Kapitel I

Mumm aus der Dose

 

Sandra ging nicht aus dem Kopf, dass sie zwar in Sicherheit waren, Gabi aber weiter unter ihrem Asthma leiden sollte.

»Verdammt, verdammt, verdammt, das ist nicht fair!«

»Was ist nicht fair?«

Sandra zuckte zusammen. Ein Soldat war neben sie getreten und sah sie fragend an.

»Wir haben es bis hierher geschafft, und dann gibt es keine richtigen Medikamente.«

»Wieso? Unsere Lazarettapotheke ist doch randvoll gefüllt.«

»Ja, mit solchen Dingen wie Schmerzmitteln, Antibiotika und Wunddesinfektionsspray.«

Der Soldat schaute sie verständnislos an. »Das ist ein Militärstützpunkt. Was haben Sie denn erwartet, dass wir hier haben? Antibabypillen? Was suchen Sie denn?«

Sandra sah ihn giftig an. Der Spruch über die Antibabypillen schrie danach, mit einem Tritt beantwortet zu werden. Sie seufzte und ließ die Schultern hängen.

»Schon gut. Sie haben ja recht. Ich hatte halt die Hoffnung, Hilfe für ein kleines Mädchen zu finden, dass unter Asthma leidet. Aber außer dummen Sprüchen gib es hier wohl nichts.«

»Asthma? Wie schlimm?«

»Ziemlich. Ihr Zustand hat sich ständig verschlechtert. Sie atmet nur noch flach und rasselt dabei deutlich hörbar.«

»Nimmt sie Salbutamol?«

»Salbutamol?«

Der Soldat grinste. »Okay, wahrscheinlich nicht. Das ist ein Spray, dass die Bronchien frei macht. Normalerweise nehmen das Asthmatiker.«

»Nein, noch nie gehört. Aber wenn es das hier gäbe, dann wüsste der Arzt doch davon.«

»Tsch, leise.« Der Soldat sah sich verstohlen um. »Der weiß davon nichts. Aber ich habe ein paar Packungen von dem Zeug. Wir setzen es hier als … Doping ein.«

»Doping? Wer wir?«

»Na, die Rekruten. Die Ausbildung ist verdammt hart. Jeden Tag Leistungsnachweise, Märsche und immer auf die Kampfbahn. Echt zum Kotzen. Und wenn man seine Leistungspunkte nicht bringt, gibt es Ärger mit dem Zugführer.«

»Ja und? Was hat das mit diesem Salbudingsda zu tun?«

»Salbutamol. Es ist auch ein Anabolikum. Es macht, dass man besser atmen kann und dass die Muskeln wachsen. Geiles Zeug halt. Und es hilft auch bei Asthma. Steht zumindest auf der Packung.«

»Haben Sie es hier?«

»Nein, auf meiner Stube.«

»Dann holen Sie es. Schnell!«

»Moment! Erst müssen wir über die Bezahlung reden.«

Sandra sah ihn verständnislos an. »Bezahlung? Die Welt ist am Ende und Sie wollen Geld?!?«

Der Soldat fletschte die Zähne. Ein schlecht imitiertes Grinsen.

»Sie … oh nein! Vergessen Sie es!« Sandra hob abwehrend die Hände.

»Hab’ dich nicht so, Schätzchen. Nur ein kleines bisschen Spaß. Du und ich. Dann kannst du deiner Kleinen das Zeug geben. Ich heiße übrigens Peter. Bin ich denn so hässlich?«

»Nein, nicht hässlich. Nur dämlich.«

Wut flackerte im Gesicht des Soldaten auf. »Was?!? Du Schlampe!«

Er trat einen Schritt vor und griff nach Sandra. Die junge Frau sprang ihm jedoch entgegen und warf den überraschten Mann um. Beide fielen zu Boden. Sandra drückte ihr Knie wuchtig auf die Genitalien des unten liegenden Soldaten. Blitzschnell zog sie ihre Waffe und hielt sie dem verblüfften Mann ans Ohr.

»Jetzt pass mal auf, du Sau! Wenn du nicht willst, dass ich dein bisschen Gehirn hier über den Betonboden verteile, dann gehst du jetzt mit mir in deine Stube und gibst mir das verdammte Spray!«

Ein Niederdrücken ihres Knies verlieh ihren Worten noch mehr Bedeutung. Die Augen des Mannes weiteten sich, Tränenflüssigkeit bildete sich an ihrem unteren Rand.

»Und wage es nicht, irgendetwas Dummes zu tun! Deine Vorgesetzten würden sich bestimmt freuen, von deinen kleinen Eskapaden zu hören.«

Sandra stieß den Lauf der Waffe in das Ohr ihres Gegners. Der stöhnte vor Schmerz auf. Sandra erhob sich geschmeidig und trat drei Schritte zurück. Sie winkte dem Soldaten mit der Waffe, er solle aufstehen. Dieser erhob sich mühselig. Sandra spannte den Hahn.

»Gib mir einen Grund, Arschloch, und ich drücke ab.«

»Damit würdest du nicht durchkommen.«

»Ach nein? Du wärst dann tot, und ich würde mich da schon herauswinden. Willst du es darauf ankommen lassen?«

»Okay, okay, du hast gewonnen. Hier entlang.«

Der Soldat ging mit gebeugten Schultern vor Sandra her. Er führte sie durch ein paar Gänge, bis sie vor einer Tür standen, die genauso aussah, wie alle anderen Türen in diesem Korridor.

»Hier ist es.«

»Okay. Geh rein und hol das Zeug! Geh aber so, dass ich deine Hände jederzeit sehen kann. Ich will sehen, was du tust, verstanden?«

»Ist schon gut. Ich mache keine krummen Sachen.«

Er ging in die Stube und trat zu einem der dort stehenden Spinde. »Die Tür geht zu deiner Seite auf. Wenn du sehen willst, was ich hier mache, dann musst du hereinkommen.«

Sandra zerbiss eine Fluch zwischen den Zähnen. Langsam schob sie sich in das Zimmer, die Waffe immer im Anschlag. Schließlich stand sie so, dass sie das Innere des Schrankes und die Hände des Mannes sehen konnte. Sie zitterten. Erst jetzt fiel ihr auf, wie jung der andere in Wirklichkeit war.

»Du bist noch nicht lange Soldat, oder?«

»Nein. Ich war noch in der Grundausbildung, als alles zum Teufel ging.«

»Wie alt bist du?«

»Neunzehn.«

»Neunzehn? Und was hat dich dann geritten, so mit mir umzugehen?«

Ihr Gegenüber drehte sich um und hob entschuldigend die Hände. »Naja, du bist attraktiv. Und ich … und ich … ich habe noch nie und … wollte nicht …«

»… als Jungfrau sterben?«

Nicken.

»Oh, Junge, du hast zu viele Filme gesehen. So geht das nicht!«

Der andere lächelte zaghaft. Sandra sah zum ersten Mal den Jungen durch die harte Männerschale blitzen, die nur Fassade war.

»Kannst du es mir verdenken?«

Sandra lächelte nun ebenfalls. Dann schlug sie mit dem Lauf ihrer Waffe zu. Der Junge sackte zusammen und lag am Boden. Ein kleiner Blutfaden lief über seine Stirn. Er war benommen, aber noch bei Bewusstsein.

»Entschuldigung. Vielleicht hast du gelogen, vielleicht auch nicht. Aber das Risiko ist mir einfach zu hoch.«

Sie durchsuchte den Schrank und förderte drei Dosen des Medikaments zutage. »Ein Wort zu irgendjemand, dann erzähle ich, du wolltest mich vergewaltigen und ich hätte mich nur gewehrt. Verstanden?«

Peter nickte mit glasigen Augen.

»Okay. Danke für das Spray, im Namen von Gabi.«

Damit ging Sandra zurück zur Krankenstation.

 

***

 

»Was sollen wir tun, Herr Karls?« Der junge Soldat sah mit deutlicher Angst im Gesicht zu seinem Offizier.

»Außer beten? Stevens, ich habe keine Ahnung. Wir müssen das Tor irgendwie schließen.«

»Aber wie?«

»Schießt gefälligst so, dass die Biester schon vorher umfallen, sonst türmen sie sich in der Lücke auf und überrennen das Tor!«

Und uns, dachte er.

Stevens war bei dem gebrüllten Befehl zusammengezuckt. »Und wenn wir das Tor räumen?«, fragte er.

»Räumen? Wie stellen Sie sich das vor?«

»Indem wir den Iltis nehmen und in die Lücke stellen. Das Tor müsste kurz vorher ein Stück aufgefahren werden, damit der Wagen hindurchpasst.«

Karls sah den Soldaten nachdenklich an. »Das könnte vielleicht sogar klappen. Wir müssten aber irgend etwas dranmontieren, damit der Wagen nicht über die unterste Schicht drüberschiebt.«

»Ein Brett?«

»Irgendetwas, Stevens. Lassen Sie sich was einfallen!«

»Jawohl, Herr Hauptmann!«

Karls ging zu der Schützenstellung, von der aus das Tor und die dagegen anrennenden Zombies unter Feuer genommen wurden. Das Stakkato der Gewehrschüsse und des MGs zertrümmerten immer mehr seine Ruhe und trieben die Gewissheit in sein Denken, dass sie einen aussichtslosen Kampf führten.

»Wie viel Schuss habt ihr noch, Männer?«

Seine geschriene Frage wurde mit einer knappen Geste auf die leeren Munitionskisten beantwortet, die sich hinter der Stellung stapelten. Eine einzige war noch in dem Schützennest verblieben.

»Scheiße!«

Karls rannte zurück zu dem Bereitstellungsraum, in dem der Rest seiner Truppe auf weitere Befehle wartete.

»Sievers, Hansen, Sie nehmen den Unimog und fahren zu Munbunker 3. Holen Sie alles, was an Kleinteilen da ist. Wenn möglich, besorgen Sie mir einen Flammenwerfer. Und Panzerfäuste. Oder Mörser. Oder etwas anderes mit Wumms.«

Die beiden Angesprochenen sahen sich an.

»Jawohl«, sagte Sievers, und die beiden rannten zu dem Fahrzeug.

»Wenn sie nicht bald mit Mun kommen, war es das, Hömmrich.«

Hömmrich, langjähriger Zugführer unter Karls und sein engster Vertrauter, machte ein abfälliges Geräusch. »Wir sind doch jetzt schon am Arsch. Selbst wenn wir das Tor zukriegen, werden sie es irgendwann überklettern. Wir sollten von hier abhauen.«

»Hömmrich, Mann, reißen Sie sich zusammen! Was reden Sie denn da?«

»Hauptmann, wir sind totes Fleisch, wenn wir hierbleiben. Beziehungsweise werden wir totes Fleisch, das noch weiter herumläuft. Der Stützpunkt ist verloren, und Sie wissen das auch.«

Karls sah ihn nachdenklich an. »Die anderen verlassen sich auf uns. Wenn wir nicht standhalten, was bleibt dann noch?«

Hömmrich spuckte auf den Boden. »Asche, Herr Hauptmann. Die Asche unserer glorreichen Zivilisation.«

 

***

 

Sandra eilte zu Gabi in die Sanitätsstation. Das Mädchen röchelte und lag schweißüberströmt auf einer der Liegen im Untersuchungszimmer. Sandra zog sie in eine sitzende Position und stützte sie.

»Mir … geht es … gut. Das schreibt man g-u-t.«

Sandra lächelte – beruhigend, wie sie hoffte.

»Klar, Kleines. Hier ist es nur ein bisschen warm. Du, ich habe was für dich.«

»Eine Überraschung?«

Gabis fiebrige Augen begannen zu leuchten.

»So etwas Ähnliches. Es ist ein Spray, das musst du einatmen, wenn ich es in deinen Mund sprühe. Jetzt schau nicht so misstrauisch. Es wird dir helfen.«

Gabi schüttelte den Kopf.

»Wirklich, Gabi. Das ist gutes Zeug.«

»Nein.« Das Mädchen kniff die Lippen fest zusammen.

Sandra seufzte. Warum verstand das Kind nicht, dass sie ihm helfen wollte?

»Bitte! Mit ganz großem B.«

Gabi schüttelte trotzig den Kopf.

Sandra hätte vor Verzweiflung schreien können. Dann hatte Sie einen Einfall. Sie setze die Spraydose an ihren Mund.

»Guck mal, ich nehme es auch«, quetschte sie um das Mundstück herum hervor. »Dann kann es doch nicht gefährlich sein, oder?«

Gabi schaute immer noch skeptisch. »Du hast ja noch nichts davon genommen.«

Sandra seufzte. Also gut. Sie schloss die Augen und drückte den Dosierer beherzt nach unten, während sie tief einatmete. Das Salbutamol schoss in ihre Kehle und strömte in ihre Lungen. Es schmeckte, wie der Inhalt einer vergessenen Sporttasche roch, und Sandras Bronchien schienen förmlich zu Gummi zu werden.

»Siehst du? Alles gut«, krächzte sie mit Tränen in den Augen. Sie holte mehrmals tief Luft, und langsam beruhigte sich ihr Körper wieder.

Sandra lächelte. »Und jetzt du.«

Vorsichtig setzte sie Gabi das Mundstück an die Lippen, die diese immer noch fest verschlossen hielt. Nur sehr zögerlich öffnete sich der Mund, während das Mädchen krampfhaft durch die Nase Luft holte.

»So ist es gut. Und nun tief einatmen, während ich sprühe.«

Gabi tat ihr Bestes, so wenig es auch war.

»Los, noch einmal!«

Wie viel von dem Scheißzeug darf man eigentlich pro Anwendung geben?

»So, das reicht erst einmal. Jetzt warten wir, ob es hilft. Leg dich mal wieder hin.«

Erschöpft sank Gabi auf die Liege.

»Was machen Sie da?«

Der scharfe Ton ließ Sandra herumfahren.

»Oh, Doktor, Sie sind es.«

»Was Sie da machen, möchte ich wissen! Was haben Sie da?«

Sandra gab ihm die Medikamentenflasche. Der Arzt las die Aufschrift und runzelte die Stirn.

»Wo haben Sie das denn her? Das ist genau so ein Medikament, wie es die Kleine braucht.«

»Ich habe es … gefunden.«

»So, so, gefunden. Und gibt es dort noch mehr, wo Sie es gefunden haben?«

»Nein, leider nicht.«

»Na, dann heben Sie es gut auf, es könnte Gabi das Leben retten. Aber denken Sie daran, nach spätestens sechs Monaten ist eine angebrochene Packung nutzlos. Das Mittel zersetzt sich und wird dann zu einem giftigen Cocktail, den man besser nicht in die Lungen bekommen sollte.«

Sandra nickte. Das Medikament machte ihr zu schaffen. Leichter Schwindel befiel sie, und sie wünschte sich, der Arzt würde gehen. Ein tiefer Atemzug, der aus Richtung der Liege kam, auf der Gabi lag, lenkte sie ab.

»Gabi?«, fragte Sandra.

»Mir geht es gut.«

Die Kleine wirkte noch schwach, aber ihr Atem ging viel leichter, und ihre Gesichtsfarbe hatte sich etwas normalisiert, auch wenn sie noch Fieber zu haben schien.

Der Arzt untersuchte sie flüchtig. »Sie ist wieder halbwegs stabil. Aber sie sollte sich noch ein oder zwei Tage erholen.«

 

***

 

Sievers schwang sich auf den Fahrersitz des Unimogs.

»Hey, halt mal! Warum fährst du?«, begehrte Hansen auf.

»Zähl mal die Streifen!«

»Schon gut, du Natozebra, dann fahr halt.« Hansen grinste, während er sich auf dem Beifahrersitz breitmachte.

Sievers startete den Motor und setzte zurück, um mit dem Wagen auf die Fahrspur einschwenken zu können, dabei kam das Tor in Sicht.

»Unheimlich.« Die Gänsehaut, die sich auf den Armen von Hansen zeigte, war auch in seiner Stimme förmlich zu hören.

»Grauenhaft!« Sievers schüttelte sich. »Wir sollten schleunigst zu dem Munbunker fahren.«

»Willst du da wirklich halten?«

»Was meinst du?«

»Naja, wir haben ein geländegängiges, vollgetanktes Fahrzeug.«

»Ja und?«

»Mensch Sievers, sei doch nicht so begriffsstutzig!«

»Du weißt, was mit Deserteuren geschieht, oder? Wir haben Kriegsrecht.«

»Wenn man sie erwischt.«

»Wo sollen wir denn hin? Meinst du, irgendwo in Deutschland gibt es einen Fleck, der nicht von diesen Zombies heimgesucht wird?«

»Eine Insel.«

»Ja klar. Inseln sind ja auch überall in der Kölner Bucht zu finden.«

»Wer spricht von hier? Bis zur Nordsee sind es knapp dreihundert Kilometer. Das schafft das Baby hier locker.«

»Das ist Verrat, Hansen. Wir verraten unsere Kameraden, wenn wir das durchziehen.«

»Willst du denn nicht überleben?«

»Blöde Frage.«

»Was gibt es dann noch zu überlegen?«

»Ich … ich kann das nicht. Sieh dir mal die armen Schweine da im Schützennest an. Wenn wir denen nicht bald neue Mun besorgen, dann ist aus die Maus. Die enden dann als Snack für die da draußen.«

»Die da draußen« rannten in ungebremster Wut weiter gegen das Tor und den Vorhang aus Kugeln an. Die Schützen erledigten einen nach dem anderen weit vor der Lücke im Tor, dennoch war es nur eine Frage der Zeit, bis die Verteidigungslinie überrollt werden würde. Die Geräusche, die die Zombies machten, fraßen sich in die Gehirne der beiden Soldaten. Die gefletschten Zähne, das Bild des Verfalls und der toten Augen drang mit Macht auf die beiden ein.

Sievers schluckte. »Also gut.«

»Was?«

»Du hast mich verstanden, Hansen. Ich bin lieber ein lebender Deserteur als ein toter Soldat.«

»Dann gib Gas, Mann!«

Sievers schaltete in den ersten Gang und ließ den Unimog langsam anrollen. Er sah aus dem Augenwinkeln einen Mann auf das Tor zurennen. Offensichtlich war die Lücke, die immer noch durch die Leichen blockiert wurde, sein Ziel.

»Mensch, das ist Karls! Was macht der da?« Sievers beobachtete mit aufgerissenen Augen, wie sein Hauptmann auf die Leiche zurannte. Die Schützen nahmen währenddessen weiter ungerührt die Zombies unter Feuer.

»Der spinnt!« In Hansens Ausruf schwang so etwas wie Respekt mit.

Sievers stieß seinen Kameraden an. »Der Verrückte will wohl die Leichen mit der Hand aus der Lücke räumen.«

»Nee, guck mal! Der hat da etwas in der Hand. Der hat … Oh Scheiße!« Hansen erstarben die Worte im Mund.

»Handgranaten! Verdammt, der Irre steckt Handgranaten in den Leichenberg. Schnell weg!«

Sievers ließ die Kupplung kommen und drehte den Wagen mit quietschenden Reifen in die dem Tor entgegengesetzte Richtung. Vor ihm lag der gewundene Weg zum Hauptplatz des Stützpunktes. Hektisch schaltete er in den zweiten Gang und würgte dabei fast den Motor ab. Endlich kam das schwere Gefährt auf Touren. Sievers blickte ständig zwischen Weg und Rückspiegel hin und her.

»Komm schon, komm endlich!« flüsterte er dem störrischen Wagen zu, weil dieser nicht schnell genug an Geschwindigkeit gewann. Hinter dem Unimog erblühte plötzlich eine Blume aus Feuer, Rauch und Körperteilen. Die Druckwelle schubste den Lkw leicht an. 

»Mein Gott! Sieh dir das an! So ein verdammter Oberhirni!«

Hansen sah erschüttert, was geschehen war. Die Granaten hatten die Leichen aus der Lücke befördert, doch ein Teil des Tores war mit weggesprengt worden. Sofort strömten die Horden der lebenden Leichen durch das so entstandene Loch. Das letzte, was Hansen sah, war einer der Schützen, der sich sein G3 in den Mund steckte und abdrückte. Dann zwang Sievers das Fahrzeug scharf in eine Kurve.

 

 

Kapitel II

Bissiger Besuch

 

Der Unimog kam schleudernd und mit quietschenden Reifen vor dem Offizierskasino zum Stehen. Hansen fiel fast aus der Tür des Wagens, während Sievers beinahe elegant heraussprang. Beide rannten die Treppe zum Haupteingang hinauf.

»Alarm!«, schrien sie unisono, während sie durch die Gänge des Kasinos Richtung Speisesaal rannten. »Die Viecher kommen!«

Major Grundlich stellte sich den beiden in den Weg. »Was soll der Terz, Männer?«

Die Heraneilenden blieben schlitternd vor ihm stehen und nahmen Haltung an.

»Hauptgefreiter Hansen und Stabsgefreiter Sievers. Wir kommen vom Haupttor, Herr Major.«

Der Major hob eine Augenbraue. »Und?«

»Die verdammten Zombies sind durchgebrochen, Herr Major. Wir müssen sofort evakuieren.«

»Wieso sind Sie nicht bei ihrem Zug? Warum verteidigen Sie nicht das Tor?«

»Wir sind geschickt worden. Mun sollten wir holen. MunBunker 3. Hauptmann Karls wollte schwere Waffen. Wir waren im Unimog, gerade als die Zombies explodierten.«

»Was?«

Hansen kam seinem Kameraden zu Hilfe: »Wir waren gerade dabei zu wenden, als wir mitansehen mussten, wie Hauptmann Karls sich den Zombieleichen näherte, die das Tor blockierten. Er steckte Handgranaten in den Haufen und zündete sie. Alles flog in die Luft, auch das Tor.«

»Und dann kamen sie.«, ergänzte Sievers. »Sie haben sich förmlich in das Gelände ergossen.«

»Und die Situation jetzt?«

Sievers Augen blickten ins Leere, sahen jene letzte Szene, die sich im Rückspiegel abgezeichnet hatte.

»Alle tot«, brachte er schließlich hervor.

»Und der Gegner ist durchgebrochen?«

Sievers sah den Major an. »Verflucht, ja! Sie werden bald hier sein. Wir müssen den Stützpunkt räumen!«

Bewegung kam in den Major. Er ging an die Korridorwand und nahm den Hörer eines leuchtend roten Telefons auf, das dort hing.

»Major Grundlich hier. Status schwarz. Ich wiederhole: Status schwarz. Alle erforderlichen Maßnahmen sofort einleiten!«

 

***

 

Sandra zuckte zusammen, als von überall her die Sirenen heulten. Schweiß brach ihr aus. »Was bedeutet das?«

Der Arzt sah sie mit starrem Gesichtsausdruck an. »Die Zombies kommen.«

Sandra schlug die Hände vor den Mund. Mit aller Kraft hielt sie das panische »Nein!« zurück.

»Das kann aber doch nicht sein. Wir sind hier auf einem Militärstützpunkt. Wir sind hier in Sicherheit!«

»Wenn es etwas anderes wäre, wäre auch der Signalton anders. Das ist der Evakuierungsalarm.«

»Aber es könnte doch trotzdem etwas anderes sein.« Ihr flehender Blick traf auf das mitleidige Lächeln des Arztes.

»Nein.«

Die Schwere dieses Wortes ließ Sandra taumeln. Schnell sprang der Mann zu ihr und stützte sie.

»Alles in Ordnung?«

Sie schüttelte den Kopf. Das Namensschild des Arztes befand sich dicht vor ihrer Nase.

»Doktor Märtens, was ist geschehen?«

Sie hasste sich dafür, dass ihre Stimme sich klein und hilflos anhörte. Bis hierhin war sie gekommen, hatte die Gruppe zusammengehalten und sogar vergrößert. Sie hatte sich Sicherheit erhofft, und nun hatte sie der Wahnsinn der zugrunde gegangenen Welt wieder eingeholt.

»Sandra!« Atemlos kam Martin durch die Tür gestürmt. »Die verdammten Viecher sind durchgebrochen! Sie sind nur noch ein paar hundert Meter entfernt. Wir müssen hier raus, los! Die Soldaten sitzen schon auf. Komm jetzt!«

Er zerrte an ihr, doch Sandra riss sich los. »Warte.«

Sie ging zu der Liege, auf der Gabi lag. Vorsichtig nahm Sandra sie in den Arm.

»Komm, Gabi, wir müssen weg.«

»Warum? Waren wir böse?«

»Nein, aber die … Knirscher kommen.«

Gabis Mund formte ein großes erschrockenes O. Sie begann zu zittern.

»Sch, sch, ganz ruhig. Wir schaffen das schon.«

Sandra hat recht, sandte Martin an Gabi. Die sah ihn an und suchte in seinem Gesicht nach der Zuversichtlichkeit, die sie in seinem Geist nicht gespürt hatte.

Schließlich nickte sie. »Ja, tun wir abhauen.«

Gabi stand von der Liege auf und ließ sich von Sandra und Martin stützen. Sie gingen aus der Krankenstation hinaus zum Hauptkorridor.

Hier herrschte organisiertes Chaos. Ein Hauptfeldwebel mit einem Klemmbrett kam zu ihnen.

»Sie beide«, er deutete auf Sandra und Martin, »gehen zu Fahrzeug fünf und sitzen dort auf.«

»Und was ist mit Gabi?«, wollte Sandra wissen.

»Mit wem?«

»Mit dem Kind hier.«

»Ach so. Das geht mit ein paar anderen Kindern zu Wagen sechs. Dort wird Jörg Weimer sie in Empfang nehmen. Bei dem soll sie sich melden.«

»Martin!« Gabis Stimme klang weinerlich und drängend.

»Kann ich nicht mit ihr gehen?« Martin sah den Unteroffizier fragend an.

»Nein. Und jetzt gehen Sie bitte schnellstmöglich zu den Fahrzeugen.«

Draußen dröhnten erste Schüsse. Gabi begann zu weinen.

 

***

 

»Los, los, los, rauf auf den Bock!«

Der Einweiser schubste Martin und Sandra förmlich in den Wagen. Sie suchten sich in dem stickigen Halbdunkel einen Platz zwischen den Soldaten, die dort mit Marschgepäck und G3 bewaffnet saßen.

»Das sieht nicht gut aus, oder?«, sprach Martin den neben ihm sitzenden Mann an.

»Wohl eher nicht.«

»Wissen Sie, wohin wir fahren?«

»Erst einmal weg von hier.«

»Und dann?«, versuchte Martin die Gesprächigkeit des Soldaten in Gang zu halten.

»Vermutlich Bonn.«

»Bonn?«

»Das ist unser Rückzugsraum.«

»Aha. Und was machen wir dort?«

Gerade als der andere antworten wollte, ruckte der Lastwagen an, und der Motorlärm machte ein weiteres Gespräch unmöglich.

Martin sah zu Sandra hinüber, die seinen Blick aus weit aufgerissenen Augen erwiderte. Er legte ihr in einer – wie er hoffte – beruhigenden Geste seine Hand auf die Schulter. Er lächelte mit einer Zuversicht, die eine glatte Lüge war. Sandra erwiderte sein Lächeln nur sehr zaghaft.

Der Wagen nahm Fahrt auf, ebenso wie der ihm nachfolgende Transporter. Auf der gewundenen abschüssigen Straße schlingerten die Fahrzeuge Richtung Ausfahrt, einem weit entfernten Ziel entgegen. Früher war Bonn nur einen Kölschglaswurf weit entfernt, doch jetzt, ahnte Martin, würde es zu einer Odyssee werden, sich der ehemaligen Hauptstadt, dem Bundesdorf, zu nähern.

Martin sah auf die hinter ihnen regelrecht wegfliegende Straße. Gelegentlich brach eine kurze Salve aus dem auf dem Führerhaus ihres Lkw montierten MGs und fand sein Echo bei den nachfolgende Fahrzeugen.

Mit zunehmender Geschwindigkeit wurden die Schüsse seltener, wohl weil es nicht mehr möglich war, richtig zu zielen. Die Fahrer hatten sich darauf verlegt, die ihnen in die Quere kommenden Zombies zu überrollen, was zwar effektiv war, aber ein Übelkeit erregendes Geräusch verursachte.

Martin musste schlucken. Nachdenklich nagte er an seiner Unterlippe.

Plötzlich wurde der Konvoi langsamer.

»Was ist los?«

Sandras Frage blieb unbeantwortet. Martin erhob sich und ging nach hinten.

»Was hast du vor?«

Angst schwang in Sandras Stimme mit, was Martin sehr beunruhigte. Die bis dato so stark wirkende Frau schien unter dem Druck der Ereignisse langsam ihre Kraft zu verlieren. Martin beugte sich um die Kante und spähte nach vorne.

»Ach du Scheiße!«

»Was siehst du?« Sandra war neben ihn getreten.

»Knirscher. Massen von ihnen. Wie sollen wir da bloß durchkommen?«

Sandra hatte sich vor ihn geschoben, um selbst zu sehen, was los war.

»Verdammte Scheiße! Wo kommen die bloß her?«

»Als wenn sie … gesteuert würden. Diese Hordenbildung kann nicht normal sei.«

»Wieso?«

»Überleg doch mal! Diese Dinger sind nicht viel mehr als Fressmaschinen. Sie zeigen keine Intelligenz. Der Einzelne ist nur darauf aus, andere zu jagen. Purer Instinkt.«

»Aber … wenn viele zusammenkommen, entsteht vielleicht so etwas wie Schwarmintelligenz? Vielleicht gibt es dann einen oder zwei unter ihnen, die den Schwarm lenken können?«

Martin hatte sich zu ihr umgedreht und musterte sie. »Du redest, als wüsstest du etwas.«

Sandra zuckte zurück. »Was? Was sagst du da? Ich stelle einfach nur Vermutungen an.«

»Ich weiß nicht …«

»Ach ja? Ich dachte, so langsam könnte etwas wie Vertrauen zwischen uns entstehen.«

»Wie meinst du das denn jetzt?«

»Naja, für einen Junkie scheinst du ein ganz brauchbarer Kerl zu sein. Aber irgend etwas verheimlichst du mir.«

»Hä? Weibliche Intuition, oder was?«

Pass auf, sie ahnt etwas. Gabis Stimme in Martins Kopf war gefärbt von Angst und Besorgnis.

Ich passe schon auf. Laut sagte er: »Weißt du, Sandra, deine Paranoia …«

Massives MG-Feuer war aus dem vorderen Teil des Konvois zu hören. Der Lkw ruckte an und Martin hatte alle Hände voll zu tun, nicht aus dem Fahrzeug geschleudert zu werden.

 

***

 

Jörg Weimer starte auf die Szenerie vor sich. Der Konvoi stand vor einer Mauer aus Zombies, die sich entlang der Straße rechts und links dahinzog.

»Das ist übel.« Weimers Fahrer hatte mit flacher Stimme gesprochen. 

»Das ist Horror. Was treiben diese Biester hier nur? Worauf warten sie?«, fragte Weimer niemand speziellen.

Das Funkgerät meldete sich knackend.

»Grundlich für Weimer, kommen!«

»Oha, keine Codenamen, keine abartigen Abkürzungen? Die Kacke ist wohl echt am dampfen.« Weimer griff zum Sprechsatz. »Weimer hier, kommen!«

»Grundlich hier. Können Sie die Biester sehen? Kommen!«

»Ich sehe sie. Sie stehen Spalier bis hier hin. Als wenn sie auf etwas warten würden. Kommen!«

»Wir müssen durchbrechen, bevor sie sich zum Angriff entschließen. Kommen!«

»Schön. Und wie? Kommen!«

Grundlich war die Ungeduld und das Unverständnis über das Aussprechen des Offensichtlichen deutlich anzumerken. »Wir werden mit zwei Fahrzeugen vorrücken und eine Lücke reißen. Sie führen die Kolonne hindurch und bringen sie auf genug Abstand zu den Zombies. Dann warten Sie bis null-sechshundert Zulu, oder bis wir zu Ihnen aufgeschlossen haben. Kommen!«

Weimer starte das Mikrofon an. Grundlich konnte nicht ernst meinen, was er eben gesagt hatte. Die schiere Masse der Zombies dort draußen konnte unmöglich durch zwei Wagen soweit zurückgedrängt werden, dass die Kolonne durchbrechen konnte.

»Welche Waffen haben Sie? Kommen!«

Hoffentlich Raketenwerfer und Panzerfäuste, dachte Weimer inbrünstig.

»Je ein MG auf Lafette.«

»Und was noch? Kommen!«

»Die beiden Lkw.«

Grundlich hatte die Funketikette bereits aufgegeben.

»Herr Major, das wird …«

»Das wird funktionieren, Weimer. Warten Sie es ab! Sie werden wissen, wann Sie losfahren müssen.«

»Was haben Sie vor?«

»Führen Sie einfach ihre Befehle aus, Weimer.«

»Aber …«

»Führen Sie den gottverdammten Befehl aus!« Grundlichs Stimme ließ den Lautsprecher des Funkgerätes klirren.

Weimer schluckte. »Jawohl«, sagte er dann leise in das Mikrophon, »und … danke.«

Die Antwort des Majors kam etwas verzögert und heiser.

»Führen Sie die Truppe nach Bonn, hören Sie? Versprechen Sie mir das. Die Kopter können Sie nicht unterstützen, die sind schon auf dem Weg nach Bonn, vor allem die transportable medizinische Ausrüstung und EPAS müssen schnell dorthin.«

»Herr Major, Sie werden die Truppe nach Bonn führen. Schließlich ist es Ihr Kommando.«

»Versprechen Sie mir, dass Sie nur bis null-sechshundert warten und dann nach Bonn marschieren. Versprechen Sie es!«

»Also gut, ich verspreche es. Aber wir werden zusammen in Bonn ankommen.«

Weimer ließ den Sprechknopf los und warte auf eine Antwort des Majors. Diese erfolgte in Form des Fahrt-Signals aus dem Führungsfahrzeug. Weimer gab es weiter, und als der Motor des ersten Wagens aufheulte, fielen alle anderen Motoren mit ein.

Waffenfeuer begann. Die Schnellfeuergewehre auf den beiden ersten Wagen zogen eine Schneise durch die Zombiearmee. In diese Lücke stießen die Lkw und drängten die Horde der hirnlosen Kreaturen weiter auseinander. Weimer gab seinem Fahrer das Zeichen, anzufahren.

 

***

 

»Was ist da los?« Martin hatte sich auf seinen Platz zurückgekämpft und sah den Soldaten neben sich fragend an.

»Keine Ahnung. Wir sind hier nur das Fußvolk.«

»Was kann da draußen passieren?«

»Ich würde sagen, dort wird gekämpft.«

Martin seufzte. Hier würde er nicht weiterkommen.

»Kannst du dir erklären, was dort vorgeht?«, wandte er sich an Sandra. 

Diese blickte erstaunt zu ihm auf. »Woher, denkst du, soll ich das wissen?«

Sie hatte offenbar ihre alte Aggressivität Martin gegenüber wiedergefunden.

»Weil du so taff wirkst und mit Waffen umgehen kannst, dachte ich … «

»Dachtest du, dass was? Dass ich eine paramilitärische Ausbildung habe? Dass ich in der Armee war?«

Martin zuckte vor ihrer für ihn unverständlichen Wut zurück. »Nein, das nicht. Aber du wirkst so überlegen und souverän. Da dachte ich, dass du dir vielleicht etwas zusammengereimt hast.«

»So, so.«

Martin zögerte, weiterzusprechen. Er hatte das Gefühl, an etwas Dunklem in Sandras Vergangenheit gerührt zu haben. Außerdem kam ihm der Affe wieder bedrohlich nahe, und sein Nasenzucker war endgültig aufgebraucht. Er hatte Angst, dass das Gespräch wieder einmal eskalieren könnte.

»Hey, war nicht so gemeint.«, sagte er deshalb leise.

»Schon gut. Die ganze Situation wächst mir einfach über den Kopf.«

Martin lächelte schüchtern. »Mir auch.«

In diesem Moment dröhnten zwei Explosion. Die Druckwellen schüttelten den Lkw kräftig durch.

»Was …«

Und dann sah Martin, was die Explosion ausgelöst hatte. Sie jagten mit zunehmender Geschwindigkeit an den brennenden Wracks zweier großer Militärfahrzeuge vorbei, deren Explosionswucht eine riesige Lücke in die Zombiearmee gerissen hatte, durch die die Kolonne nun raste.

Schon verschwand der Anblick aus zerrissenen Leibern, brennend dahinwankenden Körpern und den lichterloh brennenden Wracks hinter der nächsten Kurve.

»Oh Gott«, kam es von dem Soldaten, der gegenüber von Martin saß.

Martin nickte inbrünstig. Sandra drückte sich an ihn und starrte auf den Widerschein der Feuer am Horizont. Martin zögerte, dann strich er vorsichtig über ihr Haar.

 

 

Kapitel III

Gespräch unter Feinden

 

Der weiße Hund stand auf einer Anhöhe nahe Bornheim und sah auf die Wagenburg hinab, zu der sich die Kolonne formiert hatte. Die Rast war dringend nötig gewesen. Zu sehr hatten die Ereignisse in Nörvenich und der Marsch hierher an den Kräften der Soldaten gezehrt. Gelegentlich war ein Helikopter in Richtung Bonn über sie hinweggezogen, hatte aber weder auf Funksprüche noch auf Lichtsignale reagiert. Soldaten patrouillierten in Dreierteams gegenläufigen um das Lager.

»Ein friedlicher Anblick. Und so sinnlos, nicht wahr, Luzifer?«

Der weiße Hund jaulte erschrocken auf. Aus dem Nichts war eine dunkle Gestalt hinter ihm erschienen.

»Der Wille zu überleben ist nie sinnlos, Gabriel.«

Der Angesprochene musterte die weibliche Gestalt, in die der Hund sich während seiner Worte transformiert hatte. »Es zögert das Unvermeidliche nur hinaus. Der Weg ist vorbestimmt.«

»Durch dich?«

»Ich erfülle nur Seinen Willen.«

»Als wenn du oder ich den tatsächlich deuten könnten.«

»Es liegt doch auf der Hand, dass ihre Zeit abgelaufen ist. Die Seuche spricht für sich.«

Das Gesicht der Frau zeigte Spuren von Wut. »Eine Seuche, die du doch erst in die Welt gebracht hast!«

Gabriel hielt in einer Geste verletzter Unschuld die Hände vor seine Brust. »Ich? Ich soll die Seuche in die Welt gebracht haben?«

»Ja, du warst es.«

»Ich darf dich darauf hinweisen, dass das Virus deiner Manipulation entsprungen ist.«

Luzifer warf stolz den Kopf zurück. »Ich habe nur einen Weg aufgezeigt, der unendliches Leiden beendet hätte. Das Virus war schon da, es musste nur ein wenig optimiert werden, um den Krebs endgültig zu besiegen. Aber du hast ihn pervertiert!«

»Das brauchte ich gar nicht, das haben die Militärs ganz alleine hinbekommen.«

»Ich habe den Menschen einen Weg gezeigt, wie man aus einem tödlichen Erreger einen Heilsbringer machen kann. Mehr war mir nicht erlaubt zu tun.«

»Du hast die Grenzen sehr weit ausgedehnt, Luzifer.«

»Aber du nicht? Du hast doch diesem General den Floh ins Ohr gesetzt, dass mein Virus nur noch ein wenig ›Tuning‹ braucht, um den Supersoldaten endlich Wirklichkeit werden zu lassen.«

Gabriel zog eine Augenbraue hoch. »Dein Virus?«

Luzifer räusperte sich. »Jedenfalls war es an Heimtücke nicht zu überbieten. Du weißt doch genau, dass die Modifikationen, die ich am Aids-Virus bewirkt hatte, durch deine Einflüsterungen total pervertiert wurden!«

»Jetzt schrei nicht so, sonst hört man dich noch dort unten. Noch einmal, dass haben die Militärs ganz alleine gemacht.«

»Nachdem du ihnen den Weg gezeigt hast.«

»Es war an der Zeit. Sieh dir doch an, was die sogenannte Krone der Schöpfung angerichtet hat. Millionen Tote durch Krieg, Folter und fehlgeleiteten Glauben. Es sind so viele Milliarden von ihnen, dass nicht einmal alle satt werden. So hatte er ›seid fruchtbar und mehret euch‹ bestimmt nicht gemeint.«

Luzifer sah Gabriel schweigend an.

»Du siehst das natürlich anders. Du siehst die Humanität, mit der den Ärmsten geholfen wird, die Lebensmittelspenden, die medizinische Versorgung, die verzweifelten Versuche der Geburtenkontrolle.«

»Die Liebe und Güte, die sich in jedem Elternteil zeigt, die Hingabe in jeder Hand, die einem pflegebedürftigen Menschen gereicht wird, hattest du vergessen zu erwähnen.«

»Das sind doch nur Zeichen schlechten Gewissens. Erst wurde fröhlich missioniert und/oder versklavt, dabei tödliche Krankheiten eingeschleppt, und jetzt versucht man, den Schaden wieder gutzumachen.«

»Und Hitler? Und Mao? Und Stalin?«

»Das sind weitere Belege dafür, dass das Experiment ›Mensch‹ gescheitert ist.«

»Oder ist es nicht vielmehr so, dass das Überwinden dieser Gräuel zeigt, wozu die menschliche Seele fähig ist?«

»Die menschliche Seele ist deshalb über diese Monster hinweggekommen, weil sie verstümmelt ist, korrumpiert durch den Zorn und die Gewalt, die dem Menschen innewohnt. Die Seuche zeigt nur zu deutlich, wozu die Bestie Mensch in der Lage ist.«

»Bestie Mensch? Er hat dem Menschen eine Seele gegeben. Wie kann dann der Mensch eine Bestie sein?«

»Indem er das Geschenk missbraucht hat. Statt eine Welt voller Kunst und Hoffnung und Liebe zu errichten, hat die Menschheit einen Pfuhl von Hass und Neid geschaffen. Es wird mir eine Freude sein, wenn der letzte Zombie auf Erden wandelt, diesen auszulöschen. Und dann wird wirklich Frieden herrschen. Was siehst du mich so an?«

»Du bist wahnsinnig.«

»Du bist wahnsinnig, wenn du glaubst, aus diesen Bazillen könnte noch etwas werden.«

»Wir haben schon mehr eingegriffen, als eigentlich erlaubt ist. Und nun willst du tatsächlich selbst soweit Hand anlegen, dass du den letzten töten willst? Glaubst du wirklich, dass Er das akzeptieren wird?«

»Ich erfülle nur seinen Willen.«

»Du bist wahnsinnig!«

Ansatzlos warf sich Gabriel auf Luzifer und rang die schlanke Frauenfigur zu Boden. Er kniete sich auf ihre Arme und hielt sie auf diese Weise am Boden fest, dann legte er seine Hände um ihre Kehle.

»Wage es nicht, Gabriel«, keuchte sie.

Gabriel drückte zu. Und röchelte sofort. Je stärker er drückte, umso mehr nahm der Druck auf seinen Kopf zu. Seine Augen quollen hervor, ebenso wie die Luzifers.

Mit einem verzweifelten Aufstöhnen ließ Gabriel ab und sank zur Seite. Nach Luft ringend lagen die beiden nebeneinander.

»Ich … dachte … du … hättest … dich … erinnert …«

Gabriel knurrte - ein Laut zwischen Ablehnung und Unwillen.

»Wir können uns gegenseitig nicht töten. Leider.«

»›Leider‹ stimmt, sonst hätte ich eine ganze Menge Probleme weniger«, erwiderte Gabriel.

»Gewalt ist nicht immer eine Lösung.«

»Wir werden sehen. Bald gibt es nur noch die seelenlosen Monster. Sie werden beginnen, sich gegenseitig aufzufressen. Und dann wird es enden.«

»So oder so.«

 

 

Kapitel IV

Mondscheinserenade

 

Gabi stand auf einer Wiese und sah den Schmetterlingen zu, die von Blume zu Blume tanzten. Ein besonders buntes Exemplar hatte sich auf ihrem Knie niedergelassen. Seine dünnen Beinchen kitzelten, und Gabi jauchzte vergnügt.

Die Sonne malte Muster aus Licht und Blumenschatten auf das saftige kurze Gras, das den Boden zwischen den leuchtenden Blüten bedeckte. Gabi war glücklich. Der Duft, den sie einatmete, schmeckte nach Sommer und Frieden.

In der Ferne erschien ein dunkler Fleck am Horizont, in der flimmernden Luft nur schwach auszumachen. Gabi konnte nicht erkennen, was es war, doch es schien Teil der Natur zu sein. Es bewegte sich sacht, gleichmäßig und kam näher.

Gabi sah wieder den Schmetterlingen zu, die auf den Blumen saßen und mit ihren langen Rüsseln Nektar einsaugten, um sich für die kommenden Wochen der Paarung zu nähren. Sie hatte einmal einen Film über das Liebeswerben der Schmetterlinge gesehen. Ihr hatten besonders die Nahaufnahmen dieser Geschöpfe gefallen, ihre putzigen Gesichter mit den feinen Härchen.

Sie sah wieder zum Horizont. Die dunkle Gestalt war ein ganzes Stück nähergerückt, und ein leichter Wind bauschte sie jetzt auf. Etwas flatterte an ihr herum, und Gabi konnte nun sehen, dass es ein Mensch war, der da auf sie zukam. Neugierde machte sich in ihr breit. Ein anderer Mensch hier auf ihrer Wiese? Das konnte nur ein freundliches Wesen sein. Diese Wiese war kein Bild von Frieden, sie war der Frieden selbst. Was also sollte ihr hier geschehen?

Gabi setzte sich inmitten der Blumen nieder und streckte ihre dicklichen Arme aus. Sofort setzen sich einige der bunten Luftakrobaten auf sie. Sie genoss das Gefühl der kleinen trippelnden Beinchen, die über ihre nackte Haut huschten, gluckste fröhlich und zufrieden.

Wieder sah sie zu der Gestalt, die erneut ein gutes Stück nähergekommen war. Gabi konnte nun viele Details ausmachen: Den weißen Anzug mit den bunten Bildern, den Umhang, der wie eine Fahne in der leichten Brise schwang. Doch das Gesicht des Mannes – es musste ein Mann sein, denn eine Frau wäre ja viel zierlicher – konnte sie immer noch nicht erkennen. Als sei es verschwommen, entzogen sich seine Konturen ihrem Blick.

Gabi schaute wieder zu den Schmetterlingen, die sich plötzlich von der Wiese und ihren Armen als bunte Wolke erhoben und in den Himmel stiegen, der sich mit einem Mal schwarz verfärbt hatte.

Ein diffuser Schatten fiel auf Gabi, und eine leichte Gänsehaut machte sich auf ihren nackten Armen breit. Das Sonnenlicht war zu einem leichenblassen Schimmern verkommen. Sie sah auf.

»Was tust du hier, Kind?«

Die Stimme klang tief, rau und seltsam. Gabi sah in das Gesicht des Mannes und schreckte zurück. Sie sah nun, warum sie keine Konturen hatte bemerken können – es gab keine. Das Gesicht war eine Masse aus Narben und nässendem Fleisch, in dem fünf Löcher gähnten. In den Löchern, dort wo einmal die Augen gesessen haben mussten, glommen zwei kleine Funken. Die geschrumpften Lippen umgaben das Mundloch, in dem sich schartig und schwarz aussehende Zähne zeigten.

Gabi wollte wegrennen. Ihre Beine blieben jedoch unbeweglich unter ihren Körper geschlagen. Nichts schien sie dazu bewegen zu können, diesen in die Höhe zu heben und von dem unheimlichen Mann wegzubewegen.

»Bleib ruhig.«

Gabi saß wie angeklebt auf ihren Beinen und starrte dem Mann in die Ruine seines Gesichts. Auch wenn sie keine echten Augen darin ausmachen konnte, so fühlte sie doch das Gewicht seines Blickes einer Tonnenlast gleich auf sich ruhen. Jede Bewegung, jede Flucht war ihr unmöglich.

»Gut«, sagte die grauenhaft seltsame Stimme zu ihr. »Bald wirst du den Übergang vollziehen.«

Der Fremde beugte sich zu ihr herab, und die Imitation eines Lächelns ließ einen weiteren Schauer durch Gabis Körper gehen. Ihr Gegenüber streckte eine Hand nach ihr aus und wollte ihre Stirn berühren. Gabi schrie.

 

***

 

»Was ist los? Gabi, was hast du?«

Tom war zu ihr gekrochen. Sie sah ihn orientierungslos an.

»Der Mann hat mich fast berührt«, stieß sie schließlich hervor.

»Wieder dein Traum, hm?«

Gabi wischte sich etwas Schweiß von der Stirn und nickte. Sie schwankte leicht, als der Lastwagen, auf dessen Ladefläche sie lagen, durch eine Bodenwelle rumpelte. Das Mädchen sah sich um, doch in dem wenigen Licht, das durch die Öffnung unter der hochgeschlagenen Plane am Heck drang, konnte sie nur Toms helles Gesicht erkennen. Er blickte sie besorgt an.

»Alles in Ordnung?«

»Alles in Ordnung.« Gabi nickte. »Das schreibt man O-R-D-N-U-N-G.«

Tom lächelte ein kleines trauriges Lächeln. »Ja. Alles in Ordnung.«

»Ich schlafe jetzt wieder«

Tom nickte erneut und legte sich ebenfalls wieder hin, als Gabi sich in ihre kratzige Decke wickelte. Bald ging sein Atem gleichmäßig und Gabi konnte verstohlen über ihre Schulter blinzelnd die ruhige Auf- und Abbewegung seiner Brust sehen. Sie sah hinaus auf die langsam hinter ihnen wegziehende Landschaft, die ruhig und friedlich im Mondschein dalag.

Einen Moment lang hatte Gabi den Eindruck, ein großer weißer Hund sei auf einem der Hügel, die sie gerade passiert hatten, erschienen, doch der Lkw senkte sich erneut in eine Bodenrinne und der kleine Ausschnitt der Welt, den ihre Augen erfassen konnten, kippte wieder weg.

Das Brummen des Motors lullte Gabi ein, und in dem Zwischenland, das Wachen und Schlafen voneinander trennte, wanderte sie zurück zu den Szenen, die sie in Nörvenich gesehen hatte …

 

 

Kapitel V

Lass dich überraschen

 

Robert Gernig ging mit Peter Strohm zum zweiten Mal um die Wagenburg herum. Es dämmerte. Ein gelblicher Schein am Horizont kündigte den neuen Tag an.

»Sag mal, ist dir was aufgefallen?«

Gernig hatte geflüstert, und sein Patrouillenpartner antwortete ebenso leise.

»Nee, was denn?«

»Es ist verdammt still.«

»Ja klar. Ist ja auch Natur. Was hast du erwartet? Eine Tanzband?«

»Du bist ein Stadtkind, oder?«

Strohm grinste. »Köln-Ehrenfeld.«

Gernig verdrehte die Augen. »Das erklärt manches. Was ich meinte, war, dass kein Vogel singt. Wir sind hier an einem gottverdammten Waldrand.«

»Naja, wir sind ja auch nicht gerade leise.«

»Das stört die meisten Vögel nicht, sonst gäbe es in Gärten keine Singvögel. Nee, du, das ist nicht normal.«

»Ach komm schon! Was soll denn sein? Meinst du, hier steht eine Horde Zombies im Wald und schlägt gleich los?«

»Nein, natürlich nicht. Wir sind kilometerweit von jeder größeren Stadt entfernt, aber es könnte trotzdem ein paar Verirrte geben, die hier durch den Forst schleichen.«

»Nun mal mal den Teufel nicht an die Wand! Und wenn hier tatsächlich einer auftaucht, haben wir die richtige Antwort für ihn.« Strohm hielt seine Uzzi hoch und zielte spielerisch über den Lauf.

Ein Ast knackte.

»Was war das?« Strohm war zusammengezuckt.

»Ist wohl doch nicht so weit her mit deinem Mut, was?« Gernig griente und zeigte auf den Ast, auf den er eben getreten war.

»Du Arsch!«

»Lass gut sein. Komm, wir gehen weiter.«

Die beiden machten sich wieder auf den Weg und setzten ihre Patrouille fort, dabei entfernten sie sich ein Stück aus dem trüben Lichtkreis, den die Tarnlampen der Fahrzeuge bildeten. Ihr Weg führte sie dicht an den Waldrand heran.

»Mist, ist das dunkel hier!«, fluchte Strohm.

»Der verdammte Mond steht hinter dem Wald. Siehst du die Baumspitzen? Dieses Leuchten dahinter, das ist er. Boah, was stinkt hier denn so? Mach doch mal die Taschenlampe an, vielleicht liegt da ein totes Tier.«

Strohm nestelte an der Lampe herum, die an seiner linken Brusttasche hing.

»Was dauert denn da so lange?«

»Gleich. Der verdammte Schieber klemmt.«

Etwas knackte vor ihnen im Wald.

»Mensch, Gernig, lass doch den Scheiß!«

»Ich war das nicht. Wahrscheinlich ein Reh oder so. Hoffentlich kein Wildschwein. Mach endlich die blöde Lampe an, dann sehen wir es ja.«

Mit einem vernehmlichen Klacken löste sich der verklemmte Schieber, und ein zittriger Lichtkegel erschien.

»Leuchte mal da nach links. Da … ach du Scheiße!«

Strohm und Gernig eröffneten gleichzeitig das Feuer. Sie schossen, bis die ersten Zombies sie erreichten. Mit ihren Schreien erstarb auch das Hämmern ihrer Uzzis.

 

***

 

Jörg Weimer erwachte aus schweißdurchtränktem Schlaf. Er hörte in der Ferne das Knallen von Schüssen. Sofort war er hellwach und sprang aus dem Lkw.

»Alarm! Freiwache sofort zu mir! Alarm!«

Weimer folgte dem Ruf, dessen Urheber er in der Dunkelheit nicht ausmachen konnte. Wenige Sekunden später stand er vor einem der Patrouillenteams.

»Sinsen, was ist hier los?«

»Von da drüben vom Waldrand kamen Schüsse und Schreie. Jetzt ist da nichts mehr. Und Patrouille zwo meldet sich nicht mehr.«

Weimer fluchte unterdrückt vor sich hin. »Okay, lassen Sie vor dem Führungswagen sammeln und Gefechtsfeldbeleuchtung abschießen. Die MGs auf der entsprechenden Seite bemannen!«

»Jawohl!«

Während Sinsen Befehle brüllend im Innenkreis der Wagenburg herumlief, eilte Weimer zu dem Lkw zurück, auf dem er geschlafen hatte.

Stephan war wach und sah ihn fragend an. »Was ist los?«

Weimer streifte sich seine Jacke über und schloss sein Koppel.

»Keine Ahnung. Es hat Schüsse gegeben. Wir werden nachsehen, was da los ist.«

»Klingt nicht gut. Soll ich mitkommen?«

Der Soldat zögerte einen Moment. »Nein, bleiben Sie bei den Kindern. Hier!« Er drückte Stephan ein Sturmgewehr in die Hand. »Können Sie mit einem G3 umgehen?«

»Nach Möglichkeit das dünne Ende nach vorne halten, oder?«

»Oh, ein Experte. Also gut. Diesen Hebel umklappen und kräftig nach hinten ziehen. Damit wird gespannt. Dann den Hebel hier über dem Abzug von S auf E stellen. Dabei immer das dünne Ende vom Körper weg. Den Hebel bloß nicht auf D stellen. Das heißt ›Dauerfeuer‹, und das brauchen Sie nicht. Alles klar?«

»Alles klar, Herr Kommissar.«

»Vormachen statt blöde Scherze reißen!«

Stephan spannte das Gewehr und schob den Sicherungshebel auf E.

»Lassen Sie mal sehen. Gut. Sie bleiben bei den Kindern, bis ich mich wieder melde.«

»Okay.«

Weimer sprang vom Lkw und lief zum Führungsfahrzeug. Etwa zwanzig Mann hatten sich dort versammelt.

»Wo ist die verdammte Beleuchtung?«, brüllte einer der Hauptfeldwebel.

Auf die geschriene Frage hin schossen zwei Leuchtraketen nach oben. Am Scheitelpunkt ihrer Flugbahn zündete der Magnesiumbrandsatz, und die Ladungen schwebten als gleißend helle Lichtkugeln an Fallschirmen nach unten.

»Oh, mein Gott!« Ein Soldat hinter Weimer hatte das gesagt.

»Oder Teufel. Dass müssen hunderte sein.« Jörg Weimer starrte auf die Linie der Zombies, die auf das Lager zukam. »Feuer!«

Weimers Befehl setzte eine Flutwelle von Kugeln frei, die gegen die Leiber und Köpfe der Zombies brandete. Dutzende fielen getroffen um und starben den endgültigen Tod. Der Rest marschierte unaufhaltsam weiter, angezogen von den Massen an rotem, pulsierendem Frischfleisch, das auf sie wartete.

Die Soldaten schossen gezielt auf die Köpfe der Untoten. Zombie um Zombie fiel zu Boden und blieb liegen, doch die schiere Anzahl war gewaltig, sodass die Lücken immer wieder aufs Neue geschlossen wurden. Der Schusslärm war ohrenbetäubend.

»Das schaffen wir nie!«, rief Sandra in Martins Ohr.

Der schüttelte den Kopf. »Wir müssen. Der Kinder wegen.«

Weitere Soldaten waren zum Kampfgeschehen geeilt und die Uniformierten standen nun den heranrückenden Zombies tief gestaffelt in drei Reihen gegenüber.

»Das reicht nicht. Verdammt, sie werden uns überrollen!« Verzweiflung machte sich in Jörg Weimer breit. »Also gut. Wir haben keine Wahl. Aufsitzen!«

Der Befehl wurde sofort weitergegeben. Weimer setzte sich ins Führungsfahrzeug und griff nach dem Sprechsatz des Funkgerätes.

»Hier Weimer. Wir rücken in Kolonnen ab. Wir fahren links an den Angreifern vorbei und folgen der Geländesenke. Drei Transporter fahren seitlich neben die Schützenkette und nehmen die Soldaten auf. Bestätigen!« 

Nach und nach kamen die Meldungen der Fahrer herein. Seit dem Beginn des Angriffs waren keine fünf Minuten vergangen.

Gabi erwachte und blickte Martin verängstigt an. »Was geschieht da?«

Ihre Frage war ein dünnes Piepen vor dem Lärmen der Schüsse und dem Dröhnen der Dieselmotoren.

Martin setzte sich zu Gabi. »Ich weiß es nicht. Wir werden angegriffen. Ich kann dir nicht sagen, wer das tut oder was da draußen geschieht. Aber wir werden wohl gleich weiterfahren. Hörst du die Motoren dröhnen? Gleich geht es los.«

Als Antwort klammerte sich Gabi Hilfe suchend an ihn.

 

***

 

Sinsen befand sich in vorderster Reihe und schoss auf die anrückenden Zombies. Nahezu jeder Schuss ließ eine der Kreaturen zu Boden gehen. Die Männer neben ihm taten es ihm gleich. Hinter ihnen hielt ein Fahrzeug.

»Los, rauf!«, schrie ihnen der Fahrer zu.

Sinsen sah kurz zu den Kameraden rechts und links von ihm. »Los, geht schon. Ich halte sie euch noch ein bisschen vom Leib.«

Die Soldaten ließen sich das nicht zweimal sagen.

»Okay, ihr hässlichen Säcke, dann kommt mal!«

Sinsen feuerte unentwegt weiter. Die Zombies waren inzwischen bis auf zwei Meter an ihn herangerückt.

»Okay, dass reicht«, entschied er, gab einen letzten Schuss ab und wandte sich zur Flucht.

Er war noch keine fünf Schritte weit gekommen, als er über eine Wurzel fiel. Benommen blieb er kurz liegen, dann wollte er sich aufrappeln, doch ein Geräusch hinter ihm ließ ihn innehalten.

Sinsen drehte sich langsam auf den Rücken. Die Zombies waren dicht herangerückt. Dem ersten schoss er in den Kopf. Dann feuerte er weiter, drängte die anrückende Woge für einen Moment zurück, bis der Schlagbolzen ins Leere traf. Sinsen schrie, bis es dunkel um ihn wurde.

 

 

Kapitel VI

Annäherung

 

Die Kolonne rumpelte weiter Richtung Bonn. Die Fahrer waren hoch konzentriert, froh, dadurch den Schrecken nicht an sich heranlassen zu müssen. Jörg Weimer saß zusammengesunken im Führungsfahrzeug und betete – ein stummes Gebet ohne Worte.

»Was denken Sie?«

Weimer zuckte zusammen. Neben ihm saß Herken, der Funker. Die rote Innenbeleuchtung ließ sein Gesicht blutüberströmt erscheinen.

Mühsam riss sich Weimer von dem Anblick los. »Ich … bete.«

»Das habe ich bis gestern Morgen auch jeden Tag getan.«

»Ich habe seit Jahren nicht mehr gebetet.«

Herken nickte. »Der eine findet im Unglück zum Glauben, der andere verliert darin alle Hoffnung.«

»Das klingt sehr bitter, Herken. Sie haben doch gerade gesagt, Sie hätten jeden Tag gebetet, oder nicht?«

»Bis gestern Morgen, ja. Und was hat es gebracht? Wie viele von uns werden Bonn überhaupt erreichen? Nein, Weimer, beten hilft nicht mehr. Warum sollte ich also Atem vergeuden? Wer weiß, wie viele Atemzüge mir überhaupt noch bleiben?«

Weimer überließ sich eine Weile den Stößen des Lkw, der durch das Gelände rumpelte, dann sah er den Funker wieder an.

»Herken, ich verstehe, was Sie meinen. Aufgeben hilft aber auch nicht. Wir sind noch zehn Kilometer von Bonn entfernt. Wenn alles gutgeht, erreichen wir die Stadtgrenze in zwei Stunden. Dann sind wir erst einmal in Sicherheit. General Dupont sammelt alle Truppen dort. Wenn wir die Stadt erreicht haben, können wir uns ausruhen und den Scheiß, der hinter uns liegt, eine Weile vergessen.«

Herken schnaubte. »Pah, ausruhen! Dupont wird uns direkt wieder einsetzen. Ich kenne diese Heizdüse. Der wird sich nicht einigeln, sondern Säuberungsaktionen durchführen lassen. Köln war nur der Anfang. Er wird möglichst viel sicheres Gebiet um Bonn herum schaffen wollen. Oh nein, wir werden ganz bestimmt alles mögliche tun, aber uns nicht ausruhen.«

»Warten wir es ab. Versuchen Sie, ein bisschen zu schlafen. Ich übernehme für Sie.«

Herken sah ihn nachdenklich an. »Warum machen Sie nicht für eine Weile die Augen zu? Sie haben doch sicherlich seit Tagen nicht geschlafen.«

»Wohl war. Allerdings sehen Sie so aus, als bräuchten Sie die Ruhe dringender als ich.«

Und ich muss keine brennenden Lkw sehen und Schreie hören, wenn ich die Augen schließe.

 

***

 

Sandras Kopf bewegte sich im Auf und Ab des Wagens hin und her. Sie lehnte an Martins Schulter, und er konnte ihr Schnarchen über das Brummen des Motors hinweg hören. Ihm war schleierhaft, wie sie angesichts der letzten Ereignisse schlafen konnte, doch er beneidete sie darum. Martin war sich seiner Gefühle für Sandra sehr unsicher. Immer wenn es schien, als entstehe ein Band zwischen ihnen, zerriss ein Ereignis oder eine Äußerung von ihm oder ihr das dünne Fädchen wieder. Er seufzte. Sandras Schnarchen brach ab.

»Was’n los?«, murmelte sie verschlafen.

Mist, ich habe sie geweckt, schoss es Martin durch den Kopf. Laut sagte er: »Was soll denn los sein?«

»Du hast so vor dich hin gebrummelt.«

Jetzt führe ich schon Selbstgespräche.

»Ich bin … Ich möchte …«

»Ja?«

Martin atmete tief durch.

»Sandra, meinst du, ich schaffe einen Entzug?«

»Oh!«

»Was meinst du? Kann ich es schaffen?«

»Du hast es bisher geschafft, weder umgebracht zu werden noch jemanden aus Versehen zu erschießen. Vielleicht könntest du tatsächlich ein brauchbares Mitglied der menschlichen Restgesellschaft werden.«

»Ich meine es ernst!«

Sandra sah ihn mit schiefgelegtem Kopf an. Schließlich nickte sie.

»Ja, du meinst es tatsächlich ernst.« Sie seufzte. »Ich kann dir nicht sagen, ob du es schaffen wirst. Ich kann dir aber sagen, dass dich ein harter Weg erwartet. Ein Freund von mir hat es versucht – einen kalten Entzug. Es hat ihn fast umgebracht. Und im Endeffekt war es umsonst. Er war clean, aber er hatte AIDS durch seine scheiß Fixerei. Benutzte Spritzen hat der Idiot genommen.«

»Das tut mir Leid. Vielleicht fällt es mir ja etwas leichter.«

»Ja, vielleicht. Ich … ich würde es mir wünschen, für dich.«

Martin sah sie verblüfft an. Das klang ja fast wie … 

Mit einem Ruck kam der Lkw zum Stehen.

»Verdammt! Was soll das denn jetzt schon wieder?« Übergangslos war Sandra in ihre Rolle als taffe Frau gefallen.

»Ich erkundige mich mal.«

Martin verließ die Ladefläche und ging nach vorne zum Fahrer. Dieser stand vor dem Wagen und rauchte eine Zigarette. Martin gesellte sich zu ihm. Der Mann hielt ihm sein Zigarettenpäckchen hin.

»Auch eine?«

»Gerne. Danke.«

»Halten Sie sie so, damit niemand die Glut sieht.«

»Was ist denn los? Warum haben wir gehalten?«

»Wir haben ein Problem. Eine Brücke ist eingestürzt und blockiert die Euskirchener Straße. Wir kommen nicht weiter.«

»Und jetzt?«

»Machen wir erst einmal Pause, bis es neue Befehle gibt.«

»Und nach der Pause?«

»Müssen wir woanders langfahren, das kostet uns sicher Stunden. Ich habe langsam keinen Bock mehr. Ich will einfach nur nach Bonn und dort in Sicherheit sein.«

»Sicherheit? Wie soll das denn gehen?«

Der Fahrer sah ihn skeptisch an. »Sie haben nichts mitgekriegt in den letzten Tagen oder? General Dupont hat in Bonn den Oberbefehl über die noch existierenden NATO-Truppen übernommen. Er hat Bonn abgeriegelt und gesäubert, jetzt dehnt er den Schutzgürtel weiter aus.«

»Okay.« Martin streckte das Wort. »Was heißt gesäubert?«

Der Fahrer sah Martin verdutzt an. »Na, gesäubert. Ausgebrannt, sozusagen.«

»Und jetzt ist es zombiefrei?«

»Vollkommen. Und darum will ich dorthin.«

»Kann ich verstehen.«

»Stattdessen stehen wir hier nutzlos in der Gegend herum. Zum Kotzen!«

»Danke für die Zigarette. Ich trolle mich mal wieder nach hinten.«

»Ist gut.«

 

***

 

Gabi empfand Wohlbehagen und gab leise Geräusche von sich, die einer schnurrenden Katze ähnelten. Sanfte Hände streichelten sie und liebkosten ihr Gesicht. Obwohl sie schlief, ließ ein Lächeln ihr Gesicht strahlen. Die Gestalt, die neben ihr kniete und mit den Händen Über Gabis Körper fuhr, atmete immer heftiger, je länger sie sich damit beschäftigte.

 

***

 

Jörg Weimer stieg auf die Ladefläche des Lkw, auf dem ein Teil der Kinder untergebracht war. Eine unbestimmbare Unruhe hatte ihn ergriffen, und er wollte nachsehen, ob es den Jüngsten im Konvoi gut ging. Er schaltete seine Taschenlampe ein und richtete sie aus.

»Was machen Sie da?«, rief Weimer der Person zu, die sich erschrocken im Lampenschein aufrichtete.

»Gabi hat im Schlaf gestöhnt, da wollte ich nach ihr sehen, ob alles in Ordnung ist«, antwortete Stephan.

»Und?«

»Sie scheint Fieber zu haben.«

»Immer noch? Hängt das vielleicht mit ihrem Asthma zusammen?«

Gabi regte sich. Blinzelnd schaute sie in das Licht der Taschenlampe. »Wer bist du?« Ihre Stimme klang atemlos uns schwach.

»Ich bin es, Jörg. Wie geht es dir?«

»Nicht gut. Mir ist heiß. Das schreibt man H-E-I-ß.« Sie hustete.

»Bestimmt hast du dir eine Erkältung eingefangen. Weißt du, Kinder wie du haben ein schwächeres Immunsystem als andere Kinder. Ist es denn schlimm?«

»Sehr.«

»Ich schaue mal, ob ich irgendwas an Medikamenten für dich auftreiben kann.«

»Das wäre toll«, mischte sich Stephan ein. »Ihr geht es wirklich nicht gut, und ein paar Antibiotika wären toll.«

»Ich schaue mal, was ich organisieren kann.«

»Danke. Ich bleibe solange bei ihr.«

»Das wäre vielleicht nicht schlecht. Haben Sie Wasser hier und könnten ihr ein paar kalte Umschläge machen?«

»Denke schon.«

»Okay, dann bis gleich.«

Weimer stieg vom Wagen und machte sich in Richtung Sanitätsfahrzeug auf den Weg, dabei passierte er einige der Fahrzeuge des Konvois. Als er eines davon umrundete, vernahm er die typischen Geräusche einer Schlägerei.

»Ihr verdammten Atheisten! Ihr kennt doch nur Gewalt und Tod!«

Weimer kannte die Stimme. Sie gehörte dem Priester, der mit der Kindergruppe angekommen war.

»Jetzt beruhigen Sie sich mal, Herr Pfarrer.«

Einer der umstehenden Soldaten hatte dem Gottesmann die Hand auf die Schulter gelegt. Mit Schwung krachte die Faust des kräftigen Klerikers gegen das Kinn des Unglücklichen.

»Fass mich nicht an«, knurrte der Hüne.

Weimer trat dazwischen. »Es reicht, Stark. Hören Sie auf!«

»Aufhören? Die Taugenichtse haben sich gegen den Herrn versündigt. Sehen Sie! Sie haben sich ›in odd we trust‹ auf die Helme geschrieben.«

Stark hatte mit der überklaren Aussprache der wahrhaft Betrunkenen gesprochen. Weimer nahm ihn am Arm und zerrte ihn von den Soldaten weg, die ihn unverhohlen aggressiv anstarrten. Einer von ihnen rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das Kinn.

»Sind Sie eigentlich wahnsinnig?«, fauchte Weimer den Geistlichen an, als sie sich ein paar Meter entfernt hatten. Er drückte den Mann zu Boden, direkt neben dem Stamm einer Eiche, gegen den sich Stark sogleich lehnte.

»Nicht wahnsinnig, nur frustriert.«

»Warum?«

»Sehen Sie sich doch um. Die ganze verdammte Welt geht zugrunde, und Gott hat uns schon längst den Rücken zugekehrt.«

»Und trotzdem haben Sie ihn verteidigt?«

»Was habe ich denn sonst zu tun? Unterricht ist nicht möglich, weil die Kinder auf verschiedene Wagen aufgeteilt sind, und einen Gottesdienst werden wir wohl kaum abhalten.«

»Sie fühlen sich also nutzlos?«

»Schlimmer.«

»Schlimmer?«

»Viel schlimmer. Ich fühle mich alleingelassen.«

»Von uns?«

»Von Gott. Ich spüre ihn nicht mehr.« Stark begann zu kichern. »Aber ich habe einen neuen Gott, den Gott Johnny.«

»Sie sind ein seltsamer Mann, Stark. Einerseits prügeln Sie sich, weil ein paar junge Männer einen coolen aber vermeintlich gotteslästerlichen Spruch auf ihre Helme geschrieben haben, andererseits klagen Sie darüber, dass Gott Sie verlassen habe.«

Der Pfarrer antwortete nicht.

»Stark?«

Weimer berührte den Mann leicht an der Schulter. Stark begann zu schnarchen, und seine linke Hand fiel zu Boden. Etwas rollte klimpernd davon. Weimer leuchtete mit der Taschenlampe hinterher. Das fahle Licht ließ ihn eine leere Flasche Johnny Walker erkennen. Weimer seufzte und stand auf.

Du wirst uns noch einiges an Kopfzerbrechen bereiten, alter Mann.

Jörg Weimer ging wieder zurück zum Konvoi. Nach kurzer Zeit erreichte er das Sanitätsfahrzeug und klopfte an die Hecktür. Stabsarzt Raudeg öffnete.

»Hauptmann Weimer? Was kann ich für Sie tun?«

»Ich benötige Medikamente für einen Kranken.«

»Einer der Männer? Warum stellt er sich nicht zur Untersuchung vor?«

»Es ist keiner der Soldaten.«

Raudeg zog die Augenbrauen nach oben. »Wer ist es denn dann? Jemand von den Zivilisten?«

»Bei Ihnen klingt das fast wie ein Schimpfwort. Und ja, für eine Zivilistin.«

»Ohne Diagnose kann ich schlecht Medikamente austeilen. Sie soll herkommen, dann untersuche ich sie.«

»Ich fürchte, dazu ist Gabi zu schwach.«

»Gabi?«

»Das Downmädchen.«

»Ach die. Da kann ich wenig machen.«

»Was?«

»Ich habe keine Asthmapräparate, und etwas anderes braucht sie nicht.«

»Ich glaube, sie hat sich erkältet. Vielleicht können Sie mir ein paar Antibiotika geben.«

»So, so, Arzt sind Sie also auch.«

»Nein, natürlich nicht. Vielleicht kommen Sie doch besser mit und untersuchen Sie.«

»Jetzt passen Sie mal auf, Herr Weimer. Ich bin hier für die Gesundheit von rund 350 Soldaten verantwortlich, die auf einem unerwartet schwierigen Marsch zu einer neuen Verwendungsstelle sind. Warum glauben Sie, ich hätte Zeit und Lust, mich um ein Zivilistenkind zu kümmern, das unter einem Gendefekt leidet, den ich ohnehin nicht behandeln kann?«

»Ich …«

»Ich habe noch zu tun. Gute Nacht, Herr Hauptmann.«

Vor Weimers verdutztem Gesicht schloss sich die Tür des San-Lkw wieder.

»Aber …«

Jörg Weimer weigerte sich einen Moment lang zu akzeptieren, was hier gerade geschehen war. Dann schaltete sich sein militärischer Verstand ein. Er wägt ein Leben gegen das aller anderen ab. Hoffe ich. 

Weimer ging zurück zu dem Lkw mit Gabi. Er stieg hinauf und kniete sich neben das Mädchen.

»Ich kann dir leider im Moment keine Medizin bringen. Wir sind etwas knapp damit. Aber im Stützpunkt bekommst du bestimmt welche.«

Stephan blickte erstaunt zu Weimer. Er hatte bereits einen Kommentar auf den Lippen, als er genauer hinsah. Er schluckte seine Bemerkung und schüttelte den Kopf. Weimer nickte, dann machte er Anstalten, den Lkw wieder zu verlassen.

»Einen Moment!« Tom kam zu ihm und nahm ihn beim Arm. »Kö-kö-nnnn-en wir reden?«

»Ja, klar.«

»N-n-nicht h-h-h…« Tom flüsterte, was es ihm sehr schwer zu machen schien, klar zu sprechen.

»Hier?«

Tom nickte.

»Lass uns nach draußen gehen. Die Beine vertreten wird uns guttun.«

Beide kletterten vom Lkw und entfernten sich ein wenig davon.

»Was möchtest du mir denn sagen?« Weimer spürte die große Angst des Jungen in Wellen auf sich zukommen. Seit vielen Jahren schon spürte er die Gefühle anderer, wenn sie stark genug waren.

»Ich … muss Ihnen etwas erzählen. Über mich. Und die anderen.«

»Welche andere?«

»Die anderen Kinder.«

»Was meinst du?«

Statt einer Antwort starrte Tom den Soldaten nur an. Dann hob er die Arme und streckte seine Hände in Richtung von Weimers Kopf aus. Dieser wich zurück.

»Was willst du?«

»So ist es einfacher. Bitte.«

Fast flehentlich streckte Tom wieder seine Hände aus. Weimer blieb diesmal stehen und ließ zu, dass der Junge ihn an den Schläfen berührte.

Du bist einer von uns.

Weimer atmete tief und heftig ein.

Ganz ruhig. Durch den Kontakt wird es einfacher. Du hast eine Gabe in dir, so wie wir Kinder. Du weißt es, nicht wahr?

»Was … was tust du?«

Dir etwas klarmachen. Du hast eine Gabe, so wie wir, so wie Martin. Du gehörst zu uns. Was auch immer geschieht, du bist ein Teil unserer Gemeinschaft.

»Das … das ist doch Unsinn! Ich glaube nicht an diesen parapsychologischen Quatsch!«

Du kannst nichts vor mir geheim halten.

Jörg Weimer sackte förmlich in sich zusammen. Er wusste, dass Tom recht hatte. Seine Gabe hatte sich schon oft gezeigt, ohne dass er sich ihrer bewusst war. Und noch etwas wurde ihm klar, und Tom schien es im selben Moment auch eingefallen zu sein.

Darüber haben wir noch gar nicht nachgedacht. Für uns war es immer irgendwie selbstverständlich, dass man uns jetzt akzeptieren würde. Das Bild der Labormäuse in deinem Kopf macht mir Angst.

Weimer lächelte zaghaft. »Wenn ihr euch bedeckt haltet, eure Gaben nicht benutzt und auch nicht darüber sprecht, sollte alles in Ordnung sein.«

Aber … warum?

»Der Mensch fürchtet sich in den Tiefen seiner Seele vor dem Fremden. Alles, was er nicht kennt und nicht kontrollieren kann, macht ihm Angst.«

So etwas wie wir?

»So etwas wie ihr. Für ›den Staat‹ seid ihr ein potentielles Sicherheitsrisiko. Niemand kann eure Fähigkeiten einschätzen, geschweige denn eure Gesinnung überprüfen.«

Wir wollen helfen, mehr nicht.

»Das weiß ich. Jetzt. Wenn du mir es nur gesagt hättest, hätte ich es vermutlich nicht geglaubt.«

Du hast auch eine Gabe in dir.

»Ja und?«

Du musst es doch gespürt haben!

»Ja … nein … ja … Ach, ich weiß nicht. Jedenfalls müsst ihr unter allen Umständen verbergen, was ihr seid und was ihr könnt.« Eine Welle der Enttäuschung brandete über den Hauptmann hinweg. »Es tut mir leid, Tom. Mehr kann ich dir nicht sagen, und einen besseren Rat kann ich dir nicht geben.«

Weimer sah dem Jungen nach, als dieser zum Lkw zurückschlich und sich mühsam auf die Ladefläche zog.

 

 

Kapitel VII

Das gelobte Land

 

»Unglaublich, ich habe schon nicht mehr daran geglaubt.«

»Na, na, na, Herken. Sie tun ja so, als wenn wir 40 Jahre durch die Wüste gezogen wären.«

»So fühle ich mich auch, Herr Weimer. Die letzten paar Stunden haben mir den Rest gegeben. Dieses Navigieren nach den Funksprüchen aus Bonn war schon sehr speziell.«

»Sie haben das großartig gemacht. Ohne diese Anweisungen wären wir auf irgendeine Mine aufgefahren. Duponts Leute waren sehr gründlich.«

»Ein verdammtes Fort Knox hat er aus Bonn gemacht.«

»Der General hat es zu einer sicheren Stadt gemacht. Ohne ihn hätten wir keine Rückzugsmöglichkeit mehr gehabt.«

»Trotzdem. Soviel Paranoia kann nicht normal sein.«

»Haben Sie Nörvenich schon vergessen? Also gut, dann wollen wir mal!«

Weimer gab dem Fahrer ein Zeichen. Langsam rollte der Konvoi auf den Patrouillenstützpunkt zu, der die nach Bonn führende Straße abriegelte. Ein Wachposten trat ihnen entgegen. Das Führungsfahrzeug hielt, und Weimer stieg aus.

»Wir sind die Überlebenden aus Nörvenich. Wir hatten uns schon per Funk verständigt.«

Der Wachhabende starrte den abgerissen wirkenden Hauptmann vor sich an.

»Okay, fahren Sie sofort zum San-Bereich und lassen Sie sich testen. Die nächste Abzweigung rechts.«

Weimer salutierte knapp, dann saß er wieder auf und gab das Signal zur Weiterfahrt. Die Wachsoldaten beobachteten die Durchfahrt des Konvois mit Argusaugen. Der Weg zur Abzweigung war nur kurz, und bald standen sie vor dem Gebäude, in dem die Tests gemacht werden sollten, die ihr weiteres Schicksal bestimmen würden.

»Wir sind der Konvoi aus Nörvenich«, wiederholte Weimer sein Sprüchlein beim wachhabenden Unteroffizier des San-Bereichs.

 

***

 

General Dupont saß hinter dem Schreibtisch und sah seinen Besucher über die zu einem Dach zusammengelegten Fingerspitzen hinweg an. Die Augen des Generals waren leicht zusammengekniffen.

»Also, Herr …«

»Gabriel. Nennen Sie mich einfach Gabriel.«

»Also gut, Herr Gabriel …«

»Nur Gabriel bitte.« Der schwarzgekleidete Besucher lächelte freundlich.

Dupont räusperte sich. »Nun gut, Gabriel. Erzählen Sie mir, warum ich Ihrem Bericht Glauben schenken sollte. Und beeilen Sie sich, in einer halben Stunde beginnt die Abendandacht.«

»Mon Général, Sie werden mir sicherlich zustimmen, dass der sittliche Verfall der Gesellschaft in den letzten Jahren extrem war, oder?«

»Das bedarf keiner Bekräftigung.«

»Und Sie werden mir auch zustimmen, dass in dieser Zeit der Promiskuität, des Drogenmissbrauchs und der Lust an der Lüge das Wort Gottes verweht ist wie Sand im Wind.«

»Das sind alles Wahrheiten – bittere Wahrheiten. Aber was hat das mit Ihrem Bericht zu tun? Mein Adjutant war sehr unpräzise.«

»Weil er keine Details von mir hatte. Doch was ich zu sagen habe, ist enorm wichtig – sogar überlebenswichtig für Ihr Vorhaben.«

»Mein Vorhaben?«

»Ich respektiere in höchstem Maße, was Sie hier tun: Ihr Streben, Bonn zu einem Hort der Sicherheit und des Glaubens zu machen, während die Welt in Trümmern liegt. Der Weg ist der richtige.«

»Gibt es denn überhaupt einen anderen Weg, Gabriel? Der Herr hat sich von seinen Kindern abgewandt, weil sie ihn maßlos enttäuscht haben. Es liegt an uns, ihm zu zeigen, dass die Menschen eine zweite Chance verdienen.«

»Bravo, wohl gesprochen! Auf meinem Weg zu ihrem Büro hat mich die Gottesfürchtigkeit Ihrer Männer beeindruckt. Die Kruzifixe, die Rosenkränze. Sie erwähnten gerade die Abendandacht. Ich sehe, Sie wollen den Menschen wieder den rechten Weg zeigen.«

»Mehr als das. Ich will, dass die Menschen sich unter dem Dach des Herrn sicher und geborgen fühlen, dass sie seine Gebote achten und ihn preisen dafür, dass sie noch leben. Ich will hier in Bonn eine Heilige Nation errichten. Ich bin überzeugt, dass die zehn Gebote verbunden mit Gottesfurcht ausreichen, um das Zusammenleben der Menschen zu regeln. Und ich bin überzeugt, dass die Bibel als Leitfaden für unserer Leben alleine Gültigkeit haben kann und wird. Dann, und nur dann, wird Gott uns wieder als seine Kinder akzeptieren und diese Geißel ausmerzen. Dann wird Frieden auf Erden herrschen.«

Dupont stutze kurz und fragte sich, warum er einem völlig Fremden seine Pläne verriet.

Gabriel lächelte. »Frieden soll auf Erden herrschen, wohl wahr. Und um die Gebote durchzusetzen: Welche Methoden wenden Sie an?«

»Wie ich schon sagte, wir begreifen die Bibel als Leitfaden für unser Zusammenleben. Dort finden wir die Regeln, die unsere Gemeinschaft zusammenhalten und ihr Überleben sichern. Wer sich nicht an diese Regeln hält, der muss entfernt werden.«

»Das klingt aber nicht gerade nach militärischen Regeln.«

»Die militärische Struktur, die wir hier haben, macht die Umsetzung meiner Pläne deutlich einfacher. Die Gebote des Herrn sind den militärischen Regeln recht ähnlich.«

Gabriel nickte.

»Warum erzähle ich ihnen das? Was haben Sie mit mir gemacht?«

Deutlich war aus Duponts Gesicht zu lesen, wie sehr es ihm widerstrebte, seine Pläne zu offenbaren. Sein Gegenüber lächelte ihn offen an.

»Ich sehe eben vertrauenswürdig aus.«

Dupont nickte.

»Außerdem bin ich gekommen, weil ich Sie warnen will.«

»Warnen?«

»Ihre kleine Nation ist dabei, von innen zerstört zu werden.«

»Wie soll das geschehen? Meine Leute sind unserer Sache treu ergeben. Niemand wird sich gegen seine Brüder und Schwestern stellen. Die, die es gewagt haben, haben wir aus der Gemeinschaft entfernt, wenn sie nicht bereit waren, ihr Fehlverhalten einzusehen.«

»Ich spreche nicht von den Mitgliedern ihrer Gemeinschaft.«

»Von wem dann?«

Gabriel lehnte sich in seinem Stuhl zurück und betrachtete die Nägel seiner rechten Hand, während er mit der linken einige komplizierte Gesten ausführte, bei denen sich die Finger gegenseitig zu durchdringen schienen. Dupont starrte gebannt darauf, und Gabriel sprach in einem monotonen Tonfall weiter.

»Es werden Flüchtlinge kommen. Eine Gruppe von Kindern ist unter ihnen. Diese Kinder sind Sendboten des Verderbers der Welten. Jene werden daran zu erkennen sein, dass keiner von ihnen ohne Fehl ist. Sie werden kränklich und schwach erscheinen, doch haben sie alle besondere Gaben, abscheulich und widernatürlich. Wenn man in ihre Gehirne schaut, so kann man es aus den Linien lesen. Sie dürfen nicht zusammenbleiben, ihre Macht ist sonst unendlich, und sie werden Tod und Vernichtung bringen. Eine von ihnen trägt bereits den Odem des Bösen in sich. Und nun leben Sie wohl, Général.«

Dupont blinzelte, als sei er aus einem Nickerchen erwacht. Mit einer fahriger Geste strich er sich über die Augen. Kurz schaute er auf den leeren Stuhl vor sich. Einen Moment lang hatte er das Gefühl, dort habe gerade noch jemand gesessen, doch das war wohl nur ein Nachhall der unzähligen Besucher, denen er jeden Tag gegenübersaß. Er schüttelte den Kopf, um wieder ganz klar zu werden, dann drückte er den Knopf der Gegensprechanlage.

»Dahlbusch, kommen Sie doch bitte einmal her.«

Kur darauf betrat der Gerufene das Büro des Generals. Der Adjutant war eine durch und durch zackige Erscheinung, so sehr, dass er mehr wie ein klischeehaft besetzter Schauspieler denn wie ein Soldat wirkte, doch der Eindruck täuschte. Dahlbusch trat vor den Schreibtisch und grüßte militärisch.

»Nehmen Sie Platz. Dahlbusch. Ich glaube, wir tun nicht genug dafür, unsere kleine Gemeinschaft rein zu halten.«

»Mon Général?«

»Wir sollten besser kontrollieren, wer oder was Mitglied wird.«

»Ich verstehe nicht?«

»Ab sofort wird neben dem Gentest auch ein EEG gemacht. Wir müssen vermeiden, dass ein körperlich scheinbar Gesunder geistig unrein ist. Stellen Sie sich einmal vor, ein Schizophrener oder jemand mit einer anderen Anomalie würde unseren ohnehin schon kleinen Genpool verunreinigen. Nicht auszudenken!«

Dahlbusch machte sich Notizen auf seinem Block.

»Warum schauen Sie so nachdenklich, Dahlbusch? Erwarten Sie Schwierigkeiten?«

»Technisch ist es kein Problem, das umzusetzen. Auch die Selektion der Betroffenen sollte einfach sein. Wir müssen nur entscheiden, wie wir mit ihnen umgehen wollen.«

»Da wird uns schon ein Weg einfallen. Vergeuden wollen wir sie schließlich nicht.«

Duponts Adjutant nickte, er hatte mit dieser Antwort gerechnet.

»Für die jetzt ankommenden Flüchtlinge sehe ich kein Problem. Was aber ist mit den schon integrierten Menschen? Und was mit unseren Leuten?«

»Gute Fragen, wie von ihnen zu erwarten war.« Dupont lächelte. »Die Zivilisten sind umgehend zu testen, die Soldaten danach.«

»Ich werde entsprechende Pläne ausarbeiten. Soll ich Internierungsmöglichkeiten für die Selektierten berücksichtigen?«

Dupont trommelte nachdenklich mit den Fingern auf der Schreibtischplatte, dann hörte er abrupt damit auf.

»Tun Sie das. Wenn wir viel Glück haben, brauchen wir sie nicht. Andernfalls sind wir wenigstens nicht unvorbereitet.«

Dahlbusch beendete seine Notizen und erhob sich.

»Noch etwas, Dahlbusch.«

Der Angesprochene hob fragend eine Augenbraue.

»Lassen Sie ruhig durchsickern, was den auffällig Gewordenen blühen wird.«

 

***

 

Tom sah sich verängstigt in der Sanitätsstation um. Der Wartebereich und die dahinterliegenden Vorsortierungskabinen glichen einem Schwarm Ameisen. Es kostete ihn Mühe, sich gegen die anbrandenden Gefühle und Gedanken zu isolieren. Eine Hand legte sich auf seine Schulter und drückte beruhigend. Tom sah zu Martin hinauf.

»Keine Angst. Die wollen bloß testen, ob wir irgendwelche Krankheiten einschleppen.«

Tom schüttelte nervös den Kopf. »Da ist noch mehr«, flüsterte er Martin ins Ohr.

»Was denn noch?«

Martin flüsterte jetzt ebenfalls.

»Ich kann Jessica fühlen. Sie machen irgendwelche Test mit ihr. Sie hat eine … ich weiß nicht, was das ist. Aber es sind jede Menge Drähte dran. Sie hat es auf dem Kopf.«

»Und was macht das Ding?«

»Nichts. Aber da ist noch so ein Gerät, aus dem kommt Papier mit Linien drauf heraus.«

»Ah, okay. Das ist wahrscheinlich so ein EEG.«

»Was ist das?«

»Damit zeichnet man Hirnströme auf.«

»Wir haben Strom im Gehirn?«

»So in etwa.« Martin lachte leise. »Das Gehirn produziert ganz schwache Stromimpulse, und die kann man aufzeichnen und untersuchen.«

»Wozu?«

»Der nächste!«

Eine Krankenschwester kam auf sie zu und forderte mit einer Geste Tom auf, ihr zu folgen. Der Junge sah mit bleichem Gesicht zu Martin.

»Schon gut, es wird dir nichts passieren. Wir sind hier in Sicherheit.«

Tom ging mit der Schwester, doch seine Körpersprache schrie seine Angst förmlich hinaus. Es schnürte Martin die Kehle zu, doch er lächelte weiter beruhigend und winkte dem Jungen zu. Schließlich verschwand Tom durch die Tür, auf der »Untersuchung 1« stand. Seine Gefühle jedoch, die Panik, erreichten Martin immer noch in Wellen.

Martin sah sich in dem überfüllten Wartezimmer um. Er war der letzte aus der Flüchtlingsgruppe. Die Kinder befanden sich bereits alle bei der Untersuchung. Die Soldaten waren nicht mit in den Sanitätstrakt gekommen. Was Martin ein bisschen gewundert hatte, war, dass man Sandra und die Mädchen der Gruppe in einen gesonderten Wartebereich geführt hatte.

Unauffällig betrachtete er die anderen Jungen und Männer, die hier mit ihm warteten. Sie waren kurz nach dem Treck aus Nörvenich angekommen. Martin schaute in Gesichter voller Erschöpfung. Dem Zustand nach hatten die Flüchtlinge viel – sehr viel – mitgemacht. Er konnte viel Trauer in ihren Mienen lesen.

Was müssen sie erlebt haben?

Martin lehnte den Kopf an die Wand und schloss die Augen. Er blendete die Geräusche um sich herum aus, dann stellte er sich vor, seine Gedanken wären Arme, die im Dunklen nach anderen Armen tasteten. Er suchte die Präsenzen der Kinder. Ein wenig fühlte er sich dabei lächerlich.

Was tue ich da eigentlich?

Er schüttelte leicht den Kopf und konzentrierte sich noch mehr. Er stellte sich nun die Bewußtseine der anderen als Lichtinseln vor, die er in der ihn umgebenden Dunkelheit finden musste.

Nichts.

Martin öffnete die Augen wieder. Wenn er wirklich mit den Kindern oder zumindest einem von ihnen Kontakt aufnehmen wollte, so musste er offensichtlich anders vorgehen.

Erneut schloss er die Lider. Diesmal sah er sich selbst als hell strahlenden Leuchtturm, der sein Licht kreisen ließ. Runde um Runde sandte er seinen Ruf aus, doch er bekam keine Antwort.

Plötzlich glaubte er, eine leichte Reflexion zu sehen. Er schwang sich auf dieses schwache Echo ein, und tatsächlich, er hatte einen Kontakt!

Gabi, bist du das?

Schwach, ganz schwach kam die Antwort: Ja. Martin, bist du es? 

Ja. Wie geht es dir?

Nicht gut. Mir ist schlecht und ganz heiß. Die stellen so komische Sache mit mir an.

Was für komische Sachen?

Sie stechen Nadeln in mich und haben mir ganz viel Blut abgenommen.

Haben sie schon dein EEG gemessen?

Mein was? Gabi war verwirrt.

Martin suchte ein Bild in seinem Geist, das er Gabi senden konnte. Hier, haben sie dir schon so eine Haube aufgesetzt? 

Gabi stutzte kurz. Genau so eine Haube. Woher weißt du das? 

Tom hat erzählt, das Jessica so eine Haube aufhatte. Man scheint eure Gehirne untersuchen zu wollen.

Warum?

»Ja warum?«, murmelte Martin vor sich hin. Gabi? Hat irgend jemand schon mit dir gesprochen, warum die Tests gemacht werden? 

Nein. Das Mädchen schüttelte mental den Kopf. Die sprechen hier sowieso nicht viel, nur »dreh dich um, zieh dich aus, zieh dich an, mach den Arm« und sowas. Das macht mir alles Angst, Martin. 

Bleib ganz ruhig, es ist bald alles vorbei.

Schweiß hatte sich mittlerweile auf Martins Stirn gesammelt. Er merkte, wie seine Konzentration verschwand wie Wasser im Wüstensand.

Gabi, ich versuche so lange mit dir in Kontakt zu bleiben wie möglich. Sei tapfer, hörst du?

Ich habe Angst. Hol mich bitte hier heraus!

Keine Angst, meine Kleine, bald ist das alles hier vorbei. Dann sitzen wir zusammen und trinken eine schöne Tasse Kakao.

Das schreibt man K-A-K-A-O.

Das machst du ganz toll.

Martin meinte damit nicht nur den Kakao. Er spürte, wie ihm Gabi entglitt. Er spürte aber auch, dass sie sich entspannte und in einem Zustand zwischen Schlaf und Wachsein glitt.

 

***

 

Am Rande des Verbrannten-Maar-Forstes stand eine Gestalt in der Dunkelheit und blickte auf den Widerschein am Horizont.

»Dort sammeln sie sich. Sie bauen Gräben und Stacheldrahtwälder, um sich vor deinen Soldaten zu schützen.«

Die dunkle Gestalt war beim Klang der Stimme nicht zusammengezuckt, sie hatte den Sprecher schon erwartet.

»Sie sperren dich aus und schmieden Pläne, wie sie deine Soldaten ausrotten können.«

Die Gestalt starrte weiter auf den Schein am Horizont. Keine Regung ging durch den Körper. Gabriel trat vor sie hin und zwang ihren Blick auf sich.

»Frank, du bist mein General. Noch. Doch bisher kann ich nicht sagen, dass du bedeutende Erfolge errungen hast. Ganz im Gegenteil. Mehr als zu versagen hast du noch nicht zuwege gebracht.« 

Frank knurrte tief in seiner Kehle. »Dein General? Was bin ich denn für ein General, der ich nur über diese schwachen Kreaturen befehlen kann? Am Tage bewegen sie sich in Zeitlupe, und bei Nacht fressen sie sich gegenseitig.«

»Dann musst du härter an dir arbeiten. Deine Kraft ist die Kontrolle über die Armee der Nacht, und du musst sie ausweiten.«

»Aber wie?«

Gabriel sah erstaunt aus. »Siehst du es denn nicht? Schau dich an! Was bist du?«

»Dein General.«

»Was noch?«

Frank lächelte bösartig. »Dein Werkzeug und Sklave.«

»Warum so zynisch? Was bist du noch?«

Gabriels Gegenüber überlegte einen Moment. »Einsam.«

Diesmal schien Gabriel ehrlich überrascht. »Du … vermisst Gesellschaft?«

Frank starrte ihn nur an.

Gabriel stutzte, dann lachte er im Moment der Erkenntnis. »Du überraschst mich, Frank. Obwohl sie dich verraten, im Stich gelassen und noch einmal im Stich gelassen und verraten hat, trauerst du ihr nach?«

»Ja.«

»Wenn es nicht so pathetisch wäre, wäre es sehr amüsant. Aber sie ist kein Petrus und du kein dunkler Messias. Sie wird nicht nach dem dritten Verrat zu dir kommen.«

»Du verstehst das nicht. Ist es denn nicht menschlich, dass man die Frau, die man liebt, nicht aufgeben will?«

Gabriels Gesicht schien Wellen zu schlagen, und Zorn verwandelte seine Stimme in ein rotglühendes Kabel, das Franks Gehirn umschloss.

»Hör mir gut zu! Du bist kein Mensch mehr, du bist ein einzigartiges Wesen, erhoben über alle Menschen und alle Toten. Über dir kommen nur noch Engel oder Gott selbst. Also löse dich von diesen erbärmlich schwachen menschlichen Dingen und nimm deine Bestimmung an!«

Frank war auf die Knie gesunken und presste stöhnend die Fäuste auf seine Ohren, doch Gabriels Stimme dröhnte weiter in seinem Kopf: »Du bist ausersehen, die Toten in ihrem Kampf gegen die Lebenden anzuführen, diese verweichlichten, nutzlosen, von Krankheiten und Raffgier durchsetzen Insekten. Keiner kann es mit dir aufnehmen!«

Bei Gabriels letzten Worten sprühte Speichel auf Frank hernieder.

»Eigentlich müsstest du der kleinen Hure dankbar sein. Durch ihren Verrat konntest du werden, was du jetzt bist. Doch sie hat dich hintergangen, wie es Menschen immer tun. Der Mensch ist fleischgewordene Falschheit. Und das hat dir dein Menschsein geraubt. Nimm endlich dein neues Wesen an, und vernichte diese Brut, dieses Geschmeiß, diesen Abschaum!«

Ein Blitz teilte die Wolken über den beiden. Frank stand auf, reckte die Fäuste zum Himmel und schrie seine Wut hinaus. Tausende Stimmen antworteten in seinem Kopf.

 

 

Kapitel VIII

Hexenhammer reloaded

 

Gabi sah sich einem dunkel gekleideten Mann gegenüber, der eine Kapuze trug. Sie kannte die Gestalt. Es war ihr Dämon, der sie immer in ihrem Traum aufsuchte. Doch heute kam er ihr verändert vor. Ihr war nicht gleich klar, warum. Dann bemerkte sie, dass sie keinerlei Furcht verspürte. Im Gegenteil, von dem dunklen Mann ging ein Gefühl der Vertrautheit und … Macht aus.

Der Mann streckte ihr seine Hand entgegen. Gabi zögerte kurz, dann nahm sie ohne Scheu die Hand, die vernarbt und klauenhaft war, in die ihre.

»Du hast es erkannt, nicht wahr?«, fragte der Kapuzenträger.

»Was erkannt?«

»Dass du zu mir gehörst.«

Gabi nickte.

»Warum kommst du dann nicht zu mir?«

Trauer überschwemmte das Mädchen. »Aber dann muss ich meine Freunde verlassen.«

»Du wirst neue Freunde finden. Einen neuen Freund. Mich.«

»Wie wird mein neues Leben sein?«

»Du wirst alles hinter dir lassen, was bisher eine Last für dich war. Dein Körper wird stark sein, und dein Geist wird endlich alle Schranken überwinden.«

Gabi lächelte. »Muss ich mich dann nicht mehr verstecken?«

»Nein. Du wirst tun können, was du möchtest.«

Gabi seufzte wohlig.

»Ich verspreche dir, dass …« Die Gestalt des dunklen Mannes begann sich aufzulösen.

»Was? Was versprichst du mir?«

»Ich …«

Die Gestalt krümmte sich zusammen, die Zeit kondensierte. Plötzlich richtete sich der dunkle Mann auf und schrie. Tief, drohend und mitreißend rollte der Schrei über Gabi hinweg. Sie konnte einfach nicht anders, als ebenfalls zu schreien.

 

***

 

Gabi erwachte und sah sich einem leuchtenden Monster gegenüber. Ein gelbes Maul umrahmte das Gesicht eines Menschen, den es scheinbar gefressen hatte. Nur langsam wurde ihr klar, dass sie kein Monster, sondern einen Menschen im Schutzanzug vor sich hatte.

»Das Objekt ist jetzt wach. Sollen wir die Tests fortführen?«

Die Frau, die über das Bett gebeugt stand, hörte über das Zischen der Luftversorgung hinweg die Antwort des Stationsleiters.

»Auf jeden Fall, Lisa. Wir haben hier eine einmalige Gelegenheit. Wir können die Transformation in allen Einzelheiten beobachten. Weiß Gott, welche Erkenntnisse wir daraus gewinnen können.«

»Okay, Ralf, du bist der Boss. Ich entnehme jetzt die Blut- und Gewebeproben.«

»Was machen Sie mit mir?« Gabis Stimme schwamm in Panik. Sie bäumte sich auf, als die Ärztin sich ihr mit einer Spritze näherte. Breite Gurte hielten das Mädchen am Bett fest, und Gabi schrie mit allen Stimmen, die sie hatte.

»Bleib liegen, verdammt noch mal!« Die Ärztin drückte sie auf das Bett zurück. »Dir passiert schon nichts. Lass mich einfach die Proben entnehmen, dann bin ich auch schon weg.«

Die Spritze drang trotz Gegenwehr in Gabis Arm ein, und es wurden zwanzig Milliliter aufgezogen. Die gleiche Prozedur führte die Ärztin an Gabis Bein durch.

»So, wollen mal sehen, was die Transformation mit dir anstellt.«

Die Frau kontrollierte Luftfeuchtigkeit und Temperatur des Quarantäneraums, in dem Gabi sich befand, dann verließ sie den Hochsicherheitsbereich durch die Schleuse.

 

***

 

Martin ging in seiner Zelle auf und ab. Der Affe hatte ihn ihm Genick gepackt und schüttelte ihn ohne Gnade hin und her.

»Lasst mich hier raus!«

Er unterstrich seinen Schrei mit einem Fußtritt gegen die Stahltür. Handknöchel und Handkanten waren bereits geschwollen und blutig, also benutzte er seine Füße. Seine Stimme war Schmirgelpapier, das bei jedem Wort seine Kehle entlangfuhr, doch er wurde nicht müde, weiterzumachen.

Was denkt dieses dreckige Pack sich eigentlich?

Martin war zunächst körperlich untersucht worden. Sie hatten ihm Blut- und Gewebeproben abgenommen, sein Gewicht erfasst, den Blutdruck gemessen, die inneren Organe per Ultraschall untersucht. Alles wirkte normal, bis man ihm die Haube des EEG aufgesetzt hatte.

Zunächst verlief die Messung ganz normal, doch dann durchzuckte ihn der Hilferuf Gabis wie ein Blitz. Die Kurvenschreiber des EEG tanzten wie verrückt. Die Ärztin, die den Test überwachte, griff sofort zum Telefon und sprach ein paar Codewörter, dann zückte sie eine Pistole und richtete sie auf Martin.

»Hey, was soll das? Stecken Sie die Pistole weg!«

Die Ärztin antwortete nicht. Stattdessen rollte sie mit ihrem Stuhl zu einen Medikamententisch und holte eine Spritze.

»Was wollen Sie mit dem Ding? Was ist hier eigentlich los? Sind Sie verrückt geworden?«

Die Ärztin war aufgesprungen und trat mit drei raschen Schritten zu Martin. Ehe er zu einer Abwehrreaktion fähig war, steckte die Spritze in seinem Bein, und ihr Inhalt wurde in seine Blutbahn gedrückt.

»Aua! Sie spinnen doch!«

Martin wollte aufspringen, doch sein Körper fühlte sich plötzlich wie Flüssigseife an. Aus seiner Aufwärtsbewegung wurde ein Zu-Boden-gleiten.

Hilflos lag er vor der Ärztin, die nach wie vor die Waffe auf ihn gerichtet hielt. Die Tür ging auf, und drei Soldaten kamen herein. Sie packten Martin und zogen ihn auf die Beine. Sein Gesichtsfeld schrumpfte zusammen wie bei der Abblende eines Stummfilms. Als letztes sah er Patricks Gesicht, der mit einem älteren Soldaten auf dem Gang stand und diskutierte.

Als er wieder zu sich kam, befand er sich in einer Zelle.

 

***

 

»Ich bin ein Mann der Kirche, General. Ich erkenne Gottesfurcht, wenn ich sie sehe.«

Pfarrer Stark und General Dupont standen auf einem Gang des Untersuchungsgebäudes. Dupont war eigentlich hergekommen, um sich die neuesten Berichte über die Zugänge anzusehen, dabei war ihm der vierschrötige Priester aufgefallen, der die Untersuchungen Psalmen rezitierend über sich ergehen ließ.

»Und was sehen Sie bei mir?«

Stark betrachtete den General aus blutunterlaufenen Augen. Die Musterung dauerte so lange, dass Dupont unruhig und ungehalten wurde.

»Was sehen Sie, Pfarrer Stark?«

»Ich sehe einen Mann«, antwortete dieser schließlich, »der seinen Glauben gefunden hat und ihn jeden Tag lebt.«

Dupont nickte. »Und Sie, Stark? Haben Sie ihren Glauben noch?«

»Warum fragen Sie?«

»Weil Sie noch nicht nach dem hiesigen Militärgeistlichen gefragt haben.«

Stark richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Ich bin ein Diener Gottes, der im Feuer dieser jetzigen Hölle auf Erden geläutert wurde. Ich habe in dem Chaos und Irrsinn das gelobte Land gefunden. Warum sollte ich mit einem Militärpfaffen sprechen? Sagen Sie mir lieber, wo ich ein wenig Kontemplation üben kann.«

Dupont betrachte den großen Mann noch einmal eingehend. Als er ihn zum ersten Mal gesehen hatte, hätte er jeden Eid geleistet, einen Säufer vor sich zu haben, von Gott verlassen und der Insignien, die er trug, nicht mehr würdig. Doch nun sah er in den Augen Starks etwas lodern, dass ihn an das gemahnte, was auch ihn selbst antrieb.

»Sagen Sie, Stark, was war es?«

»Was war was?«

»Was hat den Glauben in Ihnen neu entzündet?«

Der Pfarrer starrte ein paar Sekunden vor sich hin. »Wir sollten uns unterhalten. Aber nicht hier.«

Dupont nickte. »Also gut, gehen wir in mein Büro.«

Die beiden Männer durchquerten den Stützpunkt. Jeder Soldat, der ihnen begegnete, grüßte militärisch korrekt. Jeder Zivilist schlug jedoch das Kreuzzeichen, wenn er des Generals ansichtig wurde. Und alle lächelten, wenn Dupont zurückgrüßte.

»Sie genießen großes Ansehen bei Ihren Leuten, General.«

Dupont lächelte. »Ich habe ihnen Hoffnung gegeben. Hoffnung und das Wort Gottes. Sie sehen, was das zu bewirken vermag.«

»Ich bin beeindruckt. Doch dies alles ist in großer Gefahr.«

»Sie meinen die Zombies? Seien Sie unbesorgt. Durch unsere Sperrlinien werden sie nicht kommen. Wir sind hier sicher und dehnen unseren Einflussbereich immer weiter aus.«

»Ich meine keine Gefahr von außen.« Stark schüttelte den Kopf. »Die Bedrohung ist schon hier.«

»Sie sprechen in Rätseln.«

Der Priester schwieg, bis sich die Tür zu Duponts Büro hinter ihm und dem General geschlossen hatte.

»Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Stark.« Dupont setzte sich hinter seinen Schreibtisch und sah sein Gegenüber an. »Bevor Sie mir über die Gefahr berichten, gestatten Sie mir eine Frage. Was hat Ihren Glauben so sehr entfacht, dass er nun Ihre Zweifel überstrahlt und keinen Platz für mehr für Irrungen lässt?«

»Ich weiß nicht warum, aber Sie scheinen auf den Boden meiner Seele zu blicken. Sieht man mir die Zeit des Abweichens so sehr an?«

»Sie waren soweit vom Glauben abgewichen, dass Sie ihr Heil im Alkohol gesucht haben. Das sieht man Ihnen deutlich genug an, weil es noch nicht lange her sein kann, dass der Herr Sie wieder auf den rechten Weg zurückgeführt hat. Das, was Sie so berührt hat, muss gewaltig gewesen sein.«

Stark räusperte sich. »Sie haben recht. Es gab vor kurzem eine Zeit, in der ich allen Glauben verloren hatte. Meine Gemeinde in Köln war durch die Seuche ausgelöscht worden, und ich hatte mich einer kleinen Flüchtlingsgruppe angeschlossen, die sich um ein ehemaliges Schäfchen von mir gebildet hatte. Wir zogen Richtung Nörvenich, weil Sandra – so heißt das verlorene Schaf – sich dort Hilfe und Schutz erhofft hatte.

Während unseres Marsches begann ich, den mit uns fliehenden Kindern biblischen Unterricht zu erteilen. Ich tat dies, obwohl ich spürte, dass mit ihnen etwas nicht stimmt, ohne dass ich belegen konnte, was. Wir kamen schließlich nach Nörvenich, und es sah aus, als hätten wir tatsächlich Schutz gefunden. Ich dankte dem Herrn, dass er uns so wohl geleitet hatte, auch wenn wir einige Gefahren hatten überstehen müssen.«

Dupont nickte verstehend.

»Doch dann geschah etwas, das Ihrem Glauben an die Rettung durch Gott Hohn sprach, nicht wahr?«

»Zunächst sah alles danach aus, als wenn wir es tatsächlich geschafft hätten. Ich gestattete mir, ein wenig Hoffnung zu hegen. Wir würden endlich für eine Weile Ruhe finden, dachte ich, und dann brach die Realität wieder über uns herein.«

»Der Sturm der Bestien auf Nörvenich?«

Starks Stimme schwankte, als er antwortete. »Wie konnte Er das zulassen? Er hatte uns doch in die Sicherheit des Stützpunktes gebracht, nur um uns ein weiteres Mal zur Flucht zu zwingen. Ich betete ein ums andere Mal, diesmal möge Er uns endgültig entkommen lassen. Und dann …«

»Und dann?«

»Und dann musste ich mitansehen, wie sich gute Männer bewusst opferten, um uns andere zu retten. Meine Gebete waren erhört worden. Aber um welchen Preis? In diesem Moment verlor ich meinen Glauben. Er verbrannte mit denjenigen, die den Weg für uns freigesprengt hatten.«

Schweigen breitete sich wie eine ölige Flüssigkeit im Raum aus. Schließlich ergriff Dupont das Wort.

»Dem Alkohol waren Sie aber schon vorher zugetan.«

Stark zuckte ob der Feststellung kurz mit den Schultern. »Mein Pfarrdienst war nicht immer das, was ich mir erträumt hatte. Und der Schnaps gab mir die innere Wärme, die mir im Alltäglichen fehlte.«

»Ich kenne Sie, Stark.«

Der Geistliche hob die Augenbrauen.

»Ich kenne Sie«, fuhr der General fort, »weil ich mich in Ihnen erkenne. Ich war auch einmal von Zweifeln niedergedrückt. Zweifel an Gott und Zweifel an mir. Ich habe damals ebenfalls Zuflucht im Alkohol gesucht. Dann führte mich ein alter Militärpfarrer wieder auf den rechten Weg zurück. Ein guter Mann. Was hat Sie wieder zum Vater gebracht? Verstehen Sie bitte, ich möchte wissen, woran ich bei Ihnen bin.«

»Sie wollen wissen, ob Sie mir vertrauen können, nicht wahr? Ob meine Warnung ernst zu nehmen ist.«

Dupont lächelte. »Touché.«

»Ich kann es Ihnen nicht verdenken. Also gut.« Stark ging einen Moment in sich und fuhr dann fort. »Am letzten Abend, bevor wir hier nach Bonn kamen, hatte ich eine Offenbarung.«

Der Blick Duponts ließ Stark verstummen. Der General legte seine Hände auf die Tischplatte, die Spitzen seiner Fingernägel wurden weiß.

»Versündigen Sie sich nicht, Stark!«, zischte er.

Der Pfarrer hob in einer entschuldigenden und zugleich abwehrenden Geste die Arme. »Sie werden vielleicht sagen, dass der Alkohol mir einen Streich gespielt habe, doch dem war nicht so, kann nicht so gewesen sein.«

»Was ist geschehen? Reden Sie!«

»Ich lag auf der Ladefläche eines der Mannschaftstransporter. Mit mir waren dort auch einige der Kinder. Ich glitt ständig zwischen Traumwelt und der rumpelnden Realität des Lkw hin und her. Plötzlich hörte ich Stimmen. Es waren die Stimmen der Kinder, die sich scheinbar flüsternd miteinander unterhielten. Ich schlief fast wieder ein, doch dann wurde mir klar, dass ich die Stimmen über das Dröhnen des Motors hinweg gar nicht hätte hören dürfen.

Ich bedeckte meine Ohren mit meinen Händen und hörte die Stimmen immer noch! Ich wiederholte den Versuch – mit dem selben Ergebnis. Kalter Schweiß brach mir aus. War ich durch den Alkohol und meine Erlebnisse etwa psychotisch geworden? Ich konzentrierte mich auf die Stimmen und konnte sie immer besser verstehen. Was ich schließlich hörte, ließ mein Blut gefrieren.«

Dupont hing förmlich an Starks Lippen. Die dröhnenden Stimme des Pfarrers hatte ihn in ihren Bann geschlagen.

»Ich hörte, wie die Kinder über ihre Kräfte sprachen – psychische Kräfte. Ich musste mitanhören, wie sie sich gegenseitig dazu beglückwünschten, mit ihren Gedanken die Köpfe ihrer Feinde platzen gelassen zu haben. Das sagten sie wortwörtlich. Sie schmiedeten Pläne, wie sie sich noch besser verbinden könnten. So nannten sie es: verbinden.

Plötzlich stieß eines der Kinder einen Warnruf aus. Augenblicklich wurde es still um mich herum. Nein, das ist falsch. Es wurde still in mir. Die Stimmen waren fort. Mir wurde klar, dass ich nicht zufällig erwacht war und lauschen konnte. Nur der Herr kann das bewerkstelligt haben. Das war sein Zeichen an mich, auf den rechten Weg zurückzukehren. Er ließ mich den Worten unserer Feinde lauschen, General.

Als wir am nächsten Tag Bonn erreichten, war mir klar, was meine Aufgabe ist: Ich muss Ihnen berichten, was ich erlebt habe. Ich muss Sie warnen, das Böse ist in der Stadt.

Und ich muss Ihnen noch etwas erzählen: Eines der Mädchen, das mit in dem Konvoi war, ist todkrank. Die anderen wollten es nicht wahrhaben, doch ich kann den Todesschatten an ihr wahrnehmen. Gabi, so heißt das arme Geschöpf.

So, nun ist heraus. Entweder Sie glauben mir oder ich lande in den nächsten Minuten im Gefängnis. Sie entscheiden.«

Erschöpft ließ sich Stark in den Sessel sinken. Er war kein besonderer Redner, und sein Gegenüber ließ mit keiner Geste erkennen, was er von der Geschichte hielt.

Dupont hatte immer noch die Hände aufgestützt, doch waren sie nicht mehr so verkrampft wie zuvor. Schließlich stand er auf und holte mehrere Akten aus einem verschlossenen Schrank. Er setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch und schlug willkürlich eine davon auf.

Der General seufzte. »Ihre Geschichte klingt sehr unglaubwürdig, Pfarrer Stark.« Er hob die Hand, um Stark an einem Kommentar zu hindern. »Doch ich habe hier einige Untersuchungsergebnisse, die sie unterstützt. Es handelt sich fast ausschließlich um Kinder, und alle haben auffällige Hirnstrommuster. Hirnstrommuster, die unsere Psychologen und Neurologen in Verzückung versetzt haben.«

 

***

 

Jörg Weimer saß in der Kirche am Rand einer Bank. Er hatte sich nach dem Gebet gerade von seinen Knien erhoben und stöhnte unterdrückt.

»Bist wohl nichts gewohnt, was?«, raunte der Soldat neben ihm.

»Ich bin eher weniger der Tempelgänger.«

»Pscht, leise. Wenn dich einer der Inquis bei so einem Spruch erwischt, bist du dran.«

»Inquis?«

»Inquisitoren. So nennen wir die Aufpasser des Generals. Hinter vorgehaltenen Hand natürlich.«

Jörg runzelte die Stirn. »Sag mal, was ist denn hier eigentlich los?«

»Sei jetzt leise und lass uns den Gottesdienst mitmachen, danach können wir reden.«

Jörg setze noch einmal zu einer Frage an, aber sein Banknachbar ignorierte ihn, also blieb ihm nichts anderes übrig, als der Liturgie zu folgen. Nach dem Gebet wurde ein Loblied zu Ehren Gottes gesungen, darauf folgte das Kyrie, von den Gemeindeglieder mit Inbrunst im Wechsel mit dem Pfarrer intoniert. Schließlich trat General Dupont auf die Kanzel.

Jörg sah seinen Nachbarn fragend an.

»Jetzt kommt die Predigt.«

»Aha?«

Der vor ihm sitzende drehte sich um und sah den Hauptmann strafend an. »Pscht!«, zischte er erbost.

Jörg hob entschuldigend die Hände, während der General mit hallender Stimme seinen Vortrag begann.

»Und am sechsten Tage schaute der Herr über die Welt und sah, dass es gut war. Das sagt uns die Bibel. Und was hat der Mensch daraus gemacht? Der Herr hat ihm befohlen, sich die Erde untertan zu machen. Davon, sie zu schänden und auszubeuten war nicht die Rede! Was ist nur aus dem Menschen geworden? Er führt Krieg gegen seinesgleichen, er hurt herum, er verpestet die Luft und tötet die Meere. Was blieb dem Herren anderes übrig, als sich mit Grausen abzuwenden und uns zu verlassen? Sogar die Gnade des fleischlichen Todes hat er uns versagt, und so müssen die entseelten Leiber weiter auf der Erde wandeln, auf der Suche nach Wärme und Nahrung, um ihren untoten Körper weiter existieren zu lassen.

Ich sage Euch, wir erleben die Hölle auf Erden. Doch … es gibt Hoffnung. Wenn wir es schaffen, uns gottgefällig zu zeigen, nach seinen Gesetzen zu leben und die Gebote zu achten, dann, dann kommt er vielleicht zurück und nimmt uns wieder in seine Gnade auf. Aber wir dürfen nicht aufhören, diejenigen, die sich wider der Gebote des Herren geben, die nicht lassen können von den Schandtaten der Vergangenheit, ein ums andere Mal zu bedrängen, damit sie zurück in den Schoß der Gemeinde kommen. Und wer dies nicht will und standhaft leugnet, der hat keinen Platz mehr in unserer Mitte und muss verbannt werden! Deshalb, wann immer ihr einen solchen Menschen trefft, zögert nicht und meldet ihn den Aufsichten!

Und nun lasst uns beten: Herr, sieh unsere Mühen und unsere Leiden. Wir bitten dich, verzeihe uns, Herr, und nimm uns wieder an. Gib uns die Kraft, unseren Feinden zu widerstehen und unseren Glauben zu bewahren. Amen!«

»Amen«, antwortete Jörg automatisch und spürte nichts dabei. Er sah verstohlen zur Kanzel hoch und fühlte den intensiven Blick Duponts, der über die Gemeinde strich, mehr als er ihn sah.

»Was geht hier eigentlich vor?«

Jörgs Banknachbar legte in einer Schweigegeste die Finger vor die Lippen. Der Hauptmann seufzte und träumte sich durch den Rest des Gottesdienst. Schließlich sprach der Geistliche den Schlusssegen.

Jörg wurde von seinem Banknachbarn angestoßen, und dieser bedeutete ihm, schnell nach draußen zu gehen. Eine Weile schritten sie schweigend dahin, bis Jörg schließlich am Arm zurückgehalten wurde. Es waren kaum noch Leute um sie herum.

»Ich bin Paul. Paul Herkort«, stellte sich der andere endlich vor.

»Jörg Weimer.«

»Ich weiß.«

»Was?«

Paul grinste. »Glaubst du, es war Zufall, dass ich dich in die Bank gewunken habe?«

»Nicht?«

»Nein, sicher nicht. Wir beobachten dich schon seit deiner Ankunft.« 

»Wir? Wer … verdammt, jetzt hör mit den Spielchen auf! Was soll das alles?«

»Scht, leise, Mensch! Das mit den Inquisitoren war kein Witz. Du hast den General gehört. Diese Art von Predigt hält er bei jeder Abendandacht. Jeden verdammten Tag.«

Jörgs Gesicht war ein einziges Fragezeichen. Paul griente schon wieder.

»Weißt du, Jörg, ich hatte den Eindruck, der Gottesdienst hat dich nicht besonders vom Hocker gehauen, oder? Fromm und gläubig bist du nicht, nicht wahr?«

»Na erlaube mal! Das sind jetzt aber schon intime Fragen. Wir kennen uns doch kaum.«

»Mag sein, aber wir haben auch wenig Zeit.«

Jörg blieb abrupt stehen und riss Paul am Arm zu sich herum.

»Jetzt lass den Scheiß und sag mir endlich, was das soll! Willst du mich verarschen?«

Paul wurde ernst und sah seinem Gegenüber tief in die Augen. »Hör mir gut zu, Jörg Weimer. Wir stecken hier in einem Gulag. Der General ist völlig durchgeknallt und will einen Gottesstaat erschaffen. Und alle, die nicht für ihn sind, werden gnadenlos abserviert. Du wärst ein sicherer Kandidat für einen Prozess, und dann: Sayonara. Willkommen, Zombieland. Wir sind deine einzige Chance, hier herauszukommen«

Jörg ließ den Arm des anderen los. »Du bist verrückt, Paul, oder?«

Statt einer Antwort drehte sich dieser um und zog Jörg kraftvoll mit sich zurück in Richtung der Kirche, aus der sie gerade gekommen waren. An einem Anschlaghäuschen vor dem Pfarrhaus blieben sie stehen. Paul tippte mit einem Finger auf das Glas der Anschlagtafel.

»Lies!«, knurrte er.

Jörg trat näher heran und las mühsam im Licht der trüben Straßenlaternen: »›Bekanntmachung: Peer Heiner Annerz für schuldig befunden, wiederholt Gott gelästert und den Namen Gottes missbraucht zu haben. Er wurde peinlich befragt und war geständig. Daher ergeht das Urteil, ihn am 26. des Monats zur Abenddämmerung fünf Kilometer vor die Sperrzone zu fahren und dort auszusetzen. Es ist ihm bei Todesstrafe verboten, Bonn noch einmal zu betreten. Wer dem Verurteilten hilft, wird ebenso mit der Verbannung bestraft. Möge Gott der Seele Peer Heiner Annerz’ gnädig sein. Gezeichnet General Dupont.‹ Oh mein Gott, das war gestern! Haben sie wirklich …«

»Haben sie.« Paul nickte. »Ich habe es gesehen. Er war mein Kamerad, und sein Vergehen war, dass er gelegentlich fluchte, wenn er irgendwo angestoßen ist oder laut sang, wenn er ein bisschen zu viel getrunken hatte.«

»Das tut mir leid.«

»Glaubst du mir jetzt?«

Jörg blickte in Pauls Gesicht. Trauer lag darin, aber auch Wut und noch etwas, das Jörg nicht identifizieren konnte. Schließlich nickte er.

»Ja, ich glaube dir. Aber ich habe immer noch nicht verstanden, was du von mir willst, oder warum du zu mir gekommen bist.«

»Nicht hier. Es gibt zu viele Ohren. Lass uns ein Stück spazieren.« 

Die beiden gingen eine Weile durch die immer leerer werdenden Straßen Bonns, bis Paul schließlich anhielt.

»Hier können wir reden. Also, du bist neu hier, das gibt dir einen unschätzbaren Vorteil. Du kannst dich relativ frei bewegen, niemand würde dich deshalb als verdächtig betrachten. Im Zweifel sagst du einfach, du hättest dich verlaufen.«

»Und?«

»Ein Teil unseres Planes sieht vor, dass wir einen Bus stehlen und noch ein oder zwei Tage verstecken, bevor wir abhauen.«

»Ich höre immer ›wir‹. Sind es so viele, dass man einen Bus braucht?« 

»Wir sind zehn. Und ein Bus ist nicht so auffällig wie ein Lkw mit vollbesetzter Ladefläche. Bei einem Bus erwartet man, dass er besetzt ist, oder?«

»Okay, verstehe ich. Und ich soll vermutlich den Bus besorgen und verstecken, ja?«

»Kluger Junge, das ist der Plan. Du bekommst einen Marschbefehl, holst den Bus und stellst ihn in einer Nebenstraße ab. Zwei Tage später kommst du zu einer vereinbarten Zeit wieder dorthin, und wir hauen zusammen ab.«

»Klingt einfach.«

»Ist es auch. Also, machst du mit? Es ist vermutlich deine einzige Chance, hier herauszukommen.«

»Und eure auch, oder?«

»Unsere auch. Darum kannst du uns auch vertrauen, denn wenn etwas schiefgeht, dann gehen wir ebenfalls nach Zombieland.«

»Eine Bedingung!«

»Bedingung? Mann, ich habe dir gerade eine Fahrkarte hier heraus geschenkt, und du stellst Bedingungen?!?«

»Erstmal habe ich nur den Aushang und dein Wort, dass es hier wirklich so übel ist …«

»Du hast den General doch gehört, verdammt!«

»… und dann hast du selber gesagt, dass ihr auf mich angewiesen seid. Also, was ist jetzt?«

»Ich … kann das nicht alleine entscheiden. Welche Bedingung hast du denn?«

»Ich bringe noch einige Personen mit. Rund ein Dutzend Kinder und vier Erwachsene.«

Paul seufzte. »Ich glaube kaum, dass ich die anderen davon überzeugen kann, aber ich werde es versuchen. Okay, wir sollten uns jetzt trennen. Wir treffen uns morgen Abend nach der Andacht vor der Kirche am Aushang, dann sehen wir weiter. Ich gehe zuerst.«

Jörg sah dem anderen nach, wie er in den Schatten der Gebäude verschwand.

Wo bin ich da bloß hineingeraten?

 

***

 

Dupont und Stark saßen sich im Arbeitszimmer des Generals gegenüber.

»Nun, Herr Pfarrer, was ist die Bedrohung unserer Gemeinschaft, von der Sie eben sprachen?«

Der Geistliche rang mit den Hände. »Die Bedrohung, Herr General, sind die Kinder. Nicht nur dass sie geheime Kräfte haben, die sie gegen uns einsetzen werden, ich bin mir auch sicher, dass sie die Zombies beschützen. Ich glaube sogar, sie sind der Grund, warum es die Zombies immer wieder in unsere Nähe zieht.«

Dupont hob fragend die Augenbrauen.

»Ich bin mir jetzt sicher, dass es so ist. Immer, wenn wir uns in Sicherheit wähnten, kamen diese Monster erneut zum Vorschein und griffen uns an. Vielleicht verbreiten diese Teufelskinder sogar den Fluch der Seuche.«

Dupont brummte nachdenklich, dann nahm er eine Akte mit rotem Deckel von dem Stapel vor sich und schlug sie auf. Er blickte Stark an.

»Eines der Kinder ist mit der Seuche infiziert.«

 

 

Kapitel IX

Man sieht sich

 

Stephan Mertens wehrte sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. »Lasst mich los, ihr Faschisten! Was habe ich euch getan?« 

Er bekam keine Antwort und wurde gegen seinen Willen den Gang in Richtung einer Stahltür hinuntergezerrt. Schließlich erreichten die Wachen mit dem Tobenden die Tür. Eine von ihnen zog eine Waffe und richtete sie auf Stephan.

»Ganz ruhig stehenbleiben. Sie nützen uns auch mit einem Loch im Bein.«

»Sagt mal, ihr habt sie doch nicht …«

Der Soldat entsicherte die Waffe.

»Schon gut, schon gut. Ich bleibe ganz ruhig stehen.«

Die zweite Wache zog Stephan noch ein Stück von der Tür weg und hielt nun ebenfalls eine Waffe in der Hand. Dann öffnete der andere Soldat die Tür.

»Na endlich! Ich dachte schon ihr wolltet mich hier verrecken …« 

»Schnauze! Nach hinten in die Zelle, Gesicht zur Wand! Los!«

Offensichtlich hatte der Mann im Raum getan, was von ihm verlangt worden war, denn der Soldat, der die Befehle gebellt hatte, winkte Stephan zu, dieser solle in die Zelle gehen. Stephan kam der unmissverständlichen Aufforderung nach und betrat den kleinen Raum, an dessen hinterer Wand eine männliche Gestalt stand, die Stephan vage bekannt vorkam. Stephan zuckte zusammen, als die Tür hinter ihm mit einem dumpfen Knall geschlossen wurde.

»Hallo Stephan.«

Der Angesprochene stutzte. »Martin?«

»Yepp. Live und in Farbe.« Martin drehte sich zu seinem neuen Zellengenossen um. »Haben sie dich auch erwischt?«

»Was meinst … Wie bist du … Warum …?«

Martin lachte leise – ein gespenstischer Laut. »Willkommen im Bonn-Hilton. Exquisite Betten, Delikatessenverpflegung und jede Menge Langeweile. Ich habe keine Ahnung, warum wir hier sind, und ich habe noch weniger Ahnung, wann wir hier wieder herauskommen werden. Haben sie dich auch beim EEG einkassiert?«

»Was? Ne-nein. Entschuldige, ich habe dir nicht richtig zugehört.« Stephan wirkte völlig desorientiert, doch er schien nicht wie Martin unter Drogen gesetzt worden zu sein.

»Ich wollte wissen, ob sie dich auch vom EEG-Stuhl aus gefangengenommen haben.«

»Nein, das nicht. EEG? Haben sie mit mir gar nicht gemacht. Ich bin untersucht worden, eine Blutprobe wurde abgenommen, ich musste ins nächste Untersuchungszimmer und dann ziemlich lange warten. Schließlich kamen diese Typen und haben mich hierhergeschleppt. Martin, die haben mir eine Knarre in die Nase gesteckt, verdammt! Was geht hier eigentlich vor?«

»Jetzt beruhige dich erst einmal. Hier, trink einen Schluck. Oh, Mist!«

»Pass doch auf, Mann! Du hast alles verschüttet. Hey, alles in Ordnung? Du zitterst ja. Und ziemlich blass bist du auch.«

»Alles in Ordnung, mir geht es blendend.«

»Flöte gepfiffen. Du setzt dich erst einmal hier auf das Bett, und dann erzählst du mir, wie du hierhergekommen bist.«

Martin fiel auf das Bett und sackte in sich zusammen. Er zog die Knie an die Brust und umschlang sie mit seinen Armen. »Mir ist kalt. Machst du bitte die Heizung an?«

»Kalt? Hier drin sind mindestens 25 Grad.«

»Bitte!«

Murmelnd ging Stephan zur Heizung und drehte sie auf, dann wandte er sich wieder Martin zu. »So, und jetzt will ich wissen, wie du hier hingekommen b… Martin?«

Doch der war zur Seite gesackt und augenscheinlich eingeschlafen. Stephan betrachtete ihn und bemerkte dabei die verschorften Handkanten und Knöchel.

»Oh, Mann. Wo zum Teufel sind wir hier nur hingeraten?«

 

***

 

Jörg war nervös. Er wischte sich die feuchten Handflächen zum x-ten Mal an der Hose ab. In seiner Brusttasche knisterte der Marschbefehl, der ihm einen Reisebus verschaffen würde. Allerdings nur, wenn niemand bei der Fahrzeugverwaltung nachfragte. Er atmete noch einmal tief durch, dann bog er um die Ecke und ging – so hoffte er – forsch und selbstbewusst auf den wachhabenden Soldaten vor dem Tor des Fuhrparks zu.

Als Jörg dicht vor dem Posten stand, sprang dieser förmlich in Habacht-Stellung. Kurz zuckte der rechte Arm in Richtung Schläfe, doch dann ließ der junge Mann ihn schnell wieder fallen. Jörg unterdrückte ein Lachen. Sein Gegenüber musste mitten in der Grundausbildung gewesen sein, als die Katastrophe ausgebrochen war.

»Mit der Waffe am Mann wird nicht gegrüßt, Weimer! Sind Sie bescheuert? Wollen Sie Ihre Kameraden erschießen?«

Selbst jetzt noch hallte die tiefe dröhnende Stimme des Ausbilders durch Jörgs Bewusstsein. Der Soldat vor ihm schien den gleichen gehabt zu haben.

Erst jetzt fiel ihm auf, wie jung der andere war. Jörg grüßte kurz, dann zog er den Marschbefehl aus der Tasche und reichte ihn dem Posten. Der schielte kurz darauf und versuchte, den Hauptmann dabei ebenfalls im Auge zu behalten.

»Na, na. Nicht so aufgeregt.« Jörg lächelte freundlich. »Ich beiße nicht. Ich soll hier einen Bus übernehmen. An wen muss ich mich wenden?«

»An … an den Fuhrparkverwalter, Hauptfeldwebel Kranz.«

»Den finde ich wo?«

»Durch das Tor in Richtung Inst und dann am Gebäude entlang nach rechts. Da ist sein Büro.«

»Also vor bis zur Instandhaltung und dann rechts?«

»Genau.«

»Danke.«

Jörg nahm den Marschbefehl wieder an sich und ging zu der unscheinbaren Stahltür, die die Wache ihm gewiesen hatte. Er klopfte kurz an und trat dann ein. Die kleine Kammer war mit einem Schreibtisch, Zigarrenrauch und einem sehr korpulenten Mann vollgestopft.

»Was?«, schallte es ihm entgegen.

»Guten Morgen. Hauptmann Weimer. Ich soll hier einen Bus übernehmen.«

»So, so. Zeigen Sie mal den Wisch!«

Jörgs Herz sank Richtung Hosenboden. Sein Rang hatte den altgedienten Unteroffizier nicht beeindrucken können. Er hoffte inbrünstig, hier kein Exemplar des in Dienstdingen überkorrekten, ansonsten aber schlampigen Soldaten vor sich zu haben, den es vor der Seuche in so vielen Kasernen gegeben hatte.

»Richtung Beul? Was wollt ihr denn da?«

»Geländetraining. Laut Aufklärung gibt es dort keine Zombies.«

»Feldübung? Wollen wir denn vormarschieren?«

Jörg zog die Schultern mit einem Gesicht hoch, das sagen sollte, ihm sei alles egal, er könne die Entscheidungen von oben eh nicht nachvollziehen. Kranz grinste.

»Sehe schon. Sie haben genauso viel Lust wie die meisten hier. Okay, dann zeigen Sie mir mal ihren Führerschein.«

Jörg holte das Dokument hervor. Glücklicherweise hatte er die Berechtigung, so große Fahrzeuge zu führen. Das war ein Risiko in Pauls Plan gewesen, da er an Jörgs Personalakte nicht hatte herankommen können.

Kranz studierte das Papier kurz und gab es zurück. »Was macht die Luftwaffe mit Bussen?«

»Leider kann eine 747 nicht vorm Supermarkt landen«, erwiderte Jörg grinsend

Kranz lachte dröhnend. »Na gut, hier sind die Schlüssel. Ist ein MAN, Kennzeichen steht auf dem Anhänger. Brauchen Sie eine Einweisung?«

»Ich denke nicht. Wenn doch, komme ich noch einmal wieder.«

»Sehr schön. Bringen Sie ihn bis sechzehnhundert wohlbehalten zurück, dann haben wir hier Dienstschluss.«

»Alles klar. Vielen Dank.«

»Halt!«

Jörg war schon im Wegdrehen begriffen gewesen und stoppte abrupt ab. Schweiß brach ihm urplötzlich aus. »Was denn?«

Kranz hielt ihm ein Klemmbrett hin. »Der Papierkram. Können Sie ausgefüllt draußen in das Häuschen bei der Tankstelle legen.«

»Ah, ja, die Bürokratie. Mache ich.«

Jörg zwang sich, langsam und ruhig zu dem Bus zu gehen. Seine Beine wären liebend gerne davongelaufen. Er erreichte das Fahrzeug, stieg ein, machte sich mit den Anzeigen und Schaltern vertraut und startete. Dann fuhr er langsam zum Tor. Der Posten sah ihn kommen und beeilte sich, dieses zu öffnen.

Als der Fuhrpark im Rückspiegel verschwand, stieß Jörg erleichtert die Luft aus. Das Klemmbrett schmiss er einfach hinter sich.

 

***

 

Langsam rollte Jörg durch Bonn, bis er schließlich auf einer kleinen Straße anhielt, die »An der Weißen Brücke« hieß. Diese Stelle hatte ihm Paul als Ziel genannt. Es war ein zwischen Feldern gelegenes Sträßchen, das zwar keinen Sichtschutz für den Bus bot, aber weit entfernt vom Zentrum des militärischen Lebens lag.

Es dauerte lange, bis Jörg wieder zu Fuß seine Unterkunft erreichte. In zwei Tagen wollte sich die Gruppe am Bus treffen und das Weite suchen. Bisher hatte er noch keine Spur, wo sich die Kinder, Martin Martinsen oder Stephan Mertens befanden, und so hatte er Paul beauftragt, sich zu erkundigen. Allerdings hatte sich Sandra wieder eingefunden. Durch Zufall war Jörg ihr in der Gemeinschaftskantine begegnet. Die beiden hatten zusammen an einem der Tische Platz genommen und sich unterhalten. In Gedanken ließ er das Gespräch nochmals Revue passieren.

»Ich bin froh, Sie wiederzusehen, Herr Weimer. Sie sind seit Tagen der erste aus dem Treck, den ich treffe.«

»Waren Sie denn nicht bei den Kindern?«

»Wir sind bei der Eingangsuntersuchung getrennt worden. Martin, Stephan und Pfarrer Stark sind nicht mit mir gemeinsam untersucht worden. Als wir ankamen, wurden Männer und Frauen ja getrennt.« 

»Stimmt. Das fand ich auch seltsam. Wie ist es Ihnen denn ergangen?«

»Ich wurde untersucht, für gesund befunden und in eine Wohneinheit für Frauen einquartiert. Ich habe drei Tage zur Erholung bekommen, dann muss ich zum Dienst in die Wäscherei.«

Jörg grinste. Sandra in einer Wäscherei war so ziemlich der letzte Ort, an dem er sich die junge Frau vorstellen konnte. »Und die Kinder?«

»Keine Ahnung.« Das Lächeln verschwand aus Sandras Gesicht. »Und es ist mir auch relativ egal. Ich bin froh, dass ich die Verantwortung nicht mehr habe.«

»Aber ganz egal können Sie Ihnen doch nicht sein, Sie haben schließlich viel zusammen erlebt.«

»Das heißt nichts. Sie sind mir nur zugelaufen.«

Der Rest des Essens verlief bei einer seichten Unterhaltung, die ausgelassene Stimmung des Wiedersehens war verflogen. Als sie sich trennten, hielt Jörg Sandra auf.

»Ich … fühlen Sie sich hier wohl?«

Sandra überlegte nicht. »Nein.«

»Nein?«

»Wir sind hier zwar offenbar sicher, aber mir kommt es vor wie in einem Knast. Die Menschen hier sind irgendwie … sie sind sehr religiös und achten streng auf die Einhaltung der Gebote. Jeden Abend in die Kirche … das ist nichts für mich.«

Jörg wollte schon zu einer Antwort ansetzen, als Sandra fortfuhr: »Hier herrscht eine ganz komische Atmosphäre. Ein bisschen macht es mir Angst.«

»Sie spüren es also auch.« Jörg nickte. »Was würden Sie sagen, wenn wir hier abhauen würden?«

»Abhauen?«

»Wenn Sie hier weg wollen, dann kommen Sie morgen Abend zum Münster. Dort erfahren Sie mehr.«

Sandra sah ihn lange an. »Gut, ich werde kommen.«

 

***

 

Dupont sah um Jahre gealtert aus, als er das nächste Mal mit Stark zusammentraf. Sie saßen wieder im Büro des Generals.

»Was werden Sie jetzt machen?«, wollte der Pfarrer wissen.

Dupont sah ihn aus blutunterlaufenen Augen an. »Ich habe lange nachgedacht und gebetet. Ich habe den Herrn angefleht, meine Entscheidungen weise zu leiten.«

»Und zu welchem Schluss sind Sie gekommen?«

Dupont blickte starr geradeaus. »Die unheilige Brut muss vernichtet werden. Ihre Anwesenheit hier ist ein Frevel. Wir müssen ein Exempel statuieren! Jeder, der zukünftig zu uns stößt, soll wissen, dass wir hart durchgreifen in unserem Bestreben, eine gesunde Gemeinschaft zu erhalten, dass wir uns den Gesetzen Gottes unterwerfen und dass der Verderber der Welten hier keine Chance hat.«

»Wohl gesprochen. Doch ohne ein Tribunal wird es nicht die Wirkung haben, die Sie wollen. Wenn Sie die Kinder einfach hinrichten, wird man immer Zweifel an deren Schuld hegen. Seit ich diese Stimmen in meinem Kopf gehört habe, will ich mein Gehirn kratzen. Ich fühle mich besudelt, weil man in mein Intimstes eingedrungen ist. Ich habe das wahrhaft Böse gespürt, und das muss ans Licht gezerrt werden. Vor aller Augen und Ohren muss die Brut gestehen!«

Duponts Blick war in weite Ferne gerichtet, als er antwortete: »Sie haben recht. Die Bevölkerung muss erkennen, dass die Sendboten Satans unter uns sind und ausgemerzt werden müssen.« Er sah Stark nun in Augen, der vor der Intensität des Blickes zurückwich. »Die Teufelskinder müssen brennen!«

Der General hatte mit nüchterner, trockener Stimme gesprochen, was den Worten das Gewicht von Blei gab.

»Sie … Sie wollen sie auf den Scheiterhaufen bringen?«

»Sie wollten doch ein Fanal, Stark. Sie wollten einen Schauprozess, um allen zu zeigen, was für Teufel unter uns sind.«

Der Pfarrer nickte stumm, dann sah er mit fiebrig leuchtenden Augen zu Dupont. »Wir werden den Menschen von Bonn zeigen, wie wir mit Schändern unserer Gemeinschaft verfahren. Wir werden sie lehren, dass ein Abweichen vom Weg des Herrn nur ins Verderben führen kann.«

Dupont nahm den Geistlichen bei den Armen. »Sind Sie bereit, der Ankläger bei dem Prozess zu sein?«

Stark lächelte. »Oh ja, das bin ich.«

 

***

 

Dr. Hingsen saß im Labor und untersuchte Blutproben. Seine Assistentin legte gewissenhaft Bakterienkulturen an.

»Wissen Sie, Frau Granen, ich habe schon viel erlebt. Als Hochschuldozent macht man ja was mit. So etwas wie jetzt war mir jedoch fremd.«

Emelie Granen legte die Petrischalen mit den Kulturen in den Brutschrank, dabei knisterte ihr Vollkörperschutzanzug leise. »Morgen, wenn die Kulturen ausgereift sind, wissen wir mehr.«

Das leise Zischen der Luftversorgung der Schutzanzüge, die die beiden Forscher trugen, war eine Zeitlang das einzige Geräusch, das die klinische Stille des Hochsicherheitslabors störte. Schließlich brach Granen das Schweigen.

»Herr Professor, die Entdeckung der Immunität Einzelner ist ein Geschenk des Himmels. Verstehen Sie doch! Es könnte das Überleben der Menschen sichern.«

»Ja sicher. Aber diesen Stephan und jenen Martin wegzusperren, erscheint mir nicht richtig. Mit der entsprechenden Argumentation hätten wir sie zur freiwilligen Zusammenarbeit bewegen können.«

»Aber auf diese Weise können die beiden nicht fliehen.«

»Wir behandeln sie wie Versuchskaninchen.«

»Herr Professor! Ohne die genaue Untersuchung des Phänomens können wir kein Mittel gegen die Seuche entwickeln.«

Hingsen seufzte. »Ich weiß, die Welt da draußen gebärdet sich, als sei mindestens das vierte Siegel der Apokalypse gebrochen worden. Das gibt uns dennoch nicht das Recht, all unsere Werte und das, was von unserer Zivilisation und Kultur noch übrig ist, mit Füßen zu treten.«

Emelie schaute zu Boden, als sie mit kleiner Stimme antwortete: »Sie erinnern sich vielleicht noch an Peter, meinen Mann, dem ich mit einem Spaten den Kopf einschlagen musste, um unsere Tochter und mich zu retten.« Sie sah nun den Professor an. Tränen zogen ihre Bahnen über ihr Gesicht. »Ich werde alles dafür tun, um Jenny zu ersparen, was ihrem Vater geschehen ist – oder ihren Kindergartenfreunden.«

Hingsen war unter ihren Worten zusammengezuckt. Nicht die Lautstärke, sondern ihr Inhalt prasselt mit der Wucht von Felsbrocken auf ihn ein. Er ging zu seiner Assistentin und nahm sie unbeholfen in den Arm, was durch die Schutzanzüge grotesk aussah.

»Beruhigen Sie sich, Emelie, es ist gut. Wir werden mit Hilfe der beiden Männer in der Zelle ein Mittel gegen die Seuche finden. Besonders das Blut des Vollimmunen wird uns wertvolle Hinweise geben. Wir werden diese Krankheit besiegen, und ihre Tochter wird sicher sein.«

Emelie hatte ihren Kopf an die Schulter des großen Mannes gelegt und schluchzte hemmungslos. Hingsen strich ihr beruhigend über den Rücken, vergessend, dass die Frau die Geste des Trosts durch den Anzug gar nicht spüren konnte.

 

***

 

Als Jörg seine Unterkunft erreichte, war er müde, verschwitzt und unter Stress, weil bis zur Abendandacht nur noch zwanzig Minuten blieben. Wenig Zeit, um zu duschen und zur Basilika zu gelangen. Als er das große Portal der Kirche durchschritt, war er wieder in Schweiß gebadet. Schwer ließ er sich neben Paul Herkort auf die unbequeme Bank fallen. Dieser blickte weiter in das Gesangbuch, dass er auf dem Schoß hielt.

»Hat alles geklappt?«, haucht Paul aus dem Mundwinkel hinüber zu Jörg, und der nickte. »Hast du den Schlüssel dabei?«

»Den behalte ich.«

Paul zuckte merklich zusammen. »Was? Warum?«

»Du hast mir immer noch nicht die Entscheidung der anderen mitgeteilt. Was ist mit den Kindern?«

Paul schwieg.

Jörg nickte. »Darum behalte ich den Schlüssel.«

Paul setzte zu einer Antwort an, als die Orgel den Beginn des Gottesdienstes anzeigte. Jörg bedeutete dem anderen zu schweigen.

Der General trat auf die Kanzel hinaus. Ein Raunen ging durch die Gemeinde. Die Orgel steigerte sich zu einem brüllenden Finale und verstummte dann abrupt. In die nachhallende Stille hinein ergriff Dupont das Wort.

»Und ich sah ein anderes Tier aufsteigen aus der Erde; das hatte zwei Hörner gleichwie ein Lamm und redete wie ein Drache. Und es übt alle Macht des ersten Tiers vor ihm; und es macht, dass die Erde und die darauf wohnen, anbeten das erste Tier, dessen tödliche Wunde heil geworden war.«

Alles Getuschel erstarb.

»Die Offenbarung des Johannes ist wahr. Die Siegel werden nach und nach gebrochen, und das Tier ist unter uns. Sein Gefolge schwärmt über die Erde und tötet einen jeden, der sich ihm in den Weg stellt. Doch diese Armee des Bösen ist nicht alleine. Sie hat Helfer, die sich abgekehrt haben von Ihresgleichen, den Menschen. Sie sind die Wegbereiter der Zombies, und sie beschützen sie bei ihren Kriegszügen. Sie vergehen sich in unglaublicher Weise gegen uns, die wir in Gottesfurcht leben und seine Gebote achten. Sie schleichen sich in unsere Mitte, nutzen unser Mitleid und unsere Gutgläubigkeit. Sie sind unter uns, zu uns geführt durch die unverdiente Gnade Gottes.«

Ratlosigkeit zeichnete sich auf den Gesichtern der Gottesdienstbesucher ab, doch einige Gesichter zeigte bereits beginnenden Zorn. Ein Murmeln hatte eingesetzt, in das die Mikrofonstimme des Generals regelrecht hineinfuhr:

»Wir konnten die Diener der Hölle auffinden und sind ihrer habhaft geworden! Wir haben sie in Gewahrsam genommen, und in ihrer Gestalt zeigt sich die ganze durchtriebene Grausamkeit des Weltenverderbers. Seine Sendboten sind zu uns gekommen in der Gestalt der Unschuld. sie kamen zu uns in der Gestalt von Kindern!«

Der Schreck raste als Eis mit der Temperatur des absoluten Nullpunktes durch Jörgs Körper. Die Worte des Generals lösten in ihm die Gewissheit aus, dass die Kinder des Trecks gemeint waren. Wie auch immer der General von ihren Kräften erfahren und daraus falsche, fatale Schlüsse gezogen hatte. Was bisher nur die Worte eines salbadernden Möchtegernpropheten gewesen waren, die Jörg Abend für Abend lediglich absurd vorgekommen waren, hatte nun das Gewicht der absoluten Psychose. Dupont war wahnsinnig, und sein Wahnsinn hatte die Menschen in der Kirche und wohl auch in ganz Bonn infiziert, denn nun standen alle um ihn herum auf. Einer fing an, und fast alle fielen in den Ruf ein.

»Tötet die Verräter! Tötet die Verräter!«

Paul zog Jörg mit in die Höhe und warf ihm einen warnenden Blick zu. Dann nahm er ebenfalls den Ruf der Gemeinde auf und stieß seinen Nachbarn an, es ihm gleichzutun.

Der General stand mit unbewegtem Gesicht auf der Kanzel, jede Linie in dem ausgezehrten Antlitz stark hervorgehoben. Schließlich hob er die Arme.

Langsam verebbten die Schreie der Anwesenden. Dupont wartete, bis Stille in die große Kirche eingezogen war.

»Wir werden jedoch nicht unsere Kultur und unsere Werte vergessen. Wir werden nicht wie ein Lynchmob die Brut des Verderbens einfach ihrer gerechten Strafe zuführen. Wie es sich für eine zivilisierte Gemeinschaft gehört, werden wir einen Prozess führen, in dem wir zeigen, dass sich Gottes Feinde in unsere Mitte gestohlen haben.«

Zustimmung hallte im Kirchenschiff wider.

»Wir werden uns hier morgen Abend um neunzehnhundert versammeln und Gerechtigkeit wirken. Wenn Schuld gesprochen wird, dann werden diese unheiligen Kinder so gerichtet werden, wie es die Heilige Schrift uns gebietet. Reinigendes Feuer wird ihre armen Seelen läutern und sie auf das Gericht Gottes vorbereiten. Und dieser Mann hier wird der Anwalt der Gerechtigkeit sein. Er kam zu uns, geführt durch die Gnade des Herren, und berichtete von der Gefahr, die unter uns weilt – Pfarrer Patrick Stark.«

Neben dem General trat eine vierschrötige Gestalt in die Kanzel. Jörg entfuhr ein unterdrückter Schreckenslaut: »Nein! Das kann nicht sein!«

»Pscht! Halt die Schnauze, verdammt!«

Paul hatte an seinem Ärmel gezogen und ihn wütend angezischt. Jörg sah ihn verstört an. Schweiß hatte sich auf seiner Stirn gebildet. Er konnte nicht glauben, was gerade geschehen war, und sein Gehirn weigerte sich, die Worte Duponts und das Bild, das seine Augen aufnahmen, als Realität anzuerkennen. Die Stimme Starks bohrte sich wie ein Dolch durch die dünne Schicht des Unglaubens in Jörgs Geist.

»Brüder und Schwestern! Die Worte des Generals sind wahr. Ich selbst war Zeuge, wie durchtrieben die Kinder der Hölle sind und mit welcher Grausamkeit sie ihr Handeln planen. Der Prozess wird zeigen, dass wir uns vor diesen Wesen schützen und sie vom Antlitz dieser Welt tilgen müssen. Lasst uns nun beten zu dem gütigen und allmächtigen Gott, der uns seine Gnade gezeigt hat.

Herr, guter Vater, du hast uns, deinen demütigen und unwürdigen Dienern, eine unverdiente Gnade zuteil werden lassen. Du hast uns die Abgesandten des Höllenfürsten in die Hände gespielt. Leite uns nun dabei, die Schuld dieser Kreaturen festzustellen, und führe uns, damit wir ein gerechtes Urteil fällen. Amen.«

Der General erhob wieder seine Stimme: »Geht nun im Frieden des Herrn. Geht in eure Unterkünfte und betet dafür, dass wir morgen Recht und Gerechtigkeit walten lassen werden.«

Die Orgel stimmte einen Choral an, zu dessen Klängen die Gemeinde das Gotteshaus verließen. Jörg ließ sich vom Strom der Gläubigen treiben, betäubt und willenlos. Er bemerkte nicht, dass Paul ihn unauffällig lenkte und langsam an den Rand der Menge brachte. Sie traten in die Nacht hinaus und gingen langsam in Richtung der Unterkünfte. Schließlich bogen sie in eine unbelebte Seitenstraße ein.

»Scheiße!« Pauls Ausbruch drang durch den Nebel, der Jörgs Gedanken umfangen hielt. »Das war gerade nicht real, oder?«

Die Stimme des Mannes zitterte im Rhythmus seines Körpers. Er schlotterte.

»Beruhige dich erst einmal.« Jörg machte sich gewaltsam von Pauls Hand los, die seinen Arm immer noch umklammert hielt.

»Beruhigen? Spinnst du? Du hast doch gerade selbst gehört, was dieser Irre vorhat. Er will einen Hexenprozess abhalten und die Kinder verbrennen!«

 

 

Kapitel X

Zu zweit allein

 

»Alles in Ordnung, Martin?«

Stephan stieß den in verkrümmter Haltung auf dem Bett liegenden an. Seit Stunden schien sich dieser nicht mehr bewegt zu haben. Zeit war für Stephan zu einem abstrakten Begriff geworden. Er hatte keine Uhr mehr und war zwischendurch selbst ein wenig eingenickt.

Als er sich Martins Bett näherte, bemerkte er das wilde Rollen der Augen des anderen. Schweiß hatte dessen Kleidung und das Bettzeug völlig durchtränkt.

»Martin? Verdammt, was ist mit dir?«

Unbeholfen versuchte Stephan, Martins Glieder zu lockern – vergeblich. Die Muskeln des in einer embryonalen Haltung liegenden Zellengenossen waren hart wie Stahlseile, das Gesicht bleich, nur die Wangen waren dunkelrot.

Stephan befühlte die Stirn. Sie war nass vor Schweiß und sehr warm, doch der Hals, den Stephan auf der Suche nach einem Puls abtastete, war kalt. Martins Herz raste, setzte dann kurz aus, um gleich wieder mit hoher Geschwindigkeit weiterzuschlagen. Ein dünner Speichelfaden rann aus Martins Mund das Kinn herab und tropfte auf die Bettdecke.

»Scheiße!« Stephan stürzte an die Tür und rüttelte an der Klinke. Nichts geschah. »Hey, macht auf! Wir haben hier ein Problem!«

Er schlug mit der flachen Hand gegen die harte Oberfläche des Türblatts.

»Hey! Hallo? Wir haben hier einen Kranken. Wir brauchen Hilfe! Hey!«

Stephans letzter Schrei gellte in seinen Ohren, doch die Tür blieb verschlossen. Nichts deutete darauf hin, dass ihn jemand gehört hatte.

Er nahm ein Glas Wasser und ging zurück zu Martins Bett. Mühsam richtete er den zusammengekrampften Körper auf und setzte das Glas an die aufgesprungenen Lippen. Martin öffnete mühsam ein Auge. Wasser lief in seinen Mund. Er hustete. Schließlich stieß er röchelnd hervor: »Entzug!«

»Was?«

Mit klappernden Zähnen sprach Martin weiter: »Bin … auf … Entzug. Lass … mich … mich … la…«

Martins Kopf sackte nach hinten, sein Atem ging hektisch. Stephan ließ ihn auf das Bett zurückgleiten.

»Auch das noch! Ein Junkie ohne Stoff. Prost Mahlzeit!«

Stephan sprang auf und schlug wieder gegen die Tür. »Ihr Scheißkerle, hört ihr mich? Hier drin verreckt jemand! Martin ist auf Turkey. Hallo! Kommt endlich her, ihr Wichser! Der stirbt gleich! Verdammt, jetzt zeigt euch. Los!«

Schließlich blieb er schwer atmend an die Tür gelehnt stehen. Niemand kam. Er beobachtete Martin, der nun steif ausgestreckt auf dem Bett lag, sein Mund zuckte konvulsiv.

Stephan sank an der Tür entlang zu Boden. Er barg den Kopf in den Armen.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße!«

 

***

 

Der weiße Hund kam ohne Scheu heran und schnüffelte an Martins Hand.

»Na, du bist ja ein Lieber.« Martin lächelte. »Komm, lass dich mal streicheln.«

Er ging in die Knie und vergrub seine Hände im weichen und vollen Fell des Hundes. Er kraulte das Tier, das sich gegen seine Hände drückte.

»Es tut mir leid.«

Martin stutzte. Hatte der Hund eben gesprochen?

»Es tut mir leid, dass du so leiden musst, auch wenn du dir einen Teil davon selbst zuzuschreiben hast.«

»Unglaublich!« Martin lachte auf. »Ein Hund spricht mit mir und kommt mir moralisch.«

Das Tier tänzelte zur Seite und sah Martin mit schräggelegtem Kopf an. »Martin, es ist noch nicht zu Ende. Du musst noch einiges erdulden, aber du wirst daraus gestärkt hervorgehen. Der Schmerz, den du fühlst, ist dein Freund. Er wird dir helfen, also nimm ihn an, forme ihn. Mach ihn zu deiner Kraft.«

Martin runzelte die Stirn. »Was meinst du?«

»Du hast eine große Gabe, Martin. Eine Gabe, die einmalig ist und für die Gruppe und dich enorm wichtig werden wird.«

»Welche Gruppe?«

»Deine Gruppe, Martin, deine Familie. Sandra, Stephan, die Kinder. Ihr werdet noch ein wenig wachsen, als Gruppe und als Menschen. Ihr werdet finden und verlieren, hoffen und verzweifeln. Und ihr werdet einen langen, gefährlichen Weg gehen müssen. Hier hin.«

Der Hund drehte sich um und reckte seinen Kopf in Richtung des hellen Leuchtens, das die ganze Zeit schon dagewesen war, Martin aber erst jetzt auffiel.

Aus dem Licht schälte sich eine Landschaft heraus, sanfte Hügel in sattem Grün, gesprenkelt mit bunten Blumen. Schmetterlinge tanzten darüber, und ein leiser Wind ließ die Bäume im Hintergrund rascheln.

»Wie kitschig.« Martin verzog das Gesicht.

»Sieh genau hin!«

Martin starrte auf die Szenerie. Je länger er dorthin sah, umso seltsamer wurde ihm. Eine Klammer legte sich um sein Herz. Sehnsucht schwoll in ihm an, Sehnsucht nach der Welt, die er vor sich sah. Er wollte dorthin. Je länger er der Friedlichkeit der Szene ausgesetzt war, umso drängender wurde der Wunsch in ihm, dort über die Wiese zu gehen, zusammen mit seinen Freunden. Wie hatte der Hund sie genannt? Seine Familie. Ja, das waren sie, seine Familie. Die Menschen, denen er sich verbunden fühlte, die er beschützen wollte, mit denen er zusammen sein wollte. Er betastete sein Gesicht und fühlte Feuchte, die Tränen auf seinen Wangen hinterlassen hatten.

»Wie …«

»Du wirst den Weg finden, Martin. Ihr alle werdet ihn finden, den Weg nach Eden.«

 

***

 

Stephan war in Panik. Martin warf sich auf dem Bett hin und her, er zuckte, seine Augenlider flatterten. Stephan versuchte ihn festzuhalten – vergeblich. Der so schwächlich wirkende Mann auf der Liegestatt wand sich mühelos aus seiner Umklammerung.

»Martin!«

Stephan schrie direkt in Martins Ohr, doch es erfolgte keine Reaktion. Der wilde Tanz, den Martins verkrampfter Körper auf dem Bett vollführte, ging einfach weiter.

»Verdammt, Martin. Wach auf!«

Stephans Ohrfeige traf klatschend in Martins Gesicht, und der Kopf des Geschlagenen ruckte durch die Wucht herum. Ein Abdruck seiner Hand erschien auf der Wange. Stephan packte Martin bei den Schultern und schüttelte ihn.

»Scheiße, Mann, jetzt komm zu dir, los! Oh nein!«

Stephan ließ den anderen los und sprang vom Bett. Warme Feuchtigkeit breitete sich von Martins Schritt ausgehend auf dem Bett aus.

»Fuck! Jetzt pisst er auch noch in die Hose! Wenn er jetzt auch noch …«

Stephan musste würgen. Er sprang wieder zur Tür und hämmerte nun mit dem Stuhl dagegen. Rhythmisch, immer wieder, minutenlang. Nichts geschah. Angewidert ließ er den Stuhl fallen.

»Verdammte Arschlöcher! Wir können hier drin wohl verrecken, was?«

Stephan zeigte der Tür seinen Mittelfinger, dann nahm er eines der Handtücher, tränkte es im Waschbecken mit Wasser und legte es Martin auf Kopf und Schultern, doch durch dessen Zuckungen wurde es sofort wieder abgeworfen.

»Dann leck mich!«

Stephan setzte sich auf das zweite Bett und starrte missmutig auf Martin, der mittlerweile zur Seite gefallen war und ruhig dalag. Sein Atem pfiff bei jedem Zug.

»Was mache ich bloß mit dir? Und was mache ich mit dir, wenn du hier krepierst und keiner kommt?«

Mitten in Stephans gemurmelten Überlegungen begann Martin, leise zu sprechen.

»Was? Sprich doch mal lauter! Bist du wach?«

Stephan ging zu Martin und stieß ihn an. Der erwachte nicht, redete aber weiter.

»Was soll das denn? Hey, los, mach die Augen auf!«

Stephan beugte sich zu Martin hinunter und brachte sein Ohr dicht an den Mund des scheinbar immer noch Bewusstlosen.

»… Eden, dorthin müssen wir uns wenden. In Eden werden wir Ruhe und Frieden finden. Hoffnung, ja, Hoffnung gibt es dort für uns.«

Stephan zuckte zurück. »Sach ma’, was soll denn das? Wovon faselst du da?«

Er beugte sich wieder zu Martin hinab.

»… Tor öffnen? Das könnte ich wohl, denke ich. Aber wird es für alle reichen?«

»Was für ein verdammtes Tor meinst du?«

Stephan sah auf die Gestalt im Bett hinunter. Etwas war anders, aber es erschloss sich ihm nicht sofort. Dann bemerkte er, dass Martin nicht mehr sprach und sein Atem sich verändert hatte. Er holte tief Luft, wie unter großer Anstrengung. Martins Gesicht hatte sich gerötet. Wieder schüttelte Stephan ihn.

»Jetzt komm zu dir!«

Nichts.

»Wach auf!«

Martins Augen blieben geschlossen, und sein Atem beruhigte sich wieder. Martins Körper entkrampfte plötzlich. Er atmete nun ruhig und gleichmäßig.

»Meine Fresse, das halte ich nicht mehr lange aus.« Stephan wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Der Freak raubt mir den letzten Nerv.«

Erschöpft ließ er sich auf sein Bett sinken. Er betrachtete den schlafenden Mann im Bett gegenüber, dann sah er, was er vorhin nicht hatte einsortieren können: Als Martin gesprochen hatte, war sein Körper von einem feinen Glanz umsponnen worden.

 

***

 

Frank stand vor seiner Armee, die knurrend und von einer Seite zur anderen schwankend hinter ihm auf sein Kommando wartete. Er sah auf die Lichter Bonns hinab und suchte nach dunklen Flecken in der Peripherie und im Stadtinneren. Von seinem Standort aus konnte er jedoch nicht die ganze Stadt überblicken.

Seit zwei Tagen hatte er alle Zombies der Umgebung an diesem Ort versammelt. Es gelang ihm nur mühsam, ein allgemeines Einander-auffressen zu verhindern. Er sandte unentwegt die Bilder des warmen pulsierenden Lebens in der Stadt vor ihnen an seine Lakaien. Frank spürte, dass er sie nicht mehr lange würde im Zaum halten können.

Dem Sammelpunkt gegenüber lag ein dunkler Einschnitt in der Kette der Lichter, die Bonn als sichtbare Grenze umgab.

»Dort willst du in die Stadt eindringen?« Der dunkle Mann war direkt neben ihm aufgetaucht. »Na, na, Frank, du zuckst zusammen? Steckt da etwa doch noch … Leben in dir?«

Der angesprochene zischte wütend über das Lachen seines Besuchers hinweg. »Was willst du hier, Gabriel?«

»Sehen, was mein General so treibt, ob er seinen Auftrag auch erfüllt.« Gabriel deutete auf die Meute der Zombies. »Wie ich sehe, mein treuer Vasall, hast du dir Verstärkung mitgebracht. Brav.«

Frank knirschte mit den Zähnen.

»Du bist zornig, mein guter Frank. Etwa auf mich? Das täte mir leid.« Gabriel trat neben seinen General und legte einen Arm um dessen Schulter. »Sieh genau hin, Frank. Dort unten warten tausende von Lebenden auf dich und deine Schoßtiere. Sie haben Waffen, na und? Du und deine Armee seid nicht gerade leicht zu töten. Wenn ihr den Verteidigungsring erst einmal durchbrochen habt, dann hält euch niemand mehr auf.«

Bei den letzten Worten klopfte Gabriel auf Franks Schulter.

»Sei ein guter General, Frank.»

Gabriel wandte sich zum Gehen.

»Halt, warte!«

Frank hatte eine Hand zu Gabriel hin gestreckt. Der hob fragend eine Augenbraue.

»Ich muss dich etwas fragen.«

»Was denn?«

»Du … scheinst die Zukunft zu kennen. Werde ich …«

Gabriel hob den Kopf zum Himmel und lachte lauthals. Unruhe kam in die Reihen der Zombies, sie schoben sich unschlüssig vor und zurück. Gabriel senkte seinen Blick auf die Phalanx der Untoten. Augenblicklich erstarrten ihre Bewegungen. Dann drehte er sich zu Frank und sah ihn mit derselben Intensität an.

»Ich habe dich unterschätzt. Es ist immer noch soviel Leben in dir, dass dir die kleine Schlampe etwas bedeutet. Aber gut, wenn du unbedingt dieses Flittchen als dein Eigen haben willst – meinen Segen hast du.«

Gabriel schwang mit einer theatralischen Geste herum und ging langsam in die Nacht davon.

»Gabriel, werde ich dich beim Angriff sehen?«

Der dunkle Mann blieb stehen, seinen Rücken zu Frank gewandt, dennoch war seine Antwort klar zu verstehen: »Nein, aber ich werde ein Konzert für dich veranstalten, mein kleiner General, ein Konzert in der einzigen, echten Musik, die Menschen je hervorgebracht haben. Du wirst es erkennen. Es wird deinen Triumphzug durch die Reihen unserer Feinde begleiten.«

Frank blickte der großen dunklen Gestalt nach, die sich langsam im Dunkel der Nacht verlor. Nachdenklich betrachtete er wieder den Lichterring, der die Grenze zwischen seinem Reich der Nacht und dem Reservoir an Nahrung und neuen Kriegern darstellte. Dann sah er lange in die Gesichter der Untoten, die sich hier versammelt hatten. Sie alle waren in unterschiedliche Stufen der Verwesung übergegangen, und so mancher von ihnen wurde scheinbar nur noch durch seine Kleidung aufrecht gehalten. Ihre Augen blickten ohne Verstand, nur Gier stand in ihnen geschrieben.

Frank hob einen Arm – eine bedeutungslose Geste als Signal, denn seine Armee beugte sich ausschließlich seinem Geist, doch er hielt es angesichts der Situation für angemessen.

Als er den Arm gerade sinken lassen wollte, entstand ein Tumult inmitten der dichten Reihen. Fauchen und reißende Geräusche wurden laut. Frank knurrte und schob sich an den Ort der Unruhe. Einige seiner Soldaten hatten sich ineinander verbissen, zwei waren bereits so weit von den anderen zerfetzt worden, dass sie nur noch als formloser Haufen aus zerfallener Kleidung und morschen Knochen dalagen.

Frank sprang zu den um die letzten Fetzen kämpfenden Zombies und riss sie nacheinander los. Jedem, den er aus dem zuckenden und fressenden Pulk holte, riss er in einer Geste der Wut und begleitet von einem tierischen Schrei den Kopf ab. Als schließlich alle an dem Gelage beteiligten Untoten endgültig gestorben vor ihm lagen, ließ sein rasender Zorn nach. Er stand mit baumelnden Armen über dem Chaos aus Leichenteilen und sah die Umstehenden an. Sein Geist griff nach allen und schrie ihnen eine Drohung zu.

Ihr seid meine Soldaten, ihr habt mir zu gehorchen. Wer sich nicht unterordnet und gehorcht, stirbt endgültig!

Frank stieß die Arme in den Himmel und schrie – ein Laut jenseits allem Menschlichem.

 

***

 

Jörg tigerte auf der schmalen Seitenstraße auf und ab.

»Hey, Mann, jetzt beruhige dich endlich! Durch dein dämliches Gerenne ist auch nichts gewonnen.« Sandra legte ihren Arm auf Jörgs, um ihn zum Stehenbleiben zu bewegen. »Ich bin mindestens genauso geschockt wie du, aber wenn wir jetzt keinen kühlen Kopf bewahren, haben wir keine Chance.«

»Chance?« Paul lachte auf. »Puppe, wovon träumst du? Der General hat deine Blagen zu Unpersonen erklärt, zum personifizierten Bösen. Was meinst du, werden die Leute hier tun? ›Lasst sie frei‹ schreien, wenn es zum Prozess kommt?«

Sandra schnellte zu Paul herum, griff seine Jackenaufschläge, zog sie gegeneinander und drückte ihm ein Knie zwischen die Beine. »Nenn mich noch einmal ›Puppe‹, und du kannst deinen Eiern Aloha sagen, capice?«

»J… ja«, röchelte Paul.

Sandra hielt ihn noch einen Moment in der unangenehmen Lage und ließ ihn dann abrupt los. Paul sackte hustend zusammen.

»Spinnst du?«, krächzte er.

Sandra ignorierte ihn. Sie wandte sich an Jörg.

»Was sollen wir jetzt tun?«

Jörg hatte seine rastlose Wanderung aufgegeben und stand mit dem Rücken gegen eine Hauswand gelehnt.

»Ich weiß es nicht. Paul hat nicht unrecht. Die Soldaten sind Dupont treu ergeben. Wir wissen nicht, wo die Kinder gefangen gehalten werden, und wir haben nur noch bis morgen Zeit.«

»Und?« Sandras Blick war herausfordernd. »Soll uns das davon abhalten, die Kinder herauszuholen? Sie werden auf dem Scheiterhaufen enden, wenn wir nichts unternehmen!«

»Genau wie wir, wenn wir etwas unternehmen.« Paul hatte sich beruhigt und zwischen Sandra und Jörg geschoben. »Wir haben keine Chance – gar keine. Wir können nur an dem ursprünglichen Plan festhalten und uns aus dem Staub machen.«

»Niemals!« Sandra und Jörg hatten gleichzeitig gesprochen.

»Wir haben keine Chance, versteht ihr das nicht? Die Kinder sind im Generalstabsgebäude untergebracht. Das ist eine Festung!« 

Jörgs Kopf ruckte zu Paul herum. »Woher weißt du das?«

Etwas in Jörgs Stimme ließ Paul den Kopf einziehen. »Ich … ich habe Kontakte.«

Jörg griff nach ihm und zog ihn dicht vor sein Gesicht. »Was für Kontakte? Und seit wann weißt du es?«

Paul wand sich in dem harten Griff. »Seit … seit kurz vor dem Gottesdienst«, sagte er weinerlich.

»Und wann wolltest du es mir sagen? Wolltest du es mir überhaupt sagen?« Jörg starrte in das Gesicht des anderen. »Du wolltest es mir nicht sagen, nicht wahr? Du wolltest mich hintergehen, damit ich deine Leute und dich hier herausbringe. Du hast gar nicht gefragt, ob die Kinder mitdürfen!«

»Leise, Jörg, sonst hört dich noch jemand.« Sandra sah ihn beschwörend an.

»Du mieses Stück Dreck hattest nie vor, auf meine Bedingung einzugehen.« Jörgs Augen wurden schmal. »Woher hattest du eigentlich die Informationen über mich, hm? Wer zum Teufel bist du?«

Er schleuderte Paul mit Wucht auf den Boden. Der schlug lang hin und versuchte wieder aufzustehen. Jörg drückte ihm seinen Stiefel ins Kreuz.

»Wer bist du? Und warum wusstest du alles über mich?«

Sandra sah von einem zum anderen. »Was geht hier eigentlich vor?«

Jörg hielt Paul mit dem Fuß unter Kontrolle, als er Sandra antwortete.

»Diese Ratte hier hat mich bei meinem ersten Kirchenbesuch angesprochen. Er hat mich überzeugt, mit ihm und ein paar Kameraden zu fliehen.« Jörg trat zu und Paul stöhnte auf. »Er wusste genau, welche Knöpfe er drücken musste, damit ich schnell überzeugt wurde. Er kennt mein psychologisches Profil.«

Jörg beugte sich nach vorne und riss Pauls Kopf an den Haaren nach hinten. Der Untenliegende jaulte auf.

»Ja, verdammt, ich kenne dein psychologisches Profil. Darum bin ich auf dich gekommen.«

»Woher?«

Paul heulte jetzt Rotz und Wasser. »Ich bin schon seit drei Monaten in diesem Loch. Jeden Tag Andacht, kein Fluchen, keine Zigaretten, keinen Alkohol, nur beten und arbeiten. Freunde von mir wurden verbannt und sind jetzt Zombies. Ich muss hier raus! Und du warst ein Geschenk des Himmels, neu, für eine Flucht zu begeistern und skrupellos genug, um es auch durchzuziehen.«

Jörg ließ Pauls Haare los und nahm den Fuß von seinem Rücken. Der drehte sich herum und stützte sich auf seine Ellbogen. Rotz lief aus seiner Nase und mischte sich am Kinn mit den Tränen, die die Wangen herabrannen. Erstickt sprach er weiter.

»Bitte, Jörg, bitte! Wir müssen hier weg, bevor wir vor die Hunde gehen. Die Kinder sind verloren, wir haben keine Chance, sie zu retten. Lass uns jetzt abhauen!«

Jörg und Sandra sahen sich an. Dann beugte sich Jörg zu Paul hinunter.

»Nein, wir werden die Kinder retten.«

Paul verzog sein Gesicht zu einer Fratze des Zorns. »Du bist verrückt! Das wird dir nicht gelingen. Wenn du mir nicht helfen willst, dann schieß in den Wind und wirf dein Leben weg. Hau ab!«

»Und du? Was wirst du machen?«

»Jörg, er wird uns verraten. Sieh dir seine Augen an, er ist ein verschlagener Hund. Überleg, wie er dich getäuscht hat.«

»Hat sie recht, Paul?«

Der hob sofort abwehrend die Hände. »Nein, natürlich nicht. Warum auch? Die Wachen des Generals werden dich sofort erwischen und töten. Warum soll ich mir die Hände schmutzig machen?«

Jörg nickte. »Ja, warum?« Er richtete sich auf, steckte eine Hand in seine rechte Beintasche und sah Sandra an. Verständnis sprang zwischen den beiden hin und her. Sie nickte.

»Was?«, stieß Paul erschrocken hervor.

»Es geht nicht anders.« Jörg sah ihn traurig an.

»Was geht nicht anders?« Paul begann, langsam wegzukriechen.

»Das!«, stieß Jörg hervor und rammte dem anderen ein Messer ins Herz.

Ein Ausdruck maßloser Enttäuschung machte sich auf dem Gesicht des Sterbenden breit. Langsam sackte er zu Boden und lag dann still.

»Hilf mir! Wir müssen ihn von der Straße schaffen.«

Sandra nahm die Füße des Leichnams und trug ihn mit Jörg zusammen hinter einen großen Müllcontainer.

»Warum?«, fragte sie, ihre Stimme dabei bar jeder Emotion.

»Er hätte uns verraten. So oder so. Das durften wir nicht riskieren. Wir haben ohnehin ein Nichts als Chance. Alles, was uns zusätzlich gefährden könnte, muss ausgeschaltet werden.«

Sandra schüttelte den Kopf. »Du wirkst plötzlich nicht mehr wie ein Mensch. Du bist bereit, für Kinder, die du gar nicht kennst, zu morden und dein Leben zu riskieren.«

»Ein Soldat ist darauf trainiert, im Verteidigungsfall zu töten.«

»Verteidigungsfall?«

»›Ernstfall‹ sagen nur Zivilisten.«

»Oh! Und die Kinder?«

Jörg zögerte merklich mit seiner Antwort.

»Nun Soldat? Was ist mit den Kindern?«

»Ich … sie sind mir wichtig«, erwiderte er lahm.

»Aha? So wichtig, dass du eine aussichtslose Befreiungsaktion starten willst?«

Nicken.

»Und weiter?«

Jörg blieb stumm.

Sandra seufzte. »Ich wollte eigentlich nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Ich kann aber auch nicht tatenlos zuschauen, wie sie geröstet werden. Scheiße, verdammt!« Sandra trat gegen einen Stein. »Warum kann ich nicht einfach meine Ruhe haben? Als wenn ich nicht schon genug durchgemacht hätte.«

Sie schlug die Hände vors Gesicht. Ein Zucken ihrer Schultern verriet, dass sie weinte.

»Sandra?« Jörg war hinter sie getreten und legte unbeholfen seine Hände auf ihre Schultern. So standen sie eine Weile in der Dunkelheit.

 

 

Kapitel XI

Völlig losgelöst

 

Tom lag in seiner Zelle und starrte gegen die Decke. Seit Tagen hatte er nur noch eine schwache Verbindung zu den anderen Mitgliedern von Spider-X. Gabi war ihm mittlerweile völlig entglitten. Er griff ein ums andere Mal mit seinen Sinnen hinaus in der Hoffnung, mehr als nur ein flüchtiges Streiflicht der Geister der anderen Kinder zu spüren. Einem Fischer gleich warf er sein mentales Netz aus. Doch nichts verfing sich darin.

Er seufzte und setzte sich auf. Längst war er über die anfängliche Panik hinweg, die Verzweiflung, die Wut, die ihn in der ersten Zeit seiner Gefangennahme – anders konnte er es nicht bezeichnen – befallen hatten. Langeweile hatte sich statt ihrer heimlich breitgemacht.

Tom legte sich wieder hin und schloss die Augen. Er meditierte und warf erneut sein Netz aus. Diesmal war etwas anders! Er spürte keinen direkten Kontakt. Seine Sinne fingen etwas ein, das er als das Brummen eines alten Fernsehapparates wahrnahm, so einen, wie Oma Luise ihn gehabt hatte.

Angestrengt lauschte er auf den Ton, bekam ihn aber nicht besser zu hören. Mit der Zeit nahm das Brummen eine andere Qualität an und durchdrang Toms Gehirn völlig. Es vibrierte in seinen Zähne, seinen Knochen und seinen Eingeweiden. Plötzlich schwoll es zu einer alles auslöschenden Lautstärke. Tom schlug die Hände an die Ohren – vergeblich. Der Ton war in ihm, leuchtete hell und heiß. Alles ordnete sich dem unter, alle anderen Sinneseindrücke erloschen.

Er hielt eine Hand hoch, weil etwas Klebriges an seinen Fingern war. Blut bedeckte seine Fingerspitzen. Tom hörte nicht, ob er schrie. Das Toninferno nahm an Intensität noch zu – solange, bis er bewusstlos wurde.

 

***

 

Stephan schreckte hoch und fiel aus dem Bett. Er war kurz eingeschlafen. Etwas hatte ihn geweckt, ohne dass er es benennen konnte. Er bemerkte einen Brummton, den er spürte, statt ihn zu hören. Stephan bewegte den Kopf, um die Quelle des Geräusches zu finden, aber er konnte keine Richtung feststellen, der Ton war um ihn herum, füllte die Luft und schien aus den Wänden zu kommen. Er sah zu Martins Bett hinüber.

»Was zum …«

Ein silberblaues Leuchten lag als Glocke über Martins Bett. Verblüfft stand Stephan auf und näherte sich der Erscheinung. Martin lag mit geschlossenen Augen ruhig atmend da. Von seinem Kopf führten dünne Nabelschnüre aus Licht zu dem Lichtdom, sein Gesichtsausdruck war friedlich und entspannt.

Stephan beugte sich näher zu der liegenden Gestalt und beobachtete die Brust. Sie hob und senkte sich kaum merklich. Zögernd streckte er die Hand aus, doch kurz vor der Lichtwand zog er sie wieder zurück. In der Nähe des blauen Leuchtens hatten sich seine Härchen aufgerichtet und sich in Richtung des Lichtes gebeugt. Er kratze sich über den Arm, doch das Kribbeln, das mit dem sich Winden der Härchen einhergegangen war, hielt an.

Ratlos stand Stephan vor der Erscheinung, die das Zimmer ganz ausleuchtete. Es schien so, als fresse der Widerschein der Lichtglocke die Schatten im Raum auf. Stephan schüttelte den Kopf. Solch morbide Gedanken sahen ihm gar nicht ähnlich.

Erneut beugte er sich nach vorne, um Martin näher zu begutachten. Als er noch näher heranging, geriet er mit dem rechten Fuß auf Martins Schuh, der vor dem Bett auf dem Boden lag, und er verlor das Gleichgewicht. Stephan streckte beide Arme aus, um sich am Bett abzustützen, doch er traf auf keinen Widerstand. Er fiel in das Leuchten, das sich um ihn herum immer mehr steigerte. Wie in Zeitlupe fiel er immer weiter, bis er auf einem unsichtbaren Boden aufschlug. Helligkeit umgab ihn und ließ seine Augen tränen.

»Da bist du ja.«

Stephan schirmte die Augen ab, so gut es ging, und sah sich um. Die Stimme war aus keiner bestimmten Richtung gekommen, und so drehte er sich um seine eigene Achse, um den Sprecher auszumachen. Schließlich wurde er einer Gestalt gewahr, die sich nur als Schattenriss gegen das Licht abhob.

»Hab keine Angst, Stephan.«

»Du … du kennst meinen Namen?«

»Natürlich. Wir sind schließlich lange genug zusammen gereist.«

»Häh?«

Die Gestalt kam näher, obwohl sie sich nicht sichtbar bewegte.

»Wer bist du?«

»Stephan, erkennst du mich denn nicht? Das kränkt mich doch tief.« Die Erscheinung schickte ein kleines Lachen hinterher. »Ich bin es, Martin.«

»Martin? Was machst du hier? Und wo zur Hölle sind wir?«

»Wir sind im … nein, ›im‹ ist falsch, eher ›zwischen‹, wir sind zwischen den Ebenen.«

»Ebenen? Ich verstehe nur Bratkartoffeln.«

Mittlerweile war die Gestalt so weit an Stephan herangerückt, dass dieser vage Einzelheiten erkennen konnte. Es war tatsächlich das Gesicht Martins, das auf ihn herabsah.

»Wir sind zwischen den Ebenen der Realität. Das, was du normalerweise um dich herum siehst, ist nur eine Lage des Weltengewebes. Wir sind jetzt zwischen den Lagen.«

»Aha.«

Martin lachte wieder. Er wirkte heiter, entspannt, fast glücklich. »Ach, Stephan, du wirst es wahrscheinlich nie verstehen, aber du hast die einmalige Chance, hinter die Dinge zu schauen. Wortwörtlich. Leider haben wir nicht viel Zeit.«

»Das höre ich andauernd. Was ist es diesmal?«

»Ich dachte mir, dass du dich schnell von dem Schock des Transits erholen wirst – zumindest an der Oberfläche.« Er wurde ernst. »Wir sind in großer Gefahr.«

»Ach nee. Hättest du es mir nicht gesagt, hätte ich es glatt übersehen. Mensch, wir sitzen in einer Zelle, die Zivilisation ist tot, die meisten Menschen sind untot.«

Martin ließ den Ausbruch seelenruhig vorbeigehen. »Wir sind in Gefahr … die Kinder, Sandra, du, ich und Jörg.«

»Wer ist Jörg?«

»Jörg Weimer. Er wird zu unserer Gruppe stoßen.«

»Noch ein Kerl?«

»Er ist ein guter Mann. Er wird uns helfen, unseren Bestimmungsort zu erreichen.«

»Bestimmungsort? Bist du noch high, Mann? Was faselst du da?«

»Wir sind auf einer Reise, Stephan. Sie ist noch nicht zu Ende. Ein weites Stück Weg liegt noch vor uns.«

»Das muss ich doch träumen. Wach auf, Martin! Wir sitzen in einer Zelle in einem Militärstützpunkt. Wir gehen nirgendwo hin.«

»Du schon. Du musst gehen, um wiederkommen zu können. Und du wirst Hilfe bringen.«

Stephan setze sich auf, erhob sich unter Ächzen und drehte sich weg. »Leck mich doch.«

Er ging ein paar Schritte. Plötzlich stand Martin vor ihm.

»Was? Äh …«

Stephan drehte sich in die Richtung, aus der er eben gekommen war. Dort war niemand mehr zu sehen. Er setzte sich in Bewegung, doch nach wenigen Schritten stand Martin wiederum vor ihm. Stephan hob resigniert die Hände.

»Also gut, Houdini, was soll das alles?«

Martin lächelte. »Du wirst gleich ein Tor durchschreiten und dich an einem Ort an der Stadtgrenze von Bonn wiederfinden. Dort triffst du auf eine Meute Zombies.«

»Auf keine Fall, Mann, auf keinen Fall! Du wirst mich nicht zu irgendwelchen Zombies schicken. Du bist völlig durchgeknallt!«

»Du wirst die Zombies hinter dir herlocken, in Richtung Zentrum. Wir sind hier im Generalstab, das ist ein großes Gebäude im ehemaligen Regierungsviertel. Dort musst du die Untoten hineinlocken. In dem Chaos, das dann entsteht, können Jörg und Sandra die Kinder befreien. Und du holst mich aus der Zelle.«

Stephan sah Martin an, als ob dieser sich gleich in Schmetterlinge verwandeln oder durch den Boden tropfen würde. Seine Stimme war rau und heiser, als er antwortete.

»Du bist komplett plemplem, weißt du das? Wenn ich es hier tatsächlich herausschaffe, dann werde ich bestimmt nicht wieder zurückkommen. Und schon gar nicht mit einer Horde fleischgieriger Untoter.«

Martin trat einen Schritt auf ihn zu. Stephan wich zurück.

Martin streckte einen Arm aus. »Du hast keine Wahl, Stephan. Wenn du fliehst, werden dich Franks Zombies erwischen, und du wirst einer von ihnen. Wenn du hierbleibst, werden dich Franks Zombies erwischen, und du wirst einer von ihnen.«

»Wer auch immer dieser Frank sein mag: Du wiederholst dich.«

»Dein Schicksal wiederholt sich. Wenn du die Zombies hierher lockst und dadurch die Kinder und mich befreist, dann hast du eine Chance davonzukommen. Du wählst.«

Martin warf sich nach vorne und berührte Stephan an der Stirn. Augenblicklich wurde es schwarz vor dessen Augen, und er hatte das Gefühl, sehr schnell sehr tief zu fallen.

Wer ist Frank?, schoss es ihm durch den Kopf.

Wie lange sein Fall dauerte, konnte Stephan nicht sagen. Er fühlte weder Wind noch hörte er Geräusche. So schnell, wie er glaubte zu fallen, konnte er den unausweichlichen Aufprall unmöglich überleben.

Martin, du Arsch …

 

 

Kapitel XII

Licht am falschen Ende des Tunnels

 

Jörg lehnte in einer Seitenstraße an der Wand und kotzte sich die Seele aus dem Leib.

»Ist schlimm, was?« Sandra stand hinter ihm und hielt seinen Arm. »Du hast noch nie jemanden getötet, oder?«

Jörg würgte noch einmal und schüttelte den Kopf.

»Dafür warst du ganz schon kaltblütig. Mein lieber Schollatur!«

»Musste … sein«, krächzte Jörg zwischen zwei Würgeschüben heraus.

»Setz dich erst einmal hin. Nicht hier, ein paar Schritte weiter. So, und nun runter. So ist es gut.«

Sandra setzte sich daneben und legte den Arm um den immer noch keuchenden und gelegentlich würgenden Mann. »Du zitterst ja.«

Jörg zog die Luft mit einem schluchzenden Laut ein. Sandra tätschelte ihm die Hand.

»Ist schon gut«, sprach sie beruhigend auf ihn ein. »Du hast richtig gehandelt. Über kurz oder lang hätte uns die Ratte verraten und verkauft, und wenn es nur gewesen wäre, um sein eigenes erbärmliches Leben zu retten.«

»Das … das sage ich mir auch, nur mein Bauch will es nicht verstehen.«

Sandra grinste. Jörg war zu erledigt, um hinter der freundlichen Fassade den Schrecken und die Angst Sandras zu erkennen.

»Wir müssen zum Generalstab.« Sandras Stimme wurde eindringlich. »Morgen ist es zu spät, um die Kinder da herauszuholen. Hast du einen Plan?«

»Plan?« Jörg lachte gequält auf. »Klar! Wir stürmen rein, schießen uns den Weg zu den Zellen frei, sprengen sie auf und holen die Kids raus. Dann laufen wir aufs Dach und hüpfen in den dort wartenden Helikopter.«

»Klingt gut, bis auf alles ab ›Wir stürmen‹. Ernsthaft. Ich kenne den Militärkram nicht. Es muss doch irgendeine Lücke geben, durch die man in den Bau reinkommt. Kennst du das Gebäude überhaupt?«

»Ich Trottel!« Jörg sah sie mit großen Augen an. »Ich habe die erste Regel im Gefecht vergessen!«

»Aha? Und welche?«

»Aufklärung! Man muss immer das Gefechtsfeld aufklären. Wir müssen uns an das Gebäude heranschleichen und die Lage sondieren.« 

»Na, dann los.« Sandra stand auf. »Kann ja nicht so weit sein, wir sind kurz vorm Regierungsviertel, glaube ich. Da ist doch der Bunker, oder?«

»Denke schon. Dann los.«

Jörg ging etwas wackelig, gestützt von Sandra. Sie bewegten sich vorsichtig durch die Nebenstraßen, bis sie auf eine breite Allee kamen.

»Dort vorne, das muss es sein.« Jörg deutete auf ein großes Gebäude, das mit seiner aus den Siebziger Jahren stammenden Betonfront abweisend und düster aussah.

»Oh ja, das passt«, seufzte Sandra.

Jörg zog sie in den Schatten eines Hauseinganges, der noch ein Stück vom Generalstab entfernt war.

»Sieh mal«, flüsterte er, »zwei bewaffnete Posten vor dem Haupteingang. Die Straße ist jeweils fünfzig Meter rechts und links vom Gebäude abgesperrt. Ich kann in ein paar Fenstern auf der Straßenseite MG-Stellungen ausmachen. Verdammt, da kommen wir nie rein!«

Jörg schlug die Faust in die Hand. Sandra sah aufmerksam die Straße hinauf und hinunter und ging dann ein Stück den Weg zurück, den sie gekommen waren. Die Wachen am Tor sahen sie nicht, denn einige Pflanzenkübel und Militärfahrzeuge verstellten die Sicht.

»Jörg!« Sie winkte heftig.

Jörg schlich sich zu ihr. »Was ist?«

Sandra deutete nach unten.

»Oh nein, das ist nicht dein Ernst! Wir sind hier doch nicht in einem drittklassigen Kriegsfilm.«

»Hast du eine bessere Idee?«

Jörg zuckte mit den Schultern. »Das wird nicht funktionieren. Aber bitte.«

Er ließ sich auf ein Knie nieder und hob den Gullydeckel heraus, auf den Sandra gezeigt hatte, und schob in zur Seite. »Örks, wie das stinkt!«

Sandra sagte nichts und holte eine kleine Maglite aus ihrer Jackentasche.

»Respekt! Ist das ein neues Damenaccessoire?«

»Blödmann!«, entgegnete sie und lächelte dabei.

Im Licht der kleinen Taschenlampe wurde eine Reihe von Metallbögen sichtbar, die als Treppenersatz in die Tiefe führten.

»Ladys first.« Jörg ruderte galant mit dem Arm durch die Luft.

»Los runter da! Ich leuchte.«

Jörg seufzte und stieg vorsichtig in den Schacht. Je weiter es hinabging, umso schlimmer wurde der Gestank, der schließlich eine schwammige Konsistenz anzunehmen schien. Jörg würgte wieder.

»Alles gut?« In Sandras Stimme schwang Besorgnis mit.

»Bestens. Komm ruhig runter, es duftet nur ein wenig.«

Sandra kletterte ebenfalls hinab, der Strahl ihrer Taschenlampe tanzte dabei von Stufe zu Stufe. Auf der letzten Sprosse blieb sie stehen.

»Was stinkt denn hier so?«

Sie ließ den Strahl der Taschenlampe den Abwasserkanal hinauf- und hinuntergleiten. Außer einem dünnen Rinnsal schlammigen Wassers riss er nur ein paar Ratten aus der Dunkelheit.

»Sollten wir den Gullydeckel nicht lieber wieder über das Loch ziehen?«, überlegte sie laut.

»Tolle Idee.« Jörg schnaubte. »Weißt du, wie schwer das Scheißding ist?«

»Und wenn jemand den offenen Schacht entdeckt?«

Sandra war bei diesen Worten bis auf die Kanalsohle herabgestiegen und leuchte Jörg nun ins Gesicht.

»Ist ja gut. Ich gehe ja schon.«

Vor sich hin murmelnd stieg er die Sprossen wieder hinauf. Oben streckte er vorsichtig den Kopf ins Freie. Niemand war zu sehen. Jörg zog den Deckel möglichst leise zu sich heran. Beim Einlassen der schweren Eisenplatte in ihr Bett fluchte er unterdrückt.

»Was ist los?« Sandra leuchte von unten und sah besorgt herauf.

»Ich habe mir einen Finger geklemmt«, nuschelte Jörg und saugte weiter an seinem lädierten Zeigefinger. Er stieg die Sprossen wieder hinab und kam schwer atmend unten an.

»Nach rechts oder links?«, erkundigte sich Sandra und unterstützte ihre Frage durch Zeigen mit der Taschenlampe.

»Rechts entlang. Ich würde sagen etwa fünfzig Schritte, dann müsste eine Abzweigung nach links kommen, andernfalls haben wir ein Problem.«

»Lassen wir es darauf ankommen.«

Die beiden gingen den Kanal hinunter, immer bestrebt, nicht in das Wasser zu treten, das träge über den Boden floss. Der Gestank, an den sie sich schon fast gewöhnt hatten, wurde immer stärker und ließ sie nur kurz und flach Luft holen. Das gelegentliche Quieken der Ratten, das leise Plätschern und Blubbern des Abwassers sowie die Atemzüge der beiden Wanderer bildeten die einzigen Geräusche.

»Da! Da ist eine Abzweigung.« Jörg zeigte an die entsprechende Stelle.

»Gott sei Dank.«

Sandra ging dem Lichtstrahl nach und bog in den anderen Gang ein. Jörg folgte ihr, dabei stieß er gegen ihren Rücken. Sandra war plötzlich stehengeblieben.

»Was ist?«

Sandra zeigte stumm auf etwas, das ein paar Meter entfernt auf dem Boden lag.

»Oh! Jetzt wissen wir, wo der Gestank herkommt.«

Vor ihnen im Wasser lagen ein paar menschliche Körper übereinandergetürmt. Dem Geruch nach waren sie schon seit einiger Zeit tot.

»Sind sie … richtig tot?« Sandras Stimme war ganz klein vor Angst und Abscheu.

»Ich glaube schon, sonst hätten sie sich bereits bewegt und versucht, uns anzugreifen.«

»Wie sollen wir an ihnen vorbeikommen?«

Jörg betrachtete den Haufen. »Drüber. Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht.«

»Niemals! Sieh mal, die sind ja schon halb flüssig!« In Sandras Gesicht spiegelte sich ihr Ekel wieder.

»Wir nehmen Anlauf und springen drüber.«

Sandra blickte skeptisch drein.

»Oder willst du einen anderen Weg suchen?«

»Okay, lass es uns tun.«

Sandra nahm Anlauf und sprang so hoch und weit, wie es ging. Sie landete knapp hinter dem Leichenhaufen und rollte sich ab. »Ärrgs, das geht nie wieder raus!«

Jörg hatte gewartet, bis die junge Frau drüben war, und nahm nun ebenfalls Anlauf. Er sprang ab, hatte aber die Höhe des Tunnels überschätzt. Er knallte gegen die Decke und fiel auf den obersten der Toten.

»Scheiße!«, fluchte er.

Jörg wühlte sich frei und kämpfte sich aus dem Haufen heraus. Sandra lachte und er konnte sich ebenfalls ein Grinsen nicht verkneifen.

»Na gut, ich bin kein guter …«, setzte er an, als plötzlich eine Hand aus dem Haufen herausschoss und seinen Fuß umklammerte.

Mit Gewalt wurde der Fuß nach hinten gerissen, und Jörg stürzte hin. Etwas zog sich am Bein des wild um sich schlagenden Mannes nach oben.

»Sandra, tu etwas!«

Jörg kämpfte, doch er kam nicht frei. Ein Kopf schob sich aus dem Haufen, verfaulende Haut spannte sich über einen haarlosen Schädel. Mit einem Ruck schob sich der Zombie nach vorne und grub seine Zähne in Jörgs Stiefel.

»Hilf mir!«, gellte sein Schrei durch den Tunnel.

»Was soll ich denn machen?«

»Reiß ihn weg! Lange hält das Stiefelleder ihn nicht mehr ab.«

Sandra starrte wie gelähmt auf die bizarre Szene vor ihr. Jörg, der sich wand und mit dem Fuß nach dem Kopf des Zombies stieß, der an seinem Stiefel kaute.

»Sandra! Bitte!«

Der Schrei weckte die Frau, und sie griff in ihre Hosentasche, zog etwas hervor. Sie warf sich auf den Zombie und stieß ihm ein Butterflymesser durch das linke Auge. Das Monster zuckte noch einmal und lag dann still. Sandra zog das Messer wieder heraus und ließ sich nach hinten fallen. Sie kam neben Jörg zu liegen.

»Das war knapp.« Sandra wischte ihr Messer an der Kleidung eines der Toten ab und steckte es weg. »Wir sollten schauen, ob noch eine der Leichen nur ›toter Mann‹ spielt.«

Jörg nickte und sie machten sich daran zu prüfen, ob die Toten auch wirklich alle tot waren.

»Keine Zombies mehr darunter«, stellte Sandra schließlich zufrieden fest. »Lass uns weitergehen.«

Kurz darauf erreichten sie ohne weitere Zwischenfälle die Stelle, an der das Hauptabwasserrohr in den Abwasserkanal stieß.

»Hoffen wir, dass gerade keiner aufs Klo muss.« Sandra grinste und schwang sich in den dunklen Tunnel. »Ich hoffe, wir kommen nicht an ein übles Hindernis, so etwas wie ein Speergitter.«

»Du meinst Sperrgitter, oder?«

»Speergitter. So ein Gitter mit Spitzen dran.«

»Du hast zu viele Ritterfilme gesehen.« Jörg kroch weiter die rutschige Röhre hinauf. »Ich mache mir viel mehr Sorgen darum, ob wir durch die Revisionsöffnung passen werden.«

»Ich bestimmt.« Sandra feixte.

Jörg grunzte nur, dann zog ein leises Geräusch aus dem oberen Teil der Röhre seine Aufmerksamkeit auf sich. Jörg keilte sich hektisch an der Wand fest, sodass er den Boden nicht mehr berührte.

»Schnell, du musst vom Boden weg, Sandra! Da kommt was auf uns zu!«

Die Angesprochene begriff sofort und stemmte sich mit Händen und Füßen gegen die Wände, um ihren Körper so hoch wie möglich zu bekommen. Kaum hatte sie sich in der Mitte festgestemmt, rauschte ein Bach unter den beiden hindurch.

»Bah, da hat jemand Spargel gegessen!« Sandra verzog angewidert das Gesicht »Lass uns weitergehen, es kann nicht mehr weit sein.«

Nach ein paar mühsamen Minuten sahen sie im schwächer werdenden Licht der Taschenlampe eine Metallluke in der Röhrenwand. Jörg seufzte erleichtert und drehte vorsichtig das Handrad, das sich zunächst etwas dagegen wehrte, dann gab es mit einem leisen metallischen Laut nach. Die Öffnung, die sich schließlich auftat, bot Ausblick auf einen Versorgungsraum, in dem sich Rohleitungen dahinschlängelten und in dessen Hintergrund ein riesiger Schaltschrank thronte. Kein Licht brannte.

Behutsam ließ sich Jörg auf den Boden hinab und half Sandra beim Ausstieg. An der dem Abflussrohr gegenüberliegenden Wand befand sich eine Tür. Jörg legte sein Ohr daran und lauschte, konnte jedoch nichts Verdächtiges hören. Er drückte die Klinke hinunter, doch die Tür blieb zu.

»Scheiße.«

Sandra schob ihn weg. »Lass mich mal.«

Sie zog ihr Messer und stocherte in dem Schlüsselloch herum. Jörg wollte sie gerade auffordern, es bleibenzulassen, als ein vernehmliches Klicken die Kapitulation des Schlosses anzeigte. Grinsend öffnete Sandra die Tür vorsichtig einen kleinen Spalt weit und löschte gleichzeitig die Lampe.

»Niemand zu sehen«, flüsterte sie.

Sie machte die Tür ein Stück weiter auf und linste um das Türblatt herum. Auch hier war nichts zu sehen, und so traten die beiden in einen Kellerkorridor, der von Birnen, die hinter bruchsicheren Abdeckungen glommen, schwach erhellt wurde.

Leise schlichen sie weiter. Nach wenigen Metern kamen sie an eine Treppe, die nach oben führte. Am oberen Ende brannte eine einsame Glühbirne. Sie verständigten sich mit Blicken, dann gingen sie Stufe für Stufe hinauf, peinlich darum bemüht, kein Geräusch zu machen. Sie waren fast oben, als Jörg zu kurz trat und eine Stufe verfehlte. Sein Schwung trug ihn nach vorne und er musste sich mit den Händen abstützen. Es klatschte, als seine Hände auf der Treppe aufschlugen.

 

***

 

Der Aufschlag war weit weniger heftig, als Stephan es erwartet hatte. Er lag auf weichem Boden, der erdig roch und sich unter seinen Händen krümelig anfühlte. Er schlug die Augen auf und stellte fest, dass er auf einem Feldweg lag.

Stephan rappelte sich in eine kniende Position hoch und schaute sich um. Keine hundert Meter von ihm entfernt schob sich eine unüberschaubare Flut von taumelnden Gestalten über den Weg und die angrenzenden Felder. Im Licht des Mondes sah ihre Haut dunkelgrau aus, und die Laute, die zu ihm herüberwehten, jagten ihm Schauer über den Rücken.

Er stand auf, schnellte sich förmlich auf die Füße. Die Zombies in der ersten Reihe wurden auf ihn aufmerksam und blieben kurz stehen, während die hinter ihnen nachdrängend weiterliefen und Stephan nun ebenfalls bemerkten. Augenblicklich schwoll das unablässige Gemurmel der Gestalten zu einem gierigen Knurren an, und wie ein Mann streckten die Untoten ihre Hände nach der vermeintlichen Beute aus. Stephan konnte sehen, wie die Zombies ihre Anstrengung verdoppelten, um in seine Nähe zu kommen.

»Fuck!«

Er drehte sich um und lief los. Immer wieder schaute er zurück, wie nahe ihm seine Verfolger schon gekommen waren. Er fand schließlich ein Tempo, bei dem der Abstand gleich blieb.

»Danke, Martin!«, fluchte er. »Echt toll, mich als lebenden Köder zu missbrauchen. Na warte, dafür gibt es noch was!«

Stephan setzte stillschweigend voraus, dass er diesen Wahnsinn überleben und dicht genug an Martin herankommen würde, um es ihm tatsächlich heimzuzahlen zu können. Er lief unter dem bleichen Mond dahin und näherte sich immer mehr den Lichtern Bonns. Immer wieder schaute er zurück, die Zombies waren ihm nach wie vor auf den Fersen.

»Kommt nur, da vorne gibt es feines Fresschen!«

Stephan fragte sich, was mit den Soldaten geschehen würde, die sich den Untoten in den Weg stellten. Wären sie schlau genug, die Flucht zu ergreifen oder so dumm, bis zur letzten Kugel zu kämpfen? Sein Tempo verlangsamte sich, die Luft wurde ihm knapp.

Doch nicht so in Form, dachte er und schwor sich, sollte er das hier überleben, mehr Sport zu treiben – das Glaubensbekenntnis aller übergewichtigen Sportmuffel.

Stephan befand sich jetzt auf einer Asphaltstraße, die ein paar hundert Meter vor ihm eine Biegung machte. Dahinter schien ein Posten zu sein, denn dort schimmerte Licht auf das Band der Straße. Er blieb stehen, keuchte hingebungsvoll und betrachtete die Masse seiner Verfolger. Er ließ sie bis auf etwa fünfzig Meter herankommen und lief dann auf die Kurve zu.

Stephan, du bis total bescheuert. Völlig verrückt. Das wirst du nie überleben!

Wenige Meter vor der Kurve begann er zu schreien.

»Hilfe! Hilfe! Die Zombies sind hinter mir her!«

Er bog um die Kurve und blickte in die grellen Scheinwerfer, die alles vor dem Posten taghell ausleuchteten. Schemenhaft konnte er hinter den Absperrungen Menschen sehen.

»Halt! Stehenbleiben! Heben Sie die Hände! So ist es gut.«

Die Stimme war durch ein Megaphon verstärkt worden. Stephan gehorchte, blickte aber immer wieder nach hinten.

»Da kommen gleich ein paar hundert Zombies um die Ecke. Ich fände es ganz toll, wenn wir später weiterdiskutieren könnten.«

Einer der Wachposten kam nach vorne. Er hielt eine Maschinenpistole im Hüftanschlag. Die Mündung zielte auf Stephans Bauch, was bei ihm ein starkes Kribbeln auslöste.

»Bitte, Sie müssen mich hinter die Absperrung lassen! Ich werde von einer Horde Untoter verfolgt, und die sind gleich hier.«

Der Soldat kam noch näher und machte keine Anstalten, Stephan passieren zu lassen. »Wer sind Sie?«

»Stephan Mertens.«

»Wo kommen Sie her?«

»Aus Beul. Ich habe mich hierher durchgeschlagen, und dann bin ich auf diese Horde dahinten gestoßen. Sie müssen mir glauben, wir sind in großer Gefahr!«

»Aus Beul also?« Der Posten betrachtete Stephan misstrauisch.

Dieser wollte gerade antworten und sein Lügengespinst etwas weiter ausbauen, als die Augen des Soldaten groß wurden. Gleichzeitig hörte Stephan im Hintergrund die typischen Geräusche der Zombies. Langsam drehte er sich um. Die ersten seiner Verfolger bogen um die Ecke.

»Scheiße, Mann! Ich habe es doch gesagt. Jetzt lassen Sie mich sofort rein!«

Der Soldat erbleichte und nickte. Er drehte sich um und bedeutete Stephan, im zu folgen.

»Sperre auf! Alarm!«

Im Laufschritt liefen die beiden durch die Öffnung in der Absperrung, die sich aufgetan hatte. Kaum waren sie hindurch, wurde die Barriere wieder geschlossen. Stephan sah erst jetzt, dass es sich um auf Rollen gelagerte Stahlwände handelte, die nach hinten hin mit langen Streben abgestützt waren.

An einem geparkten Militärjeep blieb Stephan stehen und holte schwer atmend Luft. »Danke. Das war knapp.«

Sein Retter war bereits wieder zurück an die Barrikade gelaufen. Von dieser Seite aus konnte man sehen, dass die Straße, auf der Stephan hierhergekommen war, eine Passage zwischen einer langen Häuserzeile war, deren Bauten dicht an dicht standen. Die Barrikade sperrte die Lücke komplett ab. Ein strategisch guter Punkt, um mit wenig Aufwand ein großes Gebiet unpassierbar zu machen. Dennoch war sich Stephan sicher, dass es keine Frage war ob, sondern wann die Untoten die Sperre überwinden würden. Er dachte an den Auftrag, den er von Martin bekommen hatte und der ihn förmlich zwang, ihn auch zu erfüllen. Martin hatte recht. Fliehen kam nicht in Frage, er würde die Flucht nicht überleben.

Unauffällig suchte sich Stephan einen Unterschlupf, der ihn einigermaßen verbarg. Wenn die Untoten die Soldaten überwunden hatten, musste er sie weiterlocken.

 

 

Kapitel XIII

Konzert für Sirene mit Begleitung

 

Jörg schob sich vorsichtig an die Ecke des Flures, durch den Sandra und er gerade geschlichen waren. Jederzeit konnte jemand kommen, und bei jeder Tür machten die beiden kurz Halt, um zu lauschen, doch nichts rührte sich dahinter. Nur der allgegenwärtige Sirenenton begleitete sie auf ihrem Schleichgang durch das Gebäude. Kurz nachdem sie sie in die Halle gekommen waren, in die sie die Treppe geführt hatte, war ihnen der Ton bewusst geworden. In ihrer Anspannung hatten sie ihn bis dahin überhört.

Jörg runzelte die Stirne, als Sandra ihn auf die seltsame Rhythmusfolge aufmerksam machte. »Diese Signale kenne ich gar nicht. Auf jeden Fall klingen sie nicht militärisch. Aber offensichtlich«, er deute mit einer allumfassenden Geste auf die leere Halle, »kennen alle anderen sie.«

»Was mag das Signal bedeuten?«

»Ich weiß es wirklich nicht, würde es aber für einen Sammelruf halten. So wie es aussieht, sind alle möglichst schnell nach draußen gelaufen.«

»Meinst du, die Zellen sind nicht mehr bewacht?«

»Wäre zu schön, aber rechne nicht damit. Lass uns die Waffenkammer suchen. Mit nur einem Messer kommen wir nicht weit.«

Die beiden schlugen den Weg zu der deutlich ausgeschilderten Ausgabestelle für Waffen ein, die sich im ersten Stock befand. Ein weiterer Umstand, den Jörg seltsam fand.

»Normalerweise sind Waffenkammern immer im Keller«, erklärte er. »Bombenschutz.«

»Egal. Hauptsache, wir finden dort was anständiges.«

Als sie den ersten Stock erreicht hatten, standen sie auf einem langen Flur, dessen linke Seite in völliger Dunkelheit lag. Auf der rechten Seite brannte die Beleuchtung nur trübe, und in der Mitte des Flurabschnitts befand sich eine erleuchtete Türöffnung.

Jörg ging vor und bedeutete Sandra, leise zu sein. Kurz vor der Tür legte er ihr eine Hand auf die Brust und wies sie mit Gesten an, stehenzubleiben. Dann ging er mit forschem Schritt auf die Waffenkammer zu. Er bog um die Tür und hatte schon eine Gruß auf den Lippen, aber hinter dem Tresen, der den kleinen Vorraum vom Waffenmagazin trennte, war niemand, die Drahtgittertür zu den Waffenschränken stand offen.

Jörg steckte den Kopf zur Tür hinaus und rief Sandra zu sich: »Alles klar, keiner da.«

Sandra betrat die Waffenkammer und ging zielstrebig auf die Waffenschränke zu. »Mist, alles leer. Nein, warte, hier hinten sind noch welche. Wow, was ist denn das?«

Sandra hielt ein stupsnasiges Gewehr mit kurzem Schaft und einem Schulterriemen hoch.

»Das ist eine P90, eine Maschinenpistole ohne Rückschlag. Ziemlich neues Modell aus den USA. Schau mal in den Schrank, ob da so flache, lange Pakete liegen. Das sind die Munitionstreifen.«

»Yepp, eine ganze Kiste voll.«

»Gut. Nimm die P90, ich habe hier noch eine P1 gefunden und entsprechende Munition. Und das hier.« Er hielt einen Metallzylinder hoch, an dessen einem Ende ein Griff herausstand. »Das ist eine Nebelgranate. Wird sonst bei Manövern benutzt. Die könnte uns nützlich sein.«

»Dann lass uns weiter! Wenn ich das Schild in der Halle richtig gelesen habe, sind die Zellen im dritten Stock.»

Jörg ging wieder voran und sah sich erst vorsichtig um, ehe er die Waffenkammer verließ. Schnell huschten sie zum Treppenhaus und gingen vorsichtig nach oben, bis sie in den dritten Stock kamen. Hier waren die Flurabschnitte nur kurz. Laut Hinweisschild mussten die beiden nach links. Jörg ging ein Stück die Treppe hinunter und zog sich leise die Schuhe aus. Sandra verstand und tat es ihm gleich. Jörg hängte Sandra die P90 mit dem Riemen so um, dass die Waffe auf ihrem Rücken lag und nicht verrutschen konnte, Sandra sie aber schnell nach vorne ziehen konnte. Dann schlichen die beiden auf Socken wieder hinauf und in den linken Flurabschnitt. Kurz bevor sie die nächste Abzweigung erreichten, hörten sie Stimmen.

»Die Sirenen machen mich fertig. Das ist bestimmt wieder so ein Übungsalarm vom ollen Dupont. Oder, Hans?«

»Ich weiß nicht. Die laufen jetzt schon so lange, da ist bestimmt was im Busch. Sag mal, Bernd, hast du eine Zigarette?«

»Willst du echt hier drin rauchen?«

»Nee, ich stell mich ans Fenster. Ist sowieso ein blöder Job, hier den Flur zu bewachen. Wovor hat der Alte Angst? Dass die Kinder ausbrechen? Wuhah, die Ninjakinder können durch die Wände gehen!« Hans kicherte.

Jörg zeigte Sandra den hochgereckten Daumen.

»Irgendeinen Grund muss Dupont haben, sie einzuknasten und bewachen zu lassen. Das sind bestimmt nicht nur irgendwelche Kinder.«

»Ach Quatsch. Der General ist einfach total loco. Hast du gehört, dass er morgen einen Hexenprozess starten will, gegen die Kinder? Ich bitte dich, Kinder! Was denkt der sich? Dass sie mit dem Teufel im Bunde stehen?«

»So abwegig ist das nicht, Hans. Ich habe von Brauweiler gehört, dass die Kinder übernatürliche Fähigkeiten haben sollen.«

»Brauweiler?« Hans schnaubte abfällig. »Der ist doch zu blöd, einen fallenden Eimer Wasser umzutreten. Und der soll was gehört haben? Im Leben nicht!«

Jörg bedeutete Sandra, etwas zurückzugehen, und folgte ihr. Am Treppenabsatz blieben sie stehen. Jörg zeigte Sandra die Granate. Er hielt mit einer Hand den Griff fest gegen das Gehäuse gedrückt, mit der anderen zog er einen Sicherungsstift lautlos und langsam heraus und steckte ihn in die Hosentasche. Dann zählte er mit der Hand von drei herunter. Bei null warf er die Granate so, dass sie an der Wand abprallte und in den Gang mit den Wachen rollte.

»Hey? Was ist … Deckung! Eine Granate!«

Sandra und Jörg hörten, wie Hans und Bernd sich in Deckung warfen, dann explodierte die Granate mit einem satten »Bumm«. Sofort füllte sich der Gang mit künstlichem Nebel.

»Komm!«, schrie Jörg, während auf der Treppe unter ihnen Schritte laut wurden.

 

***

 

»Sie wird bald sterben.«

»Wie bald?«

»In wenigen Minuten. Sehen Sie hier, die Werte.«

Die beiden Ärzte beobachteten mit klinischem Interesse den Todeskampf, der sich in dem Krankenbett des Isolierzimmers abspielte.

»Die Atemfrequenz ist sehr unregelmäßig. Schauen Sie mal auf die Blutsauerstoffwerte. Ich hätte eine starke Entsättigung erwartet, der Wert ist jedoch genauso hoch wie bei einem gesunden Menschen.»

»Wie ich vermutet habe.« Sein Kollege nickte. »Der Organismus baut für die Transformation ein Depot auf. Wenn der Hirntod eingetreten ist, dann brauchen die Zellen noch etwas Brennstoff, um endgültig in den untoten Zustand überzugehen.«

»Hier, dieser Wert des Frontallappens ist ebenfalls bemerkenswert. Während alle anderen Teile des Neokortex und auch des Klein- und Stammhirns absterben, leuchtet dort ein regelrechtes Feuerwerk.«

»Könnte es sein, dass dort die Impulse gebildet werden, die aus einem Toten einen Zombie machen?«

»Nein, eher nicht. Die Reaktionen der Zombies sind komplett auf Instinktebene und gehen vom Stammhirn aus.«

»Aber was ist es dann?«

 

***

 

Gabi spürte den dunklen Mann. Seine Anwesenheit war ein Fanal, das sie anzog wie eine Kerze die Motte.

»Schon sehr bald wirst du zu der Armee gehören. Dann bist du endlich frei und kannst dein volles Potential ausschöpfen.«

»Ja«, hauchte Gabi. Sie spürte, dass mit jedem Atemzug das Leben aus ihr herausdampfte. Je dünner der Lebensfaden wurde, umso lauter vernahm sie einen Ruf, der mit Macht an ihr zog und dem sie sich nicht mehr lange würde widersetzen können. Je stärker der Sog wurde, umso weniger Willen brachte sie auf, ihm zu widerstehen. Wie Sirup strömte die Luft in ihre Lungen, und bald würde ihre Kraft nicht mehr reichen, genügend davon einzusaugen. Ein letztes Mal schlug ihr Herz, und sie sandte einen Gedanken mit aller Kraft aus.

Martin!

 

***

 

Tom erwachte, aus dem Schlaf gerissen von einem Schrei, der noch in seinem Schädel nachhallte. Er taste mental um sich, doch er fühlte nichts. Augenblicklich füllten Tränen seine Augen.

»Gabi«, schluchzte er.

 

***

 

Aus seinem Versteck heraus beobachtete Stephan das Vorrücken der wandelnden Leichen. Wie schon an der ersten Sperre hielt auch dieser Verteidigungsring nicht lange stand. Die Kugeln der Soldaten hielten reiche Ernte, und ein Wall aus dahingestreckten Leibern vor der Absperrung aus Stacheldraht und Betonsperren zeugte von ihrer Treffsicherheit. Die schiere Masse der anrückenden Zombies war jedoch wie ein Tsunami aus totem Fleisch einfach weitergeflossen und hatte die Absperrung förmlich überspült. Die Kämpfer hielten sich tapfer, geschützt hinter einem Sandsackwall schossen sie mit ruhiger Präzision auf die Angreifer.

Stephan empfand Mitleid mit ihnen. Sie konnten bestimmt nichts dafür, dass er gefangengehalten worden war. Wäre Martins nicht zu ignorierender Befehl nicht gewesen, hätte Stephan Bonn längst verlassen. Nun wartete er darauf, dass die Untoten endlich ihr grausiges Gemetzel beenden würden, um dann weiterzuziehen.

Stephan beobachtete eine Gruppe Zombies dabei, wie sie einen jungen Gefreiten von der Gruppe der Überlebenden absonderten. Fast kam es ihm so vor, als verständigten sie sich untereinander. Sie kreisten den jungen Mann ein. Für jeden, den der Soldat mit einem Schuss niederstreckte, rückte ein anderer nach. Schließlich war der Ring so eng, dass das Gewehr nichts mehr nutzte. Stephan zuckte zusammen, als die Zombies den Soldaten unter sich begruben. Eine Hand erschien aus dem Getümmel und griff Halt suchend in die Luft, bis sie sich verkrampfte, zitterte und dann kraftlos herunterfiel. Einer der Untoten ergriff sie und machte sich mit ihr davon. Stephan musste ein Würgen unterdrücken, als er sah, dass der Zombie an den Fingern nagte.

Oh mein Gott, oh meingott, ohmeingott, das halte ich nicht aus!

Stephan sah weiter mit an die Zähne gepresster Faust zu, wie die Soldaten starben. Kurze Zeit später erkannte er eben jene, die gerade getötet worden waren, zwischen den anderen lebenden Leichen herumwandern.

Gerade als der letzte der Verteidiger fiel, hielt ein Jeep mit quietschenden Reifen, und eine bekannte Gestalt sprang heraus.

»Ihr elendes Gesindel! Der Herr wird euch gehörig in den Arsch treten!«

Pfarrer Stark sprang vom Trittbrett des Jeeps und schwang seinen Morgenstern.

»Nein«, hauchte Stephan.

Der hünenhafte Geistliche führte kraftvoll seine furchtbare Waffe und lachte jedes Mal, wenn er einen Kopf traf und spaltete.

»Kommt nur, ihr Satansbrut, ich werde euch alle vernichten! Ihr seid vielleicht von Luzifer direkt gesandt und geschützt durch die Kraft der Kinder, aber ich werde euch dennoch vernichten. Da, nimm das!« 

Hilflos sah Stephan mit an, wie Stark die Zombies dezimierte. Dann geschah das Unfassbare: Der Pfarrer trat in eine Pfütze Gehirnmasse und rutschte aus. Das »Neeeeiiin!«, das vom Knurren der Zombies fast übertönt wurde, fraß sich in Stephans Gehirnwindungen und prägte sich dort für alle Zeiten ein.

 

***

 

Gabriel wanderte durch das Chaos der Gefechte zwischen Duponts Truppen und der Streitmacht der Untoten, die an verschieden Stellen zugleich angriffen. Frank hatte wirklich einen guten Job gemacht, und Gabriel überlegte, wie er ihn weiterhin zu solchen Taten pushen konnte. Schließlich blieb der große dunkle Mann stehen und drehte sich mit erhobenen Händen einmal um die eigene Achse. Verzückt schloss er die Augen, genoss die Kakophonie aus den Schreien der Sterbenden, den schmatzenden Lauten der Zombies und dem Dröhnen der an- und abschwellenden Sirenen.

»Welch herrliche Sinfonie.«

 

Ende des vierten Buches der Chronik von Eden