres Körpers auszubreiten, ein lebendiger, hämmernder Puls. Sie schluckte das Apfelstückchen hinunter und kroch um das Essen herum, bis sie vor Raphael angekommen war und sich vor ihn kniete. Als er ihr das restliche Stück an die Lippen hielt, biss sie zu und hielt dabei sein Handgelenk fest.
Ihre Blicke verschmolzen miteinander, seine Körperwärme, die sie durch die Fingerspitzen spürte, war erotischer als jeder noch so großartige Kuss eines anderen Mannes. Mit den Lippen streifte sie seine Finger.
Voll männlichem Feuer war sein Blick, und er verriet ihr nur zu deutlich, wo Raphael ihre Lippen jetzt gerne spüren würde. Doch er sagte nur: »Noch ein Stück?«
Bedauernd schüttelte sie den Kopf. »Du musst gesund werden und ich die Spur weiterverfolgen.« Weit konnte Uram nicht gekommen sein. Sehr wahrscheinlich war er wohl oder übel in eines seiner früheren Verstecke zurückgekehrt. Das bedeutete, dass es sehr wahrscheinlich irgendwo in der Nähe lag. »Diesmal könnten wir Glück haben.«
Raphael legte Apfel und Messer beiseite und zeichnete mit dem Finger die Konturen ihrer Lippen nach. »Hast du mitbekommen, was Michaela gesagt hat?«
»Dass er nur noch ein Ungeheuer ist?« Unbeeindruckt zuckte sie mit den Achseln, obwohl die Lust sie wie ein berauschendes Parfüm bedrängte. »Keine große Überraschung nach dem, was wir im Lagerhaus gesehen haben.«
»Würdest du mich jagen, Elena? Wenn ich mich in einen Blutgeborenen verwandelte?«
Ihr Herz krampfte sich zusammen. »Ja«, sagte sie. »Aber du wirst niemals ein Ungeheuer werden.« Dennoch hatte sie die Sache mit dem Messer und auch den Vampir vom Times Square nicht vergessen.
Ein kurzes Lächeln. »Das hoffst du, weißt es aber nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Jeder von uns ist empfänglich für die Verlockungen der Macht. Das Blut hat ihn gestärkt, ihn schwerer besiegbar gemacht.«
Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und schaute in Augen, die, bevor sie auch nur als Wunsch im Universum existiert hatte, schon abertausend Sonnenuntergänge gesehen hatten. »Aber du bist allen anderen gegenüber im Vorteil«, flüsterte sie. »Du bist jetzt ein kleines bisschen menschlich.«
Blutengel
Sie dachten wohl, sie hätten ihn zu Fall gebracht.
Welch ein Irrtum!
Heftige Qualen durchfuhren ihn, die Reste von Raphaels blauem Feuer begannen, sich in Flügel und Brust auszubreiten, einzugraben. Erfüllt von Schmerz und Wut verließ er sein Versteck und flog einen freundlichen und hellen Ort an, der jetzt aber unter dem wolkenverhangenen Himmel düster wirkte, voller dunkler Winkel, ein perfektes Jagdrevier. Der Zauber leistete ihm gute Dienste. Noch bevor sie seine Nähe auch nur spürten, hatte er schon zwei Vagabunden die Kehlen aufgeschlitzt.
Wie ein Blitz schoss ihr Blut durch seinen Körper, drängte das blaue Feuer hinaus, bis es sich in harmlose Luft auflöste. Jetzt, da sein Körper sich nicht mehr gegen das Feuer zur Wehr setzen musste, konnten die zerrissenen Muskeln und Knorpel heilen. Bis er seinen Kopf zur fünften Kehle hinunterbeugte– dem weichen, zarten Körper einer jungen Frau, seiner Leibspeise–, war er schon wieder flugbereit… zumindest bereit genug, um diese sterbliche Jägerin aus dem Spiel zu nehmen. War sie erst tot, dann würde ihn niemand mehr finden.
Lächelnd wischte er sich das Blut mit einem blütenweißen Taschentuch vom Mund. Ja, warm war es am köstlichsten. Einen Moment lang war er versucht, sich noch ein Opfer zu suchen, aber er hatte keine Zeit mehr. Er musste zuschlagen, bevor sie damit rechneten, solange Raphael noch geschwächt war und die Jägerin sich in Sicherheit wähnte.
Danach würde er seine Reißzähne in Michaela versenken, ihr Blut direkt von der Quelle trinken. Und er würde sie behalten, das hatte er beschlossen. Zwar war der Wunsch, sie zu zerfetzen, übergroß, aber er würde sich beherrschen. Warum sollte er das auslöschen, was ihn mit solch auserlesener Energie versorgte? Sterbliches Leben erlosch so leicht, aber ein Erzengel… Von Michaela könnte er für immer trinken, sie würde jedes Mal wieder genesen.
Er fragte sich, ob Michaela Raphael wohl gestanden hatte, dass er schon einmal von ihr getrunken hatte. Mit der Zunge fuhr er sich über die Lippen. Süß hatte sie geschmeckt. Mächtig. Würzig. Und nun trug sie ein klein wenig von ihm in sich. Ja, ein Erzengel war die beste aller Erfrischungen. Einen hübschen kleinen Käfig würde er ihr zimmern, von dort aus konnte sie dann zusehen, wie er mit seinen anderen Lieblingen spielte– und würde wissen, dass sie die Glückliche war, die er auserwählt hatte, ihn für Äonen zu nähren.
Aber zunächst einmal musste er dieser Jägerin den Garaus machen.
36
Raphael trat auf den Balkon im dritten Stock hinaus, Elenas Worte immer noch lebhaft im Ohr. Du bist jetzt ein kleines bisschen Mensch.
Aus genau diesem Grund hatte Lijuan ihm geraten, Elena umzubringen. Seine Reaktion auf den Schuss, der Schmerz, das Blut, hatten ihn in dem Glauben bestätigt, dass diese Jägerin gefährlich für ihn war. Aber was, wenn mit dieser Gefahr auch gleichzeitig ein Schutz verbunden war, ein Schutz vor den Torheiten von Alter und Macht? Immerhin war er aus der Phase der Stille viel früher als gewöhnlich erwacht.
Während er auf Jason wartete, dachte er darüber nach, wie er sich bei der ersten Begegnung mit ihr verhalten hatte. Gewaltsam war er in ihre Gedanken eingedrungen, hatte sie kaltblütig terrorisiert. Würde er es vielleicht wieder tun? Ja, dachte er und machte sich hinsichtlich seines Wesens keine Illusionen. Er war imstande, noch einmal ganz genau dasselbe zu tun. Aber, ob er sich noch einmal dafür entscheiden würde… das war die entscheidende Frage.
Jason kam von oben, landete unhörbar, der perfekte Späher eben. »Ich hatte damit gerechnet, Illium hier zu treffen.«
»Er behält Elena im Auge.« Noch lieber hätte er ihr auch noch einen Vampirfahrer an die Seite gegeben, aber das würde ihre Witterung beeinträchtigen. Also fuhr sie selbst, und Illium flog über ihr. Durch seinen von Engelsfeuer angesengten Flügel war Raphael mehr oder weniger ans Haus gefesselt– zwar heilte er in Rekordzeit, und fliegen konnte er allemal, aber es wäre sehr belastend für die Heilung, und schließlich musste er vollständig einsatzbereit sein, wenn Uram wieder auftauchte.
Elena war den größten Teil des Tages unterwegs; zwischendurch rief sie an und hielt ihn auf dem Laufenden, während sie Manhattan systematisch durchkämmte. Irgendwie war es seltsam, obwohl er so viel zu tun hatte… fehlte sie ihm. Sie war ihm ans Herz gewachsen, seine Sterbliche mit dem Herzen einer Kriegerin. »Dann leg mal los.«
»Es ist so, wie Sie vermutet haben«, sagte Jason. »Lijuan weckt Tote wieder auf.«
Raphael spürte die frische Brise, die der Fluss mit sich brachte, und fragte sich, ob Lijuan auch so geworden wäre, wenn sie damals diesen Menschen, der gedroht hatte, sie ein wenig sterblicher zu machen, nicht umgebracht hätte. »Bist du ganz sicher?«
»Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie es getan hat.«
»Sind sie richtig am Leben?« Er wandte sich Jason jetzt aufmerksam zu.
Tiefe Abscheu stand in seinem Gesicht. »Leben würde ich das nicht nennen, ein Lebensfunke ist da, aber sie sind nur mehr ein Schatten der Person, die sie einmal waren.«
Das war schlimmer, als Raphael befürchtet hatte. »Keine Marionetten, wie wir vermutet hatten?«
»Das sind sie auch, aber trotzdem noch mehr. Monstrositäten, die laufen, sehen, hören können, aber niemals sprechen. Ihr Schweigen wird von ihren schreienden Augen übertönt, denn sie wissen, was sie sind.«
Der Erzengel spürte, wie ihn kaltes Grausen überkam. »Wie lange kann sie diese Wiedergeborenen erhalten?«
»Der älteste war ein Jahr alt. Fing schon an, senil zu werden, der Lebensfunke war dabei zu verglimmen.« Nach einer kurzen Pause sprach dieser sonst so zurückhaltende Engel weiter: »Es ist eine Gnade, wenn dieser Teil ihrer Seele erlischt.«
»Und Lijuan hat tatsächlich absolute Macht über diese Wiedergeborenen?«
»Ja. Im Moment spielt sie noch mit ihnen wie mit einem neuen Spielzeug. Aber es könnte bald der Augenblick kommen, in dem sie sie in eine Armee verwandelt.«
Raphael fühlte, wie eine kalte Hand sein Herz umklammerte. Denn wenn die Wiedergeborenen gegen die Lebenden aufstünden, wäre es vorbei mit jeglicher Zivilisation, und ihre Schreckensherrschaft würde die Welt überziehen. »Sind die, die sie wiedererweckt– erst kurze Zeit tot?«
»Nein«, kam die verstörende Antwort. »Bei denen ist es leichter, aber sie experimentiert auch mit solchen, die schon länger tot sind– selbst mit den… Verrotteten. Irgendwie kleidet sie sie wieder in Haut.« Jason hielt inne.
»Was hast du?«
»Es geht das Gerücht, dass das Fleisch von den frischeren Leichen stammt, die Lijuan nicht erwecken will, und ich weiß, dass diese dann, um überhaupt weiterexistieren zu können, Blut trinken müssen.« Jetzt senkte Jason die Stimme noch mehr. »Man munkelt, dass ihr diese Wiedergeborenen etwas geben, ihr Kraft zuführen.«
Eine Blutgeborene ganz anderer Art, dachte Raphael, und er wusste, wenn das eben Gehörte stimmte, dass der Mensch, Vampir oder Engel erst noch geboren werden musste, der Lijuan zerstören konnte. »Lass deine Männer sie weiter beobachten.« Jason war nicht nur ein perfekter Späher, sondern, wie Elena ganz richtig bemerkt hatte, tatsächlich ein Meisterspäher. »Wir müssen unbedingt wissen, ob sie diese Wiedergeborenen in großer Zahl erschafft.« Solange Lijuan nur innerhalb ihres eigenen Landes herumspielte, konnte der Kader nichts machen. Die Mehrheit würde sich gegen irgendwelche Maßnahmen gegen sie entscheiden. Alle spielten ihre eigenen Spiele, hatten ihre eigenen Perversionen. Raphael konnte sie nicht verurteilen, denn auch er wollte keine Einmischung in seine Angelegenheiten.
Elena hatte einen Funken Menschlichkeit in ihm entdeckt. Aber war er menschlich genug, um nicht so wie Lijuan zu werden? »Geh. Wir reden morgen weiter darüber.«
Jason ließ sich vom Balkon hinab, stieg dann senkrecht auf, und sobald er die Wolkendecke erreichte, waren seine Flügel nicht mehr zu sehen. Deshalb bevorzugte dieser Engel auch die Nacht.
Dmitri.
Sire. Die Antwort kam ganz aus der Nähe. Wenige Minuten später schon betrat der Vampir den Balkon; gerade war er von ihrem Heiler zurückgekehrt. »Schlangengift berichtet mir, dass die Aufräumarbeiten in und um Jeffrey Deverauxs Haus sowie auch die im Museum schon am frühen Nachmittag abgeschlossen wurden. Geraldine ist tot.«
Raphaels erster Gedanke galt Elena– die Nachricht würde sie traurig stimmen, auch wenn sie sie kaum gekannt hatte. »Was ist mit der Überlebenden, die wir in der Nähe des Lagerhauses gefunden haben?«
»Ich habe herausgefunden, wer sie ist. Sie heißt Holly Chang und ist dreiundzwanzig Jahre alt.« Dmitri verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Den mutierten Erreger des Gifts hat sie nicht im Blut, aber sie hat irgendetwas anderes.«
Raphael dachte an das Gespräch mit Elena. »Muss sie sterben?«
»Im Moment sieht es nicht so aus. Sie ist nicht ansteckend. Wir müssen herausfinden, was Uram ihr angetan hat.«
»Ist sie noch ein Mensch?«
Dmitri zögerte, runzelte die Stirn. »Niemand weiß so recht, was sie eigentlich ist– sie braucht Blut, aber nicht so viel wie ein Vampir, und aus normaler Nahrung kann sie auch Energie ziehen. Vielleicht ist sie das Ergebnis einer abgebrochenen Verwandlung.«
»Ohne das normale Verfahren und mit Urams vergiftetem Blut dürfte das eigentlich gar nicht möglich sein.«
»Die Ärzte und Heiler sind der Ansicht, dass sie vielleicht zu den Unglückseligen gehört, die ganz leicht erschaffen werden können– aber da sie nur halb verwandelt ist, kann eine vollständige Verwandlung sie möglicherweise umbringen.« In Dmitris Stimme schwang ein scharfer Unterton mit, der von lang verschütteten Gefühlen zeugte. Wie Holly Chang war Dmitri gegen seinen Willen erschaffen worden.
Und alles bloß, weil Isis Raphaels Schwäche nur zu gut gekannt hatte: sein weiches Herz. Darüber hinaus hatte sie gewusst, dass Dmitri der Nachkomme eines Sterblichen war, mit dem Raphael einst befreundet gewesen war. Also hatte sie Dmitri seine Sterblichkeit genommen… und Raphael musste dabei zusehen. Das war nun schon fast eintausend Jahre her. Und seitdem hatte Raphael sein Herz kaum noch gefühlt.
Bevor Elena in sein Leben trat.
»Nimm es nicht so schwer, Dmitri«, sagte er jetzt. »Wir wollen ihr nichts zuleide tun, aber wir müssen ihre Veränderung beobachten.« Wenn sie das Gift des Blutgeborenen in sich trug, musste sie sterben.
Dmitri nickte. »Sie wird rund um die Uhr beobachtet.« Wieder zögerte er. »Wenn ich etwas sagen darf, Sire.«
»Seit wann bittest du um Erlaubnis?«
Das Lächeln des Vampirs erreichte seine Augen nicht. »Elena macht Sie verwundbar, auch wenn ich nicht weiß, wie.« Sein Blick wanderte zu Raphaels Flügel. »Er heilt nun viel langsamer.«
»Vielleicht hat auch ein Unsterblicher einen schwachen Punkt«, sagte Raphael und dachte wieder einmal an Lijuans Theorie von der »Evolution«.
»Ich…« Das Handy klingelte.
Raphael bedeutete Dmitri, den Anruf entgegenzunehmen, während er sich selbst für den Abflug bereit machte. Nur Dmitris erhobene Hand hielt ihn davon ab. »Es ist die Direktorin der Gilde.«
Raphael schnappte sich den Hörer. »Frau Direktorin.«
»Ich habe zwar keine Ahnung, in was, zum Teufel, Sie Ellie hineingeritten haben, aber ich habe das Gefühl, es hat mit den verschwundenen Mädchen zu tun.« Wie ein straff gespanntes Seilvibrierte ihre Stimme vor unverhohlener Wut und Abneigung.
»Elena kann sich glücklich schätzen, eine Freundin wie Sie zu haben.«
»Wenn ihr irgendetwas zustoßen sollte, dann knall ich Sie eigenhändig ab, da können Sie zehnmal ein Erzengel sein.« Aus ihrem drohenden Ton war trotzdem riesengroße Besorgnis herauszuhören.
Hätte jemand außer Sara eine solche Drohung ausgesprochen, wäre die Person umgehend bestraft worden, denn wenn erst einmal bekannt wurde, dass ein Erzengel schwach war, konnte das den Tod Tausender zur Folge haben. Aber ein Heuchler war Raphael nie gewesen. In der Stille hatte er gewissenlos gehandelt. Indem er diese Frau gezwungen hatte, ihre Freundin zu verraten, hatte er eine Grenze überschritten, die tabu war. Sie hatte noch viel bei ihm gut. »Wollen Sie mir etwas mitteilen, Frau Direktorin?«
»Im Battery Park wurden gerade fünf Tote gefunden, alle blutleer. Sie waren sehr gut versteckt.«
Uram hatte kaum Zeit verstreichen lassen, um seine Energie wieder aufzutanken. »Sind die Behörden benachrichtigt?«
»Tut mir leid, aber das konnte ich nicht verhindern«, sagte Sara, und zeigte ihm damit, wie sehr sie die Hand am Puls der Stadt hatte. »Aber die Toten sind jetzt in Leichenwagen unterwegs– Sie sollten wohl am besten für ihr Verschwindensorgen.Aber bringen Sie dabei das Begleitpersonal nicht um.«
»Das wird gar nicht nötig sein.« Irgendwann nach seinem zweihundertsten Geburtstag hatte Schlangengift die Gabe erlangt, wie eine Kobra in die Körper von Menschen einzudringen– Elena wäre bestimmt entsetzt, wenn sie es wüsste. Nur selten wandte der Vampir diese Gabe an, denn Neha wäre ganz und gar nicht erfreut gewesen, wäre ihr zu Ohren gekommen, welch kostbaren Mitarbeiter sie verloren hatte. Heute jedoch würde sich diese Gabe als nützlich erweisen– keines von Urams Opfern durfte unter dem Mikroskop der Pathologie landen. Vielleicht war Holly die einzige Überlebende, aber trotzdem war es möglich, dass Uram die anderen gezwungen hatte, von seinem giftigen Blut zu trinken… oder noch Schlimmeres. »Danke, dass Sie mich informiert haben.«
»Danken Sie mir nicht. Beschützen Sie einfach Ellie vor dieser Bestie, die Sie entfesselt haben.«
Ja, Uram war wirklich eine Bestie. Mit ungeheuerlichen Kräften. Auch wenn alles ganz still war, kein Lüftchen wehte, begann Raphaels Herz auf einmal wie wild zu klopfen. »Besprechen Sie die Einzelheiten mit Dmitri.« Er reichte dem Vampir das Telefon und schwang sich vom Balkon. Der Flügel tat ihm weh, aber er kämpfte sich weiter aufwärts, versuchte dabei, mit Illium in Kontakt zu treten.
Nichts als dumpfe Stille– keine Todesstille, aber beinahe. Als er es mit Elena versuchte, bekam er etwas mehr zu spüren: Schmerz, Übelkeit und ohnmächtige Wut.
Er schickte Dmitri einen Gedanken. Vergiss die Toten fürs Erste. Such Elena.
Ich setze mich mit meinen Männern in Verbindung.
Jason. Der schwarz geflügelte Engel beherrschte die Koordination von Raphaels Himmlischer Garde meisterlich. Illium ist gefallen. Mach ihn ausfindig.
Bin schon unterwegs. Ich informiere die Garde.
Raphael flog jetzt schneller, verfluchte seine eigene Dummheit. Für die Heilung brauchte Uram keine Zeit der Ruhe, nicht wenn der Prozess mit Blut beschleunigt werden konnte. Noch ein Vorteil der Blutgeborenen, noch ein Grund mehr, sich in seiner Wahl bestätigt zu fühlen. Im Moment hielt Uram sich für geistig gesund– er hatte begonnen, zu denken und Entscheidungen zu treffen, aber seine Persönlichkeit befand sich auf unterstem Niveau, sein Gehirn schwamm in Gift.
Während Raphael sich beeilte, um rasch bei Elena zu sein, dachte er darüber nach, dass diese Verwandlung natürlich nicht von heute auf morgen vonstatten gegangen war. Urams Bedienstete mussten alle davon gewusst haben, nur hatten sie geschwiegen. Und anders als Raphael mit seinen machtvollen Sieben hatte er keine Mächtigen in seiner Nähe geduldet. Niemanden außer Michaela. Angewidert verzog Raphael den Mund– er war sich ganz sicher, dass die Frau, die man einst die Königin von Byzanz genannt hatte, ihrem Liebhaber geholfen hatte, die Gesetze zu umgehen, die genau solch einen Fall hätten verhindern sollen. Vielleicht hatte sie Urams Tod tatsächlich gewollt, aber mehr noch war sie neugierig darauf gewesen zu erfahren, was geschehen würde und was der übrige Kader unternahm.
Gerade erreichte er den Teil von Manhattan, der genau gegenüber von Castle Point lag, von wo sich Elena zuletzt gemeldet hatte. »Ich habe ein gutes Gefühl«, hatte sie gesagt. »Durch die hohe Luftfeuchtigkeit ist der Geruch zwar etwas schwach, aber ich ziehe hier meine Kreise, bis ich auf eine deutlichere Spur stoße.«
»Ich schicke dir himmlische Verstärkung.«
»Nein, lass sie nur weiter systematisch die Gegend durchkämmen. Das könnte auch bloß ein Trick sein. Wenn ich eine heiße Spur habe, dann lasse ich es dich durch Illium wissen.«
Offenbar war Elena dem Blutengel viel näher gekommen, als sie vermutet hatte.
Als er die Gegend überflog, um nach ihrem Wagen Ausschau zu halten – mit Augen, scharf wie die eines Raubvogels–, fand er stattdessen Illium. Auch wenn er vor einem Dock halb im Wasser lag, waren seine blauen Flügel immer noch deutlich zu erkennen. Ohne sich um die Schaulustigen zu kümmern, die sich bereits dort versammelt hatten, landete Raphael neben ihm. Mittlerweile war auch ein Rettungsboot unterwegs. Einige Menschen waren ins Wasser gesprungen und hielten Illiums Kopf hoch, aber durch das Gewicht der vollgesogenen Flügel war es ihnen nicht gelungen, ihn ganz aus dem Wasser zu heben. Bei Raphaels Ankunft zerstreuten sie sich.
Als Raphael sich mit dem bewusstlosen Engel in den Armen wieder in den Himmel erheben wollte, erwarteten ihn Kameras und Mitleidsbekundungen. Illium war stadtbekannt mit seinen beinahe legendären blauen Flügeln und seinem einnehmenden Wesen. Sie hielten ihn anscheinend alle für tot, bedachten nicht, dass er unsterblich war.
Uram hätte Illium töten können, aber er hatte sich aus Zeitmangel dafür entschieden, ihn nur gefechtsunfähig zu machen, damit der Weg frei war für sein eigentliches Ziel. Illium, wach auf. Raphael stand, Illiums zerschmetterten Körper haltend, hoch über den Wolken. Illiums Flügel waren zerrissen, die Knochen von dem harten Aufprall auf das Wasser gebrochen. Prellungen und Schnitte hatten die Haut dort verletzt, wo er auf Gegenstände im Fluss geschlagen sein musste, und er hatte ein Auge eingebüßt.
Es würde alles wieder heilen, was nicht bedeutete, dass es nicht mit Schmerzen verbunden war. Aber aller Extravaganz zum Trotz war Illium ein Soldat, ein Kämpfer. Deshalb ließ Raphael ihn jetzt auch nicht ruhen, sondern konzentrierte seine Gedanken mit aller Kraft darauf, ihn mit Gewalt aufzurütteln und aus seiner Bewusstlosigkeit herauszureißen. Keuchend kam Illium zu sich. Doch kein Schrei entfuhr ihm.
Er öffnete das gesunde Auge. »Das Schwein hat in den Wolken auf mich gewartet«, flüsterte er, verlor keine Zeit mit langen Erklärungen. »Zauber. Ellie…« Er erzitterte, kämpfte gegen das Bedürfnis seines Körpers an, in den heilenden Schlaf zu fallen. »Ich glaube, sie hat mich fallen sehen. N-n-nah. Er hat gesund ausgesehen… aber schwach.« Mit dem letzten Wort, das beinahe unhörbar war, fiel Illium in einen komaähnlichen Zustand, aus dem ihn für mindestens eine Woche niemand würde aufwecken können.
Auch wenn er viel jünger war als Raphael, war er vielleicht doch alt genug, um ins Anshara zu fallen. Die Heilung würde viel schneller vonstatten gehen, die Qualen etwas abgemildert und der Körper vor dem Erwachen wieder ganz hergestellt sein. Andernfalls hätte er nach dem Koma genau solche Schmerzen wie jeder andere auch. Bei so vielen gebrochenen Knochen würden die Schmerzen unerträglich sein.
Damit kannte sich Raphael nur zu gut aus. Die letzten Worte seiner Mutter klangen ihm noch in den Ohren, als er blutend am Boden lag, die Flügel so zerfetzt, dass er seinen Fall nicht mehr hatte aufhalten können. Er war mit einer Geschwindigkeit auf die Erde geschlagen, die einen Sterblichen in tausend Stücke gerissen hätte. Ganz unbeschadet freilich hatte es auch sein Körper nicht überlebt. Er hatte Teile von sich verloren. Und so jung war er damals gewesen, dass es Jahre gedauert hatte, bis sich alles wieder neu gebildet hatte. Im Anshara heilte man ausnehmend schnell, aber eine Wunderheilung gab es auch da nicht.
Es sei denn, man war ein Blutengel und mit Gift vollgepumpt.
Jasons schwarze Flügel schoben sich durch die Wolkendecke. Mit angespanntem Gesicht breitete er seine Arme aus. »Ich nehme ihn.«
Raphael überreichte ihm Illiums Körper. »Wo ist die restliche Garde?«
»Ich habe ihnen gesagt, sie sollen die Jägerin suchen.«
»Bring Illium zu einem Heiler.« Im Sturzflug schoss er zurück zum Dock. Bevor er von jemandem gesehen werden konnte, überzog er sich mit dem Zauber. Was Illium ihm mit letzter Kraft noch gesagt hatte, war sehr wichtig. Wenn Urams Kräfte noch nicht vollständig wiederhergestellt waren, dann konnte er mit Elena als zusätzlicher Last nicht weit geflogen sein.
Lebe, Elena, sagte er, wollte, dass sie kämpfte, aus der Dunkelheit, die ihren Geist gefangen hielt, ausbrach. Lebe, ich habe dir nicht erlaubt zu sterben.
Nichts. Stille. Eine noch nie zuvor erlebte Stille.
Lebe, Elena. Eine Kriegerin gibt sich niemals geschlagen. Lebe!
37
»Sei still«, murmelte Elena, als eine arrogante Stimme sie gewaltsam aus dem gnädigen Schlaf, in den sie endlich gefallen war, riss und ihr befahl aufzustehen. »Ich will schlafen.«
»Du wagst es, mir Befehle zu erteilen, Sterbliche?« Eiskaltes Wasser spritzte ihr ins Gesicht, und sie erwachte jäh in einem Albtraum.
Zunächst konnte sie die Eindrücke nicht recht einordnen. Ihr Verstand weigerte sich, alle Einzelteile zusammenzufügen. Und es gab so viele davon; abgerissene, entstellte und unerträglich anzuschauende. Ihr drehte sich der Magen um, die Übelkeit von der Kopfverletzung, als Uram ihr Gesicht aufs Pflaster geschmettert hatte, kehrte zurück und vermischte sich mit den Schrecken des Augenblicks.
Verzweifelt kämpfte sie dagegen an, ihre Angst zu zeigen. Diese Genugtuung wollte sie dem Ungeheuer nicht geben. Aber es war schwer. Alle hatten sich getäuscht– Sara, Ransom, selbst Raphael. Uram hatte nicht bloß fünfzehn Menschen getötet. Er hatte sich noch viele andere Opfer gesucht, Opfer, die niemand vermissen würde. Verrottende Gebeine, ein glänzender Brustkorb, Zeugnisse seines teuflischen Wahns lagen in diesem Raum verstreut. Ein Raum ohne Licht, ohne Luft. Eine Zelle. Eine Gruft. Ein…
Reiß dich zusammen!
Jetzt erwachten ihre Jägerinstinkte, Instinkte, die sie von Geburt an auszeichneten.
Als sie ihre Panik überwunden hatte und sich auf ihre Umgebung konzentrierte, fiel ihr auf, dass der Raum gar nicht stockdunkel war. Zwar hatte Uram die Fenster verdunkelt, dennoch sickerte durch die Ritzen etwas Licht– für Sonnenlicht war es jedoch zu grell und weiß. Wenn die Nacht schon hereingebrochen war, musste sie also eine ganze Weile bewusstlos gewesen sein. Dieses Licht war es auch, das sie die widerwärtige Wahrheit erkennen ließ. Wie Abfall lagen die zerfetzten Leichen herum. Aber nicht alle waren zerstückelt. An der Wand gegenüber sah sie den ausgetrockneten Körper eines einst menschlichen Wesens in Handschellen.
Dann auf einmal blinzelte es aus seiner ausgedörrten Schale, das Wesen lebte noch. »Oh mein Gott!«, entfuhr es ihr.
Das Ungeheuer, das neben ihr saß und nur noch rein äußerlich einem Erzengel glich, folgte ihrem Blick. »Ah, Sie haben Roberts Bekanntschaft eben gemacht. Er war mir so treu ergeben, ist mir ohne Murren über die Weltmeere gefolgt. Nicht wahr, Bobby?«
Urams grausames Mienenspiel machte ihr deutlich, dass sie bis zu diesem Augenblick das wahrhaft Böse nicht gekannt hatte. Robert war ein Vampir, so viel war klar. Jeder Mensch wäre in seinem Zustand längst tot gewesen– der Vampir sah aus, als habe man ihm jegliche Feuchtigkeit entzogen, bis auf die seiner großen, glänzenden Augen. Augen, die Elena um Erlösung anflehten.
Jetzt wandte Uram sich wieder ihr zu, seine Augen– wunderschön und leuchtend grün– strahlten vor Freude. »Er dachte, er sei etwas Besonderes, weil ich ihn mitgenommen habe. Leider hatte ich ihn in der Zwischenzeit völlig vergessen.« Plötzlich mischte sich in seinen vor Macht berstenden Blick Wut, blanke Wut. Und das glänzende Grün seiner Augen wurde auf einmal faulig.
Vollkommen unbeweglich blieb Elena in ihrer Ecke liegen, fragte sich, ob er ihr alle Waffen abgenommen hatte. An ihrem Körper konnte sie keine mehr fühlen, aber vielleicht hatte er doch ein oder zwei übersehen– das dünne, eispickelähnliche Messer in ihrem Haar oder die flache Klinge, deren Scheide in ihrer Schuhsohle verborgen war. Erleichtert fühlte sie den harten Widerstand, als sie die Zehen krümmte. Ransom hatte ihr die Stiefel einmal aus einer Laune heraus geschenkt– nie hatte sie ihn so geliebt wie in diesem Moment.
Uram durchdrang sie mit seinem Blick. »Aber mein treuer kleiner Bobby hat sich als sehr nützlich erwiesen«– ein Seitenblick auf Robert–, »nicht wahr? Er ist ein dankbarer Zuschauer für meine kleinen Vergnügungen geworden.«
Elena sah, wie sich die Hände des Vampirs in den Handschellen ballten und der geschwächte Körper zusammenzuckte, und ihre Empörung entflammte von Neuem. Uram wusste genau, was er tat– Vampire waren so gut wie unsterblich, aber sie brauchten Blut, um zu leben. Indem er ihm die Nahrung entzog, würde sich Roberts Körper allmählich selbst verzehren. Wirklich sterben würde der Vampir zwar nicht, jedenfalls nicht vor Hunger. Aber jeder Atemzug musste ihm mittlerweile Todesqualen bereiten. Und wenn das noch ein wenig so weiterging…
Bislang hatte Elena nur von einem Fall erfahren, in dem ein Vampir verhungert war. In ihrem letzten Jahr an der Gilde-Akademie hatte sie darüber in ihrem Lehrbuch gelesen. Der Vampir S. Matheson war in eine Familienfehde geraten, in die sein Sire involviert war. Man hatte ihn in einen Steinsarg unter dem Fundament eines Neubaus begraben.
Zehn Jahre später wurde er entdeckt.
Lebend.
Wenn man seinen Zustand so nennen konnte. Der Unternehmer, der den Sarg unbeabsichtigt aufgebrochen hatte, dachte, er habe ein Skelett gefunden, und benachrichtigte die Polizei. Der Gerichtsmediziner war begeistert über den Fund einer mumifizierten Leiche. Unter den Augen des Bautrupps traf er mit einer Handvoll Leute von der Spurensicherung ein und begann Fotos zu machen. Als eine Mitarbeiterin der Spurensicherung den Kopf des Gerippes zur Seite drehte, schnitt sie sich in den Finger, und ehe sie sichs versah, hatte sie ihn ganz verloren– von einem rasiermesserscharfen Reißzahn sauber in der Mitte durchtrennt.
Die Sanitäter wurden gerufen, und nach fortwährender Aufnahme von Blut aus Konserven regenerierte sich S. Mathesons Körper wieder. Aber sein Gehirn hatte irreparable Schäden davongetragen. S. Matheson konnte nicht mehr sprechen, nur noch dümmlich grinsen und darauf hoffen, dass sich ihm jemand näherte. Bis der kannibalische Vampir dann eines Tages spurlos verschwand, hatten drei Ärzte Körperteile eingebüßt. Laut übereinstimmender Meinung hatten sich die Engel um ihn gekümmert. Ein Vampir, der Menschen fraß, war nicht gerade geschäftsförderlich.
Diesen Zustand hatte Robert noch nicht erreicht. In seinen Augen lag noch Menschlichkeit. Uram pirschte sich an den Vampir heran, mit dem Körper versperrte er ihr die Sicht. Dann gab Robert einen grauenhaften Laut von sich, und sie musste sich sehr beherrschen, um Uram nicht anzuschreien. Stattdessen nutzte sie den Moment und zog den Fuß näher zu sich heran. Noch näher.
Mit einem Lächeln auf den Lippen drehte sich Uram zu ihr herum. »Was hältst du von meinem Werk?«
Innerlich wappnete sie sich, denn sie wusste, er hatte etwas Scheußliches getan. Doch nichts hätte sie auf diesen Anblick vorbereiten können– Mitleid und Entsetzen schnürten ihr die Kehle zu, und gleichzeitig tobte die Wut in ihr. Uram hatte Robert die Augen genommen. Jetzt sah er sie neugierig an und hielt sich die feuchten Augäpfel an die Lippen, als wollte er hineinbeißen. Sie zuckte nicht mit der Wimper.
»Sie sind ja hart im Nehmen.« Kichernd warf er die Augen auf den Boden und zertrat sie mit dem Absatz seiner Schuhe. »Kein Nährwert.«
Nachdem er Robert, der sich gar nicht mehr zu rühren schien, als erledigt betrachtete, wischte er sich die Hände penibel an einem Taschentuch ab und kam auf sie zu. »Sie sind so still, Jägerin. Keine heroischen Taten, um den armen Vampir zu retten?« Er zog eine Braue hoch, die so ganz und gar unpassend schön war.
»Er ist doch nur ein Blutsauger«, sagte sie, und ihr wurde von ihren eigenen Worten schlecht. »Ich hatte gehofft, er lenkt Sie lange genug ab, damit ich entkommen kann.«
Sein Grinsen kroch ihr wie tausend spindeldürre Finger klebrig die Wirbelsäule hoch. Ohne ein Wort bückte er sich und umfasste ihren Fußknöchel. Er grinste noch breiter. Und drehte ihren Fuß herum. Als der Knochen brach, durchzuckte sie ein solch stechend heißer Schmerz, dass sie aufschrie.
Raphael!
Vor ihr verschwamm alles, als sich die Bewusstlosigkeit wieder wie schützende Flügel über sie breitete. Aber bevor sie ganz in die Dunkelheit abtauchen konnte, hielt ein Gedanke sie zurück.
Sag mir, wo du bist, Elena.
Schweißperlen rannen ihr über das Gesicht, ihr T-Shirt klebte am Rücken. Aber sie hielt an dieser Stimme, an Raphaels Stimme, fest und kämpfte sich zurück ins Diesseits. Noch immer kauerte Uram vor ihr, blickte sie mit dem selbstzufriedenen Ausdruck eines Verfolgers an, der seine Beute in die Enge getrieben hatte.
»Sie riechen nach Säure«, flüsterte sie. »Scharf, metallisch, unverwechselbar.«
Der Ausdruck in seinem Gesicht änderte sich und strahlte eine beinahe kindliche Neugier aus. Doch auf eine solch verzerrte Weise, wie Elena sie bei einem Kind noch nie gesehen hatte. »Und wonach riecht Bobby?« Wieder grinste er, auch wenn seine Augen sich rot färbten. »Er möchte es auch gerne wissen.«
Elena musste schlucken. Wasser, sagte sie in Gedanken und hoffte verdammt noch mal, dass Raphael es hören würde. Ich rieche Wasser. »Bobby«, sagte sie leise. »Bobby riecht nach Staub und Erde und Tod.« Und ich höre etwas. Angestrengt lauschte sie. Gleichmäßige Schläge. Eigentlich müsste ich sie kennen.
Uram strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Gleich würde er ihr das Genick brechen, doch im nächsten Moment zog er die Hand wieder zurück. Selbst als ein Gefühl der Erleichterung sie durchflutete, war ihr bewusst, dass er sich an ihrer Angst ergötzte, sie mit Ungewissheit quälte. Dieser Scheißkerl hielt sie nur zu seinem Vergnügen am Leben… oder etwa nicht?
»Warum lassen Sie mich noch am Leben?«
Sei still, Elena.
Sch! Wenn ich Schmerzen habe, bin ich ungenießbar.
Erneut breitete sich ein Lächeln auf Urams Lippen aus, als er ihren Knöchel quetschte. Vor Schmerz verlor sie fast wieder das Bewusstsein, doch Uram wusste sehr genau, wann er aufhören musste. »Weil Sie Raphaels Schwachpunkt sind. Lebend sind Sie viel nützlicher für mich.«
Das ist eine Falle. Wehe, du lässt dich absichtlich von ihm verwunden.
Um Uram kümmere ich mich schon. Deine Aufgabe dagegen ist es, am Leben zu bleiben.
Selbst inmitten dieses Albtraums musste sie bei dieser Anweisung unwillkürlich lächeln. »Ich bin bloß sein Spielzeug.«
»Natürlich.« Bei diesen Worten ließ er ihren Knöchel los und winkte ab.
Dass er ihr so schnell beigepflichtet hatte, erschütterte sie mehr, als ihr lieb war. Aber in Anbetracht ihrer momentanen Lebenserwartung konnte sie sich in Liebesdingen wohl so dämlich anstellen, wie sie wollte. Liebe. Zum Teufel damit. »Wenn ich so unbedeutend bin, warum spiele ich dann als Geisel überhaupt eine Rolle ?«
»Weil Raphael«, sagte er, von den Reißzähnen keine Spur, als wäre er schon ein hundert Jahre alter Vampir, »sein Spielzeug nicht gerne teilt.«
Bei diesen Worten wuchsen Eiszapfen in ihrem Herzen. »Sie scheinen sich da ganz sicher zu sein.«
»In alten Zeiten, als noch die Schönheit und Könige und Königinnen geherrscht haben, waren wir ein Jahrhundert lang am selben Hof.« Er neigte den Kopf. »Das haben Sie nicht gewusst?«
»Spielzeug eben.« Mit zusammengepressten Lippen lächelte sie ihn an, diesmal waren ihr ihre wahren Gefühle gerade recht. »Er redet kaum mit mir.«
»Raphael hat noch nie viel geredet, nicht so wie Charisemnon.« Angewidert verzog er das Gesicht. »Der redet unablässig, ohne auch nur irgendetwas zu sagen. Schon hundertmal habe ich mir gewünscht, seinen Kehlkopf zu zerquetschen. Vielleicht bekomme ich jetzt die Gelegenheit dazu.« Stirnrunzelnd schob er mit dem Fuß einen Oberschenkelknochen beiseite. »Scheußlicher Gestank hier drinnen.« Wütend sah er sich um.
Sie sagte ihm nicht, dass es seine eigene Schuld war. »Sie waren gerade dabei, mir von Raphaels Spielzeug zu erzählen«, sagte sie mit dem sicheren Gefühl, dass ihr dieses Thema ein längeres Leben bescheren würde als das des Leichengeruchs, der ihn nur verärgerte.
Als er sich ihr wieder zuwandte, fielen ihr die seltsamen Streifen auf seiner Haut auf, zarte weiße Linien zogen sich über sein Gesicht. Beinahe wie Adern, nur dass sie die falsche Farbe hatten– statt mit Blut waren sie mit etwas anderem gefüllt.
»Am Hof konnten wir uns damals unsere Sklaven selbst aussuchen«, berichtete er ihr, und seine Stimme klang dabei so tief und wohltönend, dass sie sich gut vorstellen konnte, dass er einmal viele Lebewesen in seinen Bann gezogen hatte. Und immer noch schlagen konnte, wenn ihm nicht Einhalt geboten wurde. »Sie waren einzig zu unserem Vergnügen da, und wir benutzten sie nach Belieben.«
Bei seinen verachtenden Worten schnürte sich ihr die Kehle zu. »Menschen?«
»Viel zu zerbrechlich, nicht hübsch genug. Nein, unsere Sklaven waren Vampire– damals wie heute war es ihre Pflicht, uns anzubeten.«
Zwar war das nicht der genaue Wortlaut des Vertrages, aber zum Schein spielte Elena mit. »Sie erschufen sich also Ihre Sklaven selbst?«
»Ach nein, das wäre zu ermüdend gewesen. Sie wurden eingetauscht. Jetzt haben Sie sicher Mitleid.« Er lachte, und wieder klang es angenehm. »Sie haben darum gebettelt, in unsere Betten zu gelangen. Im Harem sind regelrechte Kämpfe ausgebrochen, wenn eine der anderen vorgezogen wurde.«
Wahrscheinlich sagte er die Wahrheit. »Also waren alle glücklich.«
»Man hatte natürlich seine Lieblinge…«
Sie hörte ihm nur mit halbem Ohr zu, denn sie versuchte mit aller Macht herauszufinden, wo sie sich befanden. Dieses schlagende, peitschende Geräusch war verebbt, aber jetzt hörte sie etwas anderes. Autos. In der Nähe einer Straße und von Wasser. Rein äußerlich betrachtet wirkte Urams Flügel zwar unversehrt, aber so, wie er ihn über den Boden schleifte, war er wohl noch nicht ganz wiederhergestellt. Also konnten sie sich nicht sehr weit von der Stelle entfernt haben, an der er Illium angegriffen hatte. Hoffentlich ging es dem blau geflügelten Engel gut, so, wie er auf das Wasser geprallt war, hätte es einen Menschen in Stücke zerrissen.
Ganz sicher bin ich nicht, aber ich glaube, wir sind am Ufer des Hudson, ganz in der Nähe von Illiums Absturz. Sie schickte Raphael diesen Gedanken und hoffte inbrünstig, dass er Uram irgendwie davon abhalten konnte, in ihren Kopf einzudringen. Ein Zimmer mit verdunkelten Fenstern. Dieser Gestank! Es ist widerlich hier. Schau dich nach einem verlassenen Gebäude, Bootshaus oder Lagerraum um– anderswo hätten die Nachbarn schon längst die Polizei verständigt.
Es sei denn, die Toten waren die Nachbarn. Aber in diesem Fall hätte bestimmt jemand zumindest für eine dieser Personen eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Weil sie sich so auf diese Gedanken konzentrierte, machte sie den Fehler, ihren Blick abschweifen zu lassen. Ein kräftiger Druck auf ihren Knöchel, und auf einmal war von ihr nichts mehr übrig außer Schmerz, alle Sinneszellen feuerten gleichzeitig. Diesmal konnte sie gegen die nahende Dunkelheit nichts mehr ausrichten, konnte sich nicht mehr in dieser Welt halten.
Wenn du stirbst, Gildenjägerin, verwandle ich dich in eine Vampirin.
Sie krümmte sich vor Abscheu und kämpfte, kämpfte mit allen Mitteln. Ich will kein Blut trinken. Und wenn ich tot bin, kannst du mich nicht mehr erschaffen. Als würde sie durch Sirup schwimmen, so fühlte sich ihr Zustand an, doch endlich tauchte sie auf, kam wieder zu Bewusstsein… um sich gleich darauf vorzubeugen und den Inhalt ihres Magens in einem Schwall auf den Boden zu entleeren. Als sie sich den Mund abwischte und sehr langsam wieder hochkam, war Uram immer noch nicht von ihrer Seite gewichen.
»Du hast mir nicht richtig zugehört«, sagte er in ganz vernünftigem Ton.
Aus den Augenwinkeln nahm sie etwas wahr. »Tut mir leid. Ich habe Schmerzen.« Ich sehe Putz. Die Wände sind noch nicht fertig. Halte nach Neubauten Ausschau. Und dieser Haufen– das waren ihre Waffen! Fast zum Greifen nahe.
»Ich hoffe sehr, dass Raphael bald kommt.« Enttäuscht runzelte er die Stirn. »Denn lange machen Sie es nicht mehr.«
»Sind Sie denn sicher, dass er kommt?«
»Oh ja. Und die Sklavinnen– er hat sich immer mit uns geprügelt, wenn auch nur eine von ihnen, die er für sich beanspruchte, einen blauen Fleck abbekam.« Uram fand das ganz offensichtlich amüsant. »Können Sie sich das vorstellen? Sie haben ihm wirklich am Herzen gelegen.«
Die Trennungslinie zu einem Ungeheuer verlief auf einmal schärfer, als Elena jemals gedacht hatte. Raphael war auf der einen Seite geblieben, während Uram sich auf der anderen befand. »Das ist schon so lange her«, erwiderte sie. »Er hat sich verändert.«
Als wollte er nachdenken, hielt Uram inne. »Ja. Vielleicht kommt er doch nicht. Vielleicht lasse ich Sie hier zurück.« Nun kam Leben in ihn. »Vielleicht binde ich Sie mit Bobby zusammen, lasse ihn trinken. Was sagst du dazu, Bobby?«, rief er.
Das verwelkte Ding auf der anderen Seite schien etwas zu flüstern. Elena konnte es nicht verstehen, doch Uram hatte es offenbar gehört. Er lachte so heftig, dass er fast das Gleichgewicht verlor. »Ich bin entzückt, dass du deinen Humor nicht eingebüßt hast«, sagte er glucksend. »Schon aus diesem Grund sollte ich deinen Wunsch erfüllen. Ich leg dich der Sterblichen an die Brust, dann kannst du wie ein Säugling nuckeln.«
Diese abscheuerregende Vorstellung erfüllte Elena mit kalter und gefährlicher Wut. Einen sterbenden Vampir zu füttern, stellte kein Problem für sie dar, schließlich war sie kein Unmensch, kein sadistisches Ekel wie Uram. Aber ganz sicher würde sie sich von einem Geist, der schon längst von Uram gebrochen war, nicht zu Tode quälen lassen. Sie benutzte die momentane Ablenkung des Erzengels, um nach dem Messer in ihrem Stiefel zu greifen. Schon bei der kleinsten Bewegung ihres Knöchels fuhr sie vor Schmerz zusammen, aber das war es nicht, was ihr Einhalt gebot.
Der Geruch von Wind, Regen und Meer. Wo genau befindest du dich in dem Raum?
Gegenüber der Fensterseite, Uram kauert vor mir. Links neben dem Fenster gibt es noch einen verhungerten Vampir. Er heißt Robert.
Sein Leben ist einerlei. Er quält gerne Kinder.
Plötzlich war die Wand einfach weg, als hätte ein heftiger Windstoß sie einfach mit sich genommen. Rings um das Loch herum brannte ein Ring aus knisterndem blauem Feuer, und Uram schrie triumphierend auf. Der Erzengel erhob sich und starrte sie an. »Sie haben Ihren Zweck erfüllt, haben ihn hierhergelockt, obwohl er verletzt ist– eine solch leichte Beute!« In seiner Hand sah sie das rote Feuer.
Wenn er sie damit berührte, würde sie augenblicklich sterben.
Also warf sie ihm ein affektiertes Lächeln zu. »Wenn Sie so zuversichtlich sind, dann erledigen Sie mich doch hinterher. Es sei denn, es gibt Sie dann nicht mehr.«
Er trat nach ihrem zerschmetterten Knöchel, und der Schmerz explodierte in ihr, bis ihr Bewusstsein aufgab.
Während der Blutengel in seinem Wahn noch ein zweites Mal nach Elena trat, traf ihn Raphaels Energieblitz mitten in den Rücken. Der Wurf hatte den gewünschten Effekt. Mit einem Wutschrei fuhr Uram herum, schleuderte den roten Strahl des Himmlischen Feuers nach Raphael und zertrümmerte mit einem zweiten die Decke, um sich in die Lüfte zu erheben.
Raphael wusste, dass Elena unter den Trümmern begraben war, spürte noch ihren Geist, auch wenn dieser in tiefe Nacht getaucht war. Lebe, befahl er ihr wieder, während er emporstieg, um ein Übel zu bekämpfen, das nicht länger existieren durfte. Feuerkugeln schlugen in die benachbarten Häuser ein, Menschen liefen schreiend heraus, während Brocken von Mauerwerk auf die Erde regneten. Mit quietschenden Bremsen hielt ein Wagen, dann noch einer und noch einer, die Fahrer blickten in den Himmel.
Raphael flog unter einem Feuerstrahl durch, parierte den Angriff und stellte voll Genugtuung fest, dass er Uram angesengt hatte. Mit blutigem Gesicht schlug Uram mit einem Feuersturm zurück, der sich von der gestohlenen Lebensenergie fremden Blutes speiste und von dem Gift, das durch jede einzelne seiner Zellen pulsierte, noch weiter angefacht wurde. Für einen Blutengel wie ihn gab es jetzt kein Zurück mehr.
»Wenn du zu Asche geworden bist«, höhnte Uram, während er mit lodernden Flammen in den Händen auf Raphael zuflog, »gehört die Stadt mir!«
Zwar wich Raphael der Attacke aus, aber noch bevor er die quälenden Schmerzen des Himmlischen Feuers an seinem Flügel spürte, wusste er, dass er ein wenig zu langsam gewesen war.
38
Wie ein Pfeil schoss er nach oben in die Wolken, höher noch, als Engel eigentlich fliegen sollten, bis ihn die Atemnot packte und das Feuer mangels Sauerstoff erstickte. Dann ließ er sich hinabstürzen und nutzte die Wucht, um Uram mit seinem Himmlischen Feuer zu bombardieren. Der Blutengel wich allen Blitzen aus, nur einer traf ihn am Oberschenkel.
Raphael spürte, dass er seine Flügel über die Maßen beanspruchte, denn die alten wie auch die neuen Verletzungen begannen wieder zu schmerzen. Noch war er kampffähig. Aber nicht mehr lange. Uram hatte ihn mit genügend Himmlischem Feuer bombardiert, sodass kleine Brandherde geblieben waren. Das Feuer würde sich langsam, aber sicher durch den Körper fressen. Ihm blieben kaum mehr zehn Minuten, bis er so geschwächt sein würde, dass er nicht mehr fliegen konnte. Dann spürte er auf einmal, dass eine Sehne riss, und es fiel ihm wieder ein.
Er war jetzt ein klein wenig sterblich.
Dann sollte es eben so sein. Hellsichtig begriff er auf einmal, dass er lieber wie ein Mensch starb, als ein Ungeheuer zu werden. Elena! Lebe! Immer wieder schickte er ihr diesen Befehl, selbst als seine eigenen Kräfte zu schwinden begannen und immer mehr von Urams Blitzen seinen Leib und seine Flügel versengten. Du musst leben. Sie musste einfach überleben. Ihre Lebensgeister waren viel zu rege, um sich so leicht auslöschen zu lassen.
Und dann wurde ihm plötzlich bewusst, dass… dieses zerbrechliche menschliche Leben ihm nicht einfach nur wichtig war. Es war ihm sogar wichtiger als sein eigenes Leben. Wach auf, Gildenjägerin!
Endlich war er nah genug an Uram herangekommen, um einen erneuten Angriff zu wagen, aber seine Kraftreserven waren fast aufgebraucht. In der Stadt unter ihnen breitete sich die Dunkelheit immer weiter aus, denn beide Engel entzogen dem Stromnetz und allen anderen erdenklichen Quellen Energie.
Motoren und Batterien versagten, Hochspannungsmasten kollabierten. Trotzdem sog Raphael weiter Energie in sich auf. Doch ihm wurde klar, dass, schneller noch, als die Energiequellen versiegten, sein Körper aufgeben würde.
Er traf Urams Flügel, aber das bewirkte nicht viel. Der Blutengel hatte sich so gründlich an seiner Beute gelabt, dass er selbst in seinem geschwächten Zustand schneller als jeder gewöhnliche Engel, ja selbst schneller als jeder Erzengel heilte. Lachend formte Uram den nächsten Feuerball. Diesmal zielte er auf das halb zerstörte Gebäude.
Elena!
Mit der Schulter fing Raphael die Feuersbrunst ab. Ein brennender Schmerz schoss durch seinen Körper, als die Flammen auf Knochen trafen und sich langsam weiterfraßen. Er blinzelte die Schweißperlen weg, kämpfte weiter und schwebte über der Wohnung, damit Uram sie nicht zerstören konnte.
»Du Narr«, spottete Uram. »Für eine Menschenfrau gibst du die Unsterblichkeit auf?«
Raphael antwortete ihm, indem er blieb, wo er war, und das Himmlische Feuer, mit dem Uram ihn beschoss, unerbittlich abwehrte. Er spürte seine Männer nahen. Mahnte sie, außerhalb der Schusslinie zu bleiben. Nur ein Erzengel konnte dem Himmlischen Feuer länger als ein paar Sekunden standhalten. Dann traf einer von Urams Blitzen seine unversehrte Schulter.
Das Feuer hatte sich bereits durch die eine Seite gefressen und den blanken Knochen freigelegt. Ein Muskel nach dem anderen gab nach. Aber er kämpfte weiter, traf Uram einige Male und nahm nur noch am Rande wahr, dass Manhattan pechschwarz unter ihnen lag, ohne jegliche Elektrizität. Weiter draußen in Queens und in der Bronx erloschen die Lichter in Wellen.
Jenseits dieser Stadtteile gab es noch mehr Kraft, die er nutzen konnte, aber sein Körper versagte ihm allmählich den Dienst. Mit letzter Anstrengung nahm er so viel Energie auf, dass seine Haut zu glühen begann, und bereitete sich dann für einen Kamikazeflug vor. Wenn er mit Uram in Berührung käme, könnte er sie beide zusammen verbrennen. Ein hoher Preis, den er zu zahlen bereit war, aber ein Erzengel, der sich in einen Blutengel verwandelt hatte, konnte die Welt in Stücke reißen, die gesamte Zivilisation auslöschen.
Ohne sich ganz zu verausgaben, hielt Raphael Uram mit dem Himmlischen Feuer auf Abstand und wartete aufmerksam auf eine Lücke in der Verteidigung, einen einzigen Fehler. Aber als sich dann die Gelegenheit endlich bot, dann nicht, weil Uram einen Fehler gemacht hatte, sondern weil eine Jägerin sich beharrlich weigerte, klein beizugeben und das Böse triumphieren zu lassen.
Aus den Trümmern des Wohnhauses wurden Schüsse abgefeuert, die durch Urams Flügel peitschten.
Uram schrie auf und trudelte in die Tiefe, dabei sandte er wie ein Wahnsinniger Himmlische Blitze aus. Raphael flog auf ihn zu, hielt ihn mit einer Hand an der Schulter fest und stieß ihm die andere Hand in die Brust. Durch den Brustkorb hindurch bis zu seinem Herzen.
»Auf Wiedersehen, alter Freund«, sagte er, und ihm war klar, dass in diesem Ungeheuer nichts mehr von dem Engel übrig war, den er einst gekannt hatte. Dann ließ er zum letzten Mal ein Himmlisches Feuer los, und wie ein Fieber breitete es sich in Urams Körper aus– der sterbende Erzengel griff nach Raphael, drohte ihn mit sich zu nehmen. Aber Raphael musste leben, sonst würde Elena sterben.
Er riss sich von Uram los, bevor dieser in weißen Flammen aufging und mit einer einzigen Explosion ganz Manhattan erhellte. Dann war alles vorbei, und Uram war nicht nur tot, sondern spurlos im Kosmos verschwunden. Nicht einmal Staub war von ihm übrig.
Eigentlich hätte Raphael sofort landen müssen, denn seine Wunden bluteten immer stärker, je tiefer sich das Himmlische Feuer in seinen Körper fraß. Aber stattdessen kämpfte er sich mit seinen kaum noch funktionsfähigen Flügeln auf das Dach des Gebäudes hinauf.
Einer von Urams letzten, verzweifelten Blitzen hatte hier eingeschlagen. Sie musste ganz oben auf dem achtstöckigen Haus gestanden haben, als sie auf Uram geschossen hatte. Von dem Dach war nicht mehr viel zu sehen, aber er spürte Elena noch, fühlte ihr immer schwächer werdendes Lebenslicht. Elena, antworte mir.
Still und friedlich, ein sanftes Murmeln. Dann: Versprichst du mir, ein klein wenig ein Mensch zu bleiben, Raphael?
Eine beinahe unhörbare Bitte. Aber er verstand sie. Er folgte der Gedankenspur und entdeckte ihren geschundenen Körper an einem Leuchtreklameschild, das gefährlich lose über dem Abgrund hing. Ihr Rückgrat war zertrümmert, ihre Beine unnatürlich verrenkt. Doch als sie ihn erblickte, lächelte sie. Und in der Hand hielt sie immer noch die Waffe, die mehr Menschenleben gerettet hatte, als die Welt je erfahren würde.
Aus Angst, er könnte sie über das Schild stoßen, wagte er nicht, sie zu berühren. »Du wirst nicht sterben.«
Langsam zwinkerte sie ihm zu. »Besserwisser.« Blubbernd vor Blut erklang ihre Stimme. Das Sprechen klappt nicht mehr so.
Ich verstehe dich trotzdem.
Dann verrate mir endlich das Geheimnis, ja? Wie werden Vampire erschaffen?
Selbst aus dem vergehenden Flüstern konnte er den neckenden Unterton heraushören. Wir bilden ein Gift, deshalb muss unser Blut regelmäßig gereinigt werden. Je älter wir werden, desto größer die Abstände.
Uram hat zu lange gewartet.
Ja. Wir bauen eine Immunität auf, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Danach dringt das Gift in unsere Zellen ein, die dann mutieren. Diese immerwährende Immunität bedeutete jedoch, dass ein Engel auch immer einen bestimmten Anteil im Blut hatte. Genug. Es würde gerade reichen.
Der einzige Weg, sein Blut zu reinigen, ist die Weitergabe an einen Menschen. Die himmlische Geschichtsschreibung berichtet von einer Zeit, in der man aus Verzweiflung um so viel vergeudetes menschliches Leben versucht hat, sein Blut durch die Weitergabe an Tiere zu reinigen. Doch das hatte ein solches Blutbad zur Folge, das selbst Lijuan nie darüber sprach. Von diesem Blutaustausch bekommen wir etwas zurück, etwas, das den Giftpegel für eine Weile konstant hält, aber selbst nach so vielen Jahrtausenden wissen wir nicht, was es genau ist.
Aber… Ein Zögern, als würde sie ihre ganzen Kräfte zusammennehmen, um ihre Neugier zu befriedigen. Die Tests? Verträglichkeit?
Jede Frage würde er ihr beantworten, jedes Geheimnis preisgeben, wenn sie dafür nur am Leben bliebe. Nur einige kommen mit der Fähigkeit auf die Welt, das Gift zu überleben und es als Mittel zu nutzen, um sich in Vampire zu verwandeln. Die anderen sterben. Und trotz der Grausamkeit und des fehlenden Mitgefühls, das ihr Alter mit sich brachte, wollte kein Unsterblicher so viel Blutschuld auf sich laden. Ewiges Leben zu versprechen und dann nur den Tod zu bringen war ein Schritt zu nah am Abgrund. Vor den Tests hat es von zehn vielleicht einer geschafft.
Ah… Nun war ihr Flüstern kaum noch mehr als ein Windhauch.
Seine Eckzähne wurden länger, und ein seltsamer, wundervoll goldener Geschmack breitete sich in seinem Mund aus, während eine Träne sein Gesicht hinunterrann. Er war ein Erzengel. Schon seit über tausend Jahren hatte er nicht mehr geweint. Jetzt weißt du also Bescheid– deshalb werden so viele Schwachköpfe verwandelt.
Ein leises Lachen in seinem Kopf. Eine Sterbende darf sich ruhig idiotisch benehmen. Ich bin verrückt nach dir, Erzengel. Manchmal flößt du mir zwar eine Heidenangst ein, aber trotzdem will ich mit dir in den Himmel tanzen.
Als ihre Stimme verebbte, setzte sein Herz einen Schlag lang aus, und er beugte sich über sie. Er war überwältigt von ihrer Schönheit und Lebenskraft. »Ich lasse dich nicht sterben. Ich habe dein Blut untersuchen lassen. Du bist geeignet.«
Ihre Augenlider flackerten, vergeblich versuchte sie, die Augen zu öffnen. Doch ihre innere Stimme, geschwächt zwar, aber unerbittlich, sprach zu ihm. Ich will keine Vampirin werden. Die Blutsaugerei liegt mir nicht.
»Du musst leben.« Und dann küsste er sie, gab ihr das berauschende Gift zu trinken. Du musst leben.
In diesem Moment gab die Reklametafel nach, löste sich aus der Verankerung und schlug mit ohrenbetäubendem Krach auf der Erde auf. Elena fiel nicht allein, Raphael hielt sie in seinen Armen, und ihre Lippen lagen aufeinander. Zusammen gingen sie zu Boden, seine Flügel waren so gut wie zerstört, seine Seele sterblich.
Und während das Himmlische Feuer seine Knochen zerstörte und sein Herz anfraß, schickte er seiner Sterblichen einen letzten Gedanken: Wenn das der Tod ist, Gildenjägerin, dann treffen wir uns auf der anderen Seite wieder.
Sara starrte in den Himmel, Tränen liefen ihr über die Wangen. Der Erzengel von New York fiel, und in seinen Armen hielt er einen Körper mit beinahe weißen Haaren. »Oh nein, Ellie, das darfst du mir nicht antun«, flüsterte sie heiser. Sobald klar war, dass die Dinge schlecht standen, war sie mit ihrer Armbrust hergeeilt, denn sie wusste, dass Ellie ihre Hilfe brauchte. Nur Minuten später war auch Ransom mit einer Waffe in der Hand aufgetaucht. Aber keiner von ihnen konnte helfend eingreifen, denn der Kampf hatte zu hoch in der Luft stattgefunden.
Und jetzt fiel Raphael, und sie konnten nichts machen.
Es kam ihr so vor, als sähe sie alles in Zeitlupe. Ihre beste Freundin lag mit zerschmettertem Körper in den Armen eines Erzengels, dessen prächtige Flügel nur noch Fetzen waren. Es blieb ihnen vor allem keine Zeit mehr, eine sanfte Landung für die beiden vorzubereiten. Der Trümmerhaufen, auf dem sie standen, war voller zerborstener Ziegelsteine, herausgerissener Rohre, sogar ein Hackbeil, dessen Klinge unter der Schuttlawine hervorschaute, befand sich darunter. Scharfe Kanten, wohin man auch sah, alles war scharf und spitz. Tödlich.
Sara schluchzte in Ransoms unbeholfener Umarmung, sie weinte für sie beide, denn er würde sich durch Wut Erleichterung verschaffen. Vor ihren Augen verschwamm alles, und einen Moment lang dachte sie, sie würde sich die vielen Flügelpaare nur einbilden. Wie sanfte, dunkle Schatten in der stockfinsteren Nacht, die über Manhattan hereingebrochen war, scharten sich die Flügel um Raphael.
»Sie steigen wieder auf!« Sie riss vor Aufregung an Ransoms Jacke, starrte nach oben. »Sie steigen auf!« Raphael und Elena waren in der Menge der Flügel nicht mehr zu erkennen, aber das war nicht weiter wichtig. Wichtig war nur, dass sie nicht auf die Erde aufgeschlagen und umgekommen waren, während sie hilflos danebengestanden hätte. »Ellie lebt noch.«
Ransom widersprach ihr nicht, wenngleich beide wussten, dass Ellie Verletzungen davongetragen hatte, die eigentlich kein Mensch überleben konnte. Er hielt sie einfach nur im Arm und ließ ihr ihren Glauben. Zumindest vorerst noch.
Eine Woche später knallte Sara wutentbrannt den Hörer auf die Gabel und starrte Ransom an, der ihr gegenüber im Büro saß, während Deacon unerschütterlich an ihrer Seite stand. Ihr Mann. Ihr Fels in der Brandung. »Sie weigern sich, irgendwelche Informationen über Raphael oder Ellie herauszurücken.«
Ransom kniff die Lippen zusammen. »Und mit welcher Begründung?«
»Engel brauchen ihre Entscheidungen nicht zu rechtfertigen.« Saras Mundwinkel zuckten. Vor lauter Kummer wusste sie nicht mehr ein noch aus. »In dieser Nacht ist uns wohl allen deutlich vor Augen geführt worden, dass Erzengel sehr wohl sterben können. Kann sein, dass Raphael tot ist und wir es mit einer neuen Führung zu tun haben.«
»Das gibt ihnen noch lange nicht das Recht, sie von uns fernzuhalten!« Auf einmal war es um Ransoms Gelassenheit geschehen, und er ließ seine Faust krachend auf die Armlehne fallen. »Wir sind doch ihre Familie.« Er erstarrte. »Haben sie Ellie etwa diesem Scheißkerl ausgeliefert?«
Sara schüttelte den Kopf. »Jeffreys Anrufe haben sie total abgeblockt. Zumindest geht bei mir noch jemand ran.«
»Mit wem hast du denn gesprochen?«
»Dmitri.«
Ransom stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen, als könnte er nicht mehr stillsitzen. »Er ist ein Vampir.«
»Ich habe keine Ahnung, was, zum Teufel, hier vor sich geht.« Es schien, als wären es nicht die Engel, sondern die Vampire, die die Fäden in der Hand hatten. Deacon hatte seine Kontakte spielen lassen– und er hatte ein paar sehr ungewöhnliche Bekanntschaften–, aber auch er war nur auf Schweigen gestoßen. Dmitri hatte den Laden übernommen, lenkte jetzt mehr oder weniger die Geschicke Manhattans.
»Vielleicht hat das gar nichts damit zu tun«, fuhr Sara fort, »aber kurz nach Urams Tod hat ein weiterer Erzengel, Michaela, die Stadt verlassen.« Jeder wusste, welcher Erzengel gestorben war. Es war die Nachricht des Jahrtausends schlechthin, obwohl sie nicht von den Erzengeln selbst stammte.
»Drei Erzengel in einer Stadt?«, sagte Ransom kopfschüttelnd. »Das kann doch kein Zufall sein. Was meinst du, Deacon?«
»Du hast sicher recht. Aber das stellt uns bloß vor noch mehr Rätsel.«
Er hatte die Sache mal wieder auf den Punkt gebracht. Nach außen hin wirkte er ruhig. Doch sie spürte die mühsame Beherrschung hinter seinen knappen Worten. Ihr Mann wählte seine Freunde mit Bedacht– und Ellie gehörte zu ihnen. Sie berührte ihn leicht am Oberschenkel, als er ihr den Arm um die Schultern legte. »Es heißt, dass der Erzengelturm selbst für andere Engel tabu ist.«
Ransom fuhr sich mit der Hand durch das offene, lange Haar, mit dem Elena ihn immer so gerne aufgezogen hatte. Jetzt fiel es ihm strähnig und unordentlich auf die Schultern. »Ich glaube, du hast recht. Raphael ist tot, und jetzt suchen sie verzweifelt nach Ersatz.«
Von ihrem Schreibtisch aus blickte Sara auf eine Stadt, die zur Hälfte noch im Dunkeln lag. Viele der Kraftwerke und Leitungen waren in dem Kampf zwischen den beiden Erzengeln zerstört worden, und es würde Monate dauern, bis alles wieder funktionierte. »Aber warum rücken sie Ellie nicht raus?« Sara war das unbegreiflich. »Sie ist eine Sterbliche. Sie gehört ihnen doch nicht.« Mit allem, was ihr zur Verfügung stand, würde sie sich für ihre Freundin einsetzen.
Ransom sah sie herausfordernd an. »Bist du in Form?«
Sofort wusste sie, was er im Sinn hatte. »Gut genug, um mich in diesen verdammten Turm hineinzuwagen.«
»Ihr geht verkabelt rein«, sagte Deacon und bewies ihr dabei wieder einmal, dass sie den richtigen Mann geheiratet hatte. »Alle beide. Ich halte mich mit einem Rettungskommando bereit. Wer ist zur Zeit im Haus?«
Blitzschnell überlegte Sara. »Kenji ist im Gewölbe. Und Rose auch. Sie haben sich nur kurz hingelegt, also sind sie ohne Weiteres einsatzfähig.«
»Lass sie rufen. Ich besorge die Ausrüstung.«
Eine Stunde später kauerte sie neben Ransom in dem streng bewachten Park rund um den Erzengelturm. Niemand war seit jener Nacht, in der die ganze Stadt dunkel wurde, so nah an ihn herangekommen, denn auch die ganze Umgebung wurde streng kontrolliert. Sara hatte jedoch eine Möglichkeit entdeckt einzudringen, gab Ransom ein Zeichen und setzte sich in Bewegung. Wenige Sekunden später befanden sie sich in der unbeleuchteten Eingangshalle.
»Ich habe Sie schon vor Tagen erwartet«, ertönte eine sanfte Stimme vom anderen Ende der Halle her. Mit einem Mal war die Lobby von weichem Licht erfüllt, als habe jemand einen Schalter umgelegt.
Sara erkannte die Stimme sofort. »Dmitri.«
Ein kurzes Nicken. »Zu Ihren Diensten.« Sein Blick glitt zu Ransom. »Ransom, nehme ich an.«
»Den Mist kannst du dir sparen.« Ransom hob die Armbrust, die mit Saras momentaner Lieblingswaffe, einem sehr illegalen Bolzen mit Kontrollchip, ausgestattet war.
»Das würde ich nicht tun«, sagte Dmitri gleichmütig. »In null Komma nichts hätten euch meine Männer überwältigt, und ich wäre sehr viel schlechter gelaunt.«
Beschwichtigend legte Sara Ransom die Hand auf den Arm und sah Dmitri fest in die Augen. »Mit Ihnen haben wir keinen Strauß auszufechten – wir wollen nur wissen, wie es Ellie geht.«
Der Vampir straffte die Schultern. »Folgen Sie mir. Lassen Sie die Armbrust ruhig liegen. Sie haben hier nichts zu befürchten.«
Vielleicht war es schiere Dummheit, aber sie beschlossen, dem Vampir zu vertrauen. Dmitri stieg in den Fahrstuhl. Sie folgten ihm, und Sara fiel ein, dass Ellies Geist sie wohl für immer verfolgen würde, wenn sie ihr Leben aufs Spiel setzte und Zoe um ihre Mutter und Deacon um seine Frau bringen würde. Aber Ellie gehörte doch zu ihnen. Entschlossen schob sie das Kinn vor und betrat ebenfalls den Fahrstuhl.
Das Kabel– eigentlich war es ein Hightech-Sender, der in ihrem Ohr saß und noch von zusätzlichen Sendern an Armbanduhr und Halsausschnitt verstärkt wurde– vibrierte beinahe unmerklich. Gerade genug, um sicher zu sein, dass sie mit Deacon verbunden war und er sie hören konnte. Er stand ihr zur Seite. Langsam legte sich ihre Anspannung.
Später hast du immer noch Zeit, sauer zu sein, Ellie. Nachdem wir wissen, dass es dir gut geht. Wir mögen dich und müssen uns um dich kümmern.
Während sie an den vielen Stockwerken vorbeischossen, sagte Dmitri kein Wort; dann stieg er in einer Etage aus, deren Wände in einem matten Schwarz schimmerten. Immer noch schweigend geleitete er sie in ein kleines Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Abgesehen von den glitzernden Lichtern der Stadt dort draußen war nur tiefe Dunkelheit um sie. Selbst mit halber Kraft strahlte Manhattan noch diamanthell. »Was ich Ihnen heute Nacht erzähle, darf diese vier Wände nicht verlassen. Haben wir uns verstanden?«
In Ransom verkrampfte sich innerlich alles, aber er überließ es Sara zu antworten. »Wir wollen bloß wissen, was Sie mit Ellie gemacht haben.« Sara brachte es nicht über sich, »Leiche« zu sagen. Bis sie Ellies Leiche mit eigenen Augen gesehen hatte, konnte und wollte sie nicht glauben, dass sie tot war.
»Sie sind ihre Familie.« Dmitri sah sie dabei an. »Wahlverwandte, keine Blutsverwandten.«
»Ja.« In Dmitris Augen erkannte sie eine ganz unerwartete Tiefe. Die Alten– und Dmitri war sehr alt– schienen nur allzu leicht zu vergessen, dass auch sie einmal Menschen gewesen waren, mit menschlichen Träumen und Ängsten. »Wir müssen sie sehen.« Selbst jetzt noch hoffte ein eigensinniger und irrationaler Teil in ihr auf ein Wunder.
»Das geht nicht«, sagte Dmitri und hob beschwichtigend die Hand, als Ransom einen Fluch ausstieß. »Aber so viel kann ich Ihnen sagen: Sie ist noch am Leben. Vielleicht nicht so, wie sie es sich gewünscht hätte, aber sie lebt.«
Vor lauter Erleichterung hatte Sara den letzten Satz ganz überhört. Ransom reagierte jedoch sofort darauf. »Oh mein Gott. Ellie wird ausflippen, wenn ihr sie in einen Vampir verwandelt habt.«
Dmitri zog eine Braue hoch. »Ihr werdet uns nicht verurteilen, weil wir ihr diese Entscheidung abgenommen haben?«
Sara antwortete für beide. »Wir sind Egoisten. Wir wollen, dass sie am Leben bleibt.« Ihre Gefühle spielten verrückt, sodass sie die nächsten Worte nur mit Mühe herausbrachte. »Wie lange…?«
»Der Heilungsprozess wird sich hinziehen. Ihr Rückgrat war gebrochen und fast alle ihre Knochen zertrümmert.« Seine Offenheit war viel besser zu ertragen als irgendwelche Ausflüchte oder Gemeinplätze. »Es gibt manche, die ihre Hilflosigkeit ausnutzen und ihr schaden wollen. Bis sie sich selbst verteidigen kann, beschützen wir sie.«
»Selbst vor uns?«, fragte Ransom, und Sara konnte seinen Herzschmerz wie ihren eigenen fühlen. »Will Ellie das?«
»Sie liegt im Koma«, teilte Dmitri ihnen mit. »Ich bin derjenige, der die Entscheidungen trifft, und ich bin lieber übervorsichtig, als ihr Leben aufs Spiel zu setzen.«
Mit angehaltenem Atem nickte Sara. »Ich würde es genauso machen. Wenn ich ein paar Sachen für sie zusammenpacke, würden Sie sie ihr dann geben, wenn sie aufwacht?« Denn Ellie würde aufwachen. Schließlich hatte sie einen Dickkopf.
In stummem Einverständnis neigte Dmitri den Kopf. »Elena kann sich glücklich schätzen, Sie als Familie zu haben.«
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass auch wirklich alle Jäger den Turm und seine Umgebung wieder verlassen hatten, kehrte er in das dunkle Zimmer zurück und trat auf den Balkon hinaus. Federn raschelten, und Jason löste sich aus dem Schatten. »Du hast gelogen.«
»Eine kleine Unwahrheit«, antwortete Dmitri und ließ seinen Blick über die Lichter einer Stadt gleiten, die sich von dem Tod eines Erzengels noch immer nicht ganz erholt hatte. »Für die Wahrheit sind sie noch nicht bereit.«
»Was wirst du ihnen sagen, wenn sie innerhalb der nächsten Monate nicht auftaucht?«
»Nichts.« Mit den Händen umklammerte er die Brüstung. »Bis dahin ist Raphael wieder genesen.«
Eine Windböe blies die vertrauten Gerüche der Stadt über den Balkon, einer Stadt, die nur aus ein paar baufälligen Hütten bestanden hatte, als Raphael sie in Besitz nahm.
»Noch nie habe ich einen Erzengel so furchtbar verwundet gesehen«, sagte Jason. »Das Himmlische Feuer hat sich ungewöhnlich schnell durch seine Knochen hindurchgearbeitet.«
Dmitri dachte an Raphaels Schussverletzung zurück, die Elena ihm zugefügt hatte. »Er hat sich verändert.« Aber ob diese Veränderung fatale Folgen haben würde, blieb abzuwarten.
»Einige der Kadermitglieder werfen schon begehrliche Blicke auf Raphaels Territorium.«
Dmitri blickte ihm fest in die Augen. »Wir werden es so lange für ihn verteidigen, bis wir Gewissheit haben.«
39
Als Raphael drei Monate später seinen Platz bei dem Kadertreffen wieder einnahm, waren die Ausrufe der Überraschung echt. Offenbar hatten selbst die Unsterblichen ihn aufgegeben gehabt. Er ließ sich in seinem Sessel nieder und legte die Hände lässig auf die Armlehnen. »Wie ich höre, seid ihr gerade dabei, meine Stadt unter euch aufzuteilen.«
Neha hatte sich als Erste wieder gefasst. »Nein, natürlich nicht. Wir sprachen über Urams Nachfolge.«
Lächelnd ließ er ihr die Lüge durchgehen. »Natürlich.«
»Hervorragend, wie du ihm Einhalt geboten hast«, sagte Elias.
Charisemnon nickte zustimmend. »Nur schade, dass er vor den Augen der Öffentlichkeit sein Ende gefunden hat. Eine Zeit lang ging sogar das Gerücht um, dass er für die Vermissten in der Stadt verantwortlich sei– wie ist es dir gelungen, diese Gerüchte zu zerstreuen?«
»Ich habe gute Mitarbeiter.« Schlangengift war auf den Gedanken gekommen, Robert »Bobby« Syles die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben. Er gab einen ausgezeichneten Sündenbock ab– und in Anbetracht seiner krankhaften Vorliebe für Kinder hatte auch niemand ein schlechtes Gewissen, ihn zu verunglimpfen. Es war ganz leicht gewesen: Dem Gericht wurden ein paar Informationen zugespielt, Gerüchte über seine abartigen Neigungen in Umlauf gesetzt und Beweise seiner illegalen Einreise vorgelegt. Die Welt– Menschen, Vampire und Engel gleichermaßen– wollte nicht an einen mörderischen Erzengel glauben. Einen Kampf zwischen zwei Erzengeln konnten sie hingegen akzeptieren– die meisten glaubten, es sei dabei um Herrschaftsansprüche gegangen, wollten es gerne glauben. In Uram ein Ungeheuer zu sehen wäre einfach zu viel gewesen, es hätte ihr Weltbild erschüttert.
Charisemnon äußerte sich mit einem »Hm«, während Titus nickte. Favashi ergriff als Nächste das Wort. »Wir sind froh, dich wieder bei uns zu haben, Raphael.«
Vielleicht meinte sie es wirklich so. Also verneigte er sich kurz vor ihr. Sie lächelte, ihr Gesicht war von solcher Schönheit, dass Königreiche ihretwegen untergegangen waren. Aber Raphael fühlte nichts, sein Herz gehörte einer Sterblichen. »Ihr besprecht also mögliche Nachfolger?«
»Um es genau zu sagen«, verbesserte Astaad, »den Mangel an Nachfolgern. Einen gibt es, der sehr bald schon ein Erzengel wird, aber bislang ist er es noch nicht.«
»Und Urams Herrschaftsgebiet braucht sofort eine neue Führung.« Michaela blickte Raphael über die Runde hinweg an, ihr listiges Glitzern wusste er nur allzu gut zu deuten. Aber sie sagte lediglich. »Einen Teil der Arbeit kann ich übernehmen, aber ich habe beide Hände voll mit meinen eigenen Ländern zu tun.«
»Wie edelmütig von dir, Michaela«, murmelte Neha mit einem schneidend ironischen Unterton. »Ist deine Gier nach Land so unersättlich?«
Michaelas Augen blitzten auf. »Und ich nehme an, du hast nicht das mindeste Interesse daran?«
So begann also die Verhandlungsrunde mit Vorschlägen und Gegenvorschlägen, Bündnissen und Oppositionen. Nur Raphael und die neben ihm sitzende Lijuan hielten sich aus allem heraus. Stattdessen berührte Lijuan ihn mit ihren blassen, zarten Fingern am Arm. »Hast du vor seinem Tod noch mit Uram gesprochen?«
»Nein. Er war bereits jenseits aller Worte.«
»Wie schade.« Sie zog die Hand zurück und legte sie wieder auf die Lehne ihres eigenen Sessels. »Ich hätte gerne Einzelheiten über die Folgen des Giftes erfahren.«
Überrascht zog Raphael eine Braue hoch. »Du willst es doch nicht etwa ausprobieren?«
Ihr leises Lachen ging in dem allgemeinen Gemurmel unter. »Nein, ich hänge an meinem gesunden Verstand.«
Raphael fragte sich, ob Lijuan tatsächlich bei Verstand war. Jason hatte noch mehr über ihren Hof in Erfahrung gebracht– die Hälfte ihrer »Höflinge« waren Wiedergeborene, die ihre Befehle widerstandslos befolgten. »Freut mich zu hören. Das Leben eines so mächtigen Erzengels wie Uram auszulöschen war schon schwierig genug. Gar nicht auszumalen, wenn du ein Blutengel würdest.«
Ein mädchenhaftes, doch zugleich boshaft schauriges Funkeln trat in Lijuans Augen. »Deine Schmeicheleien werden mir noch zu Kopf steigen.« Behaglich lehnte sie sich zurück. »Ich bin nur neugierig, weil er von Anfang an seine Instinkte besser unter Kontrolle hatte als die Neugeschaffenen. Hatte er eventuell recht damit, dass wir, wenn wir die problematische Phase überspringen könnten, am Ende enorme Macht erlangen?«
»Die problematische Phase, wie du es so schön nennst«, sagte er und verfolgte das kleine Intermezzo zwischen Neha und Titus– süßes Gift gegen eisernen Willen–, »macht uns zu Mördern ohnegleichen. Unseren jüngsten Nachforschungen zufolge hat Uram einschließlich seiner Diener in nur zehn Tagen zweihundert Lebewesen umgebracht.«
»Aber er hat sich seines Verstandes bedient.«
»Ausschließlich um noch mehr zu töten.« Nur mit Mühe konnte sich Raphael beherrschen. Dass Lijuan diese Möglichkeit auch nur in Betracht zog, war ein sehr schlechtes Zeichen. »Hätten wir ihm ein Jahr Zeit gelassen, hätte er Tausende auf dem Gewissen gehabt, und jedes Mal wäre er maßloser geworden. Das macht einen Blutengel aus, die Unfähigkeit aufzuhören, unkontrollierter Hunger nach Blut und Macht.«
»Den letzten habe ich getötet, erinnerst du dich noch? Den, den die Menschen den Vater der Vampire nennen.« In Erinnerung daran musste sie lachen. »Er war hochintelligent und ist mir jahrelang entschlüpft, hat sogar über ein Gebiet geherrscht.«
»Ja, und das war damals vollkommen ausgeblutet«, erinnerte Raphael sie. »Er hatte seine Instinkte überhaupt nicht im Griff– war nur noch auf seine Gelüste fixiert. Nennst du das etwa Macht?«
Lijuan warf ihm einen unergründlichen Blick zu, in ihren Augen las er Dinge, die er nicht kannte und auch niemals kennenlernen wollte. »Du bist klug, Raphael. Sei ganz unbesorgt, ich werde mich nicht verwandeln. Du weißt genau, dass mich das nicht reizen kann.«
Er entschuldigte sich nicht bei ihr. »Unwissenheit lässt sich nur mit Dummheit entschuldigen.«
Wieder kicherte Lijuan. »Jetzt bist du den anderen gegenüber aber gemein.«
Er dachte über ihre Worte nach. Wenn die anderen tatsächlich nichts von Lijuans Experimenten ahnten, dann würden sie früher oder später eine sehr unangenehme Überraschung erleben. »Ich glaube, sie sind zu einer Einigung gekommen.«
Die anderen hatten Urams Territorium einvernehmlich untereinander aufgeteilt, die Grenzen ihrer eigenen Gebiete verschoben und somit ihre Besitzgier befriedigt. Raphael ließ sie gewähren. Schließlich war sein Machtbereich nicht nur der flächenmäßig größte, sondern, viel entscheidender noch, einer der produktivsten und lukrativsten überhaupt. Um Land zu feilschen, das Uram bereits in Grund und Boden gewirtschaftet hatte, wäre dumm gewesen. Und Dummheit mochte er nicht.
Nein, ihn zog das Kämpferische mehr an.
Als die Versammlung vorbei war, lächelte Michaela ihm wieder zu, trödelte noch mit Elias herum. »Ist doch zu schade, nicht wahr, Raphael«, sagte sie, als nur noch sie drei in dem Raum anwesend waren, »dass deine Jägerin gestorben ist?«
Wortlos betrachtete er sie.
Ihr Lächeln wurde tiefer. »Na ja, schließlich hatte sie ja auch ausgedient.« Mit einer Handbewegung, als wollte sie eine lästige Fliege verscheuchen, tat sie Elenas Leben ab. »Ich war ziemlich enttäuscht, dass ich sie nicht mehr jagen konnte, aber so ist es auch gut– jetzt, da ich Teile von Urams Land noch mitregieren muss, werde ich sehr beschäftigt sein.«
Elias sah Raphael an. »Du hast die Jägerin gemocht?«
Michaela antwortete an seiner Stelle. »Oh, er hat eifersüchtig über sie gewacht. Hat mir sogar verboten, ihr etwas anzutun.« Mit einem durchtriebenen Lächeln sagte sie: »Aber jetzt, da sie tot ist, musst du mir den Hof machen. Vielleicht sage ich Ja.«
Überrascht zog Raphael die Augenbrauen hoch. »Du bist nicht der einzige weibliche Engel.«
»Nein, aber der schönste.« Und während sie aus dem Zimmer schwebte, warf sie ihm noch ein Lächeln zu, das gespickt war mit tausend Scherben.
Elias starrte ihr hinterher. »Ich bin froh, dass dieser Kelch an mir vorübergegangen ist.«
»Du überraschst mich«, sagte Raphael. »Ich dachte, ich wäre der Einzige.«
»Als Michaela mich entdeckte, war ich schon seit einem Jahrhundert mit Hannah zusammen.« Achselzuckend fuhr er fort: »Wie die Menschen zu sagen pflegen, bin ich nicht ihr Typ.«
»Jeder ist ihr Typ oder auch keiner.« Die einzige Person, die Michaela am Herzen lag, war sie selbst. »Meinst du, sie hat jemals versucht, Lijuan zu verführen?«
Elias erstickte fast vor Lachen. »Pass bloß auf, mein Freund. Ich bekomme sonst noch einen Herzinfarkt.«
Doch Raphael blieb ernst. »Was versuchst du mir eigentlich zu sagen, Eli?«
Das Lachen des anderen verebbte. »Lijuan. Sie lässt Tote wiederauferstehen.«
»Bislang können wir noch nicht sagen, ob die Folgen gut oder schlecht sind.« Wenngleich Raphael sehr wohl eine eigene Meinung dazu hatte. »Sie ist die Älteste von uns, und wir haben keine Möglichkeit, sie mit anderen zu vergleichen.«
»Wohl wahr. Aber, Raphael« , mit einem tiefen Seufzer hielt Elias inne, »du hast lange genug gelebt, um zu wissen, dass die Kräfte, die wir entwickeln, Spiegel unserer Seele sind. Dass es bei Lijuan ausgerechnet die Fähigkeit zur Erweckung von Toten ist, sagt einiges über sie.«
»Wie steht es mit dir?«, fragte Raphael und verschwieg gleichzeitig seine eigene neu entdeckte Begabung. »Was hat dir das Alter geschenkt?«
Unergründlich war das Lächeln auf Elias Gesicht. »Das sind die Geheimnisse, die wir für uns behalten.« Beide erhoben sich. »Die Jägerin– sie lag dir wohl wirklich am Herzen?«
»Ja.«
Tröstend legte Elias ihm die Hand auf die Schulter. »Dann tut es mir leid.« Sein Mitgefühl wirkte aufrichtig. »Sterbliche… ihr Stern leuchtet hell, aber sie verlöschen zu schnell.«
»Ja.«
Im Turm wartete Illium auf ihn. »Sire.« Wie Dmitri und Schlangengift benutzte er diese Anrede vor allem aus Respekt.
Wäre sie hier gewesen, hätte Elena ihn bestimmt nach ihm gefragt. Und sie hätte sich um ihr »Glockenblümchen« gesorgt. »Wie geht es mit deiner Heilung voran?«
Beim Auseinanderfalten seiner Flügel, die das meiste abbekommen hatten, zuckte Illium zusammen. »Beinahe verheilt.« Er warf einen Blick auf Raphael, dessen Körper vom Himmlischen Feuer fast verzehrt worden und jetzt schon wieder genesen war. »Der Unterschied zwischen Engeln und Erzengeln.«
»Oder Alter und Erfahrung.« Raphael besah sich den Flügel aus der Nähe… und zum ersten Mal seit seinem Fall mit Elena lachte er. »Jetzt weiß ich, warum du das Gesicht vorhin so verzogen hast.«
Illium prustete. »Ich sehe aus wie eine verdammte Ente.« So ganz falsch war sein Vergleich nicht. Über der Wunde waren die Federn weiß, weich und… flauschig. »Mist, ich hoffe, dieser verdammte Flaum verschwindet wieder und mir wachsen echte Federn nach. Sie werden doch bestimmt nachwachsen, oder?« Er klang besorgt.
»Hindert es dich am Fliegen?« Nachdem er mit den Ärzten und Heilern gesprochen hatte, wusste Raphael, dass Illium kurze Flüge gestattet waren.
»Nein, aber sie sind nicht so leistungsfähig.« Schwer schluckend blickte er an sich hinunter. »Bitte sagen Sie mir, dass dies nur ein Stadium im Heilungsprozess ist. Ich habe so etwas noch nie zuvor gesehen.«
Raphael fragte sich, wie Elena in diesem Moment wohl reagiert hätte. Wahrscheinlich hätte sie keine Gelegenheit ausgelassen, ihn kräftig zu necken. Sein Herz krampfte sich zusammen. »In einem Monat werden sie ausfallen«, sagte er. »Du hast beim Sturz große Teile deines Flügels eingebüßt, einschließlich mehrerer Haut-und Muskelschichten, also wachsen nicht nur ein paar Federn nach, sondern alles muss sich von innen her neu bilden.«
Erleichterung malte sich auf Illiums Gesicht, während er den Flügel sinken ließ. »Ohne Anshara läge ich jetzt immer noch im Bett, außerstande, mich auch nur zu rühren.«
In Gedanken kehrte Raphael zu jenen längst vergangenen Monaten zurück, in denen er so krank darniedergelegen hatte. Ganz abseits hatte sich die Wiese befunden, seine geistigen und seelischen Fähigkeiten waren noch im Werden begriffen. Nur die Vögel und Caliane hatten gewusst, wo er war. »Ja.«
»Sire… ich erwarte noch immer Ihre Strafe dafür, dass ich Elena an jenem Tag aus den Augen gelassen habe.« Illiums Gesichtszüge verrieten nichts, seine eher exzentrische Art verbarg sich hinter diesen förmlichen Worten. »Ich habe eine Zurechtweisung verdient. Ich gehöre zu den erfahrensten Männern Ihrer Sieben und habe zugelassen, dass sie gefangen werden konnte.«
Raphael schüttelte den Kopf. »Deine Schuld war es nicht.« Er war derjenige, der den verhängnisvollen Fehler begangen hatte. »Ich hätte wissen müssen, dass Uram seine Genesung mit Blut beschleunigen konnte.«
»Elena«, setzte Illium an, brach dann aber ab. »Nein, Fragen sind hier unnötig. Sie sollen nur wissen, dass Ihre Sieben hinter Ihnen stehen.«
Raphael schaute ihm nach, als er schließlich vom Balkon davonflog, um sich dann wenige Minuten später selbst genauso auf den Weg zu machen. Der Wind packte ihn, und er wurde hoch in die Lüfte getragen. Aber auch wenn er körperlich wiederhergestellt war, hatte er immer noch Schmerzen. Erst in ein paar Wochen würde er wieder im Vollbesitz seiner Kräfte sein. Bis dahin würden seine Sieben dafür sorgen, dass sein Territorium vor jedem begehrlichen Zugriff geschützt war.
Lijuan und Michaela, wahrscheinlich auch Charisemnon und Astaad würden diese Art von Loyalität nie verstehen. Vielleicht konnten nur Elias und in diesem Fall Titus zumindest annähernd begreifen, was die Sieben für ihn getan hatten. Dmitri war der Älteste, Schlangengift der Jüngste, und gemeinsam dienten die drei Vampire und vier Engel ihm schon seit vielen Jahrhunderten treu– was nicht bedeutete, dass sie keine Persönlichkeiten hatten. Nein, jeder Einzelne von ihnen hatte sich schon das eine oder andere Mal mit ihm angelegt, sich seinen Entscheidungen auf Leben und Tod widersetzt.
Mehr als einmal hatte Charisemnon ihn schon vor Dmitri gewarnt. »Dieser Vampir hält sich für etwas Besseres«, hatte der Erzengel gesagt. »Wenn du nicht aufpasst, beansprucht er den Turm eines Tages für sich selbst.«
Und dennoch hatte Dmitri in den letzten drei Monaten, in denen er im heilenden Koma gelegen hatte, alle Herausforderer abgewehrt. Im ersten Monat war er so weggetreten gewesen, dass er sich in einem Stadium jenseits von Anshara befunden hatte. Hätte Dmitri, oder einer der sechs anderen, das Ende seines unsterblichen Lebens gewollt, hätten sie sich bloß mit einem der anderen Erzengel auf einen Handel einlassen und seinen Genesungsort verraten müssen. Stattdessen hatten sie ihn beschützt, mehr sogar, sie hatten sein Herz beschützt.
Mit offenem Mund starrten ihm die spielenden Kinder im New Jersey Park hinterher, als er über sie hinwegflog. Ihre ehrfurchtsvollen Blicke verwandelten sich in Freudengeschrei, als er neben den Spielgeräten im Gras landete. Raphael beobachtete, wie die Mütter und auch ein paar Väter versuchten, die Begeisterung ihrer Kinder zu dämpfen, aus Angst, einen Erzengel zu verärgern. Furcht stand in ihren Augen geschrieben, und das würde sich auch nie ändern. Um zu herrschen, durfte er keine Schwäche zeigen.
Kleine Hände betasteten seine Flügel. Vor ihm stand ein winziges Kind mit schwarzen Löckchen und einer Haut, die von der Sonne und Wärme ferner Länder kündete. Als er sich hinunterbeugte, um es auf den Arm zu nehmen, vernahm er den hysterischen Schrei einer Frau. Aber das Kind sah ihn mit unschuldigen Augen an und sagte: »Engel.«
»Ja.« Die menschliche Wärme des kleinen Jungen tröstete ihn. »Wo ist denn deine Mutter?«
Der Junge zeigte auf eine entsetzt aussehende junge Frau. Raphael ging auf sie zu und übergab ihr das Kind. »Ihr Sohn hat Mut. Er wird einmal ein starker Mann werden.«
Jetzt glühte die Frau vor Stolz, und alle Angst war vergessen.
Während Raphael durch die Kinderschar wanderte, trauten sich noch einige andere, seine Flügel zu streicheln. Und als ihre kleinen Hände danach voller Engelsstaub waren, lachten sie voll unschuldiger Freude. Sara zog die Brauen hoch, als er auf sie zukam. »Unterwegs auf Angebertour, Erzengel?« Mit den Händen umklammerte sie den Griff des Kinderwagens, in dem ein kleines Mädchen selig schlief, das noch nichts wusste von Bestien und Blut.
»Uram hat sich nie unter Menschen begeben«, sagte er statt einer Antwort.
Sie schob ihren Wagen einen schmalen Weg entlang, der mit den ersten zarten Schneeflocken überzuckert war– der Winter hatte Einzug gehalten. Niemand hielt sie auf, nur vier unerschrockene Kinder folgten ihnen in gebührendem Abstand– bis ihre Eltern sie zurückriefen. Im Kinderwagen hob Saras Kind die Fäuste in die Höhe, um Traumkämpfe auszutragen. Wie passend, dachte er. Immerhin trug Zoe Elena den Namen einer Kriegerin.
»Hat Dmitri gelogen?«, fragte sie nach ein paar Minuten des Schweigens. »Ist Ellie tot?«
»Nein«, sagte er, »Elena ist am Leben.«
Unter dem dunklen Honigton ihrer weichen Haut traten die Fingerknöchel weiß hervor, als sie den Griff des Kinderwagens fester packte. »Die Verwandlung zum Vampir dauert nicht so lange. Nach der ersten Phase sind die meisten Vampire auf den Beinen und funktionieren– zumindest laufen sie umher–, das dauert allerhöchstens ein paar Monate.«
Raphael wählte seine Worte mit Bedacht. »Die meisten Vampire haben aber auch kein gebrochenes Rückgrat.«
Mit einer fahrigen Bewegung nicke Sara zustimmend. »Ja, Sie haben ja recht. Ich… ich vermisse sie eben so, verdammt noch mal!«
Von den aufgebrachten Worten ihrer Mutter wurde die kleine Zoe wach, und erbost legte sie die Stirn in Falten.
»Schlaf, Kleines«, murmelte Raphael begütigend, »schlaf ein.«
Das Kind schloss lächelnd die Augen, die Wimpern lagen in Halbmonden auf den runden Bäckchen.
»Wie haben Sie das gemacht?«, fragte Sara und warf ihm einen misstrauischen Blick zu.
Kopfschüttelnd sagte Raphael: »Ich habe gar nichts gemacht. Kinder haben schon immer Gefallen an meiner Stimme gefunden.« Einst, zu Beginn seines Seins, hatte er die Kinderstube bewacht, hatte ihr wertvollstes Gut beschützt. Himmlische Geburten waren so selten. Natürlich, sagten die Heiler und Gelehrten, denn Unsterbliche brauchten nicht so viele Kinder. Dennoch brauchten auch sie Nachwuchs.
Saras Miene entspannte sich. »Das habe ich gesehen. Als Sie mit ihr gesprochen haben… ganz anders als sonst.«
Er zuckte die Schultern, bei Einbruch der Dunkelheit würde die Welt aufatmen. »Sara, Elena würde nicht wollen, dass Sie sich Sorgen machen.«
»Warum, verdammt noch mal, ruft sie mich denn nicht wenigstens mal an?«, fragte Sara hilflos. »Wir wissen alle, dass hier etwas nicht stimmt! Hören Sie zu, auch wenn sie gelähmt ist«– sie schluckte schwer–, »spielt das für uns keine Rolle! Richten Sie ihr aus, sie soll ihren blöden Stolz vergessen und mich anrufen.« Ihre Stimme klang erstickt, aber sie schluckte die Tränen hinunter. Noch eine Kriegerin. Der seinen sehr ähnlich.
»Sie kann nicht mit Ihnen sprechen«, unterrichtete er sie. »Sie schläft.«
Außer sich vor Kummer blickte Sara ihn an. »Sie liegt immer noch im Koma?«
»So kann man es auch bezeichnen.« Er schwieg und sah ihr fest in die Augen. »Vertrauen Sie mir, ich werde mich gut um sie kümmern.«
»Sie sind ein Erzengel«, sagte sie, als würde das alles erklären. »Wagen Sie es ja nicht, Ellie künstlich am Leben zu halten. Sie würde es nicht wollen.«
»Glauben Sie etwa, das weiß ich nicht?« Er trat einen Schritt zurück und breitete seine Flügel aus. »Vertrauen Sie mir.«
Die Direktorin der Gilde schüttelte den Kopf. »Erst wenn ich Elena mit eigenen Augen gesehen habe.«
»Tut mir leid, Sara, aber das geht nicht.«
»Ich bin ihre beste Freundin, so gut wie eine Schwester für sie.« Sie beugte sich vor, um Zoes Decke festzustecken, dann hob sie den Kopf und sah ihn an. »Mit welchem Recht halten Sie sie von mir fern?«
»Sie ist auch mein.« Um für den Abflug bereit zu sein, spannte er die Muskeln an. »Passen Sie auf sich und die Ihren auf, Frau Direktorin. Elena wird bestimmt wenig erfreut sein, wenn Sie bei ihrem Erwachen nur noch ein Schatten Ihrer selbst sind.«
Dann flog er los, und die Stille war so tief und allumfassend, dass er beinahe daran zerbrach. Wach auf, Elena.
Doch sie schlief weiter.
40
Wach auf, Elena.
Elena zog die Stirn kraus, verscheuchte die Stimme. Jedes Mal, wenn sie schlafen wollte, befahl er ihr aufzuwachen. Der Teufel sollte ihn holen! Wusste er denn nicht, dass sie sich ausruhen musste?
Elena, Sara hat ihre Jäger auf mich angesetzt.
Selbst um den hartgesottensten Vampirjäger musste er sich ja wohl kaum Gedanken machen.
Sie droht damit, den Medien zu erzählen, dass ich unnatürliche Dinge mit deinem Körper tue.
Im Geist lächelte sie. Der Erzengel hatte Sinn für Humor. Wer hätte das gedacht?
Ellie?
Ellie hatte er sie noch nie genannt, dachte sie und gähnte herzhaft. Als sie die Augen öffnete, sah sie als Erstes etwas Blaues. Unergründliches, unendlich leuchtendes Blau. Raphaels Augen. Und ganz plötzlich kam die Erinnerung wieder. Das Blut, der Schmerz, die zerschmetterten Knochen. »Verdammt, Raphael. Wenn ich jetzt Blut trinken muss, dann schlürfe ich deinen wunderschönen Körper aus.« Ihre Stimme klang heiser, aber die Entrüstung darin war unüberhörbar.
Der Erzengel lächelte, und in diesem Lächeln lag so viel schmerzliches Glück, dass sie ihn packen und nie wieder loslassen wollte. »Du kannst herzlich gerne an jedem x-beliebigen Teil meines Körpers saugen.«
Sie würde nicht darüber lachen, würde sich dem Verlangen, das ihr aus diesen unsterblichen Augen entgegenblickte, nicht hingeben. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich keine Vampirin sein will.«
Er gab ihr Eisstückchen zu lutschen, um den Schmerz in ihrer ausgedörrten Kehle zu lindern. »Bist du nicht wenigstens ein kleines bisschen froh, noch am Leben zu sein?«
Sie war sehr froh. Hier mit Raphael zusammen zu sein… mein Gott, wie schlimm konnte Blut schon schmecken? Aber… »Ich spiele hier nicht den Lakaien.«
»Gut.«
»Ich trinke nur dein Blut.«
Sein Grinsen wurde immer breiter. »Gut.«
»Das bedeutet, dass du mich nicht wieder loswirst.« Störrisch schob sie das Kinn nach vorne. »Versuch nur, mich für irgend so ein Püppchen sitzen zu lassen. Dann wollen wir mal sehen, wer hier unsterblich ist.«
»Sehr gut.«
»Ich erwarte…« In diesem Moment fühlte sie eigenartige Beulen im Rücken. »Wer hat denn dieses Bett so bescheuert bezogen? Das fühlt sich aber sehr unbequem an.«
Aus blauen, tiefblauen Augen lachte er sie an. »Tatsächlich?«
»He, das ist überhaupt nicht witzig…« Den Rest der Worte würgte sie ab, als sie sich nämlich umdrehte und sah, worauf sie lag: Flügel. Und was für schöne Flügel. Sattes Schwarz, das zu den Rändern hin elegant ins Indigo spielte, dunkelblau und morgengrau, bis schließlich zu den Schwungfedern, die weißgold schimmerten. Mitternachtsflügel. Unglaubliche Flügel. Und sie zerquetschte sie zu Brei. »Oh mein Gott! Ich erdrücke einen Engel. Hilf mir hoch!«
Als sie ihm ihre Hand hinhielt, half er ihr, sich zu setzen. Der Schlauch in ihrem Arm verhinderte jede weitere Bewegung. »Wozu ist das denn?«
»Um dich am Leben zu halten.«
»Seit wann?«, fragte sie, und drehte sich so, dass sie über die Schulter schauen konnte. Alles, was er sagte, ging in einem weißen Rauschen unter. Denn sie hatte niemanden zerquetscht– nur sich selbst. »Ich habe Flügel.«
»Die Flügel einer Kriegerin.« Mit dem Finger fuhr er sanft über die Spitzen, und ein angenehmes Gefühl durchrieselte sie. »Flügel wie Klingen.«
»Oh«, sagte sie, als sie wieder sprechen konnte. »Dann bin ich also wirklich tot.« Irgendwie erschien das einen Sinn zu ergeben. Schon immer hatte sie sich Flügel gewünscht, und nun hatte sie welche. Also musste sie tot und im Himmel sein. Sie blickte ihn scharf an. »Du siehst ganz genauso aus wie Raphael.« Er roch wie die See, klar und frisch, ein Geruch, nach dem sie sich verzehrte.
Dann küsste er sie.
Und er schmeckte viel zu echt, zu wirklich, um nur eine Ausgeburt ihrer Fantasie zu sein. Als er von ihr abließ, war sie von seinem Gesichtsausdruck ganz verblüfft. So sehr, dass sie einen Moment lang sogar den Zauber ihrer Flügel vergaß. »Raphael?«
Fiebrig blau flimmerten seine Augen, vor Anspannung traten seine Wangenknochen hervor. »Ich bin fürchterlich wütend auf dich, Elena.«
»Gibt es sonst noch etwas Neues?«, stichelte sie, streichelte aber trotzdem beruhigend über die Wölbung seiner Flügel.
»Ich bin unsterblich, und du versuchst mir das Leben zu retten, indem du dein eigenes aufs Spiel setzt?«
»Schön blöd, was?« Sie lehnte sich an ihn und rieb mit ihrer Nase über seine. Stressentlastungsverhalten, wie albern, dass sie genau jetzt daran denken musste, aber so wurden diese kleinen Rituale genannt, mit denen sich Liebende gegenseitig Sicherheit gaben, wie mit einer Geheimsprache. Sie und Raphael hatten kaum damit begonnen, eine solche Sprache zu entwickeln, aber schon die Anfänge waren so tief und innig, dass sie vor der Heftigkeit beinahe zurückschreckte. »Ich konnte doch nicht zulassen, dass dir etwas geschieht. Du gehörst mir.« Was für eine Arroganz einem Erzengel gegenüber.
Mit geschlossenen Augen lehnte er seine Stirn gegen ihre. »Du bist mein Verderben, Elena.«
»Na ja, ein bisschen Aufregung brauchst du schließlich in deinem eintönigen alten Leben.«
Diese Augen öffneten sich, blendeten sie mit ihrer Intensität. »Ja. Also wirst du nicht sterben. Dafür habe ich gesorgt.«
Halb war sie davon überzeugt, dass diese Flügel nur Einbildung waren, aber als sie einen zweiten Blick aus den Augenwinkeln darauf warf, waren die mitternachtsblauen Schwingen immer noch da. »Wie, zum Teufel, ist es dir bloß gelungen, mir künstliche Flügel anzupassen, und das in nur…« Sie hielt inne. »Okay, die Wunden sind schon verheilt, wie lange also, eine Woche? Nein, länger.« Mit gerunzelter Stirn versuchte sie die Erinnerungsstücke zusammenzufügen. »Meine Knochen waren gebrochen… und mein Rückgrat?«
Der Erzengel lächelte, noch immer lehnte seine Stirn an ihrer, und im Schutz seiner Flügel waren sie in ihrer eigenen Welt. »Das sind keine künstlichen Flügel, du hast ein Jahr lang geschlafen.«
Elena schluckte. Blinzelte. Rang nach Atem. »Engel erschaffen Vampire, keine neuen Engel.«
»Es gibt da ein– wie soll ich sagen– Schlupfloch.«
»Schlupfloch? Eher eine riesige Höhle, wenn ich Flügel habe.« Mit aller Kraft hielt sie sich an ihm fest, das einzig Sichere in einer wandelbaren Welt.
»Nein, ein winzig kleines Loch, kleiner als ein Nadelstich. In meiner gesamten Lebenszeit bist du der erste Engel, der erschaffen wurde.«
»Da habe ich aber Glück gehabt«, flüsterte sie und fuhr ihm mit dem Finger den Nacken entlang, genoss sein wollüstiges Seufzen. In diesem Moment gab es nur sie beide. Sie war einfach nur eine Frau und er ein Mann. Aber wie alles Schöne ging auch dieser Augenblick vorüber. »Was war denn dafür erforderlich?«
»Wir können es nicht steuern, auch wenn Engel es seit Jahrtausenden versucht haben.« Diese unglaublich überirdischen Augen hatten sie vollkommen in Bann geschlagen. »Der einzige Moment, in dem ein Engel einen anderen erschaffen kann, ist der, wenn wir eine Flüssigkeit produzieren, die als Ambrosia bekannt ist.«
Eine Momentaufnahme aus ihrer Erinnerung– die goldene Hitze seines Kusses, die köstliche Süße, voller Sinnlichkeit, ein Geschmack, in dem Lust und Liebe miteinander verschmolzen und eins wurden. »Die legendäre Speise der Götter?«
»In jeder Legende steckt ein Körnchen Wahrheit.«
Sie konnte nicht anders, sie musste ihn einfach küssen. Er schmeckte so himmlisch, dass ihr der Kuss wie eine Welle durch den Körper lief. Schließlich hörte er auf, sie zu küssen.
Du warst sehr schwer verletzt, Elena.
Die Schmerzen in ihrem Leib bestätigten die Wahrheit seiner Worte. Aber deshalb musste sie ihr noch lange nicht gefallen. »Dann erzähl mir noch etwas mehr über Ambrosia.« Eine missmutig vorgebrachte Bitte.
»Ambrosia«, sagte er dicht an ihrem Mund, »wird nur in einem bestimmten Moment im Leben eines Erzengels freigesetzt.«
Bilder von zerfetzten Flügeln, das Brennen des Himmlischen Feuers drängten sich in ihre Gedanken. »Todesnähe?« Zärtlich berührte sie ihn, betastete ihn forschend, um sicher zu sein, dass er auch wirklich lebendig war.
»Wir haben dem Tod schon alle mehr als einmal ins Auge geblickt.« Er schüttelte den Kopf. »Bislang hat niemand herausfinden können, was wirklich der Auslöser ist.«
»Aber?«
»Aber der Legende zufolge entsteht Ambrosia nur, wenn…«
Sie hielt den Atem an.
»… ein Erzengel aufrichtig liebt.«
Die Welt hörte auf, sich zu drehen. Über ihr schienen die Staubpartikel in der Luft stillzustehen, die Moleküle zu erstarren, während sie den herrlichen Mann anstaunte, der sie in den Armen hielt. »Vielleicht waren wir nur biologisch gut kompatibel.« Ihre Worte waren bloß ein heiseres Flüstern gewesen.
»Vielleicht.« Weiche Lippen berührten ihren Hals. »Uns bleibt eine Ewigkeit, das herauszufinden. Und in dieser Ewigkeit gehörst du mir allein.«
Sie fuhr ihm mit den Händen durchs Haar, spürte mächtige Hitzewellen durch ihren Körper rollen. Aber noch konnte sie sich ihm nicht hingeben. Nicht, bevor sie eine Sache klargestellt hatte. »Einverstanden– aber nur solange du dir nicht einbildest, das gäbe dir das Recht, über mein Leben zu bestimmen.«
Als sie sich zurücklehnte, beugte er sich über sie. »Und warum nicht?«
Verblüfft über seine arrogante Frage wurde ihr klar, dass ihr Leben auf einmal viel interessanter geworden war. Einen Erzengel zu jagen war eine Sache, aber mit einem Erzengel in den Himmel zu tanzen, ohne sich dabei selbst aufzugeben, eine ganz andere. Freudige Erregung erfüllte sie. »Das wird eine außergewöhnliche Reise, Erzengel.«
Epilog
Elena stellte sich vor, wie sie durch Saras Fenster fliegen und ihre beste Freundin zu Tode erschrecken würde, aber dann wurde ihr bewusst, dass sie zwar wach war, die Sache mit der Bewegung aber nicht so einfach sein würde. Deshalb lag sie auch immer noch im Bett, als Sara mit verbundenen Augen zu ihr in die Zufluchtsstätte geführt wurde.
Kurz nach seiner eigenen Genesung hatte Raphael sie in seine Fluchtburg bringen lassen, und es war ihm gelungen, ihre Anwesenheit geheim zu halten. Nur seine Sieben und vertrauenswürdige Heiler und Ärzte kannten ihren Aufenthaltsort. Dennoch hatte er keine Einwände dagegen gehabt, als sie Sara sehen wollte.
Mit verschränkten Armen und hocherhobenen Hauptes ließ sich ihre Freundin von Dmitri durch das Zimmer führen; Dmitri hatte sichtlich seine perverse Freude daran, Elena mit seinem Duft zu umgarnen, jetzt, da sie noch zu schwach war, um sich wehren zu können. Zur allgemeinen Überraschung hatte sie trotz ihrer Verwandlung sowohl ihre Gabe als Jägerin als auch ihre menschlichen Seiten behalten.
Sie und Raphael »diskutierten« fortwährend über ihre Rolle als Jägerin der Gilde.
Wie flüssige Seide streichelte Dmitris Duft über ihre Haut, lockend und verführerisch. Mit einem bösen Seitenblick auf ihn rieb sich Elena die Arme und wollte gerade eine Bemerkung machen, als Sara die Nerven verlor. »Ich weiß nicht, was Ihr Boss sich von meiner Entführung verspricht. Den Streik werden wir jedenfalls nicht beenden.«
Streik? Deshalb hatte Raphael an diesem Morgen so gute Laune gehabt. Wenn die Jäger den Dienst verweigerten, dann konnten die Vampire so vertragsbrüchig werden, wie es ihnen passte. »Langsam wird mir noch ganz schwindelig.«
Als sie die Stimme hörte, erstarrte Sara, dann riss sie sich die Binde von den Augen; Dmitri war unterdessen hinausgegangen und hatte die Tür hinter sich zugemacht, jedoch nicht, ohne Elena noch einmal in eine Wolke seines Parfüms zu hüllen. Als Saras Augenbinde auf den Boden fiel, rang sie noch um Fassung.
Verblüfft starrte ihre Freundin sie an, dann wurde ihre schöne exotische Haut auf einmal weiß wie ein Laken.
»Verdammt, Sara, werde bloß nicht ohnmächtig!«, schrie Elena auf und streckte ihr die Arme entgegen, als wollte sie sie auffangen.
Sara klammerte sich an einer Stuhllehne fest. »Ich habe Halluzinationen. Oder der Fisch im Flugzeug war mit LSD präpariert.«
»Sara, wenn du mich nicht gleich in die Arme nimmst, dann knall ich dich ab.« Die Pistole, die ihr Sara vor rund einem Jahr unter das Kopfkissen gelegt hatte, hatte nicht nur ihr eigenes, sondern auch Raphaels Leben gerettet. »Ich bin es doch nur, du verrücktes Huhn.«
Sara schluckte, dann stürzte sie auf das Bett zu. Die beiden umarmten sich so kräftig, dass ihnen die Luft wegblieb. Elena lachte nur darüber. Beide fingen gleichzeitig an, aufeinander einzureden, lachten, weinten.
»Dachte, du wärst…«
»… Raphael hat gesagt…«
»Ich habe gesagt, ums Verrecken nicht…«
»Ganz genau…«
»… und Ransom war so weit, dass er…«
»… bin ich aufgewacht und hatte Flügel!«
Beide verstummten gleichzeitig, kicherten und rückten voneinander ab, um sich besser anschauen zu können.
»Verdammt noch mal, du hast ja Flügel!« Sara griff nach der Kaffeetasse auf Elenas Nachttisch und leerte sie in einem Zug. »Bilde ich mir das nur ein, oder ist das wirklich wahr?«
Die Rose des Schicksals glitzerte an ihrem angestammten Platz neben ihrem Bett. »Raphael ist so eigensinnig.«
Prustend stellte Sara die Tasse wieder ab und schlug sich ein paarmal mit der Faust auf die Brust, bevor sie sagte: »Jetzt erklär mir doch bitte mal, warum du Flügel hast.«
»Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich erfahre selbst erst nach und nach mehr darüber… aber was, zum Teufel, hat es mit diesem Streik auf sich?«
Sara grinste. »Hat mich schließlich hergebracht, oder etwa nicht?« Sie sah sehr zufrieden mit sich aus. »Sie haben dich uns vorenthalten, Ellie, uns immer erzählt, du seist am Leben, aber mehr erfuhren wir nicht. Wir haben gedacht, du seist gelähmt…« Ihr stockte der Atem, und auf einmal brach ihr ganzer Kummer hervor. »Hättest du mich nicht wenigstens anrufen können, Ellie? Ein ganzes Jahr. Traust du mir denn gar nicht?«
Ellie drückte Saras Hand. »Ich bin vor genau vierundzwanzig Stunden aus dem Koma erwacht. Du bist der erste Mensch, den ich sehen wollte. Aber sag Ransom nichts davon, sonst wird er noch eifersüchtig.«
»Du hast ein ganzes Jahr im Koma gelegen?« Mit offenem Mund starrte Sara sie an. »Wie kommt es, dass du dich bewegen kannst? Kannst du dich denn bewegen? Deine Muskeln…«
»Tja«, sagte sie schnell, bevor Sara sich wieder Sorgen machen konnte. »Ich weiß es auch nicht so genau. Hat irgendetwas mit Heilern und Übungen zu tun, das haben sie mir jedenfalls gesagt. Aber ich komme immer noch nicht über meine Flügel hinweg.«
Kopfschüttelnd streckte Sara die Hand danach aus, zog sie dann aber schnell wieder zurück. »Engel mögen es nicht, wenn man…«
Elena nahm die Hand ihrer Freundin und drückte sie an ihre glänzenden Federn. »Ich bin immer noch ich.«
Vorsichtig tastend glitt Saras Hand über ihre Flügel, und es fühlte sich ganz anders an als bei Raphael. Zwar war es auch vertraut, aber eine Vertrautheit zwischen Freunden. »Ist Ransom immer noch mit Nyree zusammen?«
Sara nickte lachend, während sie ihre Hand wieder zurückzog. »Er kann es wohl selbst kaum glauben. Du hast also Flügel.«
»Ja.«
»Engel schaffen keine Engel.«
»Und was bin ich dann? Klein gehackte Leber?« Ein beunruhigender Gedanke drängte sich ihr auf. Sie hatte behauptet, immer noch dieselbe zu sein, aber stimmte das denn wirklich? Konnte sie Sara immer noch alle Geheimnisse anvertrauen, selbst wenn das bedeutete, eine gesamte Spezies zu verraten? Darüber würde sie später nachdenken, nicht jetzt. »Dir gefallen meine Flügel also? Sind sie nicht das Schönste, was du jemals gesehen hast?«
Sara lachte laut auf. »Eitelkeit, dein Name sei Elena.«
»Herzlichen Dank«, sagte diese munter. Auf keinen Fall würde sie die Freundschaft zu Sara aufgeben. Und wenn sie sich dafür gegen einen Erzengel zur Wehr setzen musste, dann würde sie es eben tun. »Jetzt erzähle mir erst mal den ganzen Tratsch.«
Draußen auf den zerklüfteten Felsen, die die Burg schützend umgaben, standen Raphael und Dmitri Schulter an Schulter. »Ein Mensch befindet sich an unserem Zufluchtsort«, sagte er, der Wind peitschte ihm das Haar aus dem Gesicht. »Damit haben wir eins unserer größten Tabus gebrochen.«
»Sie hat keine Ahnung, wo sie ist– Sie können ihr Gedächtnis löschen, damit sie das Wenige, was sie weiß, nicht ausplaudern kann.« Praktische Ratschläge des Anführers seiner Sieben.
»Ja.« Aber er würde es nicht tun, und das machte die Veränderung in ihm aus. »Oder ich vertraue Elena und verlasse mich auf Saras Ehrgefühl.«
Dmitri nickte, und als er wieder sprach, klang seine Stimme ganz ruhig. »Elena wird uns verändern.«
»Das hat sie bereits.« So heftig und stürmisch in ihrem Wesen wie Gebirgswinde, würde die Jägerin die Dinge nicht einfach so hinnehmen. Und für die Unsterblichen konnte es ein recht unsanftes Erwachen geben. In seinen Adern pulsierte die Vorfreude.
»Jason ist wieder da«, sagte Dmitri, und seine Worte holten Raphael in die Gegenwart zurück.
»Seit wann?«
»Vor zwei Tagen ist er zurückgekehrt. Einige von Lijuans Wiedergeborenen haben ihn verwundet, aber in einer Woche ist er wiederhergestellt.«
Bedächtig nickte Raphael, es waren noch mehr Veränderungen im Gang als die Erschaffung eines Engels. »Und so nimmt alles seinen Lauf.«
Die Originalausgabe erschien 2009
unter dem Titel Angels’ Blood. A Guild Hunter Novel
bei Berkley Sensation/The Berkley Publishing Group, New York.
Deutschsprachige Erstausgabe Februar 2010 bei LYX
verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH,
Gertrudenstr. 30–36, 50667 Köln.
Copyright © 2009 by Nalini Singh
Published by Arrangement with Nalini Singh
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 bei
EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: HildenDesign, München
www.hildendesign.de
Umschlagillustration: © HildenDesign
unter Verwendung von Motiven von Shutterstock
Redaktion: Angela Herrmann
Satz und eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-8025-8565-4
www.egmont-lyx.de
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
Gift
12
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Blutgeborener
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Blutengel
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Epilog
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
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Gift
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Blutengel
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Epilog
Impressum
Table of Contents
Cover
Titel
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Gift
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Epilog
Impressum