Und weg war sie.
Ich aß nicht zu Mittag. Keine Zeit. Die Packerei war doch ein bisschen komplizierter, als ich Lynne gegenüber behauptet hatte. Normalerweise bin ich Weltmeisterin darin, genau die richtige Menge Kleidung mitzunehmen, aber zurzeit fühlte ich mich ein wenig überfordert und schien für alles etwas länger zu brauchen.
Hinzu kam, dass ständig das Telefon klingelte. Ich führte ein ziemlich langes Gespräch mit Clives Anwalt und hatte dabei das Gefühl, dass wir einander vorsichtig umkreisten.
Mir war nicht ganz klar, ob wir uns überhaupt auf derselben Seite befanden, und gegen Ende der Unterhaltung fragte ich mich ernsthaft, ob es nicht besser wäre, mir einen eigenen Anwalt zu nehmen. Ein paar Leute riefen für Josh an: sein Geigenlehrer, dieser Hack aus dem Computerclub – er sagte, Josh habe ihn gebeten, ihm ein Computerspiel vorbeizubringen –, und Marcus, einer von seinen Freunden, außerdem ein paar von meinen beziehungsweise Clives Freunden, denen zweifellos zu Ohren gekommen war, dass bei uns etwas nicht stimmte.
Ich wimmelte sie alle mit ausweichenden Antworten ab, bemühte mich dabei aber, ihnen keine allzu krassen Lügen aufzutischen.
Angesichts des Zustands, in dem ich mich befand, hielt ich es für besser, frühzeitig zum Flugplatz aufzubrechen, sodass ich mir ein Taxi bestellte und anschließend hektisch durchs Haus lief, um alle Fenster zu schließen und die Vorhänge halb zuzuziehen. Ich hatte Mary angerufen. Sie würde abends vorbeikommen und Licht machen. Wobei es sowieso nicht mehr viel zu stehlen gab.
Sollten sich die Einbrecher doch bedienen! Plötzlich kam mir ein Gedanke. Der lange Flug. Bequeme Schuhe. Ich besaß ein Paar schöne blaue Leinenslipper. Wo waren sie nur? Hatte ich sie nach dem Umzug überhaupt ausgepackt? Jetzt fiel es mir wieder ein. Auf dem Schlafzimmerschrank. Ich rannte nach oben. Im Schlafzimmer – unserem Schlafzimmer, hätte ich vor nicht allzu langer Zeit gesagt – blickte ich mich kurz um. Ich konnte nichts entdecken, was ich vergessen hatte.
Es klopfte an der Tür. Nicht an der Haustür, nein, an der Schlafzimmertür.
»Mrs. Hintlesham?«
»Ja?«, antwortete ich erschrocken.
Ein Gesicht spähte durch den Türspalt herein. Einen Moment lang war ich völlig irritiert. Sie wissen, wie das ist, wenn man ein Gesicht nicht in seiner normalen Umgebung, sondern an einem völlig anderen Ort sieht. Ein gut aussehender junger Mann in Jeans, T-Shirt und schwarzer Arbeitsjacke. Langes dunkles Haar. Wer war das bloß?
»Hack. Was tun Sie …«
»Das ist nicht mein richtiger Name. So nenne ich mich nur, um die Jungs zu beeindrucken.«
»Wie lautet denn Ihr richtiger Name?«
»Morris«, antwortete er. »Morris Burnside.«
»Hören Sie, Morris Burnside, ich bin ziemlich in Eile.
Ich muss gleich zum Flughafen.«
»Das Spiel«, sagte er und fuchtelte mit einem knallbunten Päckchen herum. »Ich habe angerufen, erinnern Sie sich? Sie müssen entschuldigen, aber die Tür stand offen, und da bin ich einfach reinmarschiert. Ich habe unten nach Ihnen gerufen.«
»Oh. Sie haben Glück, dass Sie mich noch erwischen.
Das Taxi kann jeden Moment kommen.«
Erst jetzt bemerkte ich, dass er keuchte, als wäre er gerannt.
»Ja, ich bin wirklich froh, dass ich Sie noch angetroffen habe, weil … es ist nicht nur wegen des Spiels. In der Abendzeitung stand, dass gegen Ihren Mann Anklage erhoben worden ist.«
»Was? O Gott! Ich habe schon befürchtet, dass so was passieren würde.«
»Es tut mir wirklich Leid, Mrs. Hintlesham. Und ich weiß, wie schwierig das für Josh sein wird.«
»Ja, da haben Sie Recht. Augenblick, ich hole nur schnell diese Schuhe vom Schrank. So, da haben wir sie ja.«
»Deswegen bin ich gleich gekommen, um mit Ihnen zu reden. Wissen Sie, ich habe über die Sache nachgedacht.
Mr. Hintlesham kann es nicht gewesen sein.«
»Das ist nett von Ihnen, ähm, Morris, aber …«
Ich schlüpfte in die Schuhe. Es war fast schon Zeit aufzubrechen.
»Nein, es ist nicht bloß das. Ich weiß, wie Ihr Mann seine Unschuld beweisen kann.«
»Wie meinen Sie das?«
»Es ist absolut narrensicher. Wenn man Ihre Leiche findet, werden die von der Polizei wissen, dass er es nicht gewesen sein kann.«
»Was?«, fragte ich benommen. Eine Welle der Panik durchlief meinen Körper.
Er war nur einen Schritt von mir entfernt, und mit einer ruckartigen Bewegung ließ er etwas über meinen Kopf sausen, das sich eine Sekunde später um meinen Hals zusammenzog. Nun stand er so knapp vor mir, dass ich seinen heißen Atem auf meinem Gesicht spüren konnte, während er auf mich herunterblickte.
»Jetzt kannst du nicht mehr sprechen.« Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. Sein Gesicht war dem meinen so nah, dass er mich hätte küssen können, wenn er gewollt hätte. »Du kannst kaum noch atmen. Ein Ruck, und du bist tot.« Sein Gesicht war rot angelaufen, als wäre ihm sein ganzes Blut zu Kopf gestiegen, und er starrte mich aus kalten Augen an, aber als er weitersprach, klang seine Stimme fast zärtlich. »Das spielt nun alles keine Rolle mehr. Es gibt nichts, was du tun könntest.«
Ich verlor die Kontrolle über meinen Körper. Plötzlich spürte ich etwas Warmes, Feuchtes zwischen meinen Beinen. Ich machte in die Hose. Das Geräusch, mit dem mein Urin auf die Bodendielen plätscherte, erinnerte mich daran, wie damals mein Fruchtwasser abgegangen war.
Ein guter Gedanke. Christo war fort, bei meinen Eltern.
Josh und Harry waren weit, weit weg. Das war gut.
Er verzog angewidert das Gesicht. »Nun sieh mal, was du gemacht hast«, sagte er. »Dabei hast du noch alle deine Sachen an!«
Das war das Letzte, was ich je sehen würde. Sein Gesicht. Ich hätte so gern nach dem Grund gefragt, aber das konnte ich nun nicht mehr.
»Das mit dem Taxi ist schade«, sagte er. »Ich dachte, ich hätte viel Zeit. Ich wollte mir ganz viel Zeit lassen, dir meine Liebe zu zeigen, aber jetzt muss ich mich beeilen.«
Er zog die Schnur noch etwas enger und hielt sie dann mit einer Hand fest. Mit der anderen fasste er nach unten und holte etwas aus seiner Tasche. Eine Klinge.
»Ich liebe dich, Jenny.«
Ich wünschte mir nur noch Schwärze, Bewusstlosigkeit.
Aber es ging nicht. Ich konnte nicht.
DRITTER TEIL
NADIA
1. KAPITEL
ch war in Eile. Na ja, eigentlich war ich überhaupt nicht in E
I
ile, aber ich hoffte, mich selbst zu überlisten, indem ich mir ein bisschen Eile vorgaukelte. Vielleicht würde ich es auf diese Weise endlich schaffen, meinen Papierkram zu erledigen. Mit ein bisschen Glück würde ich meinen Irrtum zu spät bemerken und hätte mein Leben wieder im Griff.
Ich kramte einen alten Baumwollrock unter meinem Bett hervor und schlüpfte hinein. Darüber zog ich ein schwarzes, ärmelloses T-Shirt, das lang genug war, um den Schokofleck am Rockbund zu verdecken.
Wahrscheinlich hatte mich ein Kind mit einem Marsriegel oder etwas Ähnlichem gestreift. Ich betrachtete mich im Spiegel. Mein Haar sah aus wie ein Vogelnest, und auf der Wange hatte ich noch einen Fleck Kinderschminke.
Kaffee. Eine gute Idee, um in die Gänge zu kommen. Ich suchte mir eine Tasse und spülte sie im Bad aus. Den Wasserkessel musste ich ebenfalls im Bad füllen, weil das Spülbecken in der Küche von einem Stapel verkrusteter Teller und Pfannen blockiert war. Wenn ich meine Steuererklärung fertig hatte, würde ich abspülen. Auch eine gute Idee. Mit diesem widerlichen, unhygienischen Berg aus dreckigem Geschirr würde ich mich selbst erpressen, mein Leben wieder in Ordnung zu bringen.
Bewaffnet mit Kaffee und einem halben Schokoriegel setzte ich mich an den Schreibtisch. In Zukunft würde ich zum Frühstück Müsli und aufgeschnippeltes frisches Obst essen. Vier Portionen Gemüse und sechs Portionen Obst sollte man am Tag zu sich nehmen. Wurde Schokolade nicht aus irgendwelchen Bohnen gemacht?
Am besten, ich brachte es schnell hinter mich. Auf der Tastatur meines Computers lag die letzte Aufforderung des Finanzamts. Sie war mir schon vor Wochen zugeschickt worden, aber ich hatte sie zu all meinen anderen ungeöffneten Briefen in die Schublade gelegt und versucht, jeden Gedanken daran zu verdrängen.
Max hat immer gesagt, ich gehörte eigentlich in therapeutische Behandlung, allein schon wegen meiner Unfähigkeit, meine Post zu öffnen. Manchmal schaue ich sie wochenlang nicht an. Ich weiß selbst nicht, warum. Mit ist natürlich klar, dass ich mich damit in Schwierigkeiten bringe. Außerdem handelt es sich dabei keineswegs nur um unangenehme Dinge wie Rechnungen und Mahnschreiben wegen nicht rechtzeitig zurückgegebener Bibliotheksbücher. In den ungeöffneten Umschlägen stecken auch Schecks, Briefe von Freundinnen oder Jobangebote, die ich im Moment wirklich brauchen könnte. Später, sage ich mir dann. Das mache ich später.
Wenn die Schublade ganz voll ist.
Nun war es so weit. Nachdem ich eine Schachtel Kekse und einen Strohhut vom Bett gefegt hatte, ließ ich mich darauf nieder, schaltete den Computer an und sah zu, wie der Bildschirm grün aufleuchtete. Ich klickte mit der Maus erst auf »Buchführung«, dann auf »Ausgaben«. Gut. Sehr gut. Ich arbeitete eine Stunde lang. Ich wühlte mich durch das Chaos auf dem Schreibtisch, hinter dem Schreibtisch, in meinen Jackentaschen. Ich öffnete Umschläge und strich zusammengeknüllte Rechnungen glatt. Mein Leben nahm langsam Gestalt an. Ich beschloss, sicherheitshalber alles auszudrucken. Auf dem Bildschirm erschien ein kleines Fenster: Fehlertyp 18. Was hieß das? Ich klickte noch einmal, aber der Curser bewegte sich nicht. Nichts rührte sich mehr, das ganze Bild war eingefroren. Ich versuchte es über die Tastatur, hämmerte wütend auf die Tasten ein, als könnte ich mit roher Gewalt etwas ausrichten. Nichts geschah. Und jetzt? Was sollte ich jetzt tun? Mein Leben, mein neues, geordnetes Leben steckte irgendwo hinter dem Bildschirm, und ich kam nicht ran.
Frustriert ließ ich den Kopf in die Hände sinken. Ich fluchte und jammerte. Ich versetzte dem Bildschirm von oben einen kräftigen Schlag. Dann versuchte ich es mit Streicheleinheiten. »Bitte«, flehte ich, »ich werde in Zukunft auch immer nett zu dir sein!«
Wahrscheinlich hätte ich nur einen Blick ins Handbuch zu werfen brauchen, aber leider besaß ich keines. Der Computer war mir von einem Freund von Max vermacht worden. Plötzlich fiel mir die Karte wieder ein, die ich letzte Woche unter meinem Scheibenwischer gefunden hatte. Hilfe bei Computerproblemen. Damals hatte ich darüber gelacht und die Karte achtlos irgendwo hingeworfen. Fragte sich bloß, wohin. Ich öffnete die oberste Schreibtischschublade: Tampons, Kaugummis, auslaufende Filzstifte, Klebeband, Geschenkpapier, ein Scrabblespiel für die Reise, eine Hand voll Fotos, eine Packung Spielkarten, ein paar Murmeln, ein Ohrring, mehrere Gummibänder, ein Lippenstift, ein Jonglierball und ein paar Filzstiftkappen. Ich suchte in meiner Geldbörse, zwischen den Kreditkarten, den Rechnungen, den ausländischen Geldscheinen und dem Automatenfoto von Max. Ich warf das Foto weg. Keine Karte.
Sie war auch nicht unter den Sofakissen oder in der angeschlagenen Teekanne, in der ich allerlei Krimskrams aufbewahrte, genauso wenig in meiner Schmuckschublade oder zwischen den Zeitungen, die sich auf dem Küchentisch stapelten. Wahrscheinlich hatte ich sie als Lesezeichen benutzt. Ich ging ins Schlafzimmer hinüber und blätterte die Bücher durch, die ich in letzter Zeit gelesen oder angeschaut hatte. In Jane Eyre fand ich ein gepresstes vierblättriges Kleeblatt, in einem Amsterdam-Führer einen Handzettel, der für Pizza zum Mitnehmen warb.
Oder hatte ich die Karte einfach in meine Hosentasche gesteckt? Was hatte ich an dem Tag überhaupt angehabt?
Ich durchsuchte sämtliche Hosen und Shorts, die in meinem Schlafzimmer und im Bad herumlagen und auf den nächsten Waschtag warteten. Schließlich wurde ich unter einem Sessel fündig. Die Karte steckte in einem Wildlederstiefel, in den sie wohl versehentlich wie ein trockenes Herbstblatt hineingeflattert war. Ich strich sie glatt und las den Text: »Probleme mit Ihrem Computer?«, stand dort in fetten Lettern. »Bei großen und kleinen Problemen stehe ich Ihnen mit Rat und Tat zur Seite.«
Darunter folgte in kleinerer Schrift eine Telefonnummer, die ich sofort wählte.
»Hallo?«
»Sind Sie der Computertyp?«
»Ja.«
Er klang jung, freundlich und hochintelligent.
»Gott sei Dank! Mein Computer ist gelähmt. Und alles steckt in dieser Kiste. Mein ganzes Leben.«
»Wo wohnen Sie?«
Ich fasste wieder Mut. Großartig. Vor meinem geistigen Auge hatte ich mich das Ding schon durch ganz London schleppen sehen.
»In Camden, ganz in der Nähe der U-Bahn-Station.«
»Wie wär’s mit heute Abend?«
»Wie wär’s mit jetzt gleich? Bitte! Glauben Sie mir, ich würde Sie nicht darum bitten, wenn es kein echter Notfall wäre.«
Er lachte. Nett und jungenhaft. Irgendwie beruhigend, fast wie ein Arzt. »Ich werde sehen, was ich tun kann.
Sind Sie den ganzen Tag zu Hause?«
»Ja. Es wäre wirklich toll, wenn Sie möglichst bald vorbeikommen könnten.« Rasch gab ich ihm meine Adresse und Telefonnummer, bevor er es sich anders überlegen konnte. Dann fügte ich hinzu: »In meiner Wohnung sieht es übrigens verheerend aus.« Ich blickte mich um. »Ich meine, wirklich verheerend. Und mein Name ist Nadia, Nadia Blake.«
»Bis später.«
2. KAPITEL
aum eine halbe Stunde später stand er vor der Tür.
Eine unglaublich praktische
K
Sache. Er kam mir vor
wie einer der Handwerker aus der guten alten Zeit, von denen mein Dad immer erzählt. Ein Mensch, der sofort ins Haus kommt, wenn etwas zu reparieren ist. Noch besser fand ich, dass er nicht wirklich aus dieser alten Zeit stammte. Er war keiner dieser mittelalterlichen, mit Klemmbrett ausgerüsteten Männern in Uniform, die mit einem Lieferwagen vorfahren, auf dem der Name ihrer Firma steht, und einem am Ende eine Rechnung in die Hand drücken, bei deren Anblick einem klar wird, dass es billiger gewesen wäre, eine neue Toilette zu kaufen, als die Verstopfung der alten beseitigen zu lassen.
Er war ein ganz normaler Mensch wie du und ich, nur ein bisschen jünger. Zumindest ein bisschen jünger als ich.
Er war groß und trug eine lässige graue Hose, ein T-Shirt und darüber eine abgewetzte alte Jacke, die für das tropische Wetter viel zu warm aussah. Er hatte eine helle Haut und dunkles, schulterlanges Haar. Alles in allem sah er ganz passabel aus und war überhaupt nicht so maulfaul, wie man sich diese Computerheinis immer vorstellt.
»Hallo«, sagte er und streckte mir die Hand entgegen.
»Ich bin Morris Burnside. Der Computermann.«
»Phantastisch«, sagte ich. »Phantastisch. Ich bin Nadia.«
Ich bat ihn herein.
»Einbrecher?«, fragte er, nachdem er sich einen Moment umgesehen hatte.
»Nein, ich habe Sie doch schon am Telefon vor meinem Chaos gewarnt. Bei mir ist demnächst Großputz angesagt.
Steht ganz oben auf meiner Liste.«
»Sie verstehen wohl keinen Spaß? Ich find’s nett hier.
Die große Terrassentür ist schön.«
»Ja, und erst der Garten! Der steht auch auf meiner Liste. Allerdings ein bisschen weiter unten.«
»Wo ist der Patient?«
»Hier durch, bitte.« Die streikende Maschine befand sich in meinem Schlafzimmer. Als Schreibtischstuhl fungierte mein Bett. »Möchten Sie eine Tasse Tee?«
»Kaffee, bitte. Mit Milch, aber ohne Zucker.«
Erst wollte ich sehen, wie er mein Problem in Angriff nehmen würde. Auf eine perverse Weise hatte das Ganze etwas von einem Arztbesuch. Wenn sich das Wehwehchen, mit dem man gekommen ist, als etwas einigermaßen Ernstes entpuppt, ist man irgendwie stolz, weil man dem Arzt etwas zu bieten hat, das seine Aufmerksamkeit verdient. Wenn sich dagegen herausstellt, dass einem so gut wie nichts fehlt, empfindet man das als ziemlich beschämend. Ich wünschte mir einerseits einen gesunden Computer, wollte aber andererseits Computerdoktor Morris eine angemessene Herausforderung bieten. Er sollte nicht das Gefühl haben, umsonst gekommen zu sein. Mein Wunsch ging nicht in Erfüllung.
Morris zog seine Jacke aus und warf sie aufs Bett.
Überrascht musterte ich ihn. Ich hatte damit gerechnet, dass er lange, dünne Arme haben würde, aber sie waren muskulös und sehnig. Vor mir stand ein breitschultriger, durchtrainierter junger Mann. Mit meinen einsfünfundfünfzig und meiner zierlichen Figur kam ich mir neben ihm vor wie eine Zwergin.
»Space Buddy«, sagte ich.
»Was?« Einen Moment lang sah er mich fragend an.
Dann blickte er an sich hinunter und lächelte. »Mein Shirt? Ich weiß auch nicht, wer sich diese Sprüche ausdenkt. Wahrscheinlich irgendein Computer in Japan, bei dem jemand die Drähte falsch zusammengesteckt hat.«
»Also«, wechselte ich das Thema. »Wie Sie sehen, tut sich bei der Kiste gar nichts mehr. Normalerweise drücke ich auf eine Taste, und es passiert zumindest irgendwas, aber diesmal kann ich drücken, so viel ich will – ohne jeden Erfolg.« Er setzte sich aufs Bett und nahm den Bildschirm in Augenschein. »Dass da Fehlertyp achtzehn steht, hilft mir auch nicht weiter«, fuhr ich fort. »Als ob damit irgendwer was anfangen könnte! Ich habe mir schon überlegt, ob es nicht am besten wäre, einfach den Stecker rauszuziehen und anschließend zu versuchen, das Ding neu zu starten, aber dann hatte ich Bedenken, was kaputtzumachen.«
Morris lehnte sich ein wenig vor. Mit der linken Hand drückte er mehrere der größeren Tasten am linken Rand der Tastatur und tippte dann mit der rechten auf die Returntaste. Der Bildschirm wurde einen Moment schwarz, dann startete der Computer neu.
»War’s das?«, fragte ich.
Er stand auf und griff nach seiner Jacke. »Wenn es wieder passiert, drücken Sie gleichzeitig diese drei Tasten und die Returntaste. Falls das nicht funktioniert, befindet sich auf der Rückseite des Computers ein kleines Loch.«
Er hob ihn hoch und blies ein bisschen Staub weg. »Hier.
Schieben Sie ein Streichholz hinein. Das klappt fast immer. Sollte das alles nichts bringen, dann ziehen Sie den Stecker.«
»Tut mir wirklich Leid«, erklärte ich verlegen. »Ich bin einfach ein hoffnungsloser Fall, was diese technischen Dinge anbelangt. Eines Tages lerne ich es. Ich mache einen Kurs.«
»Sparen Sie sich die Mühe«, meinte er. »Frauen sind nicht dafür geschaffen, Computer zu bedienen. Dafür gibt es schließlich Männer.«
Ich war ein bisschen in Eile, weil ich noch meine Sachen zusammensuchen musste, hatte aber das Gefühl, ihn nicht einfach so abschieben zu können. »Jetzt kriegen Sie Ihren Kaffee«, erklärte ich. »Falls ich noch irgendwo eine Tasse finde.«
»Darf ich kurz Ihr Bad benutzen?«
»Klar, es ist gleich nebenan. Kann ich mich schon im Voraus für das Chaos entschuldigen?«
»Was schulde ich Ihnen?«, fragte ich.
»Gar nichts«, antwortete Morris. »Für die paar Handgriffe nehme ich kein Geld.«
»Kommt gar nicht in Frage! Sie mussten schließlich extra herfahren. Bestimmt haben Sie so was wie eine Grundgebühr.«
Er lächelte. »Ja. Eine Tasse Kaffee.«
»Wie wollen Sie Ihren Lebensunterhalt verdienen, wenn Sie durch die Gegend fahren und umsonst arbeiten? Sind Sie so eine Art Mahatma?«
»Nein, nein, ich mache ganz verschiedene Dinge mit Computern, Programme installieren, Einsteigerkurse an Schulen, alles Mögliche. Das hier ist bloß eine Art Hobby.« Er schwieg einen Moment. »Und was machen Sie?«
Mir war immer ein bisschen flau zu Mute, wenn dieses Thema zur Sprache kam. »Es ist kein richtiger Beruf, und als meinen Traumjob würde ich es auch nicht bezeichnen, aber im Moment arbeite ich als eine Art Entertainerin. Auf Kinderfesten.«
»Wie bitte?«
»Jetzt wissen Sie, was ich mache. Zusammen mit meinem Partner Zach – meinem Geschäftspartner, meine ich – besuche ich Kinderfeste und führe ein paar Tricks vor. Wir lassen die Kids eine Wüstenspringmaus streicheln, binden ein paar Luftballons zu witzigen Formen zusammen, veranstalten ein kleines Puppentheater.«
»Erstaunlich«, sagte Morris.
»Kein sehr aufregender Job, aber man kann mehr oder weniger davon leben. Jetzt wissen Sie auch, warum ich so was Lästiges wie Buchführung machen muss. Tut mir wirklich Leid, Morris, ich fühle mich ziemlich blöd, weil ich Ihre Zeit vergeudet habe. Ich kann verstehen, wenn Sie meine Darbietung des hilflosen weiblichen Wesens nicht besonders witzig finden.«
»Hätte Ihr Freund das nicht für Sie machen können?«
»Wie kommen Sie darauf, dass ich einen Freund habe?«, fragte ich ein wenig misstrauisch.
Morris wurde rot. »Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten«, sagte er. »Ich habe nur den Rasierschaum im Bad gesehen. Und die zweite Zahnbürste.«
»Ach, das. Max – das ist der Typ, mit dem ich zusammen war – hat ein paar Sachen dagelassen, als er vor ein paar Wochen ausgezogen ist. Sobald ich es schaffe, meinen Großputz zu starten, landet das alles in der Mülltonne.«
»Tut mir Leid«, sagte er.
Ich hatte keine Lust, weiter über dieses Thema zu reden.
»Dann ist mein Computer also wieder voll funktionsfähig!«, sagte ich munter, bevor ich meinen letzten Schluck Kaffee trank.
»Wie alt ist die Kiste? Drei Jahre?«, fragte er.
»Keine Ahnung. Er hat mal dem Freund eines Freundes gehört.«
»Ich verstehe nicht, wieso Sie mit so einem alten Ding arbeiten.« Er betrachtete meinen Computer aus zusammengekniffenen Augen. »Sie brauchen mehr Speicherkapazität. Schnellere Hamster. Das ist alles.«
»Wie bitte? Schnellere Hamster?«
Er grinste. »Sorry. Das ist so ein Insiderausdruck.«
»Ich besaß als kleines Mädchen mal einen Hamster. Der war überhaupt nicht schnell.«
»Ich wollte damit bloß sagen, dass Sie da ein ziemlich vorsintflutliches Modell haben.«
»Das klingt aber gar nicht gut.«
»Für einen Riesen bekommen Sie ein Gerät mit tausendmal mehr Power. Sie könnten ans Netz gehen. Ihre eigene Website einrichten. Wenn Sie wollen, kann ich das für Sie machen. Es gibt ein spezielles Programm, das Ihnen in null Komma nichts Ihre ganze Buchführung erledigt. Ich könnte Ihnen das installieren, wenn Sie wollen. Dann würden Sie mich als ganz seriösen Computerberater erleben.«
Mir wurde langsam ein bisschen schwindlig. »Das ist wahnsinnig nett von Ihnen, Morris, aber ich fürchte, Sie verwechseln mich mit einer Frau, die dem Leben gewachsen ist.«
»Da liegen Sie völlig falsch, Nadia. Mit dem richtigen Computer ist alles viel einfacher. Damit bekommen Sie Ihr Leben in den Griff.«
»Hören Sie auf!«, erklärte ich in bestimmtem Ton. »Ich will keinen Computer, der mehr kann, sondern einen, der weniger kann. Ich will keine Website. Auf mich wartet Bügelwäsche von sechs Monaten.«
Morris stellte seine Kaffeetasse auf den Tisch. Er machte einen enttäuschten Eindruck.
»Falls Sie es sich doch noch anders überlegen«, sagte er,
»haben Sie ja meine Karte.«
»Ja, die hab ich.«
»Und vielleicht könnten wir … na ja, ich meine, vielleicht könnten wir uns mal auf einen Drink treffen.«
Es klingelte an der Tür. Zach. Gott sei Dank. Es ist eine statistische Tatsache, dass neunundsiebzig Prozent aller männlichen Wesen, die ich kennen lerne, mit mir ausgehen wollen. Wieso wirkte ich auf Männer kein bisschen einschüchternd? Ich sah ihn an. In meinem Kopf setzte keine Geigenmusik ein. Nein.
»Das ist mein Partner«, sagte ich. »Wir müssen leider gleich weg. Und …«, ich legte eine angemessene Pause ein, ehe ich weitersprach, »… ich fühle mich zurzeit ein bisschen daneben. Ich bin noch nicht bereit für etwas Neues. Tut mir Leid.«
»Natürlich«, antwortete Morris, wich dabei aber meinem Blick aus. »Ich verstehe das vollkommen.«
Das war nett von ihm. Er folgte mir zur Tür, wo ich ihn Zach vorstellte. »Vor dir steht ein Mann«, erklärte ich,
»der ins Haus kommt und kostenlos Computer repariert.«
»Wirklich?«, fragte Zach interessiert. »Meiner streikt auch gerade. Ich habe keinen blassen Schimmer, woran das liegen könnte. Würden Sie eventuell mal einen Blick darauf werfen?«
»Tut mir Leid«, antwortete Morris. »Das war ein einmaliges Angebot.«
»Typisch«, meinte Zach mit düsterer Miene. »Das geht mir immer so.«
Morris nickte mir noch einmal freundlich zu, und weg war er.
Ich habe sie gefunden. Meine perfekte Dritte. Sie ist klein, wie die anderen, aber stark, voller Energie. Sie sprüht geradezu vor Energie. Sie hat honigfarbene Haut, glänzendes, kastanienbraunes Haar, das immer zersaust wirkt, grünbraune Augen, deren Farbe an Walnüsse erinnert, kupferrote Sommersprossen auf Nase und Wangen. Herbstfarben für das Ende des Sommers. Ein energisches Kinn. Weiße Zähne. Sie lächelt oft, legt beim Lachen den Kopf zurück, begleitet ihre Worte mit Gesten.
Kein schüchternes Mädchen, sondern eines, das sich in seiner Haut wohl fühlt. Wie eine Katze am Kamin. Ihre Haut sieht aus, als würde sie Wärme abstrahlen. Ihre Hand war warm und trocken, als ich sie geschüttelt habe.
Schon in dem Moment, als ich sie sah, wusste ich, dass sie genau richtig für mich ist. Meine Herausforderung. Meine Liebste. Nadia.
3. KAPITEL
ir brauchten noch einen zusätzlichen Trick.« Zach W runzelte die Stirn, während er mich über seinen schaumigen, rosafarbenen Milchshake hinweg ansah.
»Auf jeden Fall was Neues.«
»Warum?«
»Für den Fall, dass wir irgendwo ein zweites Mal eingeladen werden.«
Ich kann zwei Zaubertricks (drei, wenn man den Zauberstab mitrechnet, der in mehrere Stücke zerfällt, wenn ich an seinem hinteren Ende einen kleinen Hebel betätige – für alle, die jünger als vier sind, eine höchst erstaunliche Sache). Beim ersten Trick lege ich einen weißen Seidenschal in eine leere Tasche – die Kinder wissen, dass sie leer ist, weil mehrere von ihnen ihre kleinen knuddeligen Hände hineingesteckt haben, bevor ich anfange – und dann, hey presto, wenn ich ihn wieder herausziehe, ist er plötzlich rosa und lila gebatikt. Beim zweiten Trick lasse ich Bälle verschwinden und wieder auftauchen. Beides sind extrem einfache, elementare Tricks. Im Lauf der Jahre habe ich sie so oft vorgeführt, dass ich sie mittlerweile perfekt beherrsche. Das Wichtigste ist, dass man seine Zuschauer dazu bringt, in die falsche Richtung zu sehen. Wenn sie dann vor Überraschung nach Luft schnappen, muss man der Versuchung widerstehen, das Ganze zu wiederholen. Und man darf niemandem – nicht einmal neugierigen Eltern –
verraten, wie sie funktionieren. Einmal bin ich diesem Grundsatz Max gegenüber untreu geworden. Ich zeigte ihm den Trick mit den Bällen, und er war total verblüfft.
Und neugierig. Wie hast du das gemacht, wie hast du das gemacht? Er ließ mir keine Ruhe. Als ich es ihm schließlich zeigte, fiel ihm vor Enttäuschung die Kinnlade herunter. Und das ist alles? Was hast du denn erwartet!, schrie ich ihn an. Es ist doch bloß ein gottverdammter Trick!
Jonglieren kann ich auch, allerdings nur mit drei Bällen, wie die meisten Leute. Nichts Schwieriges. Das einzig Besondere ist bei mir, dass ich nicht nur die üblichen bunten, mit Bohnen gefüllten Säckchen verwende, sondern auch mit Bananen, Schuhen, Tassen, Teddybären oder Schirmen jongliere. Die Kinder sind immer total begeistert, wenn ich beim Jonglieren ein Ei fallen lasse.
Sie glauben, dass ich es absichtlich tue, um den Clown zu spielen.
Das Puppentheater ist eher Zachs Domäne. Ich kann bloß zwei verschiedene Stimmen, und selbst die klingen völlig identisch. Manchmal veranstalten wir auch Kochpartys: Wir bringen sämtliche Zutaten mit und zeigen den Kindern, wie man kleine Kuchen, klebrigen Zuckerguss oder Hamburger macht oder mit Backformen kreisrunde Schinkensandwiches aussticht. Hinterher dürfen die Kleinen alles aufessen, während wir das Chaos beseitigen. Wenn wir Glück haben, macht uns die Mutter eine Tasse Tee.
Ich bin der Clown, ein lauter, fröhlicher, chaotischer Spaßvogel, der ständig über die eigenen Beine fällt. Zach spielt meinen ernsten, miesepetrigen Handlanger.
Wir hatten gerade das Fest einer Fünfjährigen namens Tamsin besucht – einen Raum voller tyrannischer kleiner Mädchen, deren Kleidchen alle aussahen wie Baisers –, und ich war von dem vielen hektischen Gekreische, das zu meinem Auftritt gehörte, schweißgebadet und ziemlich erschöpft. Ich wollte nach Hause, ein Nickerchen machen, in der Badewanne entspannt Zeitung lesen.
»Insekten«, sagte Zach plötzlich. »Ich habe von einem Typen gehört, der mit Reptilien und allerlei Ungeziefer bei Kinderfesten auftritt. Die Kinder dürfen die Viecher anfassen, und das war’s.«
»Vergiss es! Ich werde in meiner Wohnung weder Insekten noch Reptilien halten.«
Nachdenklich schlürfte er seinen Milchshake.
»Wir könnten uns irgendein Insekt besorgen, das die Kinder sticht. Nein, das würde nicht funktionieren, die Eltern würden uns bestimmt anzeigen. Besser wäre ein Vieh, das die Kinder mit einer schlimmen Krankheit ansteckt, die aber erst viel später ausbricht.«
»Klingt gut.«
»Kannst du ›Happy Birthday‹ auch nicht mehr hören?«, fragte er.
»Ich hasse dieses Lied!«
Wir grinsten uns an.
»Du hast heute katastrophal jongliert.«
»Ich weiß. Ich bin aus der Übung. Bestimmt werden sie uns nie wieder einladen. Was mir aber ganz recht ist.
Tamsins Dad hat nämlich den Arm um mich gelegt.« Ich stand auf. »Sollen wir uns ein Taxi teilen?«
»Nein, ist schon okay.«
Wir küssten uns zum Abschied auf die Wange und brachen in entgegengesetzte Richtungen auf.
Es ist ein seltsames Gefühl, in die leere Wohnung zurückzukommen, seit Max vor ein paar Wochen ausgezogen ist. Dabei hatte ich mich gerade erst an seine Anwesenheit gewöhnt: den hochgeklappten Klodeckel, den Schrank voller Anzüge und Hemden, den frisch gepressten Orangensaft und den Schinken im Kühlschrank, den anderen Körper in meinem Bett, der mir nachts sagte, dass ich schön sei, und morgens, dass ich endlich aufstehen solle, weil ich sonst wieder zu spät käme. Ich hatte mich daran gewöhnt, dass es in meinem Leben jemanden gab, für den ich kochen konnte, jemanden, der für mich kochte, mir den Rücken massierte und mir sagte, ich solle anständig frühstücken. Jemanden, mit dem ich Pläne schmieden und für den ich mein Leben ändern konnte. Hin und wieder hatte es mich genervt, dass dadurch meine Freiheit eingeschränkt war. Max hatte mich gedrängt, ordentlicher zu sein, mein Leben besser zu organisieren. Er fand mich zu schlampig, zu verträumt.
Die Eigenschaften, die ihm anfangs an mir gefallen hatten, begannen ihn zu nerven. Jetzt aber stellte ich fest, dass es mir fehlte, mein Leben mit jemandem zu teilen. Ich musste erst wieder lernen, allein zu leben und ungehemmt meiner Selbstsucht zu frönen: Endlich konnte ich wieder im Bett Schokolade essen, mir abends Porridge machen, Meine Lieder – meine Träume auf Video ansehen, nach Lust und Laune Notizzettel an die Wand pinnen und schlechter Laune sein. Ich konnte jemand Neuen kennen lernen und mit der ganzen Schwindel erregenden, herrlichen und schrecklichen Karussellfahrt von vorn beginnen.
Um mich herum wurden meine Freunde und Freundinnen langsam sesshaft. Sie arbeiteten in den Berufen, die sie gelernt hatten, mit Rentenversicherungen und Zukunftsaussichten. Sie hatten Hypotheken, Waschmaschinen, feste Bürozeiten. Viele waren verheiratet, einige besaßen sogar schon Kinder. Vielleicht war das der Grund, warum Max und ich uns getrennt hatten: Uns war einfach klar geworden, dass wir kein gemeinsames Bankkonto eröffnen und Kinder mit seinem Haar und meinen Augen haben würden.
Ich begann verwickelte und leicht beängstigende Überlegungen darüber anzustellen, wie viel von meinem Leben ich schon gelebt hatte und wie viel Zeit mir noch blieb – was ich bisher getan hatte und was ich alles noch tun wollte. Ich bin achtundzwanzig. Ich rauche nicht, oder höchstens ganz selten, und ich esse viel Obst und Gemüse.
Ich gehe jede Treppe hinauf, statt den Lift zu nehmen, und man hat mich auch schon mal joggen gesehen. Ich nehme an, dass ich noch mindestens fünfzig Jahre vor mir habe, vielleicht sogar sechzig. Genug Zeit, um zu lernen, meine Filme selbst zu entwickeln, Wildwasserrafting zu machen, das Nordlicht zu sehen und den Mann meiner Träume kennen zu lernen. Oder – noch wahrscheinlicher – die Männer meiner Träume. Zu meiner großen Erleichterung habe ich letzte Woche in der Zeitung gelesen, dass wir Frauen bald in der Lage sein werden, sogar noch mit sechzig Babys zu bekommen.
Wahrscheinlich würde Max ebenfalls auf der Party sein, die ich an diesem Abend besuchen wollte. Während ich durch den dichten Verkehr nach Hause fuhr, nahm ich mir fest vor, mich mal so richtig schönzumachen. Ich würde mir die Haare waschen, mein rotes Kleid anziehen und den ganzen Abend lachen, flirten und tanzen. Dann würde er schon sehen, was er alles verloren hatte, und er würde feststellen, dass es mir überhaupt nichts ausmachte. Ich bin nicht einsam ohne ihn.
Ich wusch mir tatsächlich die Haare und bügelte mein Kleid. Anschließend legte ich mich in ein duftendes Ölbad und entzündete rund um mich herum Kerzen, obwohl draußen noch helllichter Tag war. Hinterher verspeiste ich zwei Scheiben Toast mit Marmite und eine kühle, glänzende Nektarine.
Wie sich herausstellte, war Max doch nicht auf dem Fest, und nach einer Weile hörte ich auf, jedes Mal hochzublicken, wenn jemand zur Tür hereinkam. Ich lernte einen Mann namens Robert kennen, der Anwalt war und buschige Augenbrauen hatte, und einen anderen Mann mit Namen Terence, der eine schreckliche Nervensäge war. Ich tanzte ziemlich wild mit meinem alten Freund Gordon, der mich damals Max vorgestellt hatte. Dann unterhielt ich mich eine Weile mit Lucy, deren dreißigster Geburtstag der Anlass für das Fest war, und ihrem neuen Freund, einem Zwei-Meter-Riesen mit weißblond gefärbtem Haar. Er musste sich regelrecht zu mir herunterbeugen, sodass ich mir neben ihm wie eine Zwergin vorkam. Gegen halb zwölf verließ ich das Fest mit meinen alten Freundinnen Cathy und Mel. In einem chinesischen Restaurant aßen wir Spareribs mit schleimigen Nudeln und tranken dazu billigen Rotwein, bis wir davon angenehm beschwipst waren. Irgendwann wurde es mir in meinem dünnen roten Kleid zu kalt, und ich fühlte mich plötzlich so müde, dass ich nur noch nach Hause in mein großes Bett wollte.
Als ich schließlich in meiner Wohnung eintraf, war es bereits nach eins. Camden Town erwacht nach Mitternacht erst so richtig zum Leben. Auf den Gehsteigen wimmelte es von seltsamen Gestalten. Manche wirkten schon recht mitgenommen, andere überdreht und hektisch. Ein Mann mit einem grünen Pferdeschwanz versuchte mich am Arm zu packen, zuckte dann aber grinsend mit den Schultern, als ich ihm sagte, er solle sich verpissen. Ein schönes, nur spärlich bekleidetes Mädchen wirbelte ganz in der Nähe meiner Straße wie ein Kreisel auf dem Gehweg herum.
Niemand schien ihr Beachtung zu schenken.
Benommen stolperte ich zu meiner Wohnungstür hinauf.
Als ich im Gang das Licht anmachte, sah ich, dass auf der Fußmatte ein Brief lag. Ich hob ihn auf. Keine Handschrift, die ich kannte. Ordentliche, schräge schwarze Buchstaben: Ms. Nadia Blake. Ich fuhr mit dem Finger die gummierte Klappe entlang und zog den Brief heraus.
4. KAPITEL
at er Ihnen die Wohnung auf den Kopf gestellt?«
H »Wie meinen Sie das?«
Links deutete auf das Chaos: die im ganzen Raum verstreuten Kissen, die Zeitungen, die sich auf dem Boden türmten.
»Nein«, antwortete ich. »Das habe ich ganz allein geschafft. Ich hatte in letzter Zeit ziemlich viel um die Ohren. Höchste Zeit, dass ich das in Angriff nehme.«
Der Detective wirkte einen Moment lang verdutzt, als wäre er gerade aufgewacht und wüsste nicht so recht, wo er war.
»Ähm, Miss ähm …«
»Blake.«
»Ja, Miss Blake. Stört es Sie, wenn ich rauche?«
»Kein Problem.«
Ich suchte nach einem Aschenbecher und fand schließlich einen geschnitzten, der die Form der Insel Ibiza hatte. Einen Moment lang machte ich mir wegen eventueller Drogenassoziationen Gedanken, aber Detective Chief Inspector Links hatte offensichtlich andere Sorgen. Er machte keinen sehr gesunden Eindruck.
Ein Onkel von mir hat schon drei Herzinfarkte hinter sich und raucht immer noch, obwohl seine Puste kaum ausreicht, um die Zigarette am Brennen zu halten, und ein Freund von Max erholt sich gerade von einem Nervenzusammenbruch, der zur Folge hatte, dass er für eine Weile in eine geschlossene Anstalt musste. Das ist nun über ein Jahr her, aber er spricht noch immer mit der zittrigen Stimme eines Menschen, der sich angestrengt bemüht, nicht zu weinen. Detective Links erinnerte mich an beide. Zuzusehen, wie er sich eine Zigarette anzündete, war eine spannende Angelegenheit. Seine Finger zitterten so sehr, dass er es kaum schaffte, das Streichholz länger als eine Mikrosekunde an das Ende des Glimmstängels zu halten. Er stellte sich an, als stünde er im Mastkorb eines Nordseefischdampfers und nicht in meinem relativ zugluftfreien Wohnzimmer.
»Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte ich. »Soll ich Ihnen was zu trinken bringen? Vielleicht eine Tasse Tee?«
Links wollte etwas sagen, aber ein heftiger Hustenanfall hielt ihn davon ab, sodass er nur den Kopf schütteln konnte.
»Oder lieber ein Glas heiße Zitrone mit Honig?«
Er schüttelte erneut den Kopf. Nach einer Weile zog er ein schmutzig aussehendes Taschentuch aus der Tasche und wischte sich damit über die Augen. Als er schließlich wieder genug Luft bekam, sprach er so leise, dass ich mich vorbeugen musste, um ihn zu verstehen. »Es geht um …«
Er legte eine Pause ein. Offenbar hatte er den Faden verloren. »Den Zutritt. Ich meine, um die Frage, wer hier Zutritt hat.«
»Ja«, antwortete ich müde. »Das haben Sie schon gesagt.
Ist das nicht ein bisschen viel Aufwand wegen eines einzelnen perversen Briefs? Da haben Sie sich nämlich einiges vorgenommen. Ich bekomme oft Besuch. Mein Freund war ziemlich viel hier. In dieser Wohnung gehen ständig Leute ein und aus. Ein paar Monate lang war ich nicht da, und eine Freundin von mir hat hier gewohnt. In der Zeit scheint die Haustür quasi für jedermann offen gewesen zu sein.«
»Wo ist diese Freundin jetzt?«, fragte Links. Seine Stimme war kaum mehr als ein jämmerliches Keuchen.
»In Prag, glaube ich. Sie wollte dort noch eine Weile arbeiten, bevor sie nach Perth zurückgeht.«
Links blickte sich nach seinem Kollegen um. Der andere Beamte, Detective Inspector Stadler, sah ein wenig verlebt aus, aber doch irgendwie attraktiv. Bisher war er völlig passiv gewesen. Er hatte glattes, zurückgekämmtes Haar, hervortretende Wangenknochen und dunkle Augen, die er ununterbrochen auf mich gerichtet hielt, als wäre ich sehr, sehr interessant, wenn auch auf eine etwas eigenartige Weise – nicht so sehr wie eine Frau, sondern eher wie ein Autounfall. Jetzt ergriff er zum ersten Mal das Wort:
»Haben Sie eine Ahnung, wer Ihnen diesen Brief geschrieben haben könnte? Hat es in letzter Zeit ähnliche Vorfälle gegeben? Vielleicht irgendwelche bedrohlichen Anrufe? Oder seltsame Begegnungen?«
»O ja, jede Menge seltsame Begegnungen«, antwortete ich. Links spitzte die Ohren und hatte dadurch nicht mehr ganz so viel Ähnlichkeit mit einem Zombie. »Zu meinem Job gehört, dass ich jede Woche mehrere fremde Häuser betrete. Ich sollte vielleicht dazusagen, dass ich keine Einbrecherin bin.« Über ihre Gesichter huschte nicht die Spur eines Lächelns. »Mein Partner und ich arbeiten als Entertainer auf Kinderfesten. Sie können sich nicht vorstellen, was man da für Leute kennen lernt. Glauben Sie mir, wenn man vom Vater der Fünfjährigen, für die man gerade eine Vorstellung gegeben hat, nach Strich und Faden angemacht wird, während die Mutter in der Küche die Kerzen auf dem Kuchen anzündet – da verliert man schnell die Achtung vor der menschlichen Natur.«
Links drückte seine erst halb gerauchte Zigarette aus und zündete sich eine neue an.
»Miss, ähm …« Er warf einen Blick auf sein Notizbuch.
»Miss, ähm …« Offenbar bereitete es ihm Schwierigkeiten, seine Notizen zu entziffern. »Ähm, Blake. Wir haben, ähm, Grund zu der Annahme, dass im Moment, das heißt, in den letzten, ähm, Monaten, weitere Frauen von der betreffenden Person ähm … belästigt worden sind.« Er sah dabei immer wieder zu Stadler hinüber, als erhoffte er sich von ihm moralische Unterstützung.
»Ein Ziel unserer Nachforschungen wird daher sein herauszufinden, wie diese Fälle zusammenhängen, das heißt, falls sie überhaupt zusammenhängen.«
»Wer sind die anderen Frauen?«
Links musste wieder husten. Stadler unternahm keinen Versuch, für ihn einzuspringen. Er saß lediglich da und starrte mich an.
»Nun ja«, sagte er schließlich, »zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es vielleicht nicht, ähm, ratsam, konkrete Details preiszugeben. Das könnte sich für unsere weiteren Ermittlungen als hinderlich erweisen.«
»Befürchten Sie, ich könnte mich mit ihnen in Verbindung setzen?«
Links zog erneut sein Taschentuch heraus und putzte sich die Nase. Ich warf einen Blick zu Stadler hinüber, der jetzt den Kopf gesenkt hielt. Er blätterte hektisch in einem Notizbuch, als würde er nach einer besonders wichtigen Eintragung suchen.
»Wir werden Sie über die Fortschritte unserer Ermittlungen auf dem Laufenden halten, so gut wir können«, erklärte Links.
»Ermittlungen?«, fragte ich. »Es ist doch nur ein Brief.«
»Man darf solche Dinge nicht auf die leichte Schulter nehmen. Deswegen haben wir auch eine Psychologin eingeschaltet, Dr. Grace Schilling, eine Expertin für …
ähm … Eigentlich sollte sie schon hiersein …« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Sie müsste wirklich jeden Moment kommen.«
»Hören Sie«, sagte ich, nachdem wir uns ein paar Sekunden angeschwiegen hatten, »ich bin nicht blöd. Vor ungefähr einem Jahr ist bei mir eingebrochen worden. Die Einbrecher haben nichts mitgenommen, ich glaube, ich habe sie überrascht, aber es hat ungefähr einen Tag gedauert, bis sich die Polizei endlich herbemüht hat, und unternommen haben sie am Ende gar nichts. Jetzt kriege ich einen einzigen abartigen Brief, und Sie starten hier eine Mordsaktion. Was soll das? Haben Sie nichts Wichtigeres zu tun?«
Stadler klappte sein Notizbuch zu und schob es in die Tasche.
»Uns wird immer wieder mangelnde Sensibilität vorgeworfen, was Vergehen gegen Frauen betrifft«, erklärte er. »Aus diesem Grund nehmen wir derartige Drohungen inzwischen sehr ernst.«
»Na ja«, meinte ich. »Ich nehme an, das ist eine gute Sache.«
Dr.
Schilling gehörte zu der Sorte Frauen, die ich ziemlich beneidete. Bestimmt war sie in der Schule sehr gut gewesen und hatte phantastische Noten bekommen.
Sogar ihre elegante Art, sich zu kleiden, wirkte irgendwie intelligent. Ihr schönes, langes blondes Haar sah aus, als hätte sie es in drei Sekunden hochgesteckt.
Wahrscheinlich wollte sie auf diese Weise zeigen, dass es ihr nicht allzu wichtig war. Sie schien nicht der Typ Frau zu sein, der sich vor eine Horde kreischender Kleinkinder stellte. Wenn ich gewusst hätte, dass sie kommen würde, hätte ich die Wohnung wirklich ein bisschen aufgeräumt.
Das Einzige, was mich an ihr störte, war die extrem ernste, fast schon niedergeschlagene Miene, die sie aufsetzte, wenn sie mit mir sprach. Als würde sie eine religiöse Fernsehsendung moderieren.
»Wenn ich das richtig verstanden habe, kommen Sie gerade aus einer gescheiterten Beziehung«, sagte sie.
»Also eins können Sie mir glauben, der Brief ist bestimmt nicht von Max. Das ist aus mehreren Gründen völlig ausgeschlossen – unter anderem, weil es ihm schon Schwierigkeiten bereiten würde, einen Brief an den Milchmann zu formulieren. Außerdem war er derjenige, der das Ganze beendet hat.«
»Trotzdem könnte ich mir vorstellen, dass Sie deswegen eine Weile recht verwundbar waren.«
»Stinksauer trifft es eher.«
»Wie groß sind Sie, Nadia?«
»Müssen Sie denn das unbedingt wissen? Ich versuche immer, es zu verdrängen. Einsfünfundfünfzig. Ein emotional verwundbarer Zwerg. Ist es das, worauf Sie hinauswollen? Sie dürften demnach keine Probleme haben.«
Sie verzog keine Miene.
»Muss ich mir wirklich Sorgen machen?«, fragte ich.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie mir antwortete.
»Ich glaube nicht, dass es, ähm … produktiv wäre, panisch zu reagieren. Trotzdem bin ich der Meinung, dass Sie sich so verhalten sollten, als wären Sie beunruhigt.
Bloß, um auf Nummer Sicher zu gehen. Sie sind bedroht worden. Sie sollten sich so benehmen, als wäre die Drohung ernst gemeint.«
»Glauben Sie wirklich, jemand will mich ohne Grund umbringen?«
Sie wirkte nachdenklich. »Ohne Grund? Vielleicht. Es gibt viele Männer, die der Meinung sind, sehr gute Gründe zu haben, Frauen anzugreifen oder zu töten. Dabei mag es sich um Gründe handeln, die weder Sie noch mich überzeugen würden, aber das ist kein sehr großer Trost, oder?«
»Für mich jedenfalls nicht«, antwortete ich.
»Nein«, sagte Dr. Schilling kaum hörbar, fast als würde sie mit jemand anderem sprechen – jemandem, den ich nicht sehen konnte.
5. KAPITEL
s sah nicht so aus, als ob sie jemals wieder gehen würden. Nach ein paar Stunden bekam
E
Links eine
Nachricht und verzog sich, aber Stadler und Dr. Schilling blieben. Während Dr.
Schilling mit mir sprach, ging
Stadler einkaufen und kam mit Sandwiches, Milch und Obst zurück. Dann, während er mit mir durch die Wohnung ging und meine Sicherheitsvorrichtungen inspizierte (die seiner Meinung nach erheblicher Verbesserung bedurften), zog sie sich in meine Küchennische zurück, um Tee für uns zu machen. Ich hörte Wasser rauschen und das Klappern von Geschirr. Es klang, als würde sie abspülen. Schließlich kehrte sie mit drei Tassen zurück. Stadler zog seine Jacke aus und rollte die Ärmel hoch.
»Wir haben Tunfisch mit Gurke, Lachs mit Gurke, Geflügelsalat, Schinken mit Senf«, verkündete er.
Ich nahm den Schinken und Dr. Schilling den Tunfisch.
Mir ging durch den Kopf, dass der Tunfisch bestimmt viel gesünder war.
»Sind Sie so eine Art Polizeiärztin?«, fragte ich sie.
Sie hatte gerade den Mund voll, sodass sie bloß den Kopf schütteln konnte, während sie krampfhaft versuchte, den Bissen hinunterzuschlucken. Ich empfand einen Moment des Triumphs. Es war mir gelungen, sie zu erwischen, als sie gerade mal nicht so würdevoll wirkte.
»Nein, nein!«, antwortete sie, als hätte ich sie beleidigt.
»Bei der Polizei habe ich nur eine beratende Funktion.«
»Und was ist Ihr richtiger Beruf?«
»Ich arbeite in der Welbeck-Klinik.«
»Als was?«
»Grace ist mal wieder zu bescheiden«, schaltete sich Stadler ein. »Sie ist auf ihrem Gebiet eine Koryphäe. Sie können sich glücklich schätzen, sie auf Ihrer Seite zu haben.«
Dr. Schilling drehte sich zu ihm um und sah ihn scharf an, wobei sie ziemlich rot anlief, meiner Meinung nach eher vor Wut als vor Verlegenheit. Dauernd verständigten sie sich mit Blicken oder flüsterten sich etwas zu. Ich kam mir vor wie ein Störenfried in einer Gruppe alter Freunde, die ihren eigenen Jargon hatten, ihre gemeinsame Geschichte.
»Eigentlich wollte ich damit bloß sagen«, fuhr ich fort,
»dass ich als Entertainerin auf Kinderpartys arbeite.
Während der Woche, wenn alle anderen im Büro sitzen, habe ich oft keinen so großen Termindruck. Aber Sie, Dr. Schilling …«
»Bitte, Nadia, nennen Sie mich Grace«, murmelte sie.
»Also gut, Grace, ich weiß, dass Ärzte unglaublich viel beschäftigte Leute sind, diese Erfahrung habe ich jedes Mal gemacht, wenn ich bei einem einen Termin wollte.
Ich gebe ganz offen zu, dass ich es sehr angenehm finde, hier zu sitzen und zu plaudern, und ich bin auch gern bereit, vor Ihnen mein Leben auszubreiten, aber ich frage mich trotzdem, warum eine renommierte Psychiaterin wie Sie hier in einer schäbigen Zweizimmerwohnung in Camden Town auf dem Boden sitzt und ein Tunfischsandwich isst. Sie sehen nicht auf die Uhr, und Sie bekommen auch keine Anrufe auf Ihrem Handy. Das kommt mir wirklich seltsam vor.«
»Das ist überhaupt nicht seltsam«, antwortete Stadler und wischte sich über den Mund. Er hatte sich für den Lachs entschieden. Bestimmt war das Schinkensandwich nicht nur das ungesündeste, sondern auch das billigste gewesen. »Wichtig ist jetzt, dass wir uns genau überlegen, wie wir vorgehen wollen. Wir möchten Sie auf unauffällige Weise beschützen, und der Zweck dieser Zusammenkunft ist, darüber zu entscheiden, wie dieser Schutz aussehen soll. Und was Dr. Schilling angeht, ist sie Expertin für derartige Fälle von Belästigung und hat als solche zwei wichtige Aufgaben. In erster Linie soll sie uns natürlich helfen, die Person zu finden, die Ihnen den Drohbrief geschickt hat. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, muss sie aber auch Ihre Person und Ihr Leben genau unter die Lupe nehmen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, was diesen Irren auf Sie aufmerksam gemacht hat.«
»Demnach ist es also meine Schuld?«, fragte ich. »Weil ich ihm irgendwie aufgefallen bin?«
»Es ist absolut nicht Ihre Schuld«, antwortete Grace in eindringlichem Ton. »Aber Tatsache ist, dass er sich Sie ausgesucht hat.«
»Ich finde, Sie reagieren total übertrieben«, erwiderte ich.
»Wir haben es hier mit einem Typen zu tun, den es anturnt, Frauen schlimme Briefe zu schicken.
Wahrscheinlich weil er Angst vor Frauen hat. Warum machen Sie eine so große Sache daraus?«
»Sie irren sich«, widersprach Grace. »Ein solcher Brief ist ein Akt der Gewalt. Ein Mann, der einen derartigen Brief verschickt, hat – nun ja, er hat vielleicht … eine Grenze überschritten. Man muss davon ausgehen, dass er gefährlich ist.«
Ich starrte sie verwirrt an. »Sind Sie der Meinung, ich sollte mehr Angst vor ihm haben?«
Sie trank ihren Tee aus. Irgendwie wirkte es fast so, als versuchte sie, Zeit zu schinden. »Ich kann Ihnen vielleicht raten, wie Sie sich verhalten sollen«, erklärte sie schließlich. »Aber ich glaube nicht, dass ich Ihnen sagen kann, was Sie fühlen sollen. Kommen Sie, geben Sie mir Ihre Tasse. Ich hole uns noch mal Tee.«
Damit war das Thema für sie erledigt. Stadler räusperte sich.
»Wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte er, »würde ich mit Ihnen gern ein wenig über Ihr Leben sprechen.
Darüber, wer Ihre Freunde sind, mit welchen Leuten Sie zusammenkommen, welche Gewohnheiten Sie haben, all diese Dinge.«
»Sie sehen gar nicht aus wie ein Polizist«, bemerkte ich.
Einen Augenblick starrte er mich überrascht an, dann lächelte er. »Wie soll ein Polizist denn Ihrer Meinung nach aussehen?«
Er ließ sich nicht leicht in Verlegenheit bringen, zumindest nicht von mir. Noch nie zuvor hatte mir jemand so tief in die Augen gesehen wie er, fast als wollte er in mein Innerstes hineinblicken. Was versuchte er zu sehen?
»Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Sie sehen einfach nicht aus wie ein Polizist. Sie sehen, ähm …« Ich hielt abrupt inne, weil mir beinahe rausgerutscht wäre, dass er für einen Polizisten viel zu gut aussah, was nicht nur ein total bescheuerter, sondern auch ein der Situation völlig unangemessener Kommentar gewesen wäre. Außerdem war Grace soeben mit dem Tee zurückgekehrt.
»… so normal aus«, brachte ich den Satz mit einiger Verspätung zu Ende.
»Ist das alles?«, meinte er. »Ich dachte, Sie würden was Netteres sagen.«
Ich schnitt eine Grimasse. »Ich finde, dass es schon ein ziemlich nettes Kompliment ist, wenn man zu einem Polizisten sagt, dass er nicht wie einer aussieht.«
»Kommt darauf an, wie Polizisten Ihrer Meinung nach aussehen.«
»Störe ich irgendwie?«, fragte Grace leicht ironisch.
In dem Moment klingelte das Telefon. Es war Janet. Sie rief an, um nachzufragen, ob wir uns abends wie vereinbart treffen sollten. Ich legte die Hand über den Hörer.
»Es ist eine von meinen besten Freundinnen«, flüsterte ich.
»Wir wollten uns am frühen Abend auf einen Drink treffen. Übrigens, von ihr ist der Brief mit Sicherheit nicht.«
»Sagen Sie ihr ab«, antwortete Stadler.
»Ist das Ihr Ernst?«
»Tut mir Leid. Bitte haben Sie Verständnis.«
Ich verzog erneut das Gesicht und erklärte Janet dann, dass mir leider etwas dazwischengekommen sei. Natürlich hatte sie Verständnis. Obwohl ich merkte, dass sie gern noch ein bisschen geplaudert hätte, beendete ich das Gespräch so schnell wie möglich. Grace und Stadler schienen mir allzu interessiert an dem, was ich sagte.
»Kann es sein, dass Sie mich irgendwie verarschen?«, fragte ich, nachdem ich aufgelegt hatte.
»Wie meinen Sie das?«
»Allmählich fühle ich mich ein bisschen verfolgt«, antwortete ich, »aber nicht von dem Bescheuerten, der mir den Brief geschrieben hat. Ich komme mir vor wie ein aufgespießtes Insekt. Während ich mich noch zuckend winde, betrachtet mich jemand durchs Mikroskop.«
»Wirklich? So fühlen Sie sich?«, fragte Grace ernst.
»Ach, hören Sie bloß auf!«, gab ich aufgebracht zurück.
»Sagen Sie jetzt um Gottes willen nicht, dass das von Bedeutung ist.«
Außerdem war es nicht ganz das, was ich fühlte. Wir saßen den ganzen Nachmittag in meiner Wohnung. Später kochte ich uns Kaffee. In einer Dose fand ich noch ein paar Kekse. Nachdem ich die Papierfetzen hervorgekramt hatte, die meinen Terminkalender darstellten, ging ich mein Adressbuch durch und ließ mich über mein Leben aus. Hin und wieder stellte mir einer der beiden eine Frage. Nach einer Weile fing es zum ersten Mal seit vielen, vielen Tagen zu regnen an, und plötzlich fühlte ich mich nicht mehr wie ein seltenes Insekt, das vor der Präparierung eingehend studiert wurde, sondern wie ein Mädchen, das einen Nachmittag mit zwei ziemlich seltsamen neuen Freunden verbrachte. Mit ihnen auf dem Boden zu sitzen, während draußen der Regen an das Fenster klatschte, war ein ziemlich beruhigendes Gefühl.
»Können Sie wirklich jonglieren?«, fragte Stadler.
»Ob ich jonglieren kann?«, gab ich kampfeslustig zurück.
»Überzeugen Sie sich selbst!« Suchend sah ich mich im Raum um. Mein Blick fiel auf die Obstschale.
Als ich nach zwei verschrumpelten Äpfeln und einer Mandarine griff, erhob sich ein Schwarm winziger Fliegen in die Luft.
»Darum kümmere ich mich gleich«, erklärte ich. »Aber jetzt aufgepasst!«
Nachdem ich eine Weile auf der Stelle jongliert hatte, begann ich vorsichtig im Raum auf und ab zu gehen.
Trotzdem stolperte ich über ein Kissen und fiel der Länge nach hin.
»Na ja, jetzt haben Sie zumindest eine Vorstellung.«
»Lässt sich das noch ausbauen?«, fragte Stadler.
Ich schnaubte verächtlich.
»Mit vier Bällen jonglieren ist total langweilig«, erklärte ich.
»Man hat in jeder Hand zwei Bälle, die man nur hochwirft und wieder auffängt. Da rührt sich nichts.«
»Und was ist mit fünf?«
Wieder schnaubte ich verächtlich.
»Fünf sind was für Verrückte. Um mit fünf Bällen zu jonglieren, muss man sich erst mal drei Monate lang allein in ein Zimmer setzen und üben. Das spare ich mir für später auf, wenn ich ins Gefängnis komme oder Nonne werde oder auf einer einsamen Insel strande. Mein Publikum besteht nur aus Kleinkindern, und außerdem ist das Ganze für mich sowieso bloß eine Übergangsphase.
Bis ich mir darüber klar geworden bin, was ich mit dem Rest meines Lebens anfangen möchte.«
»Damit lassen wir uns nicht abspeisen«, erklärte Stadler.
»Wir wollen fünf Bälle sehen, nicht wahr, Grace?«
»Mindestens!«, erwiderte Grace.
»Seid bloß still!«, sagte ich. »Sonst zeige ich euch meine Zaubertricks!«
6. KAPITEL
as als Nächstes passierte, kann ich nicht erklären.
W Zumindest kann ich es nicht so erklären, dass es wirklich einen Sinn ergibt. Grace Schilling ging. Zum Abschied legte sie mir die Hände auf die Schultern und starrte mich einen Moment lang an, als würde sie gleich zu heulen beginnen oder etwas schrecklich Ernstes sagen.
Dann erklärte mir Stadler, dass eine Polizeibeamtin namens Lynne Burnett vorbeikommen und ein Auge auf mich haben werde.
»Sie wird aber nicht hier schlafen, oder?«
»Nein, lassen Sie es mich erklären. Lynne Burnett wird in den nächsten Tagen den größten Teil Ihrer Bewachung übernehmen. Nachts werden wir sie oder – wahrscheinlich häufiger – andere Beamte draußen vor Ihrem Haus postieren, in der Regel in einem Wagen. Keinem Polizeiwagen. Tagsüber wird sie Ihnen wohl die meiste Zeit hier drin Gesellschaft leisten, aber wie das im Einzelnen abläuft, ist eine Sache zwischen Ihnen und ihr.«
»Ich werde rund um die Uhr bewacht?«
»Bloß für eine Weile.«
»Und Sie?«, fragte ich. »Werden Sie auch da sein?«
Er sah mir ein paar Sekunden zu lang in die Augen.
Gerade wollte ich was sagen, als es an der Tür klingelte.
Einen Moment lang blinzelte ich erschrocken, dann lächelte ich ihn benommen an.
»Das ist bestimmt Lynne«, sagte er.
»Warum gehen Sie dann nicht an die Tür?«
»Es ist Ihre Wohnung.«
»Aber Sie wissen doch, dass es für Sie ist.«
Er machte auf dem Absatz kehrt und öffnete die Tür.
Lynne war jünger als ich, wenn auch nicht viel, und ziemlich hübsch. Sie hatte ein großes violettes Muttermal auf der Wange. Sie trug keine Polizeiuniform, sondern Jeans und T-Shirt, und hatte eine hellblaue Jacke über dem Arm.
»Ich bin Nadia Blake«, sagte ich und streckte ihr die Hand hin. »Sie müssen das Chaos entschuldigen, aber ich war eigentlich nicht auf Besuch eingestellt.«
Sie lächelte und wurde rot. »Ich werde versuchen, Sie so wenig wie möglich zu stören«, erklärte sie. »Es sei denn, Sie brauchen mich. Ich könnte Ihnen ein bisschen beim Aufräumen helfen. Natürlich nur, wenn Sie das wollen«, fügte sie rasch hinzu.
»Bei mir ist alles ein wenig außer Kontrolle geraten«, erklärte ich und lächelte dabei Stadler an, der mein Lächeln aber nicht erwiderte, sondern mich nur nachdenklich ansah. Ich ging in mein Schlafzimmer und setzte mich aufs Bett, bis er gegangen war. Ich fühlte mich müde und verwirrt. Was lief da eigentlich ab? Wie sollte ich den Abend verbringen, wenn Lynne die ganze Zeit bei mir herumhing? Da konnte ich ja nicht mal mit einem guten Gefühl relaxen, indem ich mich schon um neun mit einem Käsetoast ins Bett verzog.
Es hätte schlimmer sein können. Zum Abendessen bereiteten wir uns Spiegeleier und Bohnen zu, und Lynne erzählte mir alles über ihre sieben Geschwister und ihre Mutter, die als Friseuse arbeitete. Nach dem Essen räumte sie ein bisschen auf. Ich hatte das Gefühl, dass sie nicht bloß herumsitzen und Däumchen drehen wollte. Dann ging sie – natürlich nicht nach Hause, sondern nach draußen in den Wagen. Nur heute, erklärte sie, in den nächsten Tagen würde sie sich abends von anderen Beamten ablösen lassen, weil sie ja auch mal schlafen müsse. Ich legte mich in die Badewanne, bis meine Finger ganz schrumpelig waren. Hinterher warf ich einen Blick durch den Spalt zwischen den Vorhängen. Ich konnte Lynnes Silhouette im Wagen sehen. Ob sie wohl las oder Radio hörte? Schwer zu sagen. Wahrscheinlich durfte sie nichts tun, was sie ablenken konnte. Ich fragte mich, ob ich ihr eine Tasse Suppe oder Kaffee hinausbringen sollte, ging dann aber einfach ins Bett.
Am nächsten Tag begleitete mich Lynne zum Einkaufen.
Sie saß daneben, während ich Briefe schrieb. Ein wenig peinlich wurde es, als Zach anrief und wir vereinbarten, dass er vorbeikommen würde, um mit mir unseren Terminkalender durchzugehen. Nachdem ich aufgelegt hatte, drehte ich mich zu ihr um und sagte: »Ähm …«
Sofort antwortete sie: »Ich werde draußen warten.«
»Es ist bloß, weil …«
»Schon gut.«
Am frühen Abend klingelte es, und Lynne ging an die Tür. Es war Stadler, bewaffnet mit einer wichtig aussehenden Aktenmappe. Er trug einen Anzug.
»Hallo, Detective«, begrüßte ich ihn mit weicher Stimme.
»Ich löse Lynne für eine Weile ab«, erklärte er, ohne eine Miene zu verziehen. Ohne ein Lächeln. »Alles in Ordnung?«
»Bestens, danke.«
»Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«
Er nahm auf dem Sofa Platz, und ich ließ mich ihm gegenüber auf dem Sessel nieder.
»Na, was haben Sie denn für Fragen, Detective?« Er hatte schöne Hände. Lang und schmal, mit glatten Nägeln.
Er öffnete die Aktenmappe und zog Papiere heraus. »Ich möchte, dass Sie mir etwas über Ihre Exfreunde erzählen.«
»Darüber haben wir doch schon gesprochen.«
»Ja, aber …«
»Wissen Sie, was? Ich glaube, über meine früheren Beziehungen würde ich lieber mit Grace Schilling reden.«
Er holte tief Luft. Anscheinend fühlte er sich nicht besonders wohl in seiner Haut, aber das war mir egal. »Es könnte sich als hilfreich herausstellen –«, begann er, aber ich ließ ihn nicht ausreden.
»Ich habe wirklich keine Lust, mich mit Ihnen über weitere Details meines Liebeslebens zu unterhalten.«
Jetzt sah er nicht mehr auf seine Notizen hinunter, sondern starrte mich direkt an. Ich stand auf und wandte mich von ihm ab.
»Ich hole mir ein Glas Wein. Möchten Sie auch eins?
Sagen Sie jetzt bloß nicht: ›Ich bin im Dienst.‹«
»Aber nur ein ganz kleines.«
Ich schenkte sein Glas genau so voll wie meines. Wir gingen in meinen so genannten Garten hinaus. Er grenzte an ein Industriegelände, auf dem Container abgestellt waren, aber es war immer noch besser, als ständig drinnen zu sitzen. Inzwischen hatte es zu regnen aufgehört, und seit langer Zeit war die Luft wieder angenehm frisch. Die Blätter des Birnbaums glänzten nass.
»Hier draußen muss ich auch mal was tun«, erklärte ich.
»Das Unkraut nimmt langsam überhand.«
»Immerhin ist man hier schön ungestört. Keiner kann reinsehen.«
»Das stimmt.«
Ich nahm einen Schluck von meinem Wein. Er wusste eine Menge über mich. Er wusste über meine Arbeit Bescheid, meine Familie, meine Freunde und meine Männer, meine Examensergebnisse und meine Finanzen.
Er wusste, dass ich mir ein Cabrio wünschte, eine bessere Singstimme und eine würdevollere Art, und er wusste, dass ich unter Höhenangst litt und mich vor Aufzügen, Schlangen und Krebs fürchtete. Ich hatte mit ihm und Grace gesprochen, wie ich es sonst nur mit einem Geliebten tat, mit dem ich nach dem Sex noch im Bett lag und, während es draußen schon dunkel und still war, kleine Geheimnisse und intimen Unsinn austauschte. Über ihn aber wusste ich nichts, absolut nichts. Bei dem Gedanken wurde mir ganz schwindlig.
Wir lehnten uns aneinander. Na wunderbar, dachte ich: Schon wieder stand ich davor, einen großen Fehler zu begehen. Aber noch während mir dieser Gedanke durch den Kopf ging, blieb ich an einer dicken Ranke hängen und stolperte. Ich ließ mein Glas fallen und landete auf den Knien im feuchten Gras. Er ging neben mir in die Hocke und schob eine Hand unter meinen Ellbogen.
»Kommen Sie, ich helfe Ihnen auf«, sagte er mit heiserer Stimme. »Kommen Sie, Nadia.«
Ich schlang die Arme um seinen Hals. Er sah mich an.
Sein Blick war schwer zu deuten, ich konnte nicht sagen, was er dachte oder wollte. Ich küsste ihn voll und hart auf den Mund. Seine Lippen waren kühl, seine Haut warm. Er schob mich nicht weg, erwiderte meinen Kuss anfangs aber nicht, sondern kniete einfach nur da und ließ sich von mir halten. Ich sah die Linien seines Gesichts, die Fältchen rund um seine Augen, die Furchen um seinen Mund.
»Dann hilf mir auf«, sagte ich.
Er zog mich auf die Füße. Wir standen nebeneinander in dem verwahrlosten Garten. Er war viel größer als ich und versperrte mir mit seiner Größe und seinen breiten Schultern den Blick auf die tief stehende Sonne.
Ich strich mit dem Daumen über seine Unterlippe. Ich hielt seinen schweren Kopf in meinen Händen, küsste ihn wieder, noch leidenschaftlicher und länger als zuvor. Mir war fürchterlich schwindlig, als hätte ich nicht ein Glas, sondern sechs Gläser Wein getrunken. Ich legte die Hände auf seinen Rücken, schob sie unter sein Hemd und presste mich an ihn. Er fühlte sich fest und stark an. Noch immer verhielt er sich passiv, ließ die Arme hängen. Ich nahm seine Hand und legte sie an meine heiße Wange. Dann führte ich ihn durch die Terrassentür zurück ins Wohnzimmer.
Er ließ sich auf einen Stuhl sinken und starrte mich an.
Ich knöpfte mein Shirt auf und setzte mich rittlings auf seinen Schoß.
»Stadler«, sagte ich. »Cameron.«
»Ich sollte das nicht tun«, flüsterte er. Er vergrub den Kopf zwischen meinen Brüsten. Ich fuhr ihm mit der Hand durchs Haar. »Ich sollte das wirklich nicht tun!« Er schloss die Augen. Dann lag er plötzlich auf mir, auf dem Boden, und ich spürte einen Schuh im Rücken. Die Borsten einer alten Haarbürste stachen mir in den linken Fuß, und überall war Staub. Er schob meinen Rock hoch und drang in mich ein, dort auf dem schmutzigen Boden.
Keiner sagte ein Wort.
Hinterher rollte er von mir herunter und blieb neben mir auf dem Rücken liegen, die Hände im Nacken verschränkt.
Etwa zehn Minuten lagen wir einfach nur so da, Seite an Seite, schweigend, den Blick an die Decke gerichtet.
Als Lynne zurückkam, hing Cameron ganz geschäftsmäßig an der Strippe, und ich las eine Zeitschrift.
Wir verabschiedeten uns sehr formell, aber dann murmelte er plötzlich an Lynne gewandt, er habe etwas zu überprüfen vergessen, und folgte mir mit seiner Akte unter dem Arm in mein Schlafzimmer. Dort schob er mich rückwärts aufs Bett, küsste mich noch einmal, presste den Kopf an meinen Hals, damit Lynne sein Stöhnen nicht hörte, und versprach mir, sobald wie möglich wiederzukommen.
Den Rest des Abends lag ich auf meinem Bett und tat, als würde ich lesen. Mein ganzer Körper prickelte. Ich blätterte nicht ein einziges Mal um, und ich las kein einziges Wort.
7. KAPITEL
ie geht’s weiter?«, fragte ich Lynne beim Frühstück.
W Ich halte mich für eine Frau mit relativ viel Phantasie, aber diese Sache ging über mein Vorstellungsvermögen. Ich hatte am Vortag mit einem Mann geschlafen, den ich kaum kannte. Jetzt saß ich nicht mit diesem Mann beim Frühstück, sondern mit einer Frau, die ich kaum kannte.
Ich war an diesem Morgen aus einem turbulenten Traum erwacht, den ich sofort wieder vergaß. Stattdessen fielen mir die Ereignisse der beiden vorhergehenden Tage wieder ein. Das alles erschien mir so unglaublich, wie ein grausames Zerrbild der Realität, aber als ich einen Blick aus dem Fenster warf, sah ich draußen Lynne in ihrem Wagen sitzen und stumpfsinnig vor sich hin starren. Was für ein Job! Verglichen damit stellte mein eigenes Leben ja fast eine intellektuelle Herausforderung dar. Nachdem ich zirka zwei Minuten darauf verwandt hatte, mich zu waschen, mir die Zähne zu putzen, die Haare zu bürsten und mich anzuziehen, ging ich nach draußen und klopfte an Lynnes Wagenfenster. Sie zuckte erschrocken zusammen. Eine tolle Leibwächterin!
Ich teilte ihr mit, dass ich uns etwas zum Frühstück holen wollte, und sie bestand darauf, mich zu begleiten.
Wir gingen in die Bäckerei und kauften ein paar Croissants, von denen sie die Hälfte bezahlte. Ich spielte mit dem Gedanken, sie alle bezahlen zu lassen, weil ich normalerweise nicht frühstücke, es sei denn, es gibt einen ganz besonderen Anlass.
Als wir vom Einkaufen zurück waren, kochte ich Kaffee.
Im Kühlschrank fand sich sogar noch ein Glas mit Resten von Erdbeermarmelade. Nachdem wir uns am Tisch niedergelassen hatten, fragte ich sie, wie es denn nun weitergehe.
»Wir kümmern uns um Ihre Sicherheit«, antwortete sie, als hätte sie den Satz auswendig gelernt.
Ich biss ein großes Stück von meinem Croissant ab und spülte es mit einem Schluck Kaffee hinunter. Wenn ich meine Regel, nicht zu frühstücken, erst mal gebrochen habe, stelle ich sicher, dass ich sie richtig breche. Ich ließ mir ziemlich viel Zeit, ehe ich weitersprach – nicht zum Nachdenken, sondern zum Essen. Ich war wie eine Python, die ein Reh verschlang. Schließlich hatte ich es geschafft. »Trotzdem«, fuhr ich fort. »Haben Sie nicht auch das Gefühl, dass das Ganze eine alberne Überreaktion ist?«
»Es geschieht nur zu Ihrem Besten.«
»Ein Typ hat mir einen Brief geschrieben. Wollen Sie mich deswegen bis an mein Lebensende beschützen?«
»Unser Ziel ist es, den Kerl zu schnappen, der diese Briefe verschickt.«
»Was, wenn euch das nicht gelingt? Ihr könnt nicht ewig so weitermachen.«
»Darüber werden wir reden, wenn es an der Zeit ist.«
Angesichts von so viel Blödsinn erschien es mir idiotisch, weiter über dieses Thema zu sprechen.
»Für mich ist das Ganze ziemlich peinlich«, erklärte ich abschließend. »Mein Leben ist auch so schon lächerlich genug. Bestimmt sind Sie ein großartiger Mensch, Lynne, und ich möchte Sie auch nicht kritisieren, aber der Gedanke, bei allem, was ich tue, von einer Polizistin angestarrt zu werden, baut mich nicht gerade auf.«
»Darüber reden wir noch«, antwortete Lynne mit ernster Miene, als hätte ich damit einen wichtigen Aspekt polizeilicher Vorgehensweise angesprochen. In dem Moment wurden wir von der Türklingel unterbrochen. Ich stand auf, um zu öffnen. Es war Cameron.
»Guten Morgen, Miss Blake«, sagte er, nachdem er Lynne über meine Schulter hinweg zugenickt hatte.
»Oh, sagen Sie doch bitte Nadia zu mir, Detective«, antwortete ich. »Wir sind hier nicht so formell.«
»Nadia«, murmelte er schwach, »ich bin vorbeigekommen, um Lynne für zwei Stunden abzulösen.«
»Schön.« Ich bemühte mich, locker und fröhlich zu klingen.
»Und um mit Ihnen den Ablauf des Tages zu besprechen«, fuhr er fort. »Ich weiß nicht, ob Sie für heute irgendwelche Pläne haben.«
»Ja«, sagte ich. »Um halb fünf müssen Zach und ich zu einer Kinderfeier nach Muswell Hill. Am Wochenende haben wir zwei weitere Termine. Vielleicht auch mehr, falls noch jemand anruft.«
»Kein Problem. Lynne kann Sie begleiten.«
»Da werden die Leute aber nicht begeistert sein«, wandte ich ein.
»Ich werde draußen warten«, erklärte Lynne. »Aber ich fahre Sie hin.«
»Ein Privatchauffeur. Das wird ja immer besser!«
Lynne hatte noch eine halbe Tasse Kaffee und ein halbes Croissant vor sich.
»Es besteht kein Grund zur Eile«, erklärte Cameron unnötigerweise.
Wie sich herausstellte, hatte Lynne es tatsächlich nicht eilig. Langsam trank sie ihren Kaffee und zupfte nur hin und wieder ein kleines Stück von ihrem Croissant. Sie war gerade im Begriff, sich eine Wohnung zu kaufen, und erkundigte sich nach meinen Erfahrungen. Hatte ich erst meine vorherige Wohnung verkaufen müssen, ehe ich mir die neue zulegte? Es war eine lange Geschichte, und je kürzer ich mich zu fassen versuchte, desto länger wurde sie. In der Zwischenzeit inspizierte Cameron den Raum auf eine Weise, die wohl fachmännisch und objektiv wirken sollte, indem er hier einen Gegenstand hochhob und dort eine Schublade aufzog. Ich hatte das Gefühl, dass er immer wieder zu mir herübersah, während er Dinge über mich herausfand, die ich lieber für mich behalten hätte. Endlich hatten Lynne und ich die Wohnungsfrage erschöpfend behandelt. Sie drehte sich zu Cameron um.
»Nadia hat gewisse Bedenken, was unsere Pläne betrifft.«
»Im Grunde weiß ich ja nicht mal, wie diese Pläne aussehen«, stellte ich richtig.
»Ich werde mit ihr darüber sprechen«, meinte Cameron beiläufig und wandte sich ab, ohne weiter auf das Thema einzugehen.
Lynne hielt noch immer ihre Kaffeetasse in der Hand.
Hatte diese Frau denn nicht genug von mir? Hatte sie nichts Besseres zu tun?
»Dann treffen wir uns also gegen eins wieder hier?«, fragte Cameron Lynne.
»Bleibt ihr nicht hier?«, entgegnete sie.
»Auf jeden Fall sind wir um eins wieder da.«
Sie nickte. »Gut. Bis später, Nadia.«
»Bis dann, Lynne.«
Endlich ging sie. Durchs Fenster sah ich ihre Beine die Treppe hinuntersteigen und auf dem Gehsteig verschwinden. Die Luft war rein. Ich drehte mich zu Cameron um. »Wegen gestern …«
Aber er war schon bei mir, riss mich in seine Arme, als hätte er es keine Sekunde länger ausgehalten, berührte mein Gesicht, streichelte mein Haar. Ich schob ihn ein Stück weg und sah ihm in die Augen.
»Ich –«, stammelte ich. »Ich bin nicht …«
»Ich kann nicht …«, murmelte er und küsste mich.
Inzwischen spürte ich seine Hände auf meinem Rücken, unter meinem T-Shirt, wo er nach meinem BH tastete und feststellte, dass ich keinen trug.
»Möchtest du, dass ich aufhöre?«
»Ich weiß nicht. Nein.«
Er nahm mich an der Hand und führte mich ins Schlafzimmer. Es war anders als am Vortag: entspannter, bewusster, langsamer. Ich setzte mich aufs Bett. Er ging zum Fenster und ließ die Jalousie herunter. Nachdem er auch noch die Schlafzimmertür geschlossen hatte, zog er seine Jacke aus und nahm die Krawatte ab. Mir ging durch den Kopf, dass es für mich eine völlig neue Erfahrung war, Sex mit einem Mann zu haben, der erst mal Anzug und Krawatte ablegen musste.
»Ich hab die ganze Zeit an dich gedacht«, sagte er.
»Immer wenn ich die Augen schließe, sehe ich dich vor mir. Was sollen wir nur tun?«
» Zieh dich aus«, erwiderte ich.
»Was?« Er blickte an sich hinunter, so als würde es ihn überraschen, dass er seine Kleider noch anhatte.
Wie in Trance zog er seine Sachen aus und warf sie auf einen Stuhl. Dabei ließ er mich keinen Moment aus den Augen. Ich streckte die Arme nach ihm aus.
»Warte«, sagte er. »Warte. Lass mich. Nadia.«
Voller Lust gab ich mich ihm hin, und hinterher, als es vorbei war und wir ineinander verschlungen dalagen, ließ er mich noch immer nicht aus den Augen, streichelte zärtlich mein Haar und flüsterte meinen Namen, als wäre er eine Art Zauberspruch. Es dauerte eine ganze Weile, bis wir uns voneinander lösten.
»Das war schön«, sagte ich, den Ellbogen auf ein Kissen gestützt.
»Nadia. Nadia.«
»Ich bin total durcheinander.«
Damit hatte ich den Bann gebrochen. Er wich ein wenig zurück, ein Schatten huschte über sein Gesicht, und er biss sich auf die Lippe. »Kann ich ehrlich zu dir sein?«, fragte er.
Plötzlich war mir kalt. »Bitte.«
»Dieser Job ist mein Leben«, erklärte er. »Und das hier
…«
»Du meinst das«, sagte ich und deutete auf das Bett, in dem wir lagen.
Er nickte. »Ich dürfte das nicht. Es ist strikt verboten.«
»Ich werde es niemandem verraten«, beruhigte ich ihn.
»Ist es das, was dir Sorgen bereitet?«
»Nein«, antwortete er mit rauer Stimme.
»Was ist es dann?« Er gab mir keine Antwort.
»Verdammt noch mal, nun rück endlich raus damit!«
»Ich bin verheiratet«, sagte er. »Es tut mir Leid. Es tut mir so Leid!«
Mit diesen Worten begann er zu weinen. Ich lag mit einem nackten, weinenden Detective im Bett. Unsere Beziehung war gerade mal achtzehn Stunden alt, und wir waren schon vom ersten Taumel der Lust zu Tränen und Vorwürfen übergegangen. Kein gutes Gefühl. Wortlos starrte ich ihn an. Ich brachte es nicht über mich, ihn zu streicheln oder mit zärtlichen Worten zu trösten.
Schließlich stieß er einen tiefen Seufzer aus. Offenbar hatte er sich wieder gefangen. »Nadia?«
»Ja?«
»Sag was!«
»Was willst du denn hören?«
»Bist du wütend auf mich?«
»Ach, Cameron«, antwortete ich. »Bloß sauer. Ich nehme an, du fühlst dich von deiner Frau unverstanden?«
»Nein, nein … ich weiß nicht. Ich weiß nur, dass ich dich will. Ich spiele nicht mit dir, Nadia, das schwör ich dir. Ich begehre dich so sehr. Du bedeutest mir so viel, dass ich überhaupt nicht weiß, was ich jetzt tun soll.
Verstehst du das? Wie denkst du darüber? Nadia, sag mir, wie du darüber denkst.«
Ich warf einen Blick auf meinen Wecker, der in Gestalt eines Frosches auf dem Nachttisch thronte. Dann beugte ich mich zu Cameron hinüber und küsste ihn auf die Brust.
»Wie ich darüber denke? Es ist ein Prinzip von mir, nicht mit verheirateten Männern zu schlafen. Ich habe dabei ein schlechtes Gefühl, weil ich immer an die Frau denken muss. Aber das ist wohl in erster Linie dein Problem, nicht meins. Außerdem denke ich, dass Lynne in ungefähr sieben Minuten wieder auf der Matte stehen wird.«
Es war schon fast zum Lachen, mit welcher Geschwindigkeit wir uns ankleideten.
»Vielleicht sollte ich eine andere Hose anziehen«, meinte ich.
»Bloß, um Lynnes detektivische Fähigkeiten zu testen.«
»Nein!« Camerons Miene wirkte leicht panisch.
»War doch nur Spaß.«
Wir küssten uns, und gleichzeitig lächelten wir einander an. Verheiratet. Wieso musste er verheiratet sein?
Das war am Mittwoch. Am Donnerstag hatte er keine Zeit, sodass wir lediglich kurz telefonieren konnten. Da sich Lynne im Raum aufhielt, wurde es ein seltsames Gespräch mit leidenschaftlichen Beteuerungen auf seiner Seite und nichts sagenden Bemerkungen auf meiner: Ja.
Ja. Natürlich. Ja. Das empfinde ich auch so. Ja, gut.
Am Freitag Morgen fiel ein Team von Männern in meine Wohnung ein, um an sämtlichen Türen neue Schlösser anzubringen und alle Fenster mit Eisengittern zu sichern.
Kurz nach Mittag erschien dann Cameron, und Lynne musste weg, um einen Bericht abzuliefern. Wir hatten Zeit für ein Bad.
»Ich würde gern deine Show sehen«, erklärte er. »Dir zusehen, wie du vor den Kindern auftrittst.«
»Dann komm doch morgen mit«, schlug ich vor. »Da sind wir bei einer Gruppe von Fünfjährigen. Hier ganz in der Nähe, in Primrose Hill, bloß ein Stück die Straße rauf.«
»Ich kann nicht«, antwortete er und wandte den Blick ab.
»Oh«, sagte ich in zickigem Ton und hasste mich sofort dafür.
»Familiäre Verpflichtungen.«
»Ich kann mich da nicht abseilen«, sagte er. »Wenn ich könnte, würde ich es.«
»Schon gut.« Genau aus diesem Grund schlief ich sonst nicht mit verheirateten Männern – am Ende blieben nur Scham, Schmerz und Schuldgefühle.
»Bist du jetzt sauer?«
»Überhaupt nicht.«
»Bist du sicher?«
»Wäre es dir lieber, ich wäre es?«
Er nahm meine Hand und presste sie gegen seine Wange. »Ich bin verliebt, Nadia. Ich habe mich in dich verliebt.«
»Sag so was nicht! Das macht mir Angst. Es macht mich zu glücklich.«
Sie glaubt, dass niemand sie sehen kann. Ich sehe sie.
Sehe, wie sie sich küssen. Mein Mädchen und der Polizist küssen sich. Treiben es auf dem Boden. Während er am Fenster steht, um die Jalousie herunterzulassen, sehe ich auf seinem blöden Gesicht den verzückten, dümmlichen Gesichtsausdruck eines verliebten Mannes.
Ich liebe sie mehr als er. Niemand kann sie so lieben, wie ich sie liebe. Sie sehen alle in die falsche Richtung. Sie suchen nach Hass. Liebe: Das ist der Schlüssel.
8. KAPITEL
ünf- und sechsjährige Mädchen sind das beste Publikum
F
. Lieb und voller Bewunderung sitzen sie dekorativ aufgereiht in ihren seidigen, pastellfarbenen Kleidchen da, die Haare zu Zöpfen geflochten, die Füße in Lackschuhen. Wenn ich eines von ihnen bitte, nach vorn zu kommen und mir zu helfen, schiebt es vor Aufregung den Daumen in den Mund und spricht nur im Flüsterton.
Am schlimmsten sind acht- und neunjährige Jungen. Sie machen blöde Bemerkungen, tun lautstark kund, dass sie genau wissen, dass der verschwundene Gegenstand in meiner Tasche steckt, schubsen sich gegenseitig herum und drängen nach vorn, um meinen Zauberkasten zu inspizieren. Sie lachen höhnisch, wenn ich beim Jonglieren einen Ball fallen lasse. Das Puppentheater ist etwas für Memmen, sagen sie. Sie singen ›Happy Birthday‹ mit lauter, spöttischer Stimme und bringen alle Luftballons zum Platzen. Zach und ich haben eine Regel, die wir niemals brechen: keine zweistelligen Geburtstage!
Diese Party war für fünfjährige Jungs und ein paar im Randbereich herumschwirrende Mädchen. Sie fand in einem großen, schönen Haus in Primrose Hill statt, zu dessen Eingangstür eine breite Treppe hinaufführte. Die Diele hatte eher die Ausmaße einer Halle, in der man mehrere Räder schlagen konnte, ehe man die andere Seite des Raums erreichte. Die Küche war so groß wie meine ganze Wohnung, und das riesige, mit einem hellen, flauschigen Teppich ausgelegte Wohnzimmer, in dem die Kinderschar herumtobte, ging auf eine Terrasse hinaus, an die sich ein weitläufiger, gepflegter Garten mit einem Goldfischteich, bogenförmigen Spalieren, sauber getrimmten Buchshecken und schönen weißen Rosen anschloss.
»Mannomann! Ganz schön schnieke!«, flüsterte ich Zach zu.
»Pass bloß auf, dass du nichts zerbrichst!«, flüsterte er zurück.
Das Geburtstagskind war ein kleiner, pummeliger Junge namens Oliver, der vor Aufregung ganz fleckige Wangen hatte. Seine Freunde sausten um ihn herum, während er das Geschenkpapier von seinen Päckchen riss. Seine Mutter, Mrs. Wyndham, war eine sehr große, sehr dünne und offensichtlich sehr reiche Frau, die schon jetzt schrecklich genervt wirkte, obwohl die Party gerade erst anfing. Sie musterte Zach und mich mit skeptischer Miene.
»Es sind vierundzwanzig«, erklärte sie. »Und alle ziemlich wild. Sie wissen ja, wie Jungs sind.«
»Allerdings«, antwortete Zach mit leidender Stimme.
»Kein Problem«, sagte ich. »Wenn die Kinder ein paar Minuten in den Garten hinausgehen, können wir hier drinnen alles vorbereiten.« Ich trat ins Wohnzimmer und klatschte in die Hände. »Jungs, geht doch bitte kurz in den Garten raus. Wenn wir bereit sind für die Show, rufen wir euch herein.«
Die ganze Meute stürmte zur Terrassentür hinaus, gefolgt von Mrs. Wyndham, die ihnen irgendwas wegen ihrer Kamelien hinterherrief.
Das Puppentheater war Zachs und mein Werk.
Stundenlang hatten wir gesägt und genagelt und dann ein großes Stück Leinwand mit blauen Bergen, grünem Wald und einem kleinen Häuschen bemalt. Wir hatten sogar eine unserer Puppen selbst angefertigt, einen Löwen aus Pappmache. Wir brauchten eine Ewigkeit dafür, klecksten fürchterlich herum, und am Ende sah das Ding aus wie ein eingetrockneter Plastilinklumpen mit einer knubbeligen Oberfläche und einem schief aufgemalten Gesicht. Den Rest kauften wir dann in einem Spezialgeschäft. Die paar Stücke, die wir spielen, hat Zach geschrieben. Schließlich ist er der Schriftsteller von uns beiden. Wenn ihn jemand fragt, was er macht, antwortet er in bestimmtem Ton: »Ich schreibe Romane.« Meist fügt er dann nach einer kurzen Pause hinzu, dass er zusätzlich zu seiner Schreiberei noch ein paar andere Jobs hat, beispielsweise als Kinderunterhalter.
Seine Puppenspiele sind kurz und kompliziert, mit zu vielen Stimmen. In dem Stück, das wir an diesem Tag aufführen wollten, spielten ein Junge, ein Mädchen, ein Zauberer, ein Vogel, ein Schmetterling, ein Clown und ein Fuchs eine Rolle. Ich bin hinterher immer schweißgebadet.
Natürlich wusste Zach bereits von dem Brief, der Polizei und den vielen Sicherheitsvorkehrungen. An diesem Tag hatte er Lynne kennen gelernt, als wir ihn mit dem Auto abholten und dann zusammen nach Primrose Hill fuhren.
Er hatte neben ihr auf dem Beifahrersitz gesessen und auf sie eingeredet – über Chaostheorie und die Tatsache, dass die Bevölkerung von Indien demnächst die Billionengrenze überschreiten werde. Sie hatte einen ziemlich benommenen Eindruck gemacht, es aber trotzdem irgendwie geschafft, den Wagen durch den dichten Verkehr zu lenken.
Während wir das Theater zusammenbauten, fragte er mich, ob mir die Sache denn gar keine Angst mache.
»Nein.« Ich war gerade damit beschäftigt, die Vorhänge an der Miniaturbühne zu befestigen, und zögerte einen Moment. Aber ich musste es jemandem sagen. »Wenn ich ehrlich sein soll, finde ich das Ganze eher aufregend.«
»Das klingt ein bisschen pervers.«
»Weißt du, Zach … kannst du ein Geheimnis für dich behalten?« Ich wartete seine Antwort nicht ab. Ich wusste, dass er es nicht konnte. Er ist dafür bekannt, dass er alles weitererzählt.
»Ich habe was mit einem der Polizeibeamten.«
»Wie bitte?«
»Ich weiß, es ist ein bisschen seltsam, aber –«
»Nadia.« Er packte mich an den Schultern. »Bist du wahnsinnig? Das kannst du doch nicht machen!«
»Ach, kann ich nicht?«
Zach ließ mich los und fuchtelte wild mit den Händen durch die Luft, als könnte er durch Worte allein nicht ausdrücken, wie unmöglich ich mich benahm. »Das tut man einfach nicht! Es ist nicht richtig! Genauso gut könntest du eine Affäre mit deinem Arzt haben. Ist dir denn nicht klar, dass der Typ dich ausnutzt?
Du bist im Moment besonders verletzbar, und das ist sein Vorteil. Hör zu, ich bin sicher, dass du das Ganze als etwas Schönes, Reines und Wichtiges betrachtest, aber du hast dich doch gerade erst von Max getrennt, und jetzt hüpfst du mit jemandem ins Bett, der dich eigentlich beschützen sollte.«
»Halt den Mund, Zach!«
»Stichwort Vaterfigur. Du musst damit aufhören, Nadia!«
»Er ist verheiratet«, fügte ich kläglich hinzu.
Zach schnaubte verächtlich. »Hast du was anderes erwartet?«
»Er ist attraktiv. Ich meine, ich hätte nie gedacht …« Mit einem Schaudern musste ich daran denken, wie er an diesem Morgen, also erst wenige Stunden zuvor, gekommen war, um Lynne für eine Weile abzulösen, und wir uns im Bad geliebt hatten. An die geflieste Wand gelehnt, hatten wir uns voller Leidenschaft die Kleider vom Leib gerissen.
»Nadia!«, sagte Zach in drängendem Ton. »O verdammt, da sind sie schon!«
Die Jungs waren aus dem Garten zurückgekehrt.
Nach dem Puppenspiel brachte ich Oliver dazu, mir bei meinem kläglichen Zaubertrick zu helfen. Jedes Mal, wenn er meinen Zauberstab berührte, fiel das Ding in sich zusammen, und alle Kinder schrien so laut
»Abrakadabra!«, dass Mrs. Wyndham, die in der Tür stand und zusah, vor Schreck zusammenzuckte. Dann bat ich die Kinder, mir ausgefallene Gegenstände zum Jonglieren zu geben. Ein boshafter Junge namens Carver überreichte mir eine Käsereibe, die er in der Küche gefunden hatte, aber da ich davon ausging, dass Mrs. W. kein Blut auf dem Teppich haben wollte, entschied ich mich für eine Melone, einen Serviettenring und einen Trommelschlegel. Zum Glück ließ ich nichts davon fallen. Im Anschluss an meine Jongliernummer blies Zach lange Luftballons auf und drehte daraus verschiedene Tierformen. Dann stürmten die Kinder in die Küche, wo neben Würstchen und marmeladegefüllten Keksen ein großer, wie ein Zug geformter Geburtstagskuchen auf sie wartete. Damit war die Sache für uns gelaufen. Da Zach bereits nach seiner Zigarette lechzte, schob ich ihn nach draußen auf die Terrasse.
»Macht es dir wirklich nichts aus?«, fragte er, »das Zeug allein aufzuräumen?«
»Nein, raus mit dir!«
»Vergiss nicht, was ich gesagt habe, Nadia.«
»Ja, ja. Jetzt mach endlich die Fliege, Partner.«
»Du hast nicht vor, die Sache zu beenden, oder?«
Ich schloss für einen Moment die Augen. Es war, als könnte ich noch immer Camerons Mund an meinem Hals spüren.
»Ich weiß nicht. Ich kann es noch nicht sagen.«
Eltern und Kindermädchen begannen einzutrudeln – den Unterschied zwischen ihnen kann ich sogar aus kilometerweiter Entfernung erkennen. Ich nahm das Theater auseinander und begann es in der Kiste zu verstauen. Eine hübsche junge Frau kam mit einer Tasse Tee auf mich zu.
»Mrs.
Wyndham hat mich gebeten, Ihnen das zu bringen.« Sie hatte silberblondes Haar und einen lustigen Singsangakzent.
Dankbar nahm ich die Tasse entgegen.
»Sind Sie Olivers Kindermädchen?«
»Nein, ich bin gekommen, um Chris abzuholen. Er wohnt nur ein paar Häuser weiter die Straße entlang.« Sie griff nach einer unserer Handpuppen und inspizierte sie.
»Was Sie da machen, ist bestimmt ein harter Job.«
»Nicht so hart wie Ihrer. Haben Sie bloß den einen Jungen?«
»Es gibt noch zwei ältere Brüder, aber Josh und Harry sind im Internat. Gehört die Puppe auch in diese Tasche?«
»Danke.« Ich nahm einen Schluck von meinem Tee und fuhr dann mit dem Einpacken fort. Was das betraf, war ich mittlerweile eine richtige Künstlerin. Das Mädchen blieb stehen und sah mir zu. »Wo kommen Sie her?«, fragte ich sie. »Ihr Englisch ist phantastisch.«
»Aus Schweden. Eigentlich sollte ich schon wieder zu Hause sein, aber es ist was dazwischengekommen.«
»Oh«, antwortete ich vage. Wo war mein Zauberstab abgeblieben? Bestimmt hatte Oliver ihn mitgenommen, um herauszufinden, wie er sich in seine Einzelteile zerlegen ließ. »Vielen Dank für den Tee, ähm …«
»Lena.«
»Lena.«
Sie verschwand wieder in die Küche, wo sich wahrscheinlich sämtliche Kindermädchen versammelt hatten und über Männer und das Nachtleben sprachen, während sich ihre Schützlinge Teile des Schokoladenzugs in den Mund stopften. Die ersten Partygäste brachen bereits auf. »Hast du dich bedankt?«, hörte ich. Dann:
»Wo ist meine Partytüte?« und: »Harvey hat eine blaue!
Ich will auch eine blaue!«
Ich sammelte meine Sachen zusammen. Gott sei Dank stand Lynne mit dem Wagen draußen. Es hatte durchaus Vorteile, von einer ständig errötenden, eigensinnigen Polizistin begleitet zu werden. In der Eingangshalle stieß ich mit einem kleinen, blonden Jungen zusammen. Er hatte violette Augenringe und einen
schokoladenverschmierten Mund.
»Hallo!«, sagte ich fröhlich. Ich war fest entschlossen, einen schnellen Abgang zu machen.
»Meine Mummy ist tot«, erklärte er und fixierte mich mit seinen hellen Augen.
»Oh.« Ich blickte mich um. Wahrscheinlich stand die Mutter bei den anderen in der Küche.
»Ja. Mummy ist gestorben. Daddy sagt, sie ist im Himmel.«
»Wirklich?«
»Nein«, antwortete er und leckte kurz an seinem Lutscher.
»Ich glaube nicht, dass sie so weit weg ist.«
»Na ja, weißt du …«
»Ein Mann hat sie umgebracht.«
»Jetzt schwindelst du, oder?«
»Nein, es ist echt passiert!«, widersprach er in bestimmtem Ton.
Lena erschien mit seiner Jacke. »Komm, Chris, ab nach Hause!«, sagte sie.
Er nahm ihre Hand.
»Aber vorher möchte ich meine Partytüte haben!«
»Er behauptet, seine Mutter sei umgebracht worden«, wandte ich mich an sie.
»Ja.« Mehr sagte sie dazu nicht.
»Was? Wirklich?«
Ich stellte die Kiste ab und beugte mich zu Chris hinunter.
»Das tut mir sehr, sehr Leid«, erklärte ich unbeholfen.
Ich wusste nicht, was ich sonst noch sagen sollte.
»Kann ich jetzt meine Partytüte haben?« Ungeduldig zerrte er an Lenas Hand.
»Wann ist das passiert?«, fragte ich sie.
»Vor zwei Wochen. Eine schreckliche Sache.«
»Lieber Himmel!« Ich starrte sie fasziniert an. Niemand aus meinem Bekanntenkreis hatte je mit einem Menschen zu tun gehabt, der ermordet worden war. »Was ist passiert?«
»Das weiß niemand so ganz genau.« Sie schüttelte den Kopf.
»Es ist im Haus geschehen.«
Ich starrte sie mit offenem Mund an.
»Wie schrecklich! Wie schrecklich für die ganze Familie!«
Mrs. Wyndham erschien mit einer Partytüte für Chris.
Sie sah dreimal so groß aus wie die, die alle anderen bekommen hatten.
»Hier, mein Liebling!«, sagte sie und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. »Wenn es irgendetwas gibt, das ich für dich tun kann …« Sie seufzte, als würde ihr allein schon sein Anblick Schmerz bereiten. Dann wandte sie sich an mich. »Ich bringe Ihnen Ihr Geld, Miss Blake. Es dauert nur einen Moment, ich habe schon alles vorbereitet.«
»In meiner Tüte sind zwei Päckchen Bonbons! Thomas hat nur eins!«, rief Chris triumphierend. »Und ich habe einen Gummiball!«
»Hier ist das Geld, Miss Blake.«
Ihrer Stimme nach zu urteilen, würde sie uns wohl kein zweites Mal einladen.
»Danke.« Erneut schulterte ich meine Ausrüstung.
»Viel Glück«, sagte ich zu der jungen Schwedin.
»Danke.«
Gerade wollte ich mich zum Gehen wenden, als mir einfiel, dass Zach gesagt hatte, er werde hinterher mit der U-Bahn nach Hause fahren. Ich musste mich noch von ihm verabschieden. Also blieb ich neben Lena stehen.
»War es ein Einbrecher?«, fragte ich sie.
»Nein.«
»Er hat Briefe geschrieben«, fügte Chris eifrig hinzu.
»Was?«
Lena nickte seufzend. »Ja«, sagte sie. »Schreckliche Briefe, in denen er angekündigt hat, dass er sie umbringen würde. Sie klangen fast wie Liebesbriefe.«
»Wie Liebesbriefe«, wiederholte ich benommen.
»Ja.« Sie hob den kleinen Jungen hoch. Er schlang die Beine um ihre Taille. »Komm, Chris.«
»Warten Sie! Nur einen Moment! Hat sie denn nicht die Polizei verständigt?«
»O doch. Das ganze Haus war voller Polizisten.«
»Und er hat sie trotzdem getötet?« Mir war plötzlich sehr kalt.
»Ja.«
»Wie haben sie geheißen?«
»Wie bitte?«
»Die Polizisten. Wie waren ihre Namen?«
»Warum wollen Sie das wissen?«
»Können Sie sich an ihre Namen erinnern?«
»Erinnern? Ich sehe sie jeden Tag. Einer heißt Links, ein anderer Stadler. Außerdem ist da noch eine Psychologin, Dr. Schilling. Warum wollen Sie das wissen?«
»Ach, nicht weiter wichtig.« Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Ich dachte, ich kenne sie vielleicht.«
9. KAPITEL
eht es Ihnen nicht gut, Nadia?«
G »Was?«
Erschrocken blickte ich mich um. Einen Moment lang wusste ich nicht so recht, wo ich war. Ich saß neben Lynne im Wagen. Sie beugte sich gerade mit besorgtem Gesichtsausdruck zu mir herüber.
»Sie sind blass«, stellte sie fest.
»Ich habe schreckliche Kopfschmerzen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir eine Weile nicht reden?«
»Soll ich Ihnen Tabletten besorgen?«
Ich schüttelte den Kopf und lehnte mich mit geschlossenen Augen zurück. Ich wollte sie nicht sehen.
Wenn ich erst mal zu reden anfing, konnte ich für nichts garantieren. Lynne startete den Wagen und fuhr los. Ich hatte das Gefühl, als müsste ich meinen Kopf mit beiden Händen festhalten, um zu verhindern, dass er auseinander brach. Plötzlich fiel mir ein, dass ich mich nun doch nicht mehr von Zach verabschiedet hatte.
Ich war in eine neue Welt gestoßen worden, eine schreckliche, dunkle Welt, und ich musste erst einmal herausfinden, wo ich stand, aber vorher musste ich warten, bis sich das Tosen in meinem Kopf gelegt hatte. Vor allem aber musste ich mich während der kurzen Heimfahrt darauf konzentrieren, nicht in Lynnes schönen neuen Dienstwagen zu kotzen. Ich dachte an den Moment, wenn man sich kochendes Wasser über die Hand schüttet. Man spürt keinen Schmerz, aber man weiß, dass er eine Sekunde später durch Hand und Arm schießen wird. Mir war klar, dass ich erst einmal zur Ruhe kommen und richtig realisieren müsste, was ich da eben gehört hatte. Im Augenblick war da nur eine Stimme, die mir aus weiter Ferne, aus den Tiefen meines Kopfes zu kommen schien und immer wieder sagte, dass noch eine Frau solche Briefe erhalten hatte wie ich und dass sie tot war, ermordet. Eine andere Frau hatte durchgemacht, was ich durchmachte, und am Ende war sie getötet worden. Und das erst vor ein paar Wochen. Als ich das letzte Mal mit Max gestritten hatte, war sie noch am Leben gewesen. Sie hatte sich wegen der Drohbriefe Sorgen gemacht und sich gefragt, wann das Ganze ein Ende haben würde, und jetzt gab es drei Kinder, die keine Mutter mehr besaßen.
Der Wagen kam zum Stehen. Ich atmete tief durch.
»Wir sind zu Hause«, sagte eine Stimme. »Kann ich irgendwas für Sie tun?«
»Ich glaube, ich werde mich eine Weile hinlegen.«
»Ist es Ihnen lieber, wenn ich draußen im Wagen bleibe?«
Mit einem Schlag war mein Kopf wieder klar. Von jetzt an würde ich nur so tun, als wäre ich krank.
»Nein, nein, auf keinen Fall. Ich möchte, dass Sie mit hineinkommen.«
»Sind Sie sicher?«
»Ich werde allerdings keine sehr gute Gesellschaft sein.
Ich glaube, ich habe Migräne.«
»Müssen Sie was einnehmen?«
»Es reicht, wenn ich mich ein bisschen in einen verdunkelten Raum lege.«
Wir gingen ins Haus, und ich zog mich in mein Schlafzimmer zurück. Nachdem ich die Tür hinter mir zugemacht hatte, überprüfte ich, ob das Fenster fest geschlossen war, und ließ die Jalousie herunter. Wie Cameron. Genau wie der verdammte Detective Inspector Cameron Stadler. Dann legte ich mich aufs Bett und drückte das Gesicht ins Kissen. Ich fühlte mich wie ein kleines Mädchen. Am liebsten wäre ich unter die Bettdecke gekrochen und hätte sie mir über den Kopf gezogen, um sicher zu sein, dass mich niemand finden würde. Aber ich war nicht sicher. Er konnte mich finden, und ich hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, meine Umgebung genau in Augenschein zu nehmen. Ich drehte mich um und schob mir das Kissen in den Nacken. Aus dieser Position konnte ich jeden Winkel des Zimmers sehen. Aber was nützte mir das? Vielleicht war es besser, nichts zu sehen und sich einfach umbringen zu lassen.
Ich versuchte, mir das Gespräch mit Lena noch einmal in Erinnerung zu rufen. Ich hatte Schwierigkeiten, es zu rekapitulieren. Ein paar Minuten lang versuchte ich mir eine optimistische Version davon zurechtzulegen.
Vielleicht war das Kindermädchen ja verrückt. Aber diese Erklärung fand ich selbst nicht sehr überzeugend.
Schließlich hatte sie Links, Grace Schilling und Cameron genannt. Hatte sie nicht gesagt, dass sie ganz in der Nähe wohnte? Das war immerhin ein Anhaltspunkt.
Jeden Freitag wird mir ein kostenloses Lokalblatt zugestellt, in das ich nicht mal einen Blick werfe. Ich interessiere mich nicht für neue Einbahnstraßen oder Leserbriefe aus meinem Stadtteil, sodass die Zeitung immer gleich in einen Schrank unter der Spüle wandert.
Hin und wieder missbrauche ich ein Exemplar für andere Zwecke, beispielsweise indem ich es zusammenknülle und in feuchte Schuhe stopfe. Da meine Schuhe schon eine ganze Weile nicht mehr feucht geworden waren, würden die Ausgaben der letzten Monate dort alle noch gestapelt sein. Ich verließ das Schlafzimmer und sagte Lynne, dass es mir schon ein wenig besser gehe und ich für uns beide Tee machen wolle. Ich füllte den Wasserkocher und schaltete ihn an. Das würde mir die Zeit verschaffen, die ich brauchte.
Ich ging fünf Ausgaben zurück. Die ersten beiden enthielten lediglich einen Bericht über eine Drogenrazzia und einen Brand in einer Lagerhalle, außerdem jede Menge Werbung. In der nächsten Ausgabe, die nur knapp zwei Wochen alt war, wurde ich dann fündig. Es war nur ein kleiner Artikel im Mittelteil der Zeitung. Meine Hände begannen so sehr zu zittern, dass ich befürchtete, das Geraschle würde Lynnes Aufmerksamkeit erregen.
Die Schlagzeile lautete: »Mord in Primrose Hill«. Rasch riss ich die Seite heraus. Der Wasserkocher hatte sich soeben abgeschaltet. Ich übergoss die Teebeutel.
»Einen Keks, Lynne?«
»Für mich nicht, danke.«
Ein paar Minuten hatte ich noch Zeit. Ich strich den Artikel auf der Arbeitsfläche glatt: Letzte Woche wurde eine Mutter von drei Kindern in ihrem 800000-Pfund-Haus in Primrose Hill ermordet.
Laut Polizeibericht wurde Jennifer Hintlesham, 38, am 3.
August tot aufgefunden. Die Polizei vermutet, dass sie am Spätnachmittag einen Einbrecher überrascht hat. »Eine Tragödie«, erklärte Detective Chief Inspector Stuart Links, der die Ermittlungen leitet. »Falls jemand Informationen hat, möchte ich die Betreffenden dringend bitten, sich mit dem Polizeirevier Stretton Green in Verbindung zu setzen.«
Das war’s. Ich las den kurzen Abschnitt immer wieder, als könnte ich ihm durch meine bloße Verzweiflung weitere Informationen entlocken. Von Briefen war nicht die Rede.
Wieder versuchte ich mir eine Version zusammenzuschustern, in der das Kindermädchen und ich aneinander vorbeigeredet hatten, aber dann drängte sich mir die Wahrheit mit einer Unerbittlichkeit auf, die ich fast schmecken konnte – trocken und metallisch. Lena war mit dieser Information freiwillig herausgerückt, ich hatte ihr nichts erzählt. Die Polizeibeamten waren auch dieselben.
Ich griff nach den beiden Teetassen, aber meine linke Hand zitterte so heftig, dass ich mir einen Teil des kochend heißen Tees über das Handgelenk schüttete. Ich musste die Tasse abstellen und Wasser nachgießen. Dann brachte ich Lynne den Tee und ging ein zweites Mal, um meine eigene Tasse und ein Stück Shortbread zu holen.
Anschließend setzte ich mich neben Lynne und sah sie an.
War sie als Leibwächterin abgestellt worden, weil sie die andere Frau nicht gekannt oder gerade weil sie sie gekannt hatte? Hatte sie genauso bei Jennifer Hintlesham gesessen, mit ihr Tee getrunken und so getan, als wäre sie ihre Freundin? Hatte sie zu ihr auch gesagt, dass alles wieder in Ordnung kommen würde und dass sie in Sicherheit sei?
Ich nahm einen Schluck Tee. Er war so heiß, dass ich mir die Zunge verbrannte und einen Hustenanfall bekam. Als ich mich wieder gefangen hatte, tauchte ich den Keks in die Flüssigkeit und biss den warmen, weichen Rand ab.
Dann versuchte ich so zu tun, als würde ich Smalltalk machen.
»Irgendwie kommt es mir immer noch komisch vor«, begann ich. »Ich kriege einen Brief, und plötzlich werde ich Tag und Nacht von einer Polizistin bewacht. Handhabt ihr das immer so, wenn jemand einen Drohbrief erhält?«
Lynne schien sich in ihrer Haut nicht besonders wohl zu fühlen. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass mir ihre unerschütterliche Miene mittlerweile wie eine Maske erschien.
»Für mich ist das reine Routine«, erklärte sie. »Ich befolge nur meine Anweisungen.«
»Und wenn jemand ins Haus käme, um mich zu überfallen, dann würden Sie mich beschützen?«, fragte ich mit einem Lächeln. »So ist es doch gedacht, oder?«
»Das wird nicht passieren«, antwortete sie. Einen Moment lang hasste ich Lynne, wie ich noch nie im Leben jemanden gehasst hatte. Am liebsten hätte ich mich auf sie gestürzt und ihr mit den Fingernägeln das Gesicht zerkratzt. Wessen Gefühle versuchte sie hier zu schützen?
Aber mein Hass schwächte sich rasch ab und wurde zu einem dumpfen Schmerz in der Magengegend. Ich trank den heißen Tee aus, so schnell ich konnte. Ich brauchte Zeit, um über alles noch mal in Ruhe nachzudenken. Das Telefon klingelte. Es war Zach. Ich erklärte ihm, dass ich Migräne hätte.
»Migräne?«, fragte er. »Woher weißt du, dass es Migräne ist?«
»Weil es sich so anfühlt. Ich muss mich hinlegen.«
Was ich anschließend auch sofort tat. Dann versuchte ich, mir all die Ereignisse der letzten Tage ins Gedächtnis zu rufen. Es war, als würde ich durch ein Haus wandern, in dem meine Erinnerungen wie Gegenstände herumstanden. Ich griff nach einem Stück, untersuchte es eingehend und musste feststellen, dass es plötzlich ganz anders aussah als zuvor. In erster Linie dachte ich an Cameron. Cameron, wie er in der Ecke saß und mich mit einem fast schon gierigen Blick musterte, Cameron, wie er mich auszog, als wäre ich ein schönes, wertvolles, sehr zerbrechliches Objekt. Cameron, wie er mich unendlich sanft und zärtlich streichelte. Cameron, wie er den Kopf zwischen meinen Brüsten vergrub. Was hatte er gesagt?
»Ich muss ehrlich zu dir sein.«
Das waren seine Worte gewesen. Ehrlich.
Am Abend machte ich mit Lynne einen kleinen Spaziergang, und wir kauften uns Fish and Chips. Ich pickte ein bisschen daran herum, trank eine Flasche Bier und sagte kaum ein Wort. Lynne warf mir immer wieder fragende Blicke zu. Ob sie wohl ahnte, dass ich Verdacht geschöpft hatte? Wieder zu Hause, verschwand ich gleich ins Bett, obwohl es noch nicht mal dunkel war. Ich lag einfach da und lauschte den Geräuschen der Straße, der Samstagnacht in Camden Town. Meine Gedanken rasten, und je mehr ich nachdachte, desto größer wurde meine Angst. Sie kroch in mir hoch wie die Feuchtigkeit in den Wänden eines Hauses. Als ich schließlich einschlief, quälten mich Träume.
Morgens beim Aufwachen konnte ich mich an ihren Inhalt nicht mehr erinnern. Das ist immer so bei mir, aber diesmal war ich froh darüber, als wüsste ein Teil von mir sehr genau, was ich geträumt hatte, und wollte es so schnell wie möglich wieder vergessen. Das Telefon klingelte. Ich kroch aus dem Bett und ging ran. Es war Cameron. »Ich hatte gerade einen Moment Zeit«, sagte er leise. »Du fehlst mir so.«
»Gut«, antwortete ich.
»Ich muss dich unbedingt sehen«, flüsterte er. »Ich kann nicht mehr ohne dich sein. Ich habe es so eingerichtet, dass ich am Spätnachmittag hier wegkomme. Ist es dir recht, wenn ich gegen vier bei dir bin?«
»O ja«, antwortete ich.
* * *
Ich war den ganzen Tag wie benebelt. Ein paar Stunden lang lief ich mit Lynne auf dem Markt von Camden Lock herum, aber nur, weil ich auf diese Weise nicht so viel mit ihr reden musste, zumindest nicht über wichtige Themen.
Ich hatte einfach keine Lust, mir weitere Lügen anzuhören. Um Punkt vier stand Cameron vor der Tür. Er trug Jeans und darüber ein lässiges blaues Hemd.
Unrasiert und leicht zerknittert, erschien er mir attraktiver denn je, weniger zugeknöpft. Er erklärte Lynne, dass er gekommen sei, um sie für zwei Stunden abzulösen und mit mir ein paar Dinge zu besprechen, die den Ablauf der nächsten Woche beträfen. Wie immer hatte Lynne es nicht eilig wegzukommen. Ob sie vermutete, dass zwischen uns etwas lief? Wunder wäre es keins gewesen. Diesmal aber fand ich das Warten nahezu unerträglich. Ich hatte das Gefühl, mich kaum mehr beherrschen zu können, als würde ich jeden Moment platzen. Endlich ging sie.
Cameron schloss sanft die Tür hinter ihr und drehte sich zu mir um.
»O Nadia!«, stieß er hervor.
Langsam ging ich auf ihn zu. Seit unserem kurzen Telefonat am Morgen hatte ich mich auf diesen Moment vorbereitet. Er streckte die Arme nach mir aus. Ich ballte die Faust, so fest ich konnte. Als ich nur noch einen Schritt von ihm entfernt war, schlug ich ihm mit aller Kraft ins Gesicht.
10. KAPITEL
r hob die Hände. Wollte er mich bloß abwehren, oder hatte er vor zurückzuschlagen
E
? Ich reckte das Kinn
vor und sah ihn herausfordernd an, aber er ließ die Hände sinken und trat einen Schritt zurück.
»Was zum Teufel soll das?« Er sagte das nicht laut, aber in eisigem Ton. Sein Blick war kalt. Plötzlich wirkte sein sonst so attraktives Gesicht dumm und bösartig. Voller Genugtuung stellte ich fest, dass ihm an der Nase, wo ich ihn mit dem Ring getroffen hatte, ein wenig Blut hinunterlief.
»Ich weiß es, Detective Inspector Stadler.«
»Was?«
»Ich weiß alles.«
»Wovon redest du überhaupt?«
»Hat es dich angemacht?«
»Was?«, fragte er wieder. »Was?« Er wischte sich das Blut von der Nase und sah sich seine Finger an.
»Es hat dich tatsächlich angemacht, stimmt’s? Was für eine erregende Vorstellung, eine Frau zu ficken, die bald sterben wird!«
»Du bist ja total hysterisch!«, sagte er verächtlich.
Ich rammte ihm einen Zeigefinger in die Brust. »Jennifer Hintlesham. Kommt dir der Name irgendwie bekannt vor?«
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, allmählich schien es ihm zu dämmern. »Nadia«, sagte er. Er trat einen Schritt auf mich zu und streckte die Hand aus, als wäre ich ein wildes Tier, das es zu besänftigen galt. »Nadia, bitte!«
»Bleib, wo du bist, du – du –« Mir fiel kein Wort ein, das gemein genug gewesen wäre. »Was hast du dir dabei gedacht? Wie konntest du mir das antun? Hast du dir dabei meinen toten Körper vorgestellt?«
Seine Miene wirkte mit einem Mal verschlossen. »Wir haben dir doch gesagt, dass wir die Drohungen ernst nehmen«, antwortete er mit ausdrucksloser Stimme.
»Du verdammter Heuchler!« Ich gab ihm eine Ohrfeige.
Am liebsten hätte ich ihn richtig verletzt, verstümmelt, am Boden zermalmt. »Ich glaub’s einfach nicht«, sagte ich.
»Nicht zu fassen, dass ich mit dir ins Bett gegangen bin.«
Ich sah ihn voller Abscheu an. »Mit einem verheirateten Mann, den es anmacht, mit einer Frau Sex zu haben, die er eigentlich beschützen sollte.«
»Wir beschützen dich ja.«
Zu meinem eigenen Entsetzen brach ich in Tränen aus.
»Nadia!« Obwohl er sehr leise sprach, schwang in seiner Stimme eine Spur von Triumph mit. »Nadia, Liebling, es tut mir so Leid! Es hat mir total widerstrebt, dir das zu verschweigen.«
Ich spürte seine Hand auf meinem Arm und zuckte zurück.
»Rühr mich nicht an!«, schrie ich und starrte ihn durch einen Schleier aus Tränen an. »Ich heule doch nicht deinetwegen! Kapierst du denn nicht, dass ich Angst habe? Ich habe vor lauter Angst das Gefühl, als würde in meiner Brust ein riesiges Loch klaffen!«
»Nadia …«
»Halt den Mund!« Ich zog ein Taschentuch heraus und putzte mir die Nase. Dann warf ich einen Blick auf meine Uhr. »In einer Stunde kommt Lynne zurück. Vorher musst du mir ein paar Fragen beantworten. Aber jetzt wasche ich mir erst mal das Gesicht.«
»Warte!«, sagte er. »Ich verspreche dir, dass ich dich nicht anfassen werde, aber du musst wissen, dass das, was zwischen uns passiert ist, für mich … ich meine, es war …
ich möchte nicht, dass jemand …« Er hielt inne und sah mich mit einem Gesichtsausdruck an, der zugleich unterwürfig und ärgerlich wirkte. Jetzt hatte er Angst vor mir.
Im Bad wusch ich mir die Hände und das Gesicht. Ich stellte fest, dass ich einen widerlichen Geschmack im Mund hatte, und putzte mir auch noch die Zähne. Dann betrachtete ich mich im Spiegel. Ich sah nicht anders aus als sonst. Wie war das möglich? Ich lächelte, und mein Spiegelbild lächelte fröhlich zurück.
Mein Hass brannte nicht mehr so heiß wie noch vor ein paar Minuten. Ich fühlte mich zwar immer noch scheußlich, war aber schon viel ruhiger und gelassener.
Auch Cameron wirkte nicht mehr so aufgeregt. Wir setzten uns einander gegenüber wie zwei Fremde.
Inzwischen erschien es mir völlig absurd, dass er noch vor zwei Tagen meinen Kopf zwischen den Händen gehalten hatte, als wäre ich das Kostbarste auf der ganzen Welt.
Dass er die Hände unter meine Klamotten geschoben und nach meinem nackten Körper getastet hatte. Der Gedanke ließ mich schaudern.
»Wie hast du es herausgefunden?«, fragte er.
»Nord-London ist klein«, antwortete ich. »Vor allem das reiche Nord-London. Ich habe das Kindermädchen kennen gelernt. Lena.« Er sagte nichts, sondern nickte nur leicht.
»Sie hat mir von den Briefen erzählt. Und von dir. Seid ihr sicher, dass sie von derselben Person stammen?«
Er sah mir nicht in die Augen. »Ja.«
»Er hat ihr Briefe geschrieben wie den, den er mir geschickt hat, und dann hat er sie umgebracht?«
»Ja.«
»Habt ihr sie denn nicht beschützt?«
»Ursprünglich schon. Es gab Faktoren, die die Situation verkomplizierten.«
»Jedenfalls hat er es geschafft, ins Haus zu gelangen und sie zu ermorden.«
»Zu dem Zeitpunkt haben wir sie nicht mehr richtig bewacht.«
»Warum nicht? Habt ihr das Ganze nicht ernst genug genommen?«
»Ganz im Gegenteil«, gab er ärgerlich zurück. »Wir haben es sogar sehr ernst genommen. Immerhin –« Er brach abrupt ab.
»Was?«
»Nichts.«
»Was?«
»Nadia, du musst mir wirklich glauben, dass wir alle nötigen Vorkehrungen getroffen haben, um dich zu beschützen.«
»Was wolltest du sagen? Immerhin was? Sag es mir!«
»Wir wussten, wie ernst die Briefe an Mrs. Hintlesham zu nehmen waren«, murmelte er so leise, dass ich mich anstrengen musste, ihn zu verstehen.
»Warum?« Er sah mich an, und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Diese neue Erkenntnis traf mich wie ein Keulenschlag. Ich starrte ihn an. »Sie war nicht die Erste, oder?« Meine Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern.
Cameron schüttelte den Kopf.
»Wer noch?«
»Eine junge Frau namens Zoë Haratounian. Sie hat drüben in Holloway gewohnt.«
»Wann?«
»Vor fünf Wochen.«
»Wie?«
Cameron schüttelte wieder den Kopf. »Bitte, Nadia.
Nicht. Wir passen auf dich auf. Vertrau uns.«
Ich konnte ein hässliches Lachen nicht unterdrücken.
»Ich weiß, wie du dich fühlst, Nadia.«
Ich ließ den Kopf auf die Hände sinken. »Nein, das weißt du nicht«, gab ich zurück. »Du kannst gar nicht wissen, wie ich mich fühle. Wie solltest du auch?«
»Was wirst du jetzt tun?«
Ich hob den Kopf und starrte ihn an. Er wollte wissen, ob ich ihn hinhängen würde. Was für ein Kind! Ein grausames, eitles Kind.
»Ich werde leben«, antwortete ich.
»Natürlich wirst du das.« Seine Stimme klang beschwichtigend und honigsüß. Er sprach mit mir wie ein Arzt mit einem sterbenden Patienten.
»Du glaubst, dass ich sterben werde, oder?«
»Unsinn!«, widersprach er. »Auf keinen Fall.«
»Ein Wahnsinniger«, sagte ich. Ich spürte die Angst wie Galle in meinem Mund. »Ein Killer.«
Es klingelte an der Tür. Die errötende, lächelnde, lügende Lynne. Leise sagte Cameron zu mir: »Bitte, erzähl niemandem was von uns.«
»Lass mich in Ruhe! Ich muss nachdenken.«
11. KAPITEL
uf eine perverse Weise genoss ich es fast, mir Lynne vorzuknöpfen. Sie hatte vers
A
ucht, Cameron ein paar
technische Fragen zum Ablauf der kommenden Woche zu stellen, aber er war kaum in der Lage, etwas zu sagen oder ihrem Blick standzuhalten – geschweige denn dem meinen. Er strich sich die ganze Zeit leicht über die Wange, als wollte er mit seinen Fingerspitzen herausfinden, ob dort, wo ich ihn geschlagen hatte, eine verräterische Spur zu sehen war. Dann murmelte er etwas von einem wichtigen Termin.
»Den Rest besprechen wir morgen«, sagte ich.
»Was?«, fragte er kläglich.
»Den weiteren Ablauf«, antwortete ich.
Er sah mich einen Augenblick lang durchdringend an.
Dann zuckte er mit den Achseln und ging. Es traf mich fast ein wenig unerwartet, wieder mit Lynne allein zu sein.
Ich hatte mir noch gar nicht überlegt, was ich nach dem Gespräch mit Cameron mit ihr reden wollte.
»Möchten Sie was trinken?«, fragte ich sie.
Ich bin normalerweise nicht der Typ, dem am helllichten Tag nach einem Drink zu Mute ist, nun aber brauchte ich einen.
»Eine Tasse Tee wäre wunderbar.«
Also verzog ich mich in die Küche und schaltete den Wasserkocher an. Langsam kam ich mir vor wie Lynnes Großmutter, weil ich ständig Tee für sie kochte. Ich hängte den Teebeutel in die Tasse. Für mich fand ich ganz hinten in einem Schrank eine Flasche Whisky, den mir mal jemand aus einem Duty-free-Shop mitgebracht hatte.
Ich schenkte mir ein halbes Glas ein und füllte es mit kaltem Leitungswasser auf. Wir gingen mit unseren Getränken in den Garten hinaus. Obwohl inzwischen schon früher Abend war, brannte die Sonne noch immer unerbittlich herab.
»Cheers!«, sagte ich, stieß mein Glas leicht gegen ihre Tasse und nahm einen Schluck. Der Garten war natürlich in katastrophalem Zustand, aber gerade weil er so verwildert war, empfand ich ihn als ein Refugium, in das ich vor der schrecklichen Welt flüchten konnte, auch wenn ihre Geräusche durchaus noch zu hören waren. Wir stellten uns neben einen Busch, der mit einer Ansammlung zapfenförmiger violetter Blüten übersät war. Weiße und braune Schmetterlinge umflatterten sie wie vom Wind herumgeblasene Papierfetzen.
»Ich liebe es, mich abends hier draußen aufzuhalten«, bemerkte ich. Lynne nickte. »Ich meine, im Sommer.
Wenn es regnet, gehe ich natürlich nicht raus. Es macht mir Spaß, die Blumen anzusehen und mich zu fragen, wie sie wohl heißen. Kennen Sie sich mit Pflanzen aus?«
Lynne schüttelte den Kopf.
»Schade.« Ich nahm einen weiteren Schluck von meinem Drink. Dann legte ich los. »Ich schulde Ihnen eine Erklärung«, sagte ich, während sie gerade ihre Tasse an die Lippen hob, um mit einem vorsichtigen Nippen die Temperatur des Tees zu prüfen. Sie sah mich fragend an.
»Weswegen?«
»Gestern habe ich Sie gefragt, ob Sie das alles – ich meine, diese ganzen Sicherheitsvorkehrungen – nicht ein bisschen übertrieben finden. Dabei habe ich zu dem Zeitpunkt schon Bescheid gewusst.«
Lynne, die gerade ein zweites Mal ihre Teetasse an den Mund führen wollte, erstarrte mitten in der Bewegung.
Ich sprach weiter. »Wissen Sie, gestern ist etwas Komisches passiert. Auf dem Kinderfest bin ich mit dem Kindermädchen von einem der Jungs ins Gespräch gekommen. Dabei habe ich rein zufällig erfahren, dass sie für eine Frau namens Jennifer Hintlesham arbeitet – ich meine, gearbeitet hat.« Eines musste man Lynne lassen: Sie zeigte keinerlei sichtbare Reaktion, abgesehen davon, dass sie meinem Blick auswich. »Sie haben von ihr gehört?«, fragte ich.
Lynne ließ sich mit ihrer Antwort Zeit. Sie starrte auf ihre Tasse hinunter. »Ja«, sagte sie schließlich so leise, dass ich es kaum verstand.
Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf. Eigentlich war es mehr eine Empfindung als ein Gedanke. Ich musste an das komische Gefühl denken, das ich immer gehabt hatte, wenn ich mit Max unterwegs war und er mir durch eine Bemerkung verriet, dass er an dem betreffenden Ort auch schon mit einer früheren Freundin gewesen war.
Irgendwie hatte mir das immer ein bisschen die Freude verdorben, obwohl ich natürlich wusste, dass das eine alberne Reaktion war.
»Haben Sie das mit ihr auch gemacht? Mit Jennifer?
Haben Sie mit Ihr im Garten gestanden und Tee getrunken?«
Lynne sah aus, als wäre sie am liebsten davongelaufen, aber das durfte sie ja nicht. Sie musste bleiben und auf mich aufpassen.
»Es tut mir Leid«, sagte sie. »Es ist mir schwer gefallen, Ihnen das zu verschweigen, aber es gab strikte Anweisungen. Man glaubte, das Ganze könnte traumatisch für Sie sein.«
»Hat Jennifer von Ihrer Vorgängerin gewusst?«
»Nein.«
Ich spürte, wie mir die Kinnlade herunterfiel. Entgeistert starrte ich sie an. Mir fehlten einfach die Worte.
»Ich … ihr habt sie auch belogen«, war alles, was ich schließlich herausbrachte.
»So war das nicht«, widersprach Lynne, die meinem Blick noch immer auswich. »Diese Entscheidung wurde schon ganz zu Anfang getroffen. Man war der Meinung, dass es schlecht sei, Sie in Panik zu versetzen.«
»Und sie auch. Ich meine Jennifer.«
»Ja«.
»Lassen Sie uns klarstellen, dass ich Sie da richtig verstanden habe: Jennifer hat nicht gewusst, dass die Person, von der die Briefe stammten, bereits jemanden umgebracht hatte, richtig?«
Lynne reagierte nicht.
»Und deshalb konnte sie im Hinblick auf ihren Schutz auch keine Vorkehrungen treffen.«
»So war das nicht«, erklärte Lynne erneut.
»Inwiefern war das nicht so?«
»Das Ganze war nicht meine Idee«, antwortete Lynne,
»aber ich weiß, dass diejenigen, die diese Entscheidung getroffen haben, nur Jennifers Bestes wollten – oder was sie für ihr Bestes hielten.«
»Die Strategie, die ihr im Fall von Jennifer verfolgt habt
– und auch im Fall der ersten Frau, Zoë – war nicht besonders erfolgreich.« Ich nahm einen großen Schluck von meinem Whisky und musste prompt husten. So harte Sachen trank ich sonst nicht. Ich fühlte mich so erbärmlich, krank vor Angst. »Es tut mir Leid, Lynne, ich bin sicher, dass das alles schrecklich für Sie ist, aber für mich ist es noch schrecklicher. Es ist mein Leben. Ich bin diejenige, die sterben soll.«
Sie trat einen Schritt näher. »Sie werden nicht sterben.«
Ich wich zurück. Ich wollte nicht, dass diese Leute mich berührten. Auf ihr Mitgefühl konnte ich verzichten.
»Ich verstehe das nicht, Lynne. Sie sitzen nun schon seit Tagen hier bei mir herum. Sie haben mit mir Tee getrunken und gegessen. Ich habe Ihnen von meinem Leben erzählt. Sie haben mich barfuß gesehen, auf meine Couch gelümmelt, halb nackt in der Wohnung herumlaufend. Ihnen war bewusst, dass ich Ihnen geglaubt, Ihnen vertraut habe. Ich verstehe das einfach nicht. Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?«
Lynne gab mir keine Antwort. Ich schwieg ebenfalls eine Weile. Nachdenklich griff ich nach meinem Whiskyglas und nippte daran.
»Halten Sie mich eigentlich für blöd?«, fragte ich. »Ich habe wirklich ein Problem damit, dass alle etwas über mich wissen, das ich nicht weiß. Wie würden Sie sich denn fühlen, wenn es dabei um Sie ginge?«
»Keine Ahnung.«
Ich nahm einen weiteren Schluck. Allmählich spürte ich den Alkohol. Ich habe bei aller Art von Drogen eine erstaunlich niedrige Toleranzschwelle. Ich fürchte, der Grund ist nicht, dass mein Körper so sensibel reagiert, sondern dass ich einfach ein bisschen weich in der Birne bin. Es fiel mir immer schwerer, meine Wut zu konservieren, auch wenn die Angst irgendwo tief in mir weiterbohrte. Ich spürte den Alkohol im ganzen Körper und auch außerhalb davon, sodass mir die Welt im goldenen Licht dieses Sommerabends mitten in Nord-London immer weicher und verschwommener erschien.
»Haben Sie auf die Erste auch aufgepasst?«
»Zoë? Nein. Ich bin ihr nur ein einziges Mal begegnet.
Kurz bevor … nun ja …«
»Und Jennifer?«
»Ja. Mit ihr habe ich einige Zeit verbracht.«
»Wie waren die beiden? Waren sie wie ich?«
Lynne trank ihren Tee aus. »Es tut mir Leid«, sagte sie.
»Es tut mir Leid, dass man Ihnen das alles verschwiegen hat. Trotzdem ist es mir strikt verboten, derartige Details an Sie weiterzugeben.«
»Verstehen Sie denn nicht?« Meine Stimme klang jetzt ziemlich bitter. »Ich bin diesen beiden Frauen nie begegnet. Ich weiß nicht mal, wie sie ausgesehen haben, aber ich habe etwas ganz Entscheidendes mit ihnen gemeinsam. Ich würde gern etwas über sie erfahren.
Vielleicht hilft uns das weiter.«
Lynnes Miene wirkte jetzt verschlossen. »Wenn Sie irgendwelche Fragen haben, müssen Sie sich damit an DCI Links wenden. Ich bin nicht berechtigt, Auskünfte zu geben.« Ein Anflug menschlicher Anteilnahme huschte über ihr Gesicht. »Hören Sie, Nadia, ich bin da wirklich nicht die richtige Ansprechpartnerin. Ich habe die Akten zu dem Fall nicht eingesehen. Was das betrifft, bin ich nur eine Randfigur, genau wie Sie.«
»Ich bin keine Randfigur«, widersprach ich. »Ich wünschte, ich wäre es, aber leider stecke ich in dem schwarzen Loch direkt in der Mitte. Dann können Sie mir also nichts weiter sagen? Sie wollen, dass ich Ihnen einfach glaube und darauf vertraue, dass Sie Ihren Job diesmal besser machen?«
Zum Teufel mit ihr, dachte ich. Zum Teufel mit ihnen allen. Wir gingen zurück ins Haus, ohne uns anzusehen.
Sie bereitete uns mit dem Rest Schinken, der noch im Kühlschrank lag, ein paar Sandwiches, und wir setzten uns schweigend vor den Fernseher. Ich bekam vom Programm kaum etwas mit. Stattdessen ließ ich voller Wut Szenen aus meiner jüngsten Vergangenheit Revue passieren, Gespräche mit Lynne, Links, Cameron. Ich musste daran denken, wie ich mit Cameron im Bett gelegen, wie er mich angesehen hatte. Ich versuchte mir vorzustellen, wie viel erotische Anziehungskraft ein nackter Körper wie der meine besitzen konnte, der Körper einer Frau, die bald sterben würde, das aber nicht wusste. Wie fühlte sich ein Mann, dessen einziger Rivale ein Mörder war? Machte das den Sex für ihn aufregender? Je länger ich darüber nachdachte, desto widerlicher fand ich es.
Ich hatte nie zuvor wirklich Angst gehabt und bin kein Mensch, der sich leicht einschüchtern lässt. Ich verliebe mich häufig, ich werde schnell wütend, und ich bin auch schnell glücklich, verärgert oder aufgeregt. Ich schreie, weine, lache. Diese Dinge liegen bei mir dicht beieinander. Die Angst hingegen verbirgt sich irgendwo in der Tiefe. Jetzt hatte ich Angst, aber dieses Gefühl löschte nicht alle anderen Emotionen aus, wie es beispielsweise Wut oder plötzliches sexuelles Begehren tun. Es war eher so, als wäre ich aus der Sonne in den Schatten getreten, wo es kalt und unheimlich war. In eine andere Welt.
Ich wusste nicht, an wen ich mich wenden sollte. Ich dachte an meine Eltern, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Sie waren alt und ängstlich. Die beiden machten sich seit jeher Sorgen um mich, auch als es dafür noch keinen wirklichen Grund gab. Eine weitere Möglichkeit war Zach, der liebe, immer ein wenig bedrückt wirkende Zach. Oder vielleicht Janet. Wer von ihnen würde ruhig und stark sein, ein Fels in der Brandung? Wer würde mir zuhören? Wer würde mich retten?
Dann, ohne es zu wollen, begann ich über die Frauen nachzudenken, die gestorben waren. Ich wusste nichts über sie, außer ihren Namen und dass Jennifer Hintlesham drei Kinder hinterlassen hatte. Ich musste an das kampflustige Engelsgesicht ihres kleinen Sohnes denken.
Zwei Frauen, Zoë und Jenny. Wie hatten sie ausgesehen, und wie hatten sie sich gefühlt? Bestimmt hatten sie in der Dunkelheit wach gelegen, wie ich es jetzt tat, und die gleiche Angst empfunden. Die gleiche Einsamkeit. Jetzt waren es nicht mehr nur zwei Frauen, sondern drei, verbunden durch einen einzelnen Wahnsinnigen. Zoë und Jenny und Nadia. Nadia, das war ich. Warum ich?, dachte ich. Warum sie, und warum ich? Und überhaupt – warum?
Aber noch während ich so dalag, mit klopfendem Herzen und brennenden Augen, wusste ich, dass mir nichts anderes übrig blieb, als diesen lähmenden, hilflosen Zustand zu beenden. Ich konnte nicht einfach nur darauf warten, dass etwas passierte oder andere Menschen mich aus diesem Albtraum retteten. Tränen, unter der Bettdecke vergossen, würden mich nicht retten. Während mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, war es, als würde sich ein kleiner Teil tief in meinem Innern zum Kampf bereit machen.
Ich schlief erst lange nach Mitternacht ein, und als ich am nächsten Morgen müde und benommen aus seltsamen Träumen erwachte, fühlte ich mich nicht direkt mutiger oder sicherer, aber irgendwie stärker, gestählter. Um zehn fragte ich Lynne, ob sie für eine Weile den Raum verlassen könnte, weil ich ein privates Telefongespräch führen musste. Sie wollte im Wagen warten, und nachdem sie gegangen war, rief ich Cameron in der Arbeit an.
»Ich bin völlig am Ende«, erklärte er, kaum dass er am Apparat war.
»Gut. Ich auch.«
»Es tut mir so Leid, dass du dich von mir verraten fühlst.
Das macht mich ganz fertig.«
»Schon gut«, sagte ich. »Du kannst was für mich tun.«
»Was immer du möchtest.«
»Ich möchte die Akten zu dem Fall sehen. Nicht nur meine eigene, sondern auch die der anderen beiden Frauen.«
»Das ist unmöglich. Sie sind für die Öffentlichkeit nicht zugänglich.«
»Ich weiß. Ich will sie trotzdem sehen.«
»Kommt überhaupt nicht in Frage.«
»Ich möchte, dass du mir jetzt gut zuhörst, Cameron.
Meiner Meinung nach hast du dich ziemlich mies verhalten, was die ganze Sexgeschichte betrifft.
Wahrscheinlich hat dich der Gedanke, mit einem potenziellen Mordopfer Sex zu haben, auf eine perverse Weise angemacht. Tatsache ist aber, dass ich das Ganze ebenfalls genossen habe und außerdem ja eine erwachsene Frau bin. Ich habe kein Interesse daran, dich zu bestrafen, das möchte ich in aller Deutlichkeit klarstellen. Aber wenn du mir die Akten nicht bringst, gehe ich zu Links und erzähle ihm von unserer kleinen Affäre. Wahrscheinlich werde ich dann ein bisschen weinen und ihn darauf hinweisen, dass ich zu dem Zeitpunkt sehr angeschlagen und verletzlich war.«
»Das würdest du nicht tun!«
»Außerdem werde ich deine Frau anrufen und mit ihr darüber, plaudern.«
»Das würdest du nie fertig bringen. Das wäre –« Er machte ein Geräusch, das wie ein Husten klang, als bekäme er keine Luft mehr. »Du darfst es Sarah nicht erzählen! Sie ist in letzter Zeit so depressiv, sie würde das nicht verkraften.«
»Das ist mir völlig egal«, entgegnete ich. »Es interessiert mich nicht. Du brauchst mir bloß diese Akten zu besorgen.«
»Das würdest du nicht tun!«, wiederholte er mit gepresster Stimme.
»Hör gut zu, was ich dir jetzt sage. Da draußen ist ein Mann, der schon zwei Frauen umgebracht hat und als nächste mich töten möchte. Mich interessieren im Moment weder deine Karriere noch die Gefühle deiner Frau. Wenn du mit mir Poker spielen möchtest, dann versuch’s. Ich will, dass die Akten morgen früh hier auf dem Tisch liegen, und ich brauche Zeit, sie durchzusehen. Dann kannst du sie wieder mitnehmen.«
»Das geht nicht.«
»Die Entscheidung liegt bei dir.«
»Ich werde es versuchen.«
»Ich will sämtliche Akten, die es dazu gibt.«
»Ich werde tun, was ich kann.«
»Tu das. Und denk dabei an deine Karriere. Denk an deine Frau.«
Ich hatte damit gerechnet, dass ich nach diesem Gespräch losheulen oder mich zumindest schämen würde, aber dem war nicht so. Als ich mich selbst im Spiegel über dem Kamin sah, war ich überrascht. Endlich mal wieder ein freundliches Gesicht.
12. KAPITEL
ch räumte meinen Wohnzimmertisch ab, aber es war noch imm
I
er nicht genug Platz. Nachdem Cameron es geschafft hatte, Lynne loszuwerden, musste er dreimal gehen, um die Akten aus seinem Wagen zu holen. Es waren zwei prall gefüllte Mappen und zwei Pappkartons.
Er lud die roten, blauen und beigefarbenen Akten auf dem Tisch und, als dort kein Platz mehr war, auch auf dem Teppich ab. Schließlich schaffte er keuchend die letzte Ladung herein. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß, seine Haut wirkte schlaff und grau.
»Ist das alles?«, fragte ich ironisch, nachdem er den letzten Stoß auf dem Boden abgelegt hatte.
»Nein«, antwortete er.
»Ich habe doch gesagt, dass ich alles sehen will!«
»Dafür brauchte man einen kleinen Lieferwagen«, erklärte er.
»Das sind die aktuellen Akten aus dem Revier, außerdem alle anderen, zu denen ich direkten Zugang habe. Ich weiß sowieso nicht, was du dir davon erhoffst.
Du wirst feststellen, dass das meiste für dich völlig unverständlich ist.« Er ließ sich in dem unbequemen Korbstuhl in der Ecke nieder. »Du hast dafür zwei Stunden Zeit. Und wenn du irgendjemandem erzählst, dass du diese Akten eingesehen hast, bin ich meinen Job los.«
»Sei still!« Ich griff aufs Geratewohl nach einer der Mappen.
»Wie sind sie geordnet?«
»Bring sie bloß nicht durcheinander!«, ermahnte er mich. »In den grauen Akten findest du hauptsächlich Zeugenaussagen. Die blauen enthalten unsere eigenen Berichte und Dokumente. Die roten sind Gerichtsmedizin und Spurensicherung. Die Systematik ist nicht immer ganz konsequent durchgehalten, aber sämtliche Akten sind außen beschriftet.«
»Gibt es auch Fotos?«
»Die Alben neben deinen Füßen enthalten Fotos der Tatorte.«
Ich blickte nach unten. Wie seltsam, dass die Polizei für die Fotos Ermordeter die gleiche Sorte Album benutzte wie andere Leute für ihre Urlaubsschnappschüsse. Ich schauderte. War das wirklich eine gute Idee gewesen?
»Ich werde sie mir gleich ansehen. Ich möchte wissen, wie die beiden ausgesehen haben.«
Cameron kam herüber und begann in den Unterlagen auf dem Tisch herumzusuchen, wobei er leise vor sich hinmurmelte.
»Hier«, sagte er. »Und hier.«
Als ich nach den Akten griff, nahm er meine Hand. »Es tut mir Leid«, flüsterte er.
Ich entzog sie ihm. Mir blieb nicht viel Zeit. »Lass mich allein«, sagte ich. »Geh raus in den Garten. Ich rufe dich, wenn ich fertig bin.«
»Und wenn ich mich weigere?«, fragte er müde. »Rufst du dann meine Frau an?«
»Ich kann nicht lesen, wenn du hier bist.«
Er schwieg einen Moment. »Es ist keine schöne Lektüre, Nadia.«
»Lass mich allein.«
Langsam und widerstrebend verließ er den Raum.
Ich zögerte einen Moment, bevor ich die erste Akte aufschlug, ja überhaupt berührte. Ich stand kurz davor, eine Tür zu öffnen und einen Raum zu betreten, und irgendwie würde hinterher alles anders sein. Ich würde anders sein.
Ich schlug die Akte auf, und da war sie. Ein Schnappschuss, der auf ein Blatt Papier geklebt war. Zoë Haratounian, geboren am 11. Februar 1976. Ich sah mir die Aufnahme genauer an. Offenbar handelte es sich um ein Urlaubsfoto. Zoë saß auf einer niedrigen Mauer, und hinter ihr strahlte ein tiefblauer Himmel. Das grelle Sonnenlicht ließ sie die Augen leicht zusammenkneifen.
(Sie hatte eine Sonnenbrille in der Hand und schien lachend mit der Person zu sprechen, die das Foto machte.) Sie trug eine grüne Weste und weite schwarze Shorts. Das blonde Haar reichte ihr bis zur Schulter. War sie hübsch?
Schwer zu sagen. Auf jeden Fall sah sie nett aus. Es war ein fröhliches Bild, das eigentlich an der Korkwand in einer Küche hätte hängen sollen, neben der Einkaufsliste und der Karte mit der Nummer des nächst gelegenen Taxiunternehmens.
An das Blatt mit dem Foto schlossen sich mehrere maschinengeschriebene Seiten an. Das war es, worauf ich gehofft hatte: Namen, Adressen und Telefonnummern, unter anderem von Zoës Freund, ihren Freundinnen, ihrem Arbeitgeber, außerdem Querverweise auf andere Akten.
Ich hatte ein Notizbuch bereit liegen. Nachdem ich sichergestellt hatte, dass Cameron mich nicht sehen konnte, notierte ich rasch ein paar Namen und Nummern.
Dann blätterte ich den Rest der Akte durch. Da war noch ein weiteres Foto, eine Schwarzweißaufnahme, die aussah, als wäre sie für eine Art von Ausweis gemacht worden. Ja, Zoë war hübsch. Bereits auf dem anderen Foto hatte ich gesehen, dass sie schlank war, aber noch das leicht pausbäckige Gesicht eines jungen Mädchens hatte. Sie wirkte überhaupt sehr jung. Obwohl sie ein ernstes Gesicht machte, funkelte in ihren Augen eine Spur von Schalk. Ich fragte mich, was für eine Stimme sie wohl gehabt hatte. Ihr Name klang ausländisch, aber sie war in der Nähe von Nottingham geboren.
Ich klappte die Akte zu und legte sie behutsam zur Seite.
Nun zur zweiten. Jennifer Charlotte Hintlesham, 1961
geboren, sah ganz anders aus als Zoë. Allerdings handelte es sich auch um ein viel formelleres, in einem Studio aufgenommenes Foto. Ich konnte es mir gut in einem silbernen Rahmen auf einer alten Kommode vorstellen.
Jennifer war eine auffälligere Erscheinung als Zoë.
Obwohl sie nicht wirklich schön war, hatte sie bestimmt viele Blicke auf sich gezogen. Sie besaß große dunkle Augen und markante Wangenknochen, die durch die lange, schmale Form ihres Gesichts noch betont wurden.
Irgendwie hatte sie etwas Altmodisches an sich. Sie trug einen Pullover mit rundem Ausschnitt und dazu eine Kette aus kleinen Perlen. Ihr dunkelbraunes Haar glänzte. Sie erinnerte mich an eine von den unbedeutenderen britischen Schauspielerinnen aus den Fünfzigerjahren, die mit Beginn der Sechziger ein wenig in Vergessenheit gerieten.
Zoë war mir viel jünger vorgekommen als ich. Bei Jennifer hatte ich das Gefühl, dass sie eine Generation älter war. Damit meine ich nicht, dass ihr Gesicht älter aussah als meines. Nein, sie wirkte einfach so erwachsen.
Mit Zoë hätte ich mich wahrscheinlich gut verstanden.
Dagegen war ich weniger sicher, ob ich Jennifers Typ gewesen wäre. Ich warf einen weiteren Blick in die Akte.
Ehemann und drei Kinder, Namen und Alter. Was für eine Tragödie. Ich notierte mir ein paar Details.
Plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf. Ich nahm den Stapel, aus dem Cameron die beiden Akten gezogen hatte, etwas genauer in Augenschein. Wie ich vermutet hatte, gab es auch eine Akte mit meinem Namen.
Als ich sie aufschlug, starrte mir ein Foto von mir selbst entgegen. Nadia Elizabeth Blake, geboren 1971. Ich schauderte. Vielleicht würde diese Akte in ein paar Wochen viel dicker sein, und es gäbe bereits eine neue zu einem weiteren Fall.
Ich warf einen Blick auf die Uhr. Was um alles in der Welt sollte ich mir als Nächstes ansehen? Und was brachte mir das Ganze überhaupt, abgesehen davon, dass ich meine Neugier befriedigen konnte? Als ich elf Jahre alt war, ging ich immer in ein Schwimmbad, in dem es ein Fünfmeterbrett gab. Ich hatte mich nie getraut hinunterzuspringen, aber eines Tages stieg ich einfach die Stufen hinauf, trat ohne nachzudenken an den Rand des Bretts – und schon war es passiert. Genauso machte ich es jetzt.
Ich griff nach dem ersten Fotoalbum. Es hatte einen knallroten Einband, und eigentlich hätten Aufnahmen von kleinen Mädchen hinein gehört, die Kerzen auf Geburtstagstorten ausbliesen, oder von Familien, die am Strand Ball spielten. Ich schlug es auf und blätterte mechanisch eine Seite nach der anderen um. Im Grunde war auf den Bildern nicht viel zu sehen. Ich blätterte zum Anfang zurück, um sicherzugehen. Ja, es handelte sich um den Tatort des Mordfalls Zoë Haratounian. Ihre eigene Wohnung. Und dann sah ich sie. Mit dem Gesicht nach unten auf einem Teppich. Sie war weder nackt noch irgendwie entstellt. Nichts dergleichen. Mit ihrem Slip und ihrem T-Shirt sah sie gar nicht aus wie eine Tote. Genauso gut hätte sie schlafen können. Ein Band oder eine Krawatte war fest um ihren Hals geschlungen, der auf mehreren Fotos aus verschiedenen Blickwinkeln festgehalten war. Ich aber starrte immer wieder auf den Slip und das T-Shirt. Ich musste daran denken, dass sie diese Sachen am Morgen angezogen hatte, ohne zu wissen, dass sie sie nie wieder ausziehen würde. Immer sind es solche blöden Gedanken, die einem nicht mehr aus dem Kopf gehen.
Ich legte das Album beiseite und griff nach dem zweiten, um mir den Tatort in Jennifer Hintleshams Haus anzusehen. Ich begann zu blättern, wie ich es auch beim ersten getan hatte, aber dann hielt ich plötzlich inne.
Dieser Tatort sah völlig anders aus. Es war bloß eine einzelne Aufnahme, eine einzelne Szene, aber ich nahm sie in Fragmenten wahr: Offene, starrende Augen, Draht um den Hals, zerrissene oder aufgeschlitzte Kleider, gespreizte Beine und eine Art Metallstab, der in ihren Körper hineingerammt war. An welcher Stelle, konnte ich nicht mehr sehen. Ich warf das Album auf den Tisch und stürzte zum Spülbecken. Ich schaffte es gerade noch rechtzeitig, bevor ich mich übergab. Das Bild, das sich mir bot, als ich schließlich nach unten blickte, war ekelhaft.
Ich wusch mir das Gesicht mit warmem und kaltem Wasser und machte mich dann an die widerlichste Abspülaktion meines Lebens. Das Hantieren mit Tellern und Tassen beruhigte mich irgendwie, sodass ich hinterher in der Lage war, zum Tisch zurückzugehen und das Album zuzuschlagen, ohne einen weiteren Blick darauf zu werfen.
Mir blieb nicht viel Zeit, ich würde selektiv vorgehen müssen. Rasch sah ich die Akten durch, um mir einen Überblick zu verschaffen. Ich sah Pläne von Zoës Wohnung und Jennifers Haus. Ich überflog Zeugenaussagen. Sie waren zum Teil so umfangreich, weitschweifend und langatmig, dass es fast unmöglich war, etwas Substanzielles herauszufiltern. Zoës Freund Fred äußerte sich über ihre wachsende Angst und seine Versuche, sie zu beruhigen. Ihre Freundin Louise klang völlig aufgelöst. Sie hatte draußen vor der Wohnung in ihrem Wagen gewartet, während Zoë erdrosselt wurde.
Die Zeugenaussagen zum Mord an Jennifer füllten zehn dicke Akten. Ich konnte kaum mehr tun, als mir die Namen der Befragten anzusehen. Es handelte sich hauptsächlich um Personen, die für Jennifer gearbeitet hatten. Offenbar hatten die Hintleshams eine Menge Leute beschäftigt.
Die gerichtsmedizinischen Berichte über die beiden Frauen sah ich mir etwas genauer an. Der von Zoë war kurz und bündig: Sie war mit dem Gürtel ihres Bademantels stranguliert worden. Ihre Leiche hatte ein paar kleinere Quetschungen auf gewiesen, die man aber nur auf die Gewaltanwendung zurückführte, die nötig gewesen war, um sie während der Strangulation festzuhalten. Vaginale und anale Abstriche hatten keine Hinweise auf sexuellen Missbrauch ergeben.
Der Bericht über Jennifers Tod war wesentlich länger.
Ich notierte mir nur ein paar Einzelheiten: Tod durch Erdrosselung, eine tiefe, schmale Furche am Hals, verursacht durch den benutzten Draht. Schnitt- und Stichwunden. Diverse Blutspuren und -lachen. Dammriss.
Zahlreiche Spuren von Urin: Sie hatte sich vor Angst angepinkelt.
Eine dicke Akte handelte von der Analyse der Briefe.
Sie enthielt unter anderem Fotokopien der an Zoë und Jennifer geschickten Briefe. Ich überflog sie mit dem makabren Gefühl, gestohlene Liebesbriefe zu lesen. Mit ihren Versprechungen und Schwüren waren es im Grunde tatsächlich Liebesbriefe. Dann stieß ich auf eine Zeichnung, die eine verstümmelte Zoë darstellte.
Seltsamerweise war es von all den schrecklichen Bildern, die ich an diesem Tag gesehen hatte, ausgerechnet diese grobe, bösartige Zeichnung, die mich zum Weinen brachte. Sie führte mir vor Augen, was sich ein einzelner Mensch alles ausdenken konnte, um einen anderen zu zerstören. Ich überflog die Analyse der Dokumente. Es hatte Versuche gegeben, die Briefe mit Leuten aus Zoës Bekanntenkreis in Verbindung zu bringen: ihrem Freund Fred, einem Exfreund, einem Immobilienmakler, einem potenziellen Käufer ihrer Wohnung. Anhand der Zeichnung aber konnte eindeutig nachgewiesen werden, dass der Mörder Linkshänder war (und wie aus einer hinzugefügten Anmerkung hervorging, hatten die an der Leiche von Jennifer Hintlesham festgestellten Verletzungen das bestätigt), während es sich bei allen genannten Verdächtigen um Rechtshänder handelte.
In den Berichten der Spurensicherung ging es um Staubpartikel, Stofffasern, Haare und alles Mögliche andere. Vieles davon war so technisch, dass ich nicht feststellen konnte, ob etwas von Bedeutung gefunden worden war. Die kurze Zusammenfassung, die für Links, Cameron und andere Mitglieder des Ermittlungsteams kopiert worden war, besagte, dass zwischen den Spuren, die an den beiden Tatorten sichergestellt worden waren, keine wirklich nennenswerten Parallelen bestanden. Die Haare und Stofffasern auf Zoës Kleidung, die man außerdem auf dem Teppich, dem Bettzeug und anderen Kleidungsstücken gefunden hatte, stammten nur von Zoës Freund Fred, der ja häufig bei ihr ein- und ausgegangen war, und von Zoë selbst. Die Analyse des Tatorts im Haus von Jennifer Hintlesham war wesentlich komplizierter ausgefallen. Da sich im Haus Scharen von Leuten aufgehalten hatten, war es nicht möglich gewesen, alle gefundenen Haare und Stofffasern zuzuordnen. Fest stand jedoch, dass die Spurensicherung auf kein Bindeglied zwischen den beiden Tatorten gestoßen war, abgesehen von einem silbernen Medaillon, das Jennifer gehört hatte und in Zoës Wohnung gefunden worden war, und einem Foto von Zoë, das man in Jennifers Haus sichergestellt hatte.
Außerdem überflog ich eine Reihe interner Memos, die den jeweiligen Stand der Ermittlungen festhielten, einschließlich einer informellen internen Mitteilung, die mit dem Vermerk »Höchste Geheimhaltung« versehen war. Daraus ging hervor, dass die Beamten, die Jennifer Hintlesham bewacht hatten, abgezogen worden waren, weil man ihren Mann Clive des Mordes an Zoë Haratounian angeklagt hatte. Was für ein Durcheinander!
Ich war schon fast im Begriff, Cameron wieder hereinzurufen, als ich beschloss, noch einen kurzen Blick in eine Akte zu werfen, die nicht besonders interessant aussah. Sie enthielt Terminpläne, Sitzungsprotokolle, Pläne für Urlaubsvertretungen. Dann aber sprang mir ein fotokopiertes Memo ins Auge. Es war von Links, an einen gewissen Dr. Michael Griffen adressiert und in Fotokopie an Stadler, Grace Schilling, Lynne und ein Dutzend anderer gegangen, deren Namen mir nichts sagten. Der Anfang bezog sich offenbar auf eine Beschwerde Dr. Griffens. Demnach war die Spurensicherung an den ersten beiden Tatorten, insbesondere in der Wohnung von Zoë Haratounian, dadurch erschwert worden, dass die Beamten, die als Erste am Tatort eintrafen, falsche Maßnahmen ergriffen hatten:
Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dafür zu sorgen, dass jeder zukünftige Tatort rasch und effektiv versiegelt wird. Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass aller Wahrscheinlichkeit nach – und nicht zuletzt wegen der Schwierigkeiten, die sich im Hinblick auf den Personenschutz in der Praxis ergeben – die Lösung dieses Falls in den Händen von Wissenschaftlern aus dem Bereich der Gerichtsmedizin und Spurensicherung liegen wird, sodass wir bemüht sein werden, so eng wie möglich mit Ihnen zusammenzuarbeiten.
Ich rief nach Cameron, der Sekunden später im Raum stand. Hatte er mich durchs Fenster beobachtet? Und wenn schon!
»Sieh dir das an«, sagte ich und reichte ihm die Notiz.
»›Jeder zukünftige Tatort‹. Nicht gerade ein Beweis für euer Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten.«
Nachdem er einen kurzen Blick auf den Text geworfen hatte, heftete er ihn wieder ab. »Du wolltest die Akten ja unbedingt sehen«, sagte er. »Natürlich müssen wir für jede Eventualität gerüstet sein.«
»Von meinem Standpunkt aus stellt sich das Ganze etwas anders dar«, entgegnete ich. »Der zukünftige Tatort, von dem hier die Rede ist, das bin ich. Ich.«
»Wie ist es dir beim Lesen ergangen?«
»Es war schrecklich«, erwiderte ich. »Aber ich bin froh, dass ich Bescheid weiß.«
Cameron begann die Akten einzusammeln und auf die Schachteln und Mappen zu verteilen.
»Wir sind uns nicht sehr ähnlich«, stellte ich fest.
Er hielt inne.
»Was?«
»Ich dachte, wir wären alle derselbe Typ. Ich weiß, dass das anhand von Fotos und ein paar Personen schwer zu beurteilen ist, aber ich habe trotzdem den Eindruck, dass es sich bei uns dreien um total unterschiedliche Frauen handelt. Zoë war jünger und vom Typ her garantiert ein bisschen weicher als ich. Und was Jennifer betrifft, sieht sie aus wie ein Mitglied der königlichen Familie. Ich glaube nicht, dass sie für jemanden wie mich viel Zeit erübrigt hätte.«
»Möglich«, antwortete Cameron. Sein wehmütiger Tonfall versetzte mir einen Stich. Er hatte sie gesehen, mit ihr gesprochen. Er wusste, wie ihre Stimme geklungen hatte. Er kannte ihre Gestik, all die kleinen Eigenarten, denen kein offizieller Bericht je gerecht werden kann.
»Sie waren auch so klein«, sagte er.
»Was?«
»Du bist genau so klein und zierlich wie die beiden anderen. Und du lebst ebenfalls in Nord-London.«
»Das ist ja eine tolle Ausbeute«, sagte ich.
»Wochenlange Ermittlungen und zwei tote Frauen, und ihr wisst immerhin schon, dass der Mörder nicht auf einsachtzig große Bodybuilderinnen steht und sich keine Frauen aussucht, die in Afrika oder Australien leben.«
Er hatte alles zusammengepackt.
»Ich muss jetzt gehen«, erklärte er. »Lynne wird gleich hier sein.«
»Cameron?«
»Ja.«
»Ich werde es deiner Frau nicht sagen. Auch nicht Links oder sonst jemandem.«
»Gut.«
»Aber ich hätte es getan.«
»Das habe ich mir schon gedacht.«
Inzwischen waren wir in Gegenwart des anderen ein wenig verlegen. Ich empfand dabei jenes unangenehme Gefühl, das man hat, wenn man mit jemandem nackt war und ihn plötzlich überhaupt nicht mehr begehrt. In meinem Fall kam außerdem der dringende Wunsch hinzu, mich in meinem Schlafzimmer zu vergraben, um mich so richtig auszuweinen und ein paar Stunden lang übers Sterben nachzudenken.
»Nadia?«
»Ja?«
»Das alles tut mir so Leid. Es war so … so …« Er hielt inne und rieb sich das Gesicht. Dann sah er sich um, als hatte er plötzlich Angst, Lynne könnte bereits im Raum stehen. »Ich habe noch etwas.«
»Was?« Der Ton seiner Stimme sagte mir bereits, dass es sich um keine guten Nachrichten handelte.
Er griff in die Innentasche seiner Jacke und zog ein Blatt Papier heraus. Genauer gesagt, zwei Blätter. Er faltete sie auseinander und strich sie auf dem Tisch glatt. »Die haben wir in den letzten Tagen abgefangen.«
»Wie?«
»Einer ist mit der Post geschickt worden. Den anderen hat er wahrscheinlich persönlich durch den Türschlitz geschoben.«
Ich starrte auf die beiden Blätter.
»Das hier war der Erste«, erklärte er und deutete auf den linken Brief. Der Text lautete:
Liebe Nadia,
ich möchte dich zu Tode ficken. Und ich möchte, dass du darüber nachdenkst.
»Oh«, sagte ich.
»Der andere ist vor zwei Tagen gekommen.«
Liebe Nadia,
ich weiß nicht, was die von der Polizei dir erzählen.
Sie können mich nicht aufhalten, das wissen sie. In ein paar Tagen oder einer Woche oder zwei Wochen wirst du tot sein.
»Ich wollte ehrlich zu dir sein«, sagte Cameron.
»Weißt du, bisher war es ein winziger Trost für mich, dass ich nur einen einzigen von diesen Briefen bekommen hatte. Ich dachte, er würde vielleicht jemand anderen umbringen.«
»Tut mir Leid«, sagte er, während er sich erneut im Raum umblickte. »Ich muss schleunigst dieses Zeug in den Wagen schaffen. Aber es tut mir wirklich sehr Leid.«
»Ich werde sterben, nicht wahr?«, fragte ich. »Das denkst du doch bestimmt, oder?«
»Nein, nein«, antwortete er, während er auf die Tür zusteuerte.
»Dir wird nichts passieren.«
13. KAPITEL
ch gehe zum Camden Market«, erklärte ich. »Jetzt sofort.«
I Lynne starrte mich verwirrt an. Es war Samstagmorgen, kurz nach neun. Wahrscheinlich hatte sie sich inzwischen daran gewöhnt, dass ich ewig im Bett blieb und nach Möglichkeiten suchte, allein zu sein. Die letzten zwei Tage war ich in meinem Albtraum gefangen gewesen, hatte immer wieder diese Fotos vor Augen. Zoë, die aussah, als würde sie bloß schlafen. Jenny, obszön verstümmelt. Hier aber stand ich, gewaschen und angezogen, merkwürdig freundlich, bereit zum Aufbruch.
»Bestimmt sind eine Menge Leute unterwegs«, gab sie in skeptischem Tonfall zu bedenken.
»Genau das, was ich jetzt brauche. Menschenmassen, Musik, billige Klamotten und Modeschmuck. Sie müssen ja nicht mitkommen.«
»Natürlich komme ich mit.«
»Ihnen bleibt nichts anderes übrig, stimmt’s? Arme Lynne, dauernd müssen Sie hinter mir herlaufen, immer freundlich zu mir sein, immer lügen. Bestimmt vermissen Sie Ihr normales Leben.«
»Ich bin ganz zufrieden«, widersprach sie.
»Ich weiß, dass Sie keinen Ehering tragen. Haben Sie einen Freund?«
»Ja.« Die vertraute Röte breitete sich auf ihrem bleichen Gesicht aus und brachte ihr Muttermal zum Leuchten.
»Hmmm. Bestimmt wäre es Ihnen lieber, wenn das alles schon vorbei wäre. So oder so. Aber nun lassen Sie uns aufbrechen. Es sind ja nur fünf Minuten zu gehen.«
Lynne hatte recht gehabt. Es war ein heißer Tag, der Himmel wölbte sich in einem blassen, schmutzigen Blauton über der Stadt, und auf dem Camden Market war die Hölle los. Lynne trug eine Wollhose und schwere Schuhe. Ihr Haar hing ihr in vom Schweiß nassen Strähnen ins Gesicht. Bestimmt schmilzt sie fast vor Hitze, dachte ich mit einer gewissen Genugtuung. Ich hatte ein zitronengelbes, trägerloses Kleid und flache Sandalen angezogen und mein Haar zurückgebunden. Obwohl die Gehsteige bereits von der Sonne aufgeheizt waren, fühlte ich mich angenehm frisch und leicht. Während ich mich umsah, spürte ich, wie in mir Euphorie aufstieg, weil ich mich endlich wieder unter Menschen befand. Ich betrachtete die Rastas, die Punks, die Biker, die Mädchen in ihren hellen Kleidern oder gebatikten Röcken, die Männer mit den narbigen Gesichtern und den wachsamen Blicken, die vorbeilatschenden, sich cool gebenden Teenager. Ich legte den Kopf zurück und atmete den Geruch von Patschuliöl und Dope ein, von Räucherstäbchen und Duftkerzen und gutem ehrlichem Schweiß.
An den Ecken gab es Stände, die frisch gepresste Säfte verkauften, und ich holte uns beiden ein Glas Mango-Orangensaft und eine Brezel. Dann erstand ich zwanzig dünne Silberreifen und schob sie mir übers Handgelenk, wo sie genau so schön klirrten, wie ich mir das vorgestellt hatte. Außerdem leistete ich mir einen fließenden Seidenschal, ein Paar winzige Ohrringe und ein paar extravagante Haarklammern. Nichts, was ich nicht sofort tragen konnte. Ich wollte keine Tüten mit mir herumschleppen. Dann, als Lynne gerade eine Holzschnitzarbeit begutachtete, verschwand ich einfach.
Es war kinderleicht.
Rasch lief ich die Treppe zum Kanal hinunter und rannte den Fußweg entlang, bis ich zur Hauptstraße gelangte. Es war noch immer viel Betrieb. Ich zog den Kopf ein und schlängelte mich zwischen den Leuten hindurch. Selbst wenn Lynne in diese Richtung kam, um nach mir Ausschau zu halten, würde sie mich nicht entdecken.
Niemand würde mich sehen können, nicht mal er mit seinen Röntgenaugen. Endlich war ich allein.
Ich fühlte mich frei, fast wie ein neuer Mensch, von jeglicher Last befreit. Ich wusste genau, wo ich hinwollte, die Route hatte ich mir gestern Abend zurechtgelegt. Nun hieß es schnell handeln, bevor jemand dahinter kam, wo ich war.
Ich musste ein paarmal klingeln. Vielleicht war er bereits unterwegs, obwohl die Vorhänge der oberen Fenster noch zugezogen waren. Dann aber hörte ich Schritte und einen gedämpften Fluch.
Der Mann, der an die Tür kam, war größer, jünger und attraktiver, als ich erwartet hatte. Er besaß helles Haar, das ihm lässig ins Gesicht hing, und helle Augen in einem gebräunten Gesicht. Er trug Jeans, sonst nichts.
»Ja?«, fragte er nicht gerade freundlich. Er wirkte verschlafen.
»Sind Sie Fred?« Ich versuchte ihn anzulächeln.
»Ja. Kennen wir uns?« Seine Stimme klang gelangweilt und sehr selbstsicher. Ich stellte mir Zoë neben ihm vor, wie sie mit ihrem hübschen, lebhaften Gesicht zu ihm aufblickte.
»Tut mir Leid, wenn ich Sie geweckt habe, aber es ist dringend. Kann ich reinkommen?«
Er hob die Augenbrauen. »Wer sind Sie?«
»Mein Name ist Nadia Blake. Ich bin hier, weil ich von demselben Mann bedroht werde, der Zoë umgebracht hat.«
Ich war davon ausgegangen, dass er überrascht sein würde, aber mit einer so heftigen Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Meine Worte schienen ihn wie ein Faustschlag zu treffen. Sie hauten ihn fast um.
»Was?«, fragte er.
»Kann ich reinkommen?«
Er trat einen Schritt zurück und hielt mir die Tür auf.
Offenbar war er noch immer ganz benommen. Rasch schob ich mich an ihm vorbei, ehe er es sich anders überlegen konnte. Er folgte mir nach oben in ein kleines, voll gestopftes Wohnzimmer.
»Das mit Zoë tut mir übrigens sehr Leid«, sagte ich.
Er starrte mich eindringlich an. »Wie haben Sie von mir erfahren?«
»Ich habe Ihren Namen auf einer Zeugenliste gesehen.«
Er fuhr sich mit der Hand durch sein zerzaustes Haar und rieb sich dann die Augen. »Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«
»Danke, gern.«
Während er in der angrenzenden Küche hantierte, sah ich mich im Raum um. Ich rechnete mit einem Foto von Zoë, etwas, das mich an sie erinnern würde, aber da war nichts. Ich hob ein paar von den Zeitschriften auf, die auf dem Boden herumlagen: Fachzeitschriften für Gartenbau, eine Londoner Stadtzeitung mit Tipps für das Nachtleben, ein Fernsehprogramm. In einem der Regalfächer entdeckte ich ein Häufchen runder Steine. Ich griff nach einem marmorierten, der aussah wie ein Entenei, und betrachtete ihn. Dann legte ich ihn vorsichtig zurück an seinen Platz, nahm stattdessen den braunen Filzhut, der über die Ecke eines Stuhlrückens gestülpt war, und ließ ihn auf meinem Zeigefinger kreisen. Ich war gekommen, um Zoë nahe zu sein, aber in diesem Raum war nichts von ihr zu spüren.
Ich streckte die Hand nach einer geschnitzten Holzente aus, die in einem anderen Regalfach stand, und inspizierte sie. Als Fred zurückkam, stellte ich sie hastig zurück.
»Was tun Sie da?«, fragte er misstrauisch.
»Ich habe nur ein bisschen herumgespielt. Entschuldigen Sie.«
»Hier ist Ihr Kaffee.«
»Danke.« Ich hatte vergessen, ihm zu sagen, dass ich ihn ohne Milch trank. Fred ließ sich auf ein Sofa fallen, das aussah, als käme es von einer Müllkippe, und forderte mich mit einer Handbewegung auf, mich auf den Sessel zu setzen. Er hielt seine Tasse mit beiden Händen umklammert und starrte wortlos hinein.
»Das mit Zoë tut mir Leid«, sagte ich noch einmal, weil mir nichts Besseres einfiel.
»Ja«, antwortete er. Achselzuckend wandte er den Blick ab.
Was hatte ich erwartet? Ich hatte mir eingebildet, dass zwischen uns beiden eine Verbindung bestand, weil er mit Zoë befreundet gewesen war, und auf eine ziemlich irrationale Weise hatte ihn das in meiner Phantasie zu einem Seelenverwandten gemacht, der mir näher stand als meine eigenen Freunde.
»Wie war sie?«
»Zoë?« Verdrossen blickte er auf. »Sie war nett, attraktiv, fröhlich … aber wieso interessiert Sie das? Was wollen Sie von mir?«
»Ich weiß, es ist albern, aber ich möchte so viel wie möglich über sie erfahren: was ihre Lieblingsfarbe war, welche Klamotten sie gern trug, welche Träume sie hatte, wie ihre Reaktion war, als sie die Briefe erhielt … einfach alles …« Atemlos hielt ich inne.
Er sah mich mit betretener, fast ein wenig angewiderter Miene an.
»Ich fürchte, da kann ich Ihnen nicht helfen.«
»Haben Sie sie geliebt?«, fragte ich ihn unvermittelt.
Er starrte mich an, als hätte ich etwas Obszönes gesagt.
»Wir hatten viel Spaß miteinander.«
Viel Spaß. Mir wurde das Herz schwer. Er hatte sie gar nicht richtig gekannt oder wollte zumindest nicht, dass ich sie durch ihn kennen lernte. Viel Spaß: was für eine traurige Grabinschrift!
»Fragen Sie sich denn nicht auch, wie sie sich wohl gefühlt hat? Als sie bedroht wurde, meine ich, und dann, als sie starb?«
Er griff nach den Zigaretten und der Zündholzschachtel, die auf dem niedrigen Tischchen neben dem Sofa lagen.
»Nein«, antwortete er, während er sich eine anzündete.
»Das Foto von ihr, das ich gesehen habe, schien schon ziemlich alt zu sein. Haben Sie ein aktuelleres?«
»Nein.«
»Sie haben kein Foto von ihr?«
»Ich bin nicht der Typ, der ständig Fotos macht.«
»Oder sonst etwas von ihr, das ich mir ansehen könnte?
Irgendetwas müssen Sie doch haben!«
»Wozu?«, fragte er. Sein Gesicht wirkte hart.
»Sie müssen entschuldigen. Bestimmt komme ich Ihnen vor wie eine Verrückte, aber irgendwie fühle ich mich diesen zwei Frauen einfach verbunden.«
»Wieso zwei Frauen?«
»Zoë und Jennifer Hintlesham, die zweite Frau, die er umgebracht hat.«
»Was?« Mit einem Ruck beugte er sich vor und verschüttete dabei seinen Kaffee. »Was haben Sie da gerade gesagt?«
»Oh, tut mir Leid! Sie haben es nicht gewusst. Die Polizei hat ein großes Geheimnis daraus gemacht. Ich hab es auch nur durch Zufall herausgefunden. Diese andere Frau hat auch solche Briefe bekommen wie Zoë. Sie wurde ein paar Wochen nach ihr ermordet.«
»Aber … aber …« Fred wirkte abwesend. Dann sah er mich plötzlich mit ganz neuem Interesse an. »Diese zweite Frau.«
»Jennifer.«
»Sie ist von demselben Mann umgebracht worden?«
»Das ist richtig.«
Er stieß einen leisen Pfiff aus.
»Verdammt!«
»Ich weiß«, sagte ich.
Sein Telefon läutete so laut, dass wir beide erschrocken zusammenfuhren. Er ging ran und drehte mir den Rücken zu.
»Ja. Ja, ich bin schon wach.« Nach einer Pause fügte er hinzu:
»Ja, ich warte auf dich. Dann können wir Duncan und Graham gemeinsam abholen.«
Er legte auf und drehte sich zu mir um.
»Ein Freund kommt gleich vorbei.«
Sein Tonfall sagte mir, dass er mich loswerden wollte.
»Viel Glück, Nadia. Tut mir wirklich Leid, dass ich Ihnen nicht helfen konnte.«
Und das war’s? Das konnte doch wohl nicht sein! Ich starrte ihn fassungslos an.
»Auf Wiedersehen, Nadia.« Mit diesen Worten schob er mich fast zur Tür hinaus. »Passen Sie auf sich auf!«
Mit gesenktem Kopf ging ich Richtung U-Bahn. Arme Zoë, dachte ich. Meiner Meinung nach war Fred ein ziemlich unsensibler Kerl, gut aussehend, aber rücksichtslos. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er sich ihr gegenüber sehr mitfühlend verhalten hatte, als sie die Drohbriefe bekam, egal, was er der Polizei hinterher erzählt haben mag. Ich ging unser Gespräch im Geist noch einmal durch. Letztendlich hatte ich von ihm so gut wie nichts erfahren – zumindest nichts, wofür es sich gelohnt hatte, meine Leibwächterin abzuhängen. Angst stieg in mir auf. Ich war allein, niemand beschützte mich. Überall in der samstäglichen Menge konnten Blicke lauern, die es auf mich abgesehen hatten.
Plötzlich versperrte mir jemand den Weg. Dunkles Haar, bleiche Haut, ein lächelnder Mund, blitzende Zähne. Wer war das?
»Hallo, Sie sehen aus, als wären Sie in Gedanken meilenweit weg.«
Ich starrte ihn an.
»Sie sind doch Nadia, oder? Die Frau mit dem alten Computer?«
Ah, jetzt fiel es mir wieder ein. Ein Gefühl von Erleichterung durchströmte mich. Ich lächelte. »Ja.
Entschuldigen Sie, ähm –«
»Morris. Morris Burnside.«
»Natürlich. Hallo!«
»Wie geht’s, Nadia? Alles klar bei Ihnen?«
»Was? O ja, bestens«, antwortete ich zerstreut. »Hören Sie, es tut mir wirklich Leid, aber ich hab’s ziemlich eilig.«
»Natürlich, lassen Sie sich nicht aufhalten. Sind Sie sicher, dass Ihnen nichts fehlt? Sie wirken ein bisschen nervös.«
»Ich bin bloß müde. Sie wissen ja, wie das ist. Also dann, auf Wiedersehen!«
»Auf Wiedersehen, Nadia. Passen Sie auf sich auf! Bis irgendwann mal wieder.«
Das Haus war schön. Ich kannte es natürlich schon von den Fotos, aber in natura wirkte es noch vornehmer. Es war ein Stück von der Straße zurückgesetzt und von Gärten umgeben. Eine breite Treppe führte zu einem überdachten Eingang hinauf. An den hohen weißen Wänden kletterte eine Glyzinie nach oben. Alles an dem Gebäude wirkte gediegen und sprach von gutem Geschmack und Reichtum. Das mit dem Reichtum hatte ich schon vorher gewusst, aber jetzt konnte ich ihn praktisch riechen. Ich blickte zu den Fenstern im ersten Stock hinauf. In einem dieser Räume war Jennifer gestorben. Ich strich mir das Haar zurück und fingerte nervös an meinem billigen Baumwollkleid herum. Dann ging ich rasch die Treppe hinauf und betätigte den schweren Türklopfer aus Messing.
Ich rechnete fast damit, dass Jennifer mir selbst die Tür öffnen würde. Jennifer mit ihrem schmalen Gesicht und dem glänzenden dunklen Haar. Bestimmt hätte sie mich höflich begrüßt – mit jener wohlerzogenen, leicht überraschten Miene, die einfachen, ungebildeten Leuten wie mir zu verstehen gab, dass sie unerwünscht waren.
»Ja?« Vor mir stand nicht Jennifer, sondern eine große, elegante Frau mit blondem, glatt nach hinten gekämmtem Haar und kostbar funkelnden Ohrringen. Sie trug eine gut geschnittene schwarze Hose und eine apricotfarbene Seidenbluse. Ich hatte in der Akte von Clives Affäre gelesen und wusste ziemlich genau, wer sie war, »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich würde gern mit Clive Hintlesham sprechen. Mein Name ist Nadia Blake.«
»Ist es dringend?«, fragte sie mit eisiger Freundlichkeit.
»Wie Sie hören können, haben wir Gäste.«
Aus dem Inneren des Hauses drangen Stimmen. Es war Samstagmittag, und der arme Witwer Clive veranstaltete mit seiner Geliebten gerade ein kleines Fest. Ich konnte das Klirren der Gläser hören.
»Es ist wirklich wichtig.«
»Dann kommen Sie herein.«
In der großen, kühlen Eingangshalle waren die Stimmen bereits lauter zu vernehmen. Hier hat sie gelebt, dachte ich, während ich mich umblickte. Das ist das Haus, das sie in das Heim ihrer Träume verwandeln wollte. Nun aber hatte diese Frau hier das Regiment übernommen. Wie es aussah, waren die Handwerker zurückgekehrt. Im Eingangsbereich standen überall Leitern und Farbkübel herum. Die Möbel waren mit Tüchern abgedeckt.
»Möchten Sie vielleicht hier warten?«
Ich ignorierte ihre Frage und folgte ihr in ein großes, offenbar frisch gestrichenes Wohnzimmer in Schiefergrau, dessen große Terrassentüren auf einen umgegrabenen Garten hinausgingen. Auf dem Kaminsims stand ein ovaler Silberrahmen mit einem Foto der drei Kinder.
Keine Jennifer. Würde das Gleiche auch mit mir passieren, wenn ich starb? Würde das Wasser einfach über mir zusammenschlagen?
In dem Raum hielten sich etwa zehn bis zwölf Leute auf, die alle ein Glas in der Hand hielten und in mehreren kleinen Grüppchen herumstanden. Vielleicht waren es Freunde von Jennifer gewesen, die sich nun hier versammelten, um die neue Hausherrin willkommen zu heißen. Gloria trat auf einen kräftig gebauten Mann mit kantigem Gesicht zu, dessen Haar bereits zu ergrauen begann. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er blickte hoch, sah mich einen Moment lang scharf an und kam dann zu mir herüber.
»Ja?«, fragte er.
»Bitte entschuldigen Sie, dass ich einfach so hereinschneie.«
»Gloria meinte, Sie hätten mir etwas Wichtiges zu sagen.«
»Mein Name ist Nadia Blake. Ich werde von demselben Mann bedroht, der Jennifer getötet hat.«
Er verzog kaum eine Miene, blickte sich nur verstohlen um, ob uns jemand beobachtete.
»Oh«, sagte er. »Und warum kommen Sie damit zu mir?«
»Wie meinen Sie das? Ihre Frau ist ermordet worden, und nun hat es der Typ auf mich abgesehen.«
»Das tut mir sehr Leid«, antwortete er gelassen. »Aber was habe ich damit zu tun?«
»Ich dachte, Sie könnten mir etwas über Jennifer erzählen.«
Er nahm einen Schluck von seinem Wein. »Ich habe der Polizei bereits alles Relevante mitgeteilt«, erklärte er. »Ich verstehe nicht recht, was Sie hier wollen. Das Ganze war eine schreckliche Tragödie. Jetzt versuche ich einfach, mein Leben so gut wie möglich weiterzuleben.«
»Das scheint Ihnen recht gut zu gelingen«, antwortete ich, während ich den Blick durch den Raum schweifen ließ.
Sein Gesicht lief puterrot an. »Was haben Sie gesagt?«
Seine Stimme klang sehr wütend. »Bitte verlassen Sie jetzt mein Haus, Miss Blake.«
Das Gefühl, das ich in diesem Moment empfand, war eine Mischung aus Panik, Wut und Scham. Während ich verlegen versuchte, ein paar Worte der Rechtfertigung zu stammeln, fiel mein Blick auf einen Jungen, der allein auf einem der Fensterbretter saß. Er war bleich und mager, ein Teenager mit fettigen hellen Haaren, dunklen Augenringen und Pickeln auf der Stirn. Er strahlte die ganze Hoffnungslosigkeit eines halbwüchsigen Jungen aus, eines Sohnes, der seine Mutter verloren hatte. Josh, der älteste Sohn. Ich starrte ihn an, und unsere Blicke trafen sich. Er hatte große dunkle Augen. Schöne Augen in einem schlichten Gesicht.
»Ich werde jetzt gehen«, erklärte ich ruhig. »Es tut mir Leid, dass ich Sie gestört habe, aber Sie verstehen sicher, dass ich Angst habe. Ich suche nach Hilfe.«
Er nickte. Wahrscheinlich war sein Gesichtsausdruck gar nicht so grausam, bloß ein bisschen dumm und selbstgefällig – ein Mensch wie alle anderen. Ein bisschen schwächer vielleicht. Ein bisschen egoistischer.
»Tut mir Leid«, sagte er mit einem bedauernden Achselzucken.
»Danke.« Ich machte auf dem Absatz kehrt und versuchte mit aller Gewalt, die Tränen zurückzuhalten und nicht darauf zu achten, dass alle mich anstarrten, als wäre ich eine Bettlerin, die sich gewaltsam Zutritt zum Haus verschafft hatte.
In der Eingangshalle kam mir ein kleiner Junge auf einem Dreirad entgegen, der wie wild in die Pedale trat.
»Ich kenne dich!«, rief er. »Du bist der Clown! Lena, der Clown ist zu Besuch gekommen! Komm und sieh dir den Clown an!«
14. KAPITEL
ch nehme alles«, erklärte ich bestimmt. »Eier mit Speck, Toast, Bratkarto
I
ffeln, Tomaten, Würstchen,
Pilzen. Was ist denn das da?«
Die Frau hinter der Theke inspizierte den Inhalt des betreffenden Metallbehälters. »Blutwurst.«
»Gut, davon nehme ich auch noch. Und eine Kanne Tee.
Was ist mit Ihnen, Lynne?«
Lynne wirkte ein bisschen blass um die Nase, wahrscheinlich vom Anblick dessen, was sich auf meinem Teller türmte.
»Oh«, sagte sie. »Eine Scheibe Toast. Und Tee.«
Wir trugen unsere Tabletts in den sonnigen Garten am Rand des Parks hinaus. Das Café hatte gerade erst geöffnet, sodass wir die ersten Gäste waren. Ich suchte einen Ecktisch aus. Nachdem wir unsere Teller, Tassen und metallenen Teekannen abgeladen hatten, machte ich mich sofort über das Essen her. Als Erstes attackierte ich mein Spiegelei, indem ich in den Dotter hineinschnitt, der sich daraufhin auf dem ganzen Teller ausbreitete. Lynnes pikierter Blick ließ keinen Zweifel daran, wie sehr ihr meine Essgewohnheiten missfielen.
»Nicht so ganz Ihr Ding, was?«, meinte ich, nachdem ich mir den Mund mit einer Papierserviette abgewischt hatte.
»So früh am Tag kann ich noch nicht viel essen.« Sie nippte an ihrem Tee und biss ein winziges Stückchen von ihrem Toast ab.
Es war ein schöner Morgen. Zutrauliche Spatzen hüpften auf der Suche nach Brotkrumen um die Tischbeine.
Eichhörnchen jagten durch die Äste der großen Bäume, die von dem eigentlichen Park auf der anderen Seite der Mauer herüberragten. Ein paar Sekunden lang stellte ich mir vor, ohne Lynne hier zu sitzen.
»Möchten Sie, dass ich mich an einen anderen Tisch setze, wenn Ihre Freundin kommt?«, fragte Lynne.
»Nicht nötig«, antwortete ich. »Sie kennen sie.«
»Was?«, fragte sie verblüfft.
Ich genoss es, sie noch ein wenig auf die Folter zu spannen. Das war wahrscheinlich der Zauberer in mir. »Es ist Grace Schilling.«
Mit einem Gefühl von Triumph schob ich mir ein Stück Speck in den Mund, an dem ein Stückchen gegrillte Tomate klebte.
»Aber …«, stammelte Lynne.
»Hm?« Mehr brachte ich nicht heraus, weil ich den Mund so voll hatte.
»Wer – wer hat das Treffen arrangiert?«
»Ich.«
»Aber … weiß DCI Links Bescheid?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Möglich, dass Dr.
Schilling ihn informiert hat. Das ist nicht mein Problem.«
»Aber …«
»Da ist sie ja schon.«
Dr. Schilling betrat gerade das Café. Inzwischen waren mehrere Tische besetzt – Leute mit Kindern, Paare, die ihre Sonntagszeitung lasen –, sodass sie uns nicht gleich entdeckte. Sie war wie immer schick gekleidet, wenn auch vielleicht einen Tick lässiger als während der Woche. Zu einer dunkelblauen Hose, die ihr nur bis zu den Knöcheln reichte, trug sie einen schwarzen Pullover mit V-Ausschnitt. Und eine Sonnenbrille. Schließlich sah sie uns und kam näher. Sie nahm die Brille ab und legte sie zusammen mit einem Schlüsselbund und – wie ich interessiert feststellte – einer Schachtel Zigaretten auf den Tisch. Einen Moment lang musterte sie uns aufmerksam.
Ihre Miene wirkte wie immer ziemlich cool.
»Möchten Sie auch frühstücken?«, fragte ich.
»Ich bin eigentlich nicht so der Frühstückstyp.«
»Sie stehen wohl eher auf Kaffee und Zigaretten?«
»Mehr schaffe ich meist nicht.«
Ich warf einen Blick zu Lynne hinüber, die noch immer ziemlich entgeistert dreinblickte.
»Wären Sie so nett, Dr. Schilling eine Tasse Kaffee zu holen?«, bat ich sie.
Lynne zog ab.
»Manchmal kommt es mir fast so vor, als hätte ich jetzt eine persönliche Assistentin«, meinte ich lächelnd. »Kein schlechtes Gefühl. Haben Sie mit Links gesprochen?«
Sie zündete sich eine Zigarette an. »Ich habe ihm gesagt, dass Sie mich um ein Gespräch gebeten haben.«
»War er einverstanden?«
»Er war überrascht.«
Ich tunkte den Rest des Eidotters mit meinem Toast auf.
»Können Sie ein Geheimnis für sich behalten?«, fragte ich.
»Wie meinen Sie das?«
»Ich habe die Akten eingesehen«, erklärte ich. »Na ja, zumindest einen Teil davon. Ich bin dabei nicht ganz den offiziellen Weg gegangen, deshalb wäre es mir lieber, Sie würden nicht darüber reden.«
Wie nicht anders zu erwarten, starrte sie mich verblüfft an. Ich gewöhnte mich allmählich an diesen Blick. Sie nahm einen tiefen Zug an ihrer Zigarette und wechselte die Sitzposition. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich in ihrer Haut nicht besonders wohl fühlte und vielleicht glaubte, die Kontrolle verloren zu haben? Ich hoffte es.
»Warum haben Sie es mir dann gesagt?«
»Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen. Ich weiß, dass Sie mich bisher ganz schön belogen haben.« Sie hob abrupt den Kopf und öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, ließ es dann aber doch bleiben. »Aber das spielt keine Rolle«, fuhr ich fort.
»Das interessiert mich nicht mehr. Ich möchte nur, dass Sie wissen, dass ich über Zoë und Jennifer Bescheid weiß.
Ich habe die Autopsieberichte gelesen. Ich mache mir keine Illusionen. Alles, was ich will, ist, dass Sie ehrlich zu mir sind.«
Lynne kam mit dem Kaffee zurück. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich hier sitzen bleibe?«, fragte sie.
»Tut mir Leid, Lynne, aber ich würde doch lieber unter vier Augen mit Dr. Schilling sprechen.«
Sie wurde rot und verzog sich an einen Nachbartisch. Ich wandte mich wieder an Grace. »Ich kann nicht beurteilen, wie kompetent die Polizei im Normalfall ist, aber Sie werden bestimmt verstehen, dass ich kein großes Vertrauen in ihre Fähigkeit setze, mir diesen Killer vom Leib zu halten. Immerhin haben Sie beziehungsweise die Polizei bereits zweimal vergeblich versucht, eine Frau vor ihm zu beschützen.«
»Nadia«, sagte Grace. »Ich kann verstehen, wie Sie sich fühlen, aber für den Ausgang der beiden anderen Fälle gab es bestimmte Gründe. In Fall von Miss Haratounian –«
»Zoë.«