Marion Zimmer Bradley
Die Zeit der hundert Königreiche
Scanned by: Balthasar Corrected by: Therro
1
Vorbemerkung der Autorin
Wie alle Darkover-Romane ist auch dieser eine abgeschlossene
Geschichte und nicht ein unvollständiger Teil einer Serie. Doch für
jene, die Wert auf die Darkover-Chronologie legen, sei gesagt:
Die Zeit der Hundert Königreiche spielt
gegen Ende des Zeitalters des Chaos, in der Periode, die später -
wie der Titel schon sagt - als Zeit der Hundert Königreiche bekannt
wurde, rund zweihundert Jahre später, als Allart Elhalyn, wie in
Herrin der Stürme berichtet, zu Hali
und Thendara regierte. Kriege, in denen die Matrix-Wissenschaft zu
zerstörerischen Zwecken eingesetzt wurde, hatten die alten Reiche
in viele kleine unabhängige Königtümer, Stadtstaaten, Baronien,
Grafschaften und Republiken aufgeteilt, die alle nicht sehr groß
waren. Von einigen der Königreiche hieß es, der König könne sich
auf einen Hügel stellen und von da aus über sein ganzes Land in das
der Nachbarkönige hineinsehen.
Viele Männer jener Zeit träumten davon, die Hundert Königreiche zu
vereinigen und die Anarchie zu Gesetz und Ordnung zurückzuführen.
Einer dieser Männer war Varzil, dem die Geschichte den Beinamen
Der Gute verlieh, Laranzu von Neskaya, ein zweiter Bard di Asturien,
den man den Wolf der Kilghardberge nannte. Und dies ist ihre
Geschichte.
Marion Zimmer Bradley
Prolog: Der Fremde
Paul Harrell erwachte, verwirrt, nur halb bei Bewußtsein und mit
dem Gefühl, langdauernde Alpträume hinter sich zu haben. Die
Muskeln seines Körpers schmerzten, als sei jeder für sich ein
hohler Zahn, und sein Kopf fühlte sich an, als habe er einen
wahrhaft monumentalen Kater. Verwischte Erinnerungen, ein Mann mit
seinem Gesicht, seine eigene Stimme, die fragte: Verdammt noch mal, wer bist du? Doch nicht etwa zufällig
der Teufel? Nicht etwa, daß er an den Teufel oder die Hölle
oder eines jener Dinge glaubte, die erfunden waren, um die Menschen
zu zwingen, das zu tun, was andere Leute für richtig hielten, statt
das, was sie selbst wollten.
Er bewegte seinen Kopf, und der Schmerz darin ließ ihn
zusammenzucken. Donnerwetter! Muß ich gestern
abend einen draufgemacht haben!
Er streckte sich, versuchte sich umzudrehen und stellte fest, daß
er bequem lag und genügend Platz für seine Beine hatte. Der Schock
machte ihn hellwach.
Er konnte sich bewegen, sich strecken er war
nicht in der StasisZelle!
War also alles nur ein Alptraum gewesen? Die Flucht vor der
Alpha-Polizei, die Rebellion, die er in der Kolonie angeführt
hatte, der letzte Kampf, bei dem seine Männer rings um ihn
niedergeschossen worden waren, die Gefangennahme und der Prozeß -
und schließlich das Grauen, als sich die Stasis-Zelle für immer um
ihn schloß. Für immer. Das war sein letzter Gedanke gewesen. Für
immer. Schmerzlos natürlich. Sogar angenehm, wie das Einschlafen,
wenn man vollständig erschöpft ist. Aber er hatte um diesen letzten
bewußten Augenblick mit aller Kraft gekämpft, weil er wußte, daß es
wirklich der letzte war. Er würde nie mehr aufwachen.
Humane Regierungen hatten die Todesstrafe vor langer Zeit
abgeschafft. Zu oft hatte sich ein paar Jahre nach der Hinrichtung
des Gefangenen durch neues Beweismaterial seine Unschuld erwiesen.
Der Tod machte den Fehler unwiderruflich und setzte das ganze
Justizsystem in Verlegenheit. Die Stasis-Zelle hielt den Gefangenen
sicher von der Gesellschaft fern … aber er konnte immer noch
rehabilitiert und ins Leben zurückgerufen werden. Und es gab keine
Gefängnisse, keine traumatischen Erinnerungen an die Gemeinschaft
mit abgebrühten Kriminellen,’ keine Gefangenenaufstände.
Überflüssig geworden waren Beratung, Erholung, Neuanpassung. Steckt
sie einfach in eine Stasis-Zelle und laßt sie dort auf natürliche
Weise altern und schließlich sterben, bewußtlos, leblos … falls sie
sich nicht doch noch als unschuldig erweisen. Darm konnte man sie
herausholen.
Nur hatte Paul Harrell gewußt, daß das in seinem Fall unmöglich
war. Er war schuldig, und dessen hatte er sich auch noch gerühmt,
und er hatte es darauf angelegt, vor der Gefangennahme
niedergeschossen zu werden. Was noch schwerer wog, er hatte sich
Mühe gegeben, so etwa zehn der verdammten Bullen mitzunehmen.
Deshalb hatte er das gesetzliche Recht auf die Wahl zwischen
Stasis-Zelle und Rehab verwirkt.
Der Rest seiner Männer, die nicht niedergeschossen worden waren,
ließ sich demütig wie Schafe zur Rehabilitation treiben, wo man aus
ihnen konformistische Nullen machte. Das war alles, was man in
dieser idiotischen Welt wünschte. Marionetten. Tröpfe ohne Mumm.
Und bis zum letzten Ende konnte er sehen, daß der Richter und alle
seine juristischen Ratgeber hofften, er werde zusammenbrechen und
um Gnade betteln - um eine Chance zur Rehab, damit sie ihn mit
Drogen und Umerziehung und Gehirnwäsche in einen Niemand verwandeln
konnten, der mit allen anderen im Gleichschritt durch das
marschierte, was sie Leben nannten. Danke, das
ist nichts für mich. Ich tue bei ihrem verdammten Spiel nicht mit.
Als ich meinen Lauf beendet hatte, war ich bereit zu gehen, und ich
ging.
Und so lange es dauerte, war es ein gutes Leben gewesen, dachte er.
Er hatte Haschee aus ihren blöden Gesetzen gemacht, weil sich
jahrelang niemand auch nur vorzustellen vermochte, jemand könne ein
Gesetz anders als durch einen Zufall oder Unwissenheit brechen. Er
hatte alte Frauen gehabt, die er wollte, und alle sonstigen
Genüsse. Frauen vor allem. Er ging nicht auf die blödsinnigen
Spiele ein, zu denen die Frauen die Männer zwingen wollten. Er war
ein Mann, und wenn sie einen Mann statt eines Schafes wollten,
entdeckten sie auf der Stelle, daß sich Paul Harrell nicht nach
ihren konformistischen Schwächlingsregeln richtete.
Dies verdammte Weib, das mir die Polizei auf
den Hals gehetzt hat! Wahrscheinlich hatte sie von ihrer
Mutter gelernt, daß es eine Vergewaltigung sei und ein Mädchen
Zeter und Mordio schreien müsse, wenn der Mann nicht vor ihr auf
die Knie fiel und sich wie ein Kapaun benahm, wie ein Jammerlappen,
der sich von einer Frau an der Nase herumführen ließ und sie
niemals berührte, bis sie den Wunsch dazu äußerte! Teufel, er wußte
es besser. In Wirklichkeit liebten die Frauen es, wenn einer
ranging und ein Nein nicht als Antwort gelten ließ. Nun, sie hatte
herausgefunden, daß er sich keine Vorschriften machen ließ, selbst
wenn die Stasi-Zelle ihm drohte. Sie hatte wohl gedacht, er werde
um eine Chance zur Rehab winseln, und dann würde man aus ihm ein
Lämmchen machen, das sie spazierenführen konnte.
Zum Teufel mit ihr! Bis an ihr Lebensende
würde sie jetzt nachts aufwachen und daran denken, daß sie ein
einziges Mal einen wirklichen Mann gehabt hatte .
Als er in seinen Erinnerungen so weit gekommen war, setzte Paul
Harrell sich hoch und riß die Augen auf. Er war nicht in der
StasisZelle, und er war auch an keinem anderen Ort, den er kannte.
War dann alles nur ein Alptraum gewesen, das Mädchen, die
Rebellion, die Schießerei mit den Polizisten, der Richter, der
Prozeß, die Stasis-Zelle … ?
War er jemals dort gewesen, war irgend etwas davon wirklich
geschehen?
Und wenn ja, wie war er hinausgelangt?
Er lag auf einer weichen Matratze, bezogen mit einem sauberen,
groben Leintuch. Zugedeckt war er mit Woll- und Steppdecken und
einem Fell. Rings um ihn war ein sehr schwaches, trübes, rötliches
Licht. Er streckte die Hand aus und stellte fest, daß das Licht
durch schwere Bettvorhänge fiel. Er lag in einem Himmelbett, wie er
es einmal irgendwo in einem Museum gesehen hatte, und die Vorhänge
um das Bett schlossen das Licht aus. Es waren rote Vorhänge. Er zog
sie beiseite. Das Zimmer hatte er noch nie gesehen. Und er hatte
nicht nur dies Zimmer noch nie gesehen, ihm war auch noch nie in
seinem Leben etwas Ähnliches untergekommen.
Etwas war verdammt sicher. Er war nicht in der Stasis-Zelle, es sei
denn, eine Serie bizarrer Träume gehörte mit zu der Bestrafung.
Auch war er nirgends im Rehab-Zentrum. Er war nicht einmal auf
Alpha, dachte er, als er durch das hohe Bogenfenster eine riesige
rote Sonne erspähte, und auch nicht auf Terra oder einem anderen
Planeten der Konföderierten Welten, die er schon einmal besucht
hatte.
Vielleicht war das hier Walhalla oder so etwas Ähnliches. Es gab
alte Sagen über einen idealen Ort für Krieger, die den Heldentod
gestorben waren. Und er war gewiß kämpfend untergegangen. Beim
Prozeß hatte es geheißen, er habe acht Polizisten getötet und einen
weiteren fürs Leben verkrüppelt. Er war gefallen wie ein Mann,
nicht wie ein Konformist, an dem eine Gehirnwäsche vollzogen worden
war. Er hatte nicht um eine Chance gebettelt und gefleht, noch eine
Weile länger auf den Knien in einer Welt herumrutschen zu dürfen,
die keine Achtung vor einem Mann hatte, der lieber auf seinen Füßen
starb! Jedenfalls war er aus der Zelle heraus, das war schon mal
ein guter Anfang. Aber er war nackt, wie man ihn in die Zelle
hineingesteckt hatte. Sein Haar war immer noch geschoren wie zu dem
Zeitpunkt, als … Nein. Man hatte ihm den Kopf rasiert, und deshalb
mußte er einen oder zwei Monate in der Zelle gewesen sein, weil er
die dicke, weiche Wolle fühlen konnte. Er sah sich im Zimmer um. Es
hatte einen Steinfußboden, auf dem ein paar dicke Fellteppiche
lagen. An Möbeln gab es nichts außer dem Bett und einer mit reichen
Schnitzereien versehenen schweren Truhe aus dunklem Holz.
Und jetzt fiel ihm trotz des Hämmerns in seinem Kopf noch etwas
ein: ein stechender Schmerz, blaue Blitze um ihn, ein Kreis aus
Gesichtern, das Gefühl, aus großer Höhe zu fallen - Schmerz und
dann ein Mann. Ein Mann mit seinem eigenen Gesicht und seiner
eigenen Stimme, der ihn fragte: Wer bist du?
Doch nicht etwa zufällig der Teufel? Alte Sagen. Wenn man
einen Mann mit dem eigenen Gesicht sah, seinen Doppelgänger, dann
war das entweder der Teufel oder eine Warnung vor dem Tod. Aber
praktisch war er ja gestorben, als man ihn in die Stasis-Zelle
steckte. Was konnte ihm also noch irgendwer tun? Sicher war das ein
Traum gewesen. Oder doch nicht? Oder hatten sie, nachdem er in der
Zelle verschwunden war, einen Klon von ihm hergestellt und den Klon
einer Gehirnwäsche unterzogen und aus ihm den guten, respektablen,
konformistischen Bürger gemacht, den sie immer aus ihm hatten machen wollen?
Irgend etwas hatte ihn irgendwie hierhergebracht. Aber wer und wann
und wie? Und vor allem: warum?
Und dann öffnete sich die Tür, und der Mann mit seinem Gesicht trat
ein.
Nicht ein Mann, der ihm sehr ähnlich war wie ein Zwillingsbruder.
Er selbst.
Wie er hatte der Mann blondes Haar, nur war es
bei dem Fremden dick und lang und zu einem festen Zopf
zusammengedreht, um den sich eine rote Schnur wickelte. Paul hatte
noch nie einen Mann gesehen, der sein Haar auf diese Weise
trug.
Auch hatte er noch nie einen Mann so angezogen gesehen wie den mit
seinem Gesicht, mit Sachen aus schwerer Wolle und Leder: eine
geschnürte Lederweste, darunter eine Jacke aus ungebleichter Wolle,
lederne Breeches, hohe Stiefel. Jetzt, wo Paul sich zum Teil unter
seinen Decken hervorgearbeitet hatte, stellte er fest, daß es im
Zimmer kalt genug war, um diese Art Kleidung ratsam erscheinen zu
lassen. Und durch das Fenster sah er, daß der Schnee dick auf dem
Boden lag. Nun, daß er nicht auf Alpha war, wußte er bereits, und
wenn er daran noch Zweifel gehabt hätte, wären sie durch die
schwach purpurnen Schatten auf dem Schnee und die große rote Sonne
beseitigt worden. Aber seltsamer als das alles war der Mann mit
seinem Gesicht. Das war keine Ähnlichkeit, die sich auf kurze
Entfernung verlor. Es war nicht einmal sein seitenverkehrtes
Spiegelbild, sondern das Gesicht, das er auf Videoaufnahmen von
seinem Prozeß gesehen hatte. Ein Klon - wenn sich außer reichen
Exzentrikern jemand so ein Ding leisten könnte. Eine absolute,
identische Replik seiner selbst, bis zu dem gespaltenen Kinn und
dem kleinen braunen Muttermal auf seinem linken Daumen.
Was zum Teufel ging hier vor?
Er fragte: »Wer zum Teufel bist du?«
Der Mann in der Lederweste antwortete: »Ich komme, um dir die
gleiche Frage zu stellen.«
Paul erkannte die Fremdheit der Silben. Sie hörten sich ein bißchen
wie Alt-Spanisch an, eine Sprache, von der er ein paar Wörter
kannte. Aber er konnte die Rede des Mannes deutlich verstehen, und
das jagte ihm mehr Furcht ein als alles, was sonst geschehen war.
Jeder las die Gedanken des anderen.
»Hölle und Verdammnis«, platzte er heraus, »du bist ich!« »Nicht ganz«, meinte der andere Mann, »aber
es kommt dem nahe genug. Und das ist der Grund, warum wir dich nach
hier gebracht haben. «
»Nach hier.« Paul klammerte sich an das eine Wort. »Wo ist
hier? Welche Welt ist das? Welche Sonne
ist das? Und wie bin ich hergekommen? Und wer bist du?«
Der Mann schüttelte den Kopf, und wieder hatte Paul das unheimliche
Gefühl, er beobachte sich selbst.
»Die Sonne ist die Sonne«, sagte er, »und wir sind in dem Land, das
man die Hundert Königreiche nennt; das hier ist das Königreich von
Asturias. Und was die Welt betrifft, so wird sie Darkover genannt,
und das ist das einzige Wort, das ich für sie kenne. Als ich ein
Junge war, erzählte man mir eine Fabel darüber, daß die Sterne
Sonnen wie unsere eigene seien, umkreist von einer Million
Millionen Welten wie unserer, und vielleicht mit Menschen wie wir
darauf. Aber ich habe immer gedacht, das sei eine Geschichte, um
Babys und kleine Mädchen zu ängstigen! Doch in der letzten Nacht
habe ich Seltsameres gesehen und gehört. Die Zauberei meines Vaters
hat dich nach hier gebracht , und wenn du wissen willst, warum,
mußt du ihn fragen. Aber wir führen nichts Böses gegen dich im
Schilde.« Paul hörte die Erklärung kaum. Er starrte den Mann mit
seinem Gesicht, seinem Körper, seinen eigenen Händen an und
versuchte zu ergründen, was er für den Mann empfand.
Sein Bruder. Er selbst. Er kann mich
verstehen. Diese Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Und
gleichzeitig machte sich plötzlicher Zorn breit: Wie kann er es wagen, mit meinem Gesicht herumzulaufen?
Und dann, in völliger Verwirrung: Wenn er ich
ist, wer zum Teufel bin dann ich?
Und der andere Mann sprach die Frage aus. »Wenn du ich bist …
«
-seine Fäuste ballten sich - »… wer bin dann ich?«
Paul lachte hart auf. »Vielleicht bist du doch der Teufel. Wie ist
dein Name?«
»Bard«, erwiderte der Mann. »Aber man nennt mich Wolf. Bard di
Asturien, der Kilghard-Wolf. Und du?«
»Mein Name ist Paul Harrell«, sagte er und schwankte. War das alles
ein bizarrer Traum in der Stasis-Zelle? War er gestorben und nach
Walhalla gekommen?
Er verstand nichts von alldem. Absolut gar nichts.
Sieben Jahre früher …
1. BUCH
Die Pflegebrüder
1
Licht fiel aus jedem Fenster und jeder
Schießscharte von Burg Asturias. In dieser Nacht feierte König
Ardrin von Asturias ein großes Fest, denn er verlobte seine Tochter
Carlina mit seinem Pflegesohn und Neffen Bard di Asturien, dem Sohn
seines Bruders Dom Rafael von High Fens. Die meisten Edlen von
Asturias und ein paar aus den benachbarten Königreichen waren
gekommen, der Verlobung und der Tochter des Königs die Ehre zu
erweisen. Der Hof war ein Meer leuchtender Farben. Fremde Pferde
und andere Reittiere, die in die Ställe gebracht wurden,
reichgekleidete Adlige, gewöhnliches Volk, das sich vor den Toren
drängte, um sich das Schauspiel anzusehen und die Gabe von Essen,
Wein und Süßigkeiten in Empfang zu nehmen, die von der Küche aus an
alle verteilt wurde. Diener rannten in wirklichen oder erfundenen
Geschäften umher.
Hoch oben in den abgetrennten Räumen der Frauen blickte Carlina di
Asturien mit Widerwillen auf den gestickten Schleier und das
Überkleid aus blauem Samt, besetzt mit Perlen von Temora, das sie
bei der Verlobungszeremonie tragen sollte. Sie war vierzehn Jahre
alt, ein schlankes, blasses junges Mädchen mit langen dunklen
Zöpfen, die unter ihren Ohren in Schaukeln hingen, und großen
grauen Augen, die das einzige schöne Merkmal in einem zu schmalen
und zu nachdenklichen Gesicht waren. Ihr Gesicht war um die
Augenlider rot; sie hatte lange Zeit geweint.
»Nun, komm, komm«, drängte Ysabet, ihre alte Amme. »Du darfst nicht
so weinen, Chiya. Und Bard ist so hübsch und tapfer. Denk doch nur
daran, daß dein Vater ihn wegen seinerTapferkeit in der Schlacht
von Snow Glen zum Bannerträger gemacht hat. Und schließlich, liebes
Kind, ist es ja nicht, als solltest du einen Fremden heiraten. Bard
ist dein Pflegebruder und hier im Haus des Königs erzogen worden,
seit er zehn Jahre alt war. Ihr habt doch als Kinder immer zusammen
gespielt - ich dachte, du liebtest ihn.«
»Das tue ich auch - als Bruder«, flüsterte Carlina. »Aber Bard
heiraten
-nein, Amme, das will ich nicht. Ich will überhaupt nicht heiraten
… « »Also, das ist Torheit«, gluckste die ältere Frau und hielt das
perlenbestickte Überkleid in die Höhe, um ihrem Pflegling
hineinzuhelfen. Carlina ließ es zu, daß sie wie eine Puppe
angekleidet wurde. Sie wußte, Widerstand hatte keinen
Zweck.
»Warum willst du Bard denn nicht heiraten? Er ist hübsch und
tapfer
-wie viele junge Männer haben sich schon ausgezeichnet, bevor sie
ihr sechzehntes Jahr erreichten?<, verlangte Ysabet, zu wissen.
»Ich zweifle gar nicht daran, daß er eines Tages General über alle
Truppen deines Vaters sein wird. Du hältst ihm doch nicht vor, daß
er Nedestro ist? Der arme Junge kann ja
nichts dafür, daß ihn eine der Mätressen seines Vaters geboren hat
und nicht seine gesetzliche Ehefrau! « Carlina lächelte schwach
darüber, daß jemand Bard einen »armen Jungen« nennen
konnte.
Ihre Amme kniff sie in die Wange. »Das ist die richtige Art, zu
deiner Verlobung zu gehen, mit einem Lächeln! Laß mich noch die
Verschnürung zurechtziehen.« Sie zupfte an den Schnüren und steckte
die Enden nach innen. »Setz dich her, meine Süße, damit ich dir die
Sandalen anziehen kann. Sieh doch, wie niedlich, deine Mutter hat
sie passend zu dem Gewand gemacht, blaues Leder mit Perlen! Wie
hübsch du bist, Carlie, wie eine blaue Blume! Ich muß noch die
Bänder in deinem Haar befestigen. Ich glaube nicht, daß es heute
nacht irgendwo in neun Königreichen eine schönere Braut gibt! Und
Bard sieht wirklich gut genug aus, um deiner würdig zu sein, so
hell, wo du so dunkel bist … «
»Welch ein Jammer«, stellte Carlina trocken fest, »daß er dich
nicht heiraten kann, Amme, da er dir so gut gefällt.«
»Komm, komm, mich würde er nicht wollen, alt und verschrumpelt, wie
ich bin«, wies Ysabet sie zurecht. » Ein schöner junger Krieger wie
Bard muß eine schöne junge Braut bekommen, und so hat dein Vater es
befohlen… Ich weiß überhaupt nicht, warum ihr nicht heute nacht
auch gleich verheiratet und zu Bett gebracht werdet! « »Weil«,
antwortete Carlina, »ich meine Mutter inständig darum bat, und sie
sprach für mich bei meinem Vater und Herrn. Da stimmte er zu, daß
ich nicht verheiratet werden soll, bis ich mein fünfzehntes Jahr
vollendet habe. Die Hochzeit wird zum Mittsommer-Fest in einem Jahr
ab heute stattfinden.«
»Wie hältst du es aus, so lange zu warten? Evanda segne dich, Kind,
wenn ich einen so hübschen Liebhaber hätte wie Bard, könnte ich
nicht so lange warten … « Sie sah Carlina zusammenzucken und sprach
sanfter weiter. »Fürchtest du dich vor dem Ehebett, Kind? Es ist
noch keine Frau daran gestorben, und ich habe keinen Zweifel, daß
du es angenehm finden wirst. Aber für den Anfang macht es doch
schon etwas aus, daß dein Mann kein Fremder, sondern ein
Spielgefährte und außerdem dein Pflegebruder ist.«
Carlina schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht, obwohl ich,
wie ich schon sagte, keine Lust zum Heiraten habe. Ich würde mein
Leben lieber in Keuschheit und mit guten Werken unter den
Priesterinnen Avarras zubringen.«
»Der Himmel schütze uns!« Die Frau machte eine schockierte Geste.
»Das würde dein Vater nie erlauben!«
»Das weiß ich, Amme. Die Göttin weiß, ich habe ihn angefleht, mir
diese Heirat zu ersparen und mich gehen zu lassen. Aber er
erinnerte mich daran, ich sei eine Prinzessin, und es sei meine
Pflicht zu heiraten und seinem Thron starke, mächtige Verbündete
zuzubringen. So wie meine Schwester Amalie bereits König Lorill von
Scathfell als Braut gesandt wurde. Jenseits des Kadarin, das arme
Mädchen, allein in diesen nördlichen Bergen, und meine Schwester
Marilla ist im Süden in Dalereuth verheiratet …«
»Ärgert es dich, daß sie mit Prinzen und Königen verheiratet wurden
und du nur den Bastard des Bruders deines Vaters bekommst?« Carlina
schüttelte den Kopf. »Nein, nein«, sagte sie ungeduldig. »Ich weiß,
was mein Vater im Sinn hat. Er möchte Bard mit einem starken Band
an sich fesseln, damit er eines Tages sein stärkster Kämpfer und
Beschützer ist. An mich oder Bard hat er keinen Gedanken
verschwendet. Das ist nur eins der Manöver meines Vaters, Thron und
Königreich zu schützen!«
»Nun, die meisten Ehen werden aus weniger guten Gründen
geschlossen«, meinte die Amme.
»Aber es wäre nicht notwendig!« brach es aus Carlina hervor. »Bard
würde sich mit jeder Frau zufriedengeben, und mein Vater hätte
irgendeine von hohem Rang finden können, die Bards Ehrgeiz Genüge
tun würde! Warum muß ich gezwungen werden, mein Leben mit einem
Mann zu verbringen, dem es ganz gleichgültig ist, ob ich es bin
oder eine andere, solange sie nur seinem Ehrgeiz dienlich ist und
ein hübsches Gesicht und einen willigen Körper hat? Avarra erbarme
sich, glaubst du, ich weiß nicht, daß schon jedes dienende Mädchen
in der Burg sein Bett geteilt hat? Sie prahlen hinterher
damit!«
»Was das betrifft«, sagte Ysabet, »so ist er nicht besser und nicht
schlechter als jeder deiner Brüder und Pflegebrüder. Du kannst es
einem jungen Mann nicht verübeln, wenn er hinter den Mädchen her
ist. Und wenigstens beweist ihre Prahlerei, daß er weder impotent
noch ein Liebhaber von Männern ist! Wenn ihr verheiratet seid, mußt
du ihm einfach in deinem Bett genug zu tun geben, um ihn aus
anderen herauszuhalten.
Carlina ließ sich anmerken, daß die vulgäre Bemerkung ihr mißfiel.
»Ich gönne ihnen Bard und sein Bett<” erklärte sie, »und ich
werde ihnen den Platz darin nicht streitig machen. Aber ich habe
Schlimmeres gehört. Er erkennt keine Weigerung an. Wenn ein Mädchen
ihm nein sagt oder wenn er Grund zu der Annahme hat, sie werde ihm
nein sagen, setzt er seinen Stolz darein, einen Zwang über sie zu
werfen, einen Glanz, so daß sie nicht widerstehen kann, sondern
willenlos in sein Bett kommt, ohne die Kraft, sich selbst zu helfen
… « »Ich habe von Männern gehört, die dies Laran haben«, grinste Ysabet. »Es ist eine
nützliche Sache, selbst wenn ein junger Mann hübsch und kräftig
ist. Aber ich gebe nicht viel auf solche Geschichten über Zauberei.
Welche junge Frau muß erst verhext werden, um zu einem jungen Mann
ins Bett zu gehen? Sicher benützen sie das alte Märchen nur als
Entschuldigung, wenn sie außer der Zeit einen dicken Bauch bekommen
… «
Nein Amme«, widersprach Carlina. »In wenigstens einem Fall weiß
ich, daß es wahr ist. Denn meine eigene Zofe Lisarda ist ein braves
Mädchen, und sie hat mir erzählt, daß sie nichts dagegen tun
konnte… «
Ysabet lachte häßlich auf. »Das sagt jede Schlampe hinterher.«
»Aber nein«, unterbrach Carlina wütend, »Lisarda ist knapp zwölf
Jahre alt! Sie ist mutterlos und wußte kaum, was er von ihr wollte,
nur daß ihr keine andere Wahl blieb, als ihm zu Willen zu sein.
Armes Kind, sie war gerade erst zur Frau gereift, und sie weinte
danach in meinen Armen, und ich kann mir einfach nicht vorstellen,
warum ein Mann eine Frau auf diese Weise haben will … «
Ysabet runzelte die Stirn. »Ich fragte mich schon, was mit Lisarda
geschehen sei …«
»Mir fällt es schwer, Bard zu verzeihen, daß er ein junges Mädchen
mißbraucht hat, das ihm nie etwas zuleide getan hat«, sagte
Carlina, immer noch zornig.
»Nun, nun«, seufzte die Amme, »Männer tun so etwas hin und wieder,
und von den Frauen erwartet man, daß sie sich damit abfinden.« »Ich
sehe nicht ein, warum!«
»Es ist der Lauf der Welt«, sagte Ysabet, und dann fuhr sie
zusammen und sah auf die Uhr an der Wand. »Carlina, mein
Schätzchen, du darfst zu deiner Verlobung nicht zu spät
kommen.«
Carlina erhob sich und seufzte resigniert, als
Königin Ariel, ihre Mutter, das Zimmer betrat.
Bist du fertig, meine Tochter?« Die Königin musterte das junge
Mädchen von Kopf bis Fuß, von den unter den Ohren schaukelnden
Zöpfen bis zu den mit Perlen bestickten zierlichen Schuhen. »In den
Hundert Königreichen kann es keine hübschere Braut geben. Das hast
du gut gemacht, Ysabet.«
Die alte Frau versank als Dank für das Kompliment in einem Knicks.
»Du brauchst nur noch einen Hauch Puder auf dem Gesicht, Carlie,
deine Augen sind rot«, sagte die Lady. »Bring die Quaste, Ysabet.
Carlina, hast du geweint?«
Carlina senkte den Kopf und antwortete nicht.
Ihre Mutter erklärte fest: »Es ist unschicklich, daß eine Braut
Tränen vergießt, und das ist nur deine Verlobung.« Mit eigenen
Händen betupfte sie Carlinas Augenlider mit der Puderquaste. »So.
Jetzt noch ein wenig Augenbrauenstift hier -« sie wies Ysabet die
Stelle, an der das Make-up repariert werden mußte. »Sehr hübsch.
Komm, Liebes, meine Frauen warten … «
Ein kleiner Chor bewundernder Ausrufe wurde laut, als Carlina in
ihrem Brautstaat zu den Frauen trat. Ariel, Königin von Asturias,
umgeben von ihren Damen, streckte Carlina die Hand entgegen. »Heute
abend wirst du unter meinen Damen sitzen, und wenn dein Vater dich
ruft, trittst du vor und stellst dich neben Bard vor den Thron«,
begann sie.
Carlina betrachtete das heitere Gesicht ihrer Mutter und überlegte,
ob sie eine letzte Bitte wagen solle. Sie wußte, ihre Mutter mochte
Bard nicht -wenn auch aus den falschen Gründen. Sie hatte einfach
etwas gegen seinen Status als Bastard. Von Anfang an hatte es ihr
nicht gepaßt, daß er als Pflegebruder von Carlina und Beltran
aufwuchs. Es war jedoch nicht die Mutter, die diese Heirat
arrangiert hatte, sondern der Vater. Und Carlina wußte, König
Ardrin hatte nicht die Gewohnheit, sehr aufmerksam auf das zu
hören, was sein Weibervolk wünschte. Ihre Mutter hatte ihm dies
eine Zugeständnis abgerungen, daß Carlina nicht verheiratet werden
sollte, bis sie volle fünfzehn Jahre alt war.
Wenn man mich zur Verlobung aufruft, werde ich
schreien und mich weigern zu sprechen.
Ich werde laut nein rufen, wenn man meine Zustimmung verlangt, ich
werde hinauslaufen … Aber im innersten Herzen wußte Carlina,
sie würde nichts derart Peinliches tun, sondern die Zeremonie mit
dem Anstand über sich ergehen lassen, wie es sich für eine
Prinzessin von Asturias schickte.
Bard ist Soldat, dachte sie verzweifelt,
vielleicht fällt er vor der Hochzeit in der Schlacht. Und dann
fühlte sie sich schuldig, weil es einmal eine Zeit gegeben hatte,
als sie ihren Spielgefährten und Pflegebruder liebte. Schnell
verbesserte sie sich in Gedanken: Vielleicht findet er eine andere
Frau, die er heiraten möchte, vielleicht ändert mein Vater seine
Meinung …
Avarra, erbarmende Göttin, Große Mutter, hab
Mitleid mit mir, erspare mir diese Heirat
irgendwie…
Zornig, verzweifelt blinzelte sie die Tränen weg, die ihr wieder
aus den Augen zu stürzen drohten. Ihre Mutter würde ärgerlich
werden, wenn sie ihnen allen solche Schande machte.
In einem Raum weiter unten in der Burg wurde
Bard di Asturien, Pflegesohn des Königs und sein Bannerträger, von
zwei Kameraden und Pflegebrüdern für seine Verlobung angekleidet.
Es waren Beltran, des Königs Sohn, und Geremy Hastur, der, ebenso
wie Bard, im Haus des Königs erzogen worden war. Geremy war ein
jüngerer Sohn des Lords von Carcosa.
Die drei Jünglinge unterschieden sich sehr voneinander.
Bard war groß und schwer gebaut und hatte schon die Höhe eines
Mannes. Sein dickes blondes Haar war im Nacken zum Kriegerzopf
zusammengedreht. Die kräftigen Arme und schweren Muskeln waren die
eines Schwertkämpfers und Reiters. Wie ein Riese ragte er über die
anderen beiden empor. Prinz Beltran war ebenfalls groß, wenn auch
nicht ganz so groß wie Bard. Aber er war immer noch schmal und
fohlenhaft, und auf seinen runden Kinderwangen zeigte sich gerade
der erste Bartflaum. Sein Haar war kurz geschnitten und dicht
gelockt, und es war ebenso blond wie das Bards.
Geremy Hastur war kleiner als die beiden. Er hatte rotes Haar, ein
schmales Gesicht, scharfe graue Augen und die Schnelligkeit eines
Falken oder Frettchens. Er trug dunkle, einfache Kleidung, die eher
die eines Gelehrten als die eines Kriegers war, und sein Benehmen
war ruhig und bescheiden.
Jetzt sah er zu Bard hoch und sagte lachend: »Du wirst dich schon
hinsetzen müssen, Pflegebruder. Weder Beltran noch ich können
deinen Kopf erreichen, um dir die rote Schnur um den Zopf zu
binden. Und ohne sie kannst du nicht zu einer feierlichen Handlung
gehen.« »Ausgeschlossen«, stimmte Beltran zu und zog Bard auf einen
Stuhl hinunter. »Jetzt binde du die Schnur, Geremy, deine Hände
sind geschickter als meine oder Bards. Ich denke an den letzten
Herbst, als du die Wunde dieses Leibwächters genäht hast
Bard lachte vor sich hin. Er beugte den Kopf, damit seine jungen
Freunde ihn mit der roten Schnur schmücken konnten, die nur einem
Krieger, der sich in der Schlacht erprobt und durch Tapferkeit
ausgezeichnet hatte, zustand. Er sagte: Ich hatte dich immer für
feige gehalten, Geremy, weil du nicht im Feld kämpfst und deine
Hände so weich wie die Carlinas sind. Aber als ich das sah,
entschied ich, du habest mehr Mut als ich, denn ich hätte es nicht
getan. Ein Jammer, daß es keine rote Schnur für dich gegeben hat!
«
Geremy antwortete mit seiner gedämpften Stimme: »Dann müßten wir
auch jeder Frau im Kindbett und jedem Meldegänger, der ungesehen
durch die feindlichen Linien schlüpft, eine rote Schnur geben. Der
Mut nimmt viele Formen an. Ich glaube, ich komme ohne den Zopf oder
die rote Schnur eines Kriegers aus.«
»Vielleicht werden wir eines Tages«, meinte Beltran, »wenn ich
einmal über dies Land regiere - möge die Herrschaft meines Vaters
lang währen! -, Mut auch in einer anderen Form belohnen als der,
die wir auf dem Schlachtfeld sehen. Was meinst du dazu, Bard? Du
wirst dann mein Kämpfer sein, wenn wir alle so lange leben.«
Plötzlich sah er stirnrunzelnd zu Geremy hin. »Was ist los mit dir,
Mann’?« Geremy Hastur schüttelte seinen roten Kopf. »Ich weiß nicht
eine plötzliche Kälte; vielleicht hat ein wildes Tier, wie man in
den Bergen sagt, auf den Boden gepißt, wo mein Grab sein wird.« Er
wickelte den letzten Rest der roten Schnur um Bards Kriegerzopf,
reichte ihm Schwert und Dolch und half ihm, sich zu
gürten.
Bard erklärte: »Ich bin Soldat, ich weiß sehr wenig über andere
Formen des Mutes.« Mit einem Rucken der Schultern brachte er den
bestickten Zeremonienumhang in die richtige Lage. Die leuchtendrote
Farbe des Stoffes paßte zu der roten Schnur, die seinen Zopf der
ganzen Länge nach umwickelte. » Ich sage euch, es verlangt mehr
Mut, sich heute abend diesem ganzen Unsinn zu stellen. Ich ziehe es
vor, meinen Feinden mit dem Schwert in der Hand gegenüberzutreten!
«
»Was redest du da von Feinden, Pflegebruder?« Beltran sah seinen
Freund forschend an. »Du hast doch bestimmt keine Feinde in meines
Vaters Halle! Wie viele junge Männer deines Alters haben wohl schon
die Kriegerschnur erhalten und sind zum Bannerträger des Königs
ernannt worden, noch bevor sie sechzehn Jahre alt wurden? Und als
du Dom Ruyven von Serrais und seinen Friedensmann tötetest und bei
Snow Glen zweimal das Leben des Königs rettetest … «
Bard schüttelte den Kopf. »Lady Ariel liebt mich nicht. Sie würde
diese Heirat mit Carlina unterbinden, wenn sie könnte. Und sie ist
zornig, daß ich es war und nicht du, Beltran, der Ruhm auf’ dem
Schlachtfeld errang.«
Das wollte Beltran nicht wahrhaben. »Vielleicht liegt das in der
Art einer Mutter. Es ist ihr nicht genug, daß ich Prinz und Erbe
des Throns meines Vaters hin. Ich soll auch noch Kriegerruhm
erringen. Oder vielleicht … « - er versuchte, einen Scherz daraus
zu machen, aber Bard spürte, daß auch Bitterkeit dabei war - >~…
vielleicht fürchtet sie, dein Mut und dein Ruhm werden meinen Vater
veranlassen, von dir besser zu denken als von seinem
Sohn.«
Bard entgegnete: »Ja, Beltran, du hast den gleichen Unterricht
gehabt wie ich, auch du hättest dir die Ehrenzeichen eines Kriegers
gewinnen können. Das sind eben die Wechselfälle des Krieges, nehme
ich an, beziehungsweise die des Schlachtfeldes.«
»Nein«, widersprach Beltran, »ich bin kein geborener Krieger, ich
habe nicht deine Begabung dafür. Alles, was ich fertigbringe, um
mit Ehren aus der Sache hervorzugehen und meine Haut in einem Stück
zu halten, ist, daß ich jeden töte, der sie mir ritzen
will.«
Bard lachte. »Glaub mir, Beltran, mehr tue ich auch nicht.« Aber
Beltran schüttelte düster den Kopf. »Manche Männer sind zum Krieger
geboren, andere werden zum Krieger gemacht. Ich bin keins von
beiden.«
Geremy versuchte, einen leichteren Ton ins Gespräch zu bringen.
»Aber du brauchst kein großer Krieger zu sein, Beltran. Du mußt
dich darauf vorbereiten, eines Tages Asturias zu regieren. Dann
kannst du so viele Krieger haben, wie du möchtest, und wenn sie dir
gut dienen, spielt es gar keine Rolle, ob du weißt, an welchem Ende
man ein Schwert halten muß. Du wirst der eine sein, der alle
Krieger befehligt, und auch alle Zauberer … Willst du mich, wenn
dieser Tag kommt, als deinen Laranzu
haben?« Er benutzte das alte Wort für Zauberer, und Beltran grinste
und schlug ihm auf die Schulter.
»Ich werde einen Zauberer und einen Krieger als Pflegebrüder haben,
und wir drei zusammen werden Asturias mit dem Schwert und mit
Zauberei gegen alle seine Feinde schützen. Aber die Götter mögen
uns gnädig sein und diese Tage noch weit in der Zukunft liegen.
Geremy, schick deinen Pagen noch einmal in den Hof, ob Bards Vater
zur Verlobung seines Sohnes gekommen ist.«
Geremy wollte dem Jungen schon winken, der für Botengänge
bereitstand, aber Bard schüttelte den Kopf.
»Erspare dem Kind die Mühe.« Sein Kinn schob sich vor. »Er wird
nicht kommen, und es ist nicht notwendig, so zu tun, als käme er,
Geremy.«
»Er will nicht einmal sehen, wie du mit des
Königs eigener Tochter verheiratet wirst?«
»Vielleicht kommt er zur Hochzeit, wenn der König es klarmacht, daß
er sein Fernbleiben als Beleidigung auffaßt«, sagte Bard. »Für eine
bloße Verlobung kommt er nicht.«
»Aber die Verlobung ist die eigentliche Bindung«, wandte Beltran
ein. »Vom Augenblick der Verlobung an bist du Carlinas
gesetzmäßiger Gatte, und sie kann keinen anderen nehmen, solange du
lebst. Es ist nur, daß meine Mutter meint, sie sei noch zu jung für
das Ehebett, so daß dieser Teil der Zeremonie um ein Jahr
verschoben wird. Aber Carlina ist deine Frau, und du, Bard, bist
mein Bruder.«
Das sagte er mit einem scheuen Lächeln, und Bard war ungeachtet
seiner gleichmütigen Fassade gerührt. Er sagte: »Das ist
wahrscheinlich das Beste daran.«
Geremy bemerkte: »Wundern tut es mich doch, daß Dom Rafael nicht zu
deiner Verlobung kommt. Bestimmt ist ihm die Nachricht zugesandt
worden, daß du für Tapferkeit auf dem Schlachtfeld ausgezeichnet
wurdest, daß du Bannerträger des Königs bist, daß du Dom Ruyven und
seinen Friedensmann mit einem Streich getötet hast
- wenn mein Vater so etwas von mir hörte, wäre er außer sich vor
Stolz und Freude! «
»Oh, ich zweifle nicht daran, daß Vater stolz auf mich ist.« Bards
Gesicht zeigte eine Bitterkeit, die bei einem so jungen Menschen
merkwürdig berührte. »Aber er hört in allen Dingen auf Lady Jerana,
seine gesetzmäßige Frau. Und sie hat nie vergessen, daß er es
anderswo versuchte, als sie zwölf Jahre nach ihrer Heirat immer
noch kinderlos war, und ebenso hat sie meiner Mutter nie verziehen,
daß sie ihm einen Sohn gebar. Und sie war zornig darüber, daß mein
Vater mich in seinem eigenen Haus großzog und mich im
Waffenhandwerk und in höfischen Sitten unterrichten ließ, statt
mich irgendwo in Pflege zu geben, wo ich hätte lernen können, wie
man hinter dem Pflug geht oder den Boden aufkratzt, um Pilze
anzubauen! «
Beltran sagte: »Sie hätte froh sein sollen, daß eine andere ihrem
Mann einen Sohn schenkte, wo doch sie es nicht konnte.«
Bard zuckte die Schultern. »Das ist nicht Lady Jeranas Art. Statt
dessen umgab sie sich mit Leroni und
Zauberinnen - die Hälfte ihrer Hofdamen hat rotes Haar und ist zur
Hexe ausgebildet -, damit früher oder später irgendein Zaubermittel
ihre Unfruchtbarkeit heilte. Dann gebar sie meinen kleinen Bruder
Alaric. Und dann, als mein Vater ihr nichts verweigern konnte, weil
sie ihm einen legitimen Sohn und Erben geschenkt hatte, machte sie
sich daran, mich loszuwerden. Oh, Jerana konnte mir nicht genug
Freundlichkeit erweisen, bevor sie ihren eigenen Sohn bekam. Sie
tat, als sei sie mir eine echte Mutter, aber ich konnte hinter
jedem falschen Kuß, den sie mir gab, den zurückgehaltenen Schlag
sehen. Ich denke, sie fürchtete, ich würde ihrem eigenen Sohn im
Licht stehen, denn Alaric war klein und kränklich, und ich war
gesund und stark, und sie haßte mich um so mehr, weil Alaric mich
liebte. «
»Ich hätte mir vorgestellt«, wandte Beltran wiederum ein, »daß sie
glücklich gewesen wäre, einen starken Bruder und Schützer für ihren
Sohn zu haben, einen, der sich um ihn kümmern konnte … « »Ich liebe
meinen Bruder«, sagte Bard. »Manchmal denke ich, es ist sonst
keiner auf der Welt, den es kümmert, ob ich lebe oder sterbe. Seit
Alaric alt genug war, mein Gesicht von anderen zu unterscheiden,
lächelte er mich an und streckte seine Ärmchen nach mir aus, damit
ich ihn Huckepack trug, und bettelte, daß ich ihn auf meinem Pferd
reiten ließ. Aber in Lady Jeranas Augen war es nicht schicklich,
daß ein Bastard-Halbbruder der erwählte Friedensmann und
Spielgefährte für ihr Prinzchen war. Sie wollte Prinzen und die
Söhne von Adligen als Gefährten ihres Kindes haben. Und so kam eine
Zeit, wo ich ihn nur noch heimlich sehen konnte, und einmal ärgerte
ich sie, als Alaric krank war, weil ich mich ohne Erlaubnis in sein
kostbares Kinderzimmer schlich. Ein Kind von vier, und sie wurde
böse, weil sein Bruder ihn in den Schlaf singen konnte, und wenn
sie ihm schmeichelte, schlief er nicht.« Sein Gesicht wurde hart
und bitter in Erinnerung daran.
»Und danach ließ sie meinem Vater keinen Frieden, bis er mich
wegschickte. Und statt ihr zu befehlen, sie solle still sein, und
in seinem eigenen Haus zu herrschen, wie es ein Mann sollte, zog er
es vor, Frieden in seinem Bett und an seiner Feuerstelle zu haben,
indem er mich aus meinem Heim und von meinem Bruder entfernte! «
Beltran und Geremy verstummten angesichts seiner Verbitterung.
Schließlich klopfte Geremy ihm auf den Arm und sagte mit halb
verlegener Zärtlichkeit: »Nun, du hast zwei Brüder, die heute abend
an deiner Seite stehen, Bard, und bald wirst du hier Familie
haben.« Bard lächelte freudlos. »Königin Ariel liebt mich nicht
mehr, als es meine Stiefmutter tut. Sicher wird sie einen Weg
finden, Carlina gegen mich aufzuhetzen, und vielleicht euch beide
auch. Ich mache meinem Vater keinen Vorwurf, ausgenommen den, daß
er auf das Wort einer Frau hört. Zandru verrenke meinen Fuß, wenn
ich je darauf höre, was eine Frau sagt! «
Beltran lachte. »Man sollte nicht glauben, daß du ein Weiberfeind
bist, Bard. Das, was die Mägde sagen, klingt ganz nach dem
Gegenteil. An dem Tag, wo du mit Carlina zu Bett gebracht wirst,
wird es im ganzen Königreich Asturias ein großes Weinen geben.«
»Ach, das … !« Bard bemühte sich, auf den lustigen Ton einzugehen.
»Ich höre nur an einem bestimmten Ort auf Frauen, und ihr werdet
erraten, was das für ein Ort ist … «
»Und doch«, meinte Beltran, »erinnere ich mich, daß du immer auf
Carlina hörtest, als wir alle noch Kinder waren. Du bist auf einen
Baum geklettert, auf den sich sonst keiner wagte, um ihr Kätzchen
herabzuholen, und wenn sie und ich miteinander stritten, lernte ich
bald, daß ich nachgeben mußte, oder du würdest ihre Partei
ergreifen und mich verhauen.«
»Oh - Carlina.« Bards bitteres Gesicht entspannte sich zum Lächeln.
»Carlina ist nicht wie andere Frauen. Ich möchte von ihr nicht im
gleichen Atemzug wie von den Huren und Schlampen hier sprechen.
Glaubt mir, wenn ich einmal mit ihr verheiratet bin, werde ich
keine Muße mehr für den Rest haben. Ich versichere euch, sie wird
es nicht nötig haben, sich mit Zaubermitteln zu umgeben, wie es
Lady Jerana tat, um sich meine Treue zu erhalten. Von Anfang an,
als ich hierherkam, ist sie freundlich zu mir gewesen …
»Wir alle wären freundlich zu dir gewesen«, protestierte Beltran,
»aber du wolltest mit niemandem sprechen und drohtest, dich mit uns
zu schlagen … «
»Trotzdem, Carlina gab mir das Gefühl, daß es vielleicht doch noch
jemanden gebe, den es kümmert, ob ich lebe oder sterbe«, sagte
Bard, »und sie habe ich nicht bedroht. Jetzt hat dein Vater
beschlossen, sie mir zu geben - sie, die zu gewinnen ich nicht zu
hoffen wagte, weil ich als Bastard geboren bin. Lady Jerana mag
mich aus meiner Heimat und von meinem Vater und meinem Bruder
vertrieben haben, aber jetzt finde ich vielleicht hier eine
Heimat.«
»Selbst wenn du Carlina mit in Kauf nehmen mußt?« zog ihn Beltran
auf. »Sie ist nicht der Typ, den ich mir aussuchen würde, mager,
dunkel, unscheinbar - da könnte ich gleich mit der Vogelscheuche
ins Bett gehen, die auf den Feldern die Krähen
verscheucht!«
Bard gab heiter zurück: »Von ihrem Bruder kann ich nicht erwarten,
daß er ihre Schönheit wahrnimmt, und es ist nicht ihre Schönheit,
wegen der ich sie will.«
Geremy Hastur, der das rote Haar und die Laran-Gabe der HasturSippe von Carcosa hatte, das
Talent, Gedanken auch ohne die Sternensteine zu lesen, die die
Leroni oder Zauberer benutzten, folgte
Bards Gedanken, als sie sich für die Verlobungszeremonie nach oben
in die Große Halle begaben.
Fürs Bett gibt es viele Frauen auf der Welt.
Aber Carlina ist anders. Sie ist die Tochter des Königs; wenn ich
sie heirate, bin ich nicht länger ein Bastard und ein Niemand,
sondern des Königs Bannerträger und Kämpfer. Ich werde ein Heim,
eine Familie und Brüder und eines Tages auch Kinder haben … Der
Frau, die mir das verschaffen kann, werde ich mein ganzes Leben
lang dankbar sein. Ich schwöre, sie soll nie Grund haben, ihrem
Vater vorzuwerfen, daß er sie dem Bastard seines Bruders gegeben
hat …
Natürlich, dachte Geremy, das ist ein ausreichender Grund für eine
Heirat. Vielleicht begehrt er Carlina nicht um ihrer selbst willen,
aber er begehrt sie als Symbol alles dessen, was sie ihm mitbringt.
Jeden Tag werden in den Königreichen Ehen aus weniger guten Gründen
geschlossen. Und wenn er gut zu Carlina ist, wird sie bestimmt
zufrieden sein.
Aber er war unruhig, weil er wußte, daß Carlina sich vor Bard
fürchtete. Er war anwesend gewesen, als König Ardrin zu seiner
Tochter von der Heirat sprach, und er hatte Carlinas entsetzten
Aufschrei gehört und sie weinen gesehen.
Ja, da ließ sich nichts machen. Der König würde tun, was er wollte,
und es war auch richtig, daß er seinen Bannerträger, der
gleichzeitig sein Neffe - wenn auch ein Bastard - war, mit Ehren
und einer Einheirat in seinen Haushalt belohnte. Das würde Bard als
Kämpfer an König Ardrins Thron binden. Es mochte für Carlina
schlimm sein, aber früher oder später wurde jedes Mädchen
verheiratet. Sie hätte einem ältlichen Wüstling oder einem
ergrauten alten Krieger oder sogar irgendeinem barbarischen
Räuberhauptmann aus einem der kleinen Königtümer jenseits des
Kadarin überantwortet werden können, wenn ihr Vater es zweckmäßig
gefunden hätte, ein Bündnis mit einem anderen Staat zu besiegeln.
Statt dessen gab er sie einem nahen Verwandten, der ihr
Spielgefährte und Pflegebruder gewesen war und sie in ihrer
Kinderzeit beschützt hatte. Carlina würde sich bald darein
fügen.
Aber Geremys scharfe Augen entdeckten die geröteten Augenlider auch
unter Puder und Schminke. Er hob den Blick und sah Carlina voller
Mitleid an, und er wünschte, sie kenne Bard ebenso gut, wie er es
tat. Wenn sie ihren zukünftigen Mann richtig verstände, könnte sie
seine Verbitterung verringern, ihm das Gefühl geben, nicht ganz so
isoliert, nicht ganz der Ausgestoßene unter den anderen zu sein.
Geremy seufzte. Er dachte an sein eigenes Exil.
Denn auch Geremy Hastur war nicht freiwillig an König Ardrins Hof
gekommen. Er war der jüngste Sohn König Istvans von Carcosa und als
Zeichen freundschaftlicher Beziehungen zwischen dem königlichen
Haus von Asturias und dem Haus der Hasturs von Carcosa halb als
Geisel, halb als Diplomat zu König Ardrin geschickt worden. Er
hätte sich gewünscht, seines Vaters Ratgeber, ein Zauberer, ein
Laranzu zu sein. Sein ganzes Leben lang
war ihm klar gewesen, daß er nicht das Zeug zum Soldaten hatte.
Aber sein Vater hatte in ihm einen Sohn zuviel gesehen und ihn als
Geisel weggeschickt, wie er eine Tochter zum Heiraten weggeschickt
hätte. Wenigstens, dachte Geremy, brauchte Carlina dieser Ehe wegen
ihr Zuhause nicht zu verlassen!
Der Hof erhob sich, da König Ardrin eintrat. Bard, der neben
Beltran stand, lauschte auf die Ankündigungen der Herolde und
ertappte sich dabei, daß er immer noch in der Menge Umschau hielt,
ob sein Vater nicht doch im letzten Moment gekommen sei und ihn
habe überraschen wollen. Zornig richtete er den Blick geradeaus.
Was kümmerte es ihn? König Ardrin hielt mehr von ihm, als es sein
eigener Vater tat. Er hatte ihn in der Schlacht ausgezeichnet,
hatte ihm reiche Ländereien und die rote Schnur des Kriegers
gegeben und die Hand seiner jüngsten Tochter. Warum sollte er sich
da noch Gedanken um seinen Vater machen, der zu Hause hockte und
auf die giftigen Einflüsterungen hörte, die diese schmutzige Hexe
Jerana ihm ins Ohr goß!
Aber ich wünschte, mein Bruder wäre hier. Ich
wünschte, Alaric erführe, daß ich des Königs Kämpfer und sein
Schwiegersohn bin … jetzt ist er sieben …
Als der Augenblick gekommen war, sorgten Beltran und Geremy dafür,
daß er vortrat. Carlina stand zur rechten Hand von ihres Vaters
Hochsitz. Bards Ohren klangen, und er hörte des Königs Worte kaum.
»Bard mac Fianna, genannt di Asturien, den ich zu meinem
Bannerträger gemacht habe«, sprach Ardrin von Asturias, »wir haben
dich heute abend vor uns gerufen, um dich mit Lady Carlina, meiner
jüngsten Tochter, zu verloben. Sprich, Bard, ist es dein Wille, in
meinen Haushalt einzutreten?«
Bards Stimme klang vollkommen sicher. Darüber wunderte er sich,
denn innerlich bebte er. Wahrscheinlich war das, als reite man in
die Schlacht. Dann war auch etwas da, das einen fest machte, wenn
man fest sein mußte. »Mein König und Herr, es ist mein Wille.«
Ardrin ergriff mit seiner einen Hand die Bards und mit der anderen
die Carlinas. »Dann fordere ich euch auf, vor allen hier Anwesenden
euch die Hände zu reichen und euer Gelübde
auszutauschen.«
Bard fühlte Carlinas Hand in seiner, sehr weich, die Finger so
fein, daß sie knochenlos schienen. Die Hand war eiskalt, und
Carlina sah ihn nicht an.
»Carlina«, fragte Ardrin, »stimmst du zu, diesen Mann zu deinem
Gatten zu nehmen?«
Sie flüsterte etwas, das Bard nicht verstehen konnte. Er nahm an,
es war die vorgeschriebene Formel der Zustimmung. Wenigstens hatte
sie sich nicht geweigert.
Er beugte sich vor, wie das Ritual es verlangte, und küßte ihre
zitternden Lippen. Sie bebte. Höllenfeuer! Hatte das Mädchen Angst
vor ihm? Er roch den Blumenduft ihres Haares und den irgendeines
kosmetischen Mittels auf ihrem Gesicht. Als er sich zurückzog,
kratzte eine Ecke ihres steifen gestickten Kragens seine Wange.
Nun, dachte er, er hatte genug Frauen gehabt. Bald würde sie ihre
Angst in seinen Armen verlieren, auch wenn sie im Augenblick nur
eine aufgeputzte Puppe war. Bei dem Gedanken an Carlina in seinem
Bett wurde ihm schwindelig. Er verlor beinahe das Bewußtsein.
Carlina. Für immer sein, seine Prinzessin, seine Frau. Und dann
konnte ihn nie wieder jemand einen Bastard oder einen Ausgestoßenen
nennen. Carlina, sein Heim, seine Geliebte … sein Eigentum. Die
Kehle war ihm eng, als er die rituellen Worte flüsterte.
»Vor unserer versammelten Sippe gelobe ich, dich zu ehelichen,
Carlina, und dich für immer in Ehren zu halten.«
Ihre Stimme war kaum hörbar.
»Vor … versammelter Sippe … gelobe zu ehelichen … « Aber so sehr er
seine Ohren anstrengte, er hörte nicht, daß sie seinen Namen
aussprach.
Diese verdammte Königin Ariel und ihre idiotischen Pläne, ihn
loszuwerden! Sie hätten noch heute abend verheiratet und zu Bett
gebracht werden sollen, damit Carlina ihre Furcht vor ihm schnell
verlor! Bard zitterte, als er daran dachte. Nie hatte er eine Frau
so begehrt. Er drückte ihre Hand, um ihr Mut einzuflößen, doch sie
zuckte nur unwillkürlich zusammen vor Schmerz.
König Ardrin erklärte: »Möget ihr für immer eins sein«, und Bard
ließ widerstrebend Carlinas Hand los. Zusammen tranken sie aus
einem Becher Wein, der ihnen an die Lippen gehalten wurde. Es war
vollbracht; Carlina war seine Frau. Jetzt war es für König Ardrin
zu spät, seine Meinung zu ändern. Bard wurde sich bewußt, daß er
bis zu diesem Augenblick, selbst als sie schon Seite an Seite vor
dem Thron standen, gefürchtet hatte, daß irgend etwas
dazwischenkommen könnte, daß die Bosheit seiner Stiefmutter oder
Königin Ariels ihn von Carlina trennen würde, die für ihn ein Heim,
einen Platz im Leben, Ehre bedeutete … Verdammt seien alle Frauen! Das heißt, alle außer
Carlina!
Beltran umarmte ihn als Verwandten und sagte: »Jetzt bist du in
Wahrheit mein Bruder!«, und Bard spürte, daß Beltran immer ein
wenig eifersüchtig auf seine Freundschaft mit Geremy gewesen war.
Jetzt war das Band zwischen ihm und Beltran so stark, daß Geremy
nichts Gleichwertiges dagegensetzen konnte. Beltran und Geremy
hatten Brüderschaft geschworen und ihre Dolche ausgetauscht, bevor
sie den Kinderschuhen entwachsen waren. Kein einziger, dachte Bard
mit einem kurzen Aufwallen von Bitterkeit, hatte ihn je gebeten, den Eid der Bredin zu schwören, ihn, den Bastard und
Ausgestoßenen … Nun, das war vorbei, ein für allemal. Jetzt war er
des Königs Schwiegersohn, Carlinas versprochener Gatte und Prinz
Beltrans Schwager, wenn auch nicht sein geschworener Bruder. Ihm
kam es vor, als sei er gewachsen, und als er einen Blick auf sich
in einem der langen Spiegel erhaschte, die die Große Halle
schmückten, hatte er den Eindruck, daß er in diesem Augenblick gut
aussah und daß sein Spiegelbild ihm einen größeren und irgendwie
besseren Mann als früher zeigte.
Später, als die Musikanten zum Tanz aufspielten, führte er Carlina.
Der Tanz trennte die Paare und brachte sie in verwickelten Figuren
wieder zusammen. Während sie sich fanden und verloren, ihre Hände
sich faßten und lösten, gewann Bard den Eindruck, daß Carlina seine
Hand mit weniger Widerstreben berührte. Geremy tanzte mit einer der
jüngsten Damen der Königin, einem rothaarigen Mädchen namens
Ginevra - ihren Zunamen kannte Bard nicht. Sie hatte mit Carlina
gespielt, als sie kleine Mädchen gewesen waren, und war dann
Hofdame geworden. Einen Augenblick lang überlegte Bard, ob Ginevra
Geremys Bett teilte. Wahrscheinlich, denn welcher Mann würde
andernfalls einer Frau soviel Zeit und Mühe widmen? Oder vielleicht
versuchte Geremy immer noch, sie zu überreden. Wenn dem so war,
dann war Geremy ein Einfaltspinsel. Bard selbst gab nichts um
hochgeborene Jungfräulein. Sie neigten dazu, zuviel an
Schmeicheleien und Beteuerungen zu verlangen. Ebensowenig verlangte
es ihn nach den Hübschesten. Er hatte festgestellt, daß sie mehr
versprachen und weniger hielten. Ginevra war fast unscheinbar
genug, um männlicher Aufmerksamkeit mit der gebührenden Dankbarkeit
zu begegnen. Aber was sollte das, daß er über solche Dinge
nachdachte, wenn er Carlina hatte?
Doch im Grunde, sagte er sich verdrossen, als er sie nach dem
lebhaften Tanz zu einem Glas Wein an das Buffet führte,
hatte er Carlina noch nicht. Ein Jahr
mußte er noch warten. Verdammt, warum hatte ihre Mutter das
getan?
Carlina schüttelte den Kopf, als er ihr Glas nachfüllen lassen
wollte. »Nein, danke, ich möchte wirklich nicht, Bard - und ich
glaube, du hast genug gehabt«, sagte sie vernünftig.
Er platzte heraus: »Ich hätte lieber einen Kuß von dir als den
süßesten Wein!«
Carlina blickte erstaunt zu ihm auf. Dann verzog sich ihr Mund zu
einem kleinen Lächeln. »Ich habe noch nie gehört, daß du schöne
Worte machst, Bard! Kann es sein, daß du bei unserm Cousin Geremy
Unterricht in der Galanterie genommen hast?«
Bard antwortete verlegen: »Ich weiß überhaupt keine schönen Worte,
es tut mir leid, Carlina. Möchtest du, daß ich die Kunst lerne, dir
zu schmeicheln? Für so etwas habe ich nie Zeit gehabt. « Und der
unausgesprochene bittere Zusatz war für Carlina deutlich
wahrnehmbar: Geremy hat nichts anderes zu tun,
als zu Hause zu sitzen und zu
lernen, wie man den Frauen Angenehmes
sagt. Plötzlich fiel ihr ein, wie Bard gewesen war, als er
vor drei Jahren an den Hof kam. Er war ihr als ein großer,
verdrossener Bauernlümmel vorgekommen. Er weigerte sich, von den
Manieren, die er durchaus hatte, Gebrauch zu machen, er weigerte
sich, an ihren Spielen und ihrem Zeitvertreib teilzunehmen. Schon
damals war er größer als die anderen Jungen, größer als die meisten
Männer gewesen und kräftiger gebaut. Beim Unterricht hatte er kaum
für etwas anderes Interesse als das Waffenwerk, und seine Freizeit
hatte er damit verbracht, den Geschichten der Leibwächter über
Feldzüge und Kriege zuzuhören. Keiner hatte ihn gern gemocht, aber
Geremy hatte gesagt, er sei einsam, und hatte sich viel Mühe
gegeben, ihn dazu zu bringen, sich ihnen anzuschließen.
Jetzt tat ihr der Junge, dem sie versprochen worden war, beinahe
leid. Es war nicht ihr Wunsch, ihn zu heiraten, aber auch er war
nicht nach seinen Wünschen gefragt worden, und von keinem Mann war
zu erwarten, daß er eine Heirat mit der Tochter des Königs
ausschlug. Er hatte soviel Zeit seines Lebens im Krieg und mit den
Vorbereitungen von Kriegen verbracht. Es war nicht seine Schuld,
wenn er kein galanter Höfling war wie Geremy. Sie hätte Geremy
lieber geheiratet obwohl sie, wie sie ihrer Amme gesagt hatte, am
liebsten überhaupt nicht heiraten wollte. Nicht daß sie große
Zuneigung zu Geremy empfunden hätte. Es war einfach so, daß er
sanfter war und sie das Gefühl hatte, ihn besser zu verstehen. Aber
Bard sah so unglücklich aus.
Carlina leerte die letzten Tropfen des ihr aufgedrängten Glases.
»Sollen wir uns eine Weile hinsetzen und uns unterhalten? Oder
möchtest du wieder tanzen’?«
Ach möchte mich lieber unterhalten«, antwortete er. Ach bin nicht
sehr gut im Tanzen oder einer anderen dieser höfischen Künste.«
Wieder lächelte sie ihn an und zeigte ihre Grübchen. »Wenn du
leicht genug auf den Füßen bist, um ein Schwertkämpfer zu sein und
Beltran erzählt mir, daß du nicht deinesgleichen hast -, dann
solltest du auch ein guter Tänzer sein. Und weißt du nicht mehr,
daß wir als Kinder zusammen Tanzunterricht hatten? Du willst mir
doch nicht erzählen, daß du das Tanzen seit damals, als du zwölf
Jahre alt warst, vergessen hast! «
»Um dir die Wahrheit zu sagen, Carlina«, meint Bard zögernd, »ich
war schon so jung voll ausgewachsen, als ihr anderen alle noch
klein wart. Und so groß mein Körper war, ich hatte immer das
Gefühl, meine Füße seien noch größer, und ich kam mir vor wie ein
ungeschlachter Tölpel. Als ich dann in den Krieg und in den Kampf
zog, waren nur meine Größe und mein Gewicht von Vorteil … aber ich
finde es schwierig, mich als Höfling zu sehen.«
Etwas in diesem Geständnis rührte sie so, daß sie es kaum ertragen
konnte. Sie vermutete, er hatte so etwas noch nie zu irgendwem
gesagt oder auch nur gedacht. Sie versicherte ihm: »Du bist nicht
unbeholfen, Bard; ich finde, du bist ein guter Tänzer. Aber wenn es
dir Unbehagen schafft, brauchst du nicht wieder zu tanzen,
wenigstens nicht mit mir. Wir werden uns setzen und eine Weile
plaudern.« Sie drehte sich lächelnd um. »Du wirst lernen müssen,
mir deinen Arm zu reichen, wenn wir zusammen einen Raum
durchqueren. Mit Hilfe der Göttin mag es mir eines Tages gelingen,
dich zu zivilisieren!«
»Ihr habt eine beträchtliche Aufgabe vor Euch, Damisela«, sagte Bard und ließ es zu, daß sie ihre
Fingerspitzen leicht auf seinen Arm legte. Sie fanden Plätze an der
Wand in der Nähe der älteren Leute, die beim Karten- und
Würfelspiel saßen. Dort waren sie den Tänzern aus dem Weg. Einer
der zum Haushalt des Königs gehörenden Männer kam zu ihnen.
Offensichtlich hatte er vor, um einen Tanz mit Carlina zu bitten,
aber Bard musterte ihn finster, und der Mann entdeckte, daß er
anderswo etwas Dringendes zu erledigen habe.
Bard hob die Hand, die er für so unbeholfen hielt, und berührte
Carlinas Schläfe. »Als wir vor deinem Vater standen, meinte ich, du
hättest geweint. Carlie, hat dir jemand etwas getan?«
Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Nein.« Aber Bard war ein wenig
Telepath. Als die Haushalts-Leronis ihn mit zwölf getestet hatten,
war ihm zwar gesagt worden, viel Laran
habe er nicht, aber er fühlte doch, daß Carlina den wahren
Grund für ihre Tränen nicht aussprechen würde. Er erriet
ihn.
»Du bist nicht glücklich über diese Heirat.« Wie er es so gut
konnte, blickte er finster, und Carlina zuckte zusammen wie in dem
Augenblick, als er ihre Hand gedrückt hatte.
Sie senkte den Kopf. Endlich sagte sie: »Ich möchte überhaupt nicht
heiraten, und ich habe geweint, weil niemand ein Mädchen fragt, ob
sie verheiratet werden möchte.«
Bard runzelte die Stirn. Er konnte kaum glauben, was er da hörte.
»Was sollte eine Frau tun, im Namen Avarras, wenn sie nicht
verheiratet würde? Du möchtest doch bestimmt nicht dein ganzes
Leben lang zu Hause sitzen, bis du alt bist?«
»Ich hätte gern die Wahl, das zu tun, wenn ich es vorzöge«,
antwortete Carlina. »Oder vielleicht den, der mein Mann werden
soll, selbst zu bestimmen. Aber lieber möchte ich gar nicht
heiraten. Ich möchte als Leronis in
einen Turm gehen und meine Jungfräulichkeit für das Gesicht
bewahren, wie es einige der Mädchen meiner Mutter getan haben, oder
auch unter den Priesterinnen Avarras auf der heiligen Insel leben
und nur der Göttin gehören. Kommt dir das seltsam vor?« »Ja«,
erklärte Bard. »Ich habe immer gehört, daß der größte Wunsch jeder
Frau sei, so bald wie möglich zu heiraten.«
»So ist es auch bei vielen Frauen. Aber warum soll die eine Frau
von der anderen nicht ebenso unterschiedlich sein wie du von
Geremy? Du hast dich entschieden, Soldat zu werden, und er sich,
Laranzu zu werden. Würdest du von jedem
Mann verlangen, daß er Soldat werden solle?«
»Bei Männern ist das anders«, behauptete Bard. »Frauen verstehen
diese Dinge nicht, Carlie. Du brauchst ein Heim und Kinder und
einen, der dich liebt.« Er nahm ihre Hand und führte sie an seine
Lippen.
In Carlina stieg plötzlich Zorn auf, in den sich etwas wie Mitleid
mischte.
Ihr war danach zumute, ihm eine heftige Antwort zu geben, aber er
sah sie so sanft und so hoffnungsvoll an, daß sie sich untersagte,
das auszusprechen, was sie dachte.
Ihm war kein Vorwurf zu machen. Wenn sie jemandem einen Vorwurf
machen konnte, dann war es ihr Vater, der sie Bard gegeben hatte,
als sei sie die rote Schnur, die er als Belohnung für seine
Tapferkeit in der Schlacht um seinen Kriegerzopf trug. Warum sollte
sie ihn für die Sitten des Landes verantwortlich machen, nach denen
eine Frau nur ein Stück Vieh und sie selbst nur eine Schachfigur
für den politischen Ehrgeiz ihres Vaters war?
Diesen Gedanken konnte er teilweise folgen. Mit gefurchter Stirn
saß er da und hielt ihre Hand. »Möchtest du mich überhaupt nicht
heiraten, Carlie?«
»0 Bard … « - und er hörte den Schmerz aus ihrer Stimme heraus »…
ich habe nichts gegen dich. Wirklich,
mein Pflegebruder und versprochener Gatte, wenn ich nun einmal
heiraten muß, ist da kein anderer Mann, den ich lieber hätte.
Vielleicht kommen wir eines Tages dahin - wenn ich älter bin, wenn
wir beide älter sind und wenn die Götter sich uns freundlich
erweisen -, daß wir uns lieben, wie es sich für ein verheiratetes
Paar schickt.« Sie faßte seine große Hand mit ihren beiden kleinen.
»Mögen die Göttergeben, daß es wahr wird.« Und dann kam wieder
einer, um Carlina zum Tanz zu holen, und wieder blickte Bard
finster. Aber sie sagte: »Bard, ich muß. Zu den Pflichten einer
Braut gehört es, mit allen zu tanzen, die sie auffordern, das weißt
du selbst. Und jedes Mädchen hier, das noch in diesem Jahr heiraten
möchte, hält es für glückbringend, mit dem Bräutigam zu tanzen.
Später können wir miteinander reden, mein Lieber.« Bard gab
widerstrebend nach, und an seine Pflichten erinnert, ging er in der
Halle umher und tanzte mit dreien oder vieren von Königin Ariels
Frauen, wie man es von einem Mann erwartete, der zum Haushalt des
Königs gehörte und sein Bannerträger war. Aber wieder und wieder
suchten seine Augen Carlina mit ihrem perlenbestickten blauen Kleid
und ihrem dunklen Haar.
Carlina. Carlina gehörte ihm, und er
wurde sich bewußt, daß es ihm heftig zuwider war, wenn ein anderer
Mann sie berührte. Wie konnten sie es wagen? Was hatte sie vor, daß
sie flirtete und den Blick zu jedem Mann hob, der kam, um mit ihr
zu tanzen, als sei sie eine schamlose Troßdirne? Warum ermutigte
sie sie? Warum konnte sie nicht schüchtern und bescheiden sein und
es abschlagen, mit einem anderen als ihrem versprochenen Gatten zu
tanzen? Er wußte, das war unvernünftig, aber es kam ihm so vor, als
lege sie es darauf an, die Anerkennung und das Lächeln eines jeden
Mannes zu gewinnen, der sie berührte. Er hielt seinen Zorn zurück,
als sie mit Beltran und mit ihrem Vater tanzte und mit dem
ergrauten Veteran, dessen Enkelin ihre Pflegeschwester gewesen war.
Aber jedes Mal, wenn ein junger Soldat oder ein Leibwächter aus dem
Haushalt des Königs sie aufforderte, bildete er sich ein, Königin
Ariel blicke triumphierend zu ihm hinüber.
Was sie da erzählt hatte, sie wolle überhaupt nicht heiraten- das
war natürlich mädchenhafter Unsinn, und er glaubte kein Wort davon!
Zweifellos schwärmte sie für irgendeinen Mann, einen, der ihrer
nicht wirklich würdig war, dem ihre Eltern sie niemals geben
würden. Und jetzt, wo sie verlobt war und alt genug, um mit Männern
zu tanzen, mit denen sie nicht verwandt war, konnte sie seine
Gesellschaft suchen. Wenn er Carlina mit einem anderen Mann antraf,
würde er ihn Glied für Glied zerreißen! Und Carlina? Würde er ihr
etwas tun können? Nein, er würde einfach von ihr verlangen, daß sie
ihm das gab, was sie dem anderen gegeben hatte, und sie so ganz und
gar zu der Seinen machen, daß sie nie mehr an einen anderen Mann
auch nur dachte. Eifersüchtig durchforschte er die Reihen der
Leibwächter, aber Carlina schien keinem von ihnen mehr
Aufmerksamkeit zu zollen als den übrigen. Höflich folgte sie jedem,
der sie aufforderte, gewährte aber niemandem einen zweiten
Tanz.
Doch nein! Sie tanzte wieder mit Geremy Hastur, etwas näher an ihm,
als sie allen anderen gekommen war. Sie lachte mit ihm, und sein
Kopf beugte sich über ihr dunkles Haar. Vertrauten sie sich
Geheimnisse an? Erzählte sie Geremy, daß sie Bard nicht heiraten
wolle? War es vielleicht Geremy, den sie sich zum Manne wünschte?
Schließlich gehörte Geremy zur Hastur-Sippe, die von den legendären
Söhnen und Töchtern Cassildas, Robardins Tochter, abstammte … von
den Göttern selbst, das behaupteten sie jedenfalls. Verdammt seien
alle Hasturs! Die di Asturiens waren ebenfalls eine alte und edle
Familie. Warum sollte sie Geremy vorziehen? Wut und Eifersucht
tobten in ihm. Er ging über die Tanzfläche auf sie zu. Soweit
vergaß er seine guten Manieren nicht, daß er ihren Tanz unterbrach.
Aber als die Musik aussetzte und sie lachend einen Schritt
auseinandertraten, näherte er sich ihnen so entschlossen, daß er
ein anderes Paar zur Seite schob, ohne sich zu
entschuldigen.
»Es ist an der Zeit, daß Ihr wieder mit Eurem versprochenen Gatten
tanzt, meine Dame«, sagte er.
Geremy lachte leise. »Wie ungeduldig du bist, Bard, wo ihr doch
euer ganzes Leben zusammen verbringen werdet.« Freundschaftlich
legte er eine Hand auf Bards Ellenbogen. »Wenigstens beweist dir
das, Carlie, daß dein versprochener Gatte nach dir
brennt!«
Bard spürte den Anflug von Bosheit in dem Scherz und sagte zornig:
»Meine versprochene Gattin … « - er
betonte die Worte mit Nachdruck -»… ist für dich Lady Carlina und
nicht Carlie!« Geremy sah ihn an, unsicher, ob das nicht doch nur
ein Spaß sein sollte. »Es ist Sache meiner Pflegeschwester, mir zu
sagen, daß ich den Namen nicht mehr benutzen darf, mit dem ich sie
schon anredete, als ihr Haar noch zu kurz war, um eingeflochten zu
werden, erklärte er heiter. »Was ist über dich gekommen,
Bard’?«
»Lady Carlina hat sich mir angelobt«, erwiderte Bard steif. »Du
wirst dich ihr gegenüber betragen, wie es sich bei einer
verheirateten Frau schickt.«
Carlina in ihrer Bestürzung öffnete den Mund und schloß ihn wieder.
Dann sagte sie mit bemühter Geduld: »Bard, wenn wir wirklich Mann
und Frau und nicht nur Verlobte sind, werde ich dir vielleicht
erlauben, mir vorzuschreiben, wie ich mich gegen meine Pflegebrüder
zu benehmen habe, vielleicht aber auch nicht. Im Augenblick werde
ich in dieser Beziehung tun, was mir paßt. Entschuldige dich bei
Geremy oder laß dich heute abend nicht mehr vor mir blicken!« Bard
starrte sie zornig und sprachlos an. Verlangte sie von ihm, daß er
vor diesem Sandalenträger, diesem Laranzu-Zauberer kroch? Wollte
sie ihren versprochenen Gatten Geremy Hasturs wegen öffentlich
beleidigen? War es also doch Geremy, für den sie sich
interessierte? Auch Geremy konnte kaum glauben, was er hörte. Aber
König Ardrin sah in ihre Richtung, und - das spürte er - es gab
heute abend in diesem Haushalt schon genug Schwierigkeiten, so daß
ein Streit nicht ratsam war. Außerdem wollte er nicht mit seinem
Freund und Pflegebruder streiten. Bard war hier allein, kein Vater
stand an seiner Seite, und zweifellos war er gereizt, weil seine
nächste Verwandschaft sich nicht die Mühe gemacht hatte, einen
Halbtagesritt zu unternehmen, um ihn als Kämpfer des Königs und als
Verlobten der Tochter des Königs zu sehen. So entschloß Geremy
sich, leicht darüber hinwegzugehen.
»Ich brauche keine Entschuldigung von Bard, Pflegeschwester«, sagte
er. »Statt dessen will ich ihn gern um Verzeihung bitten, wenn ich
ihn beleidigt habe. Und da wartet Ginevra schon auf mich. Bard,
mein guter Freund, sei der erste, der uns Glück wünscht. Ich habe
sie um die Erlaubnis gebeten, meinem Vater zu schreiben, damit er
unsere Verlobung in die Wege leitet,
und sie hat es mir nicht abgeschlagen. Nur meinte sie, ich müsse
ihren Vater um Erlaubnis bitten. Wenn
nun alle älteren Herrschaften zustimmen, stehe ich vielleicht in
einem Jahr da, wo du heute abend standest. Oder vielleicht sogar,
wenn die Götter freundlich sind, in den Bergen meines eigenen
Landes … « Carlina berührte Geremys Arm. »Hast du Heimweh, Geremy?«
fragte sie freundlich.
»Heimweh? Ich glaube nicht. Ich wurde aus Carcosa weggeschickt,
bevor es wirklich meine Heimat werden konnte«, antwortete er. »Aber
manchmal bei Sonnenuntergang sehnt sich mein Herz krank nach dem
See und nach den Türmen von Carcosa, die sich vor dem Abendhimmel
erheben, und nach den Fröschen, die dort quaken, nachdem die Sonne
versunken ist. Dies Geräusch war mein erstes Wiegenlied.«
Carlina sagte leise: »Ich bin noch nie weit von zu Hause fort
gewesen, aber es muß eine Traurigkeit über allen Traurigkeiten
sein. Ich bin eine Frau und wuchs mit dem Wissen auf, daß ich meine
Heimat, was auch geschehen möge, eines Tages würde verlassen müssen
… « »Und jetzt … « - Geremy berührte ihre Hand - »… sind die
Götter gnädig gewesen, denn dein Vater hat dich einem Mitglied
seines Haushaltes gegeben, und du brauchst deine Heimat niemals zu
verlassen.«
Sie blickte, Bard vergessend, lächelnd zu ihm auf. »Wenn eins mich
mit dieser Heirat versöhnen kann, dann ist es das.«
Für Bard waren diese Worte wie Salz in einer offenen Wunde. Er fuhr
scharf dazwischen: »Nun geh schon zu Ginevra«, faßte Carlina
unsanft bei der Hand und zog sie schnell weg. Als sie außer
Hörweite waren, riß er sie grob zu sich herum.
»Dann hast du also Geremy erzählt, daß du mich nicht heiraten
möchtest? Hast du das jedem Mann vorgeplappert, mit dem du getanzt
hast, und mich hinter meinem Rücken lächerlich gemacht?« »Nein -
warum sollte ich?« Sie sah ihn erstaunt an. »Ich habe Geremy mein
Herz ausgeschüttet, weil er mein Pflegebruder und Beltrans
geschworener Bruder ist - und ich stehe zu ihm wie zu einem
Blutsverwandten, geboren von meinem Vater und meiner Mutter!« »Und
bist du sicher, daß die Sache für ihn ebenso unschuldig ist? Er
kommt aus dem Bergland«, höhnte Bard, »wo ein Bruder bei seiner
Schwester liegen darf. Und die Art, wie er dich berührte
… « »Bard, das ist zu lächerlich für
Worte«, unterbrach Carlina ihn ungeduldig. »Selbst wenn wir schon
verheiratet und zu Bett gebracht wären, schickte sich solche
Eifersucht nicht! Willst du, wenn wir verheiratet sind, jeden Mann
fordern, mit dem ich ein höfliches Wort wechsele? Muß ich mich
fürchten, freundlich zu meinen eigenen Pflegebrüdern zu sein? Wirst
du als nächstes eifersüchtig auf Beltran oder auf Dom Cormel sein?«
Dieser war der Veteran, der ihrem Vater und ihrem Großvater fünfzig
Jahre lang gedient hatte.
Vor ihrem zornigen Blick senkte Bard die Augen. »Ich kann mir nicht
helfen, Carlina. Ich bin verrückt vor Angst, dich zu verlieren. Es
ist grausam von deinem Vater, dich mir nicht gleich zu geben, wenn
die Hochzeit doch einmal beschlossene Sache ist. Immerzu muß ich
daran denken, ob er mich nicht vielleicht zum Narren hält und dich
später, noch ehe wir zu Bett gebracht worden sind, einem gibt, der
ihm besser gefällt oder der einen höheren Brautpreis zahlen kann
oder dessen Stellung ihm einen mächtigen Verbündeten schafft. Warum
sollte er dich dem Bastardsohn seines Bruders geben?«
Der Kummer in seinen Augen erweckte Carlinas Mitleid. War er hinter
der Arroganz seiner Worte so unsicher? Sie ergriff seine Hand.
»Nein, Bard, das darfst du nicht denken. Mein Vater liebt dich,
mein versprochener Gatte. Er hat dich über meinen eigenen Bruder
Beltran hinweg befördert, er hat dich zu seinem Bannerträger
gemacht und dir die rote Schnur verliehen. Wie kannst du glauben,
er werde falsches Spiel mit dir treiben? Aber er hätte Grund,
zornig auf dich zu werden, wenn du auf unserm Fest einen dummen
Streit mit Geremy Hastur anfingst! Jetzt versprich mir, daß du
nicht wieder so töricht und so eifersüchtig sein wirst, Bard, oder
ich werde auch mit dir streiten! « »Wenn wir richtig verheiratet
wären«, sagte er, »hätte ich keinen Grund zur Eifersucht, weil ich
wüßte, daß du unwiderruflich mein wärst. Carlina«, flehte er
plötzlich, nahm ihre beiden Hände und bedeckte sie mit Küssen, »dem
Gesetz nach sind wir Mann und Frau, das Gesetz erlaubt uns, unsere
Ehe zu vollziehen, wann wir es wünschen. Laß mich dich heute nacht
haben, dann werde ich wissen, daß du
mein bist, und mir deiner sicher sein! «
Sie konnte sich nicht beherrschen - sie wich in tödlichem Schreck
vor ihm zurück. Jetzt hatte sie sich einen Aufschub erkämpft, und
da stellte er ihr diese Forderung als Preis dafür, daß er mit
seinen Eifersuchtsszenen aufhörte! Ihr war klar, daß sie ihn mit
ihrem Zurückweichen verletzte, aber sie senkte die Augen und sagte:
»Nein, Bard. Ich will keine Früchte vom blühenden Baum pflücken,
und das solltest du auch nicht versuchen. Alles kommt zu seiner
richtigen Zeit.« Sie kam sich albern und prüde vor, als sie das
alte Sprichwort zitierte. »Es schickt sich nicht, daß du das bei
unserer Verlobung von mir verlangst!«
»Du hast gesagt, du hofftest, dahin zu kommen, daß du mich liebst …
«
»Zur richtigen Zeit«, antwortete sie und merkte, daß ihre Stimme
schrill klang.
Er gab zurück: »Jetzt ist die richtige Zeit dafür, das weißt du
selbst! Es sei denn, du weißt etwas, das ich nicht weiß, daß dein
Vater plant, falsches Spiel mit mir zu treiben und dich einem
anderen zugeben, während er mich in der Zwischenzeit an sich
bindet!«
Carlina schluckte. Sie spürte, daß er das wirklich glaubte, und er
tat ihr aufrichtig leid.
Er sah ihr Zögern, spürte ihr Mitleid und legte seinen Arm um sie.
Aber sie zog sich so verzweifelt zurück, daß er sie losließ. Voll
Bitterkeit sagte er:
»Es ist also wahr. Du liebst mich nicht.«
»Bard«, flehte sie, »laß mir Zeit. Ich verspreche dir, wenn die
Zeit gekommen ist, werde ich nicht vor dir zurückweichen. Aber man
hat mir davon nichts gesagt. Es hieß, ich solle noch ein Jahr haben
… vielleicht, wenn ich älter geworden bin … «
»Brauchst du ein Jahr, um dich mit dem schrecklichen Schicksal
abzufinden, daß du mein Bett teilen sollst?« fragte er mit solcher
Bitterkeit, daß Carlina wünschte, sie wäre weniger unwillig.
»Vielleicht werde ich«, stotterte sie, »nicht mehr so empfinden,
wenn ich älter bin … meine Mutter sagt, ich sei zu jung für die
Heirat … aber später … «
»Das ist Unsinn«, erklärte er verächtlich. »Jüngere Mädchen als du
werden jeden Tag verheiratet und auch zu Bett gebracht. Das ist
eine Kriegslist, um mich mit der Wartezeit zu versöhnen. Und dann
werde ich dich ganz verlieren! Aber wenn wir zusammengelegen haben,
mein Herz, dann kann kein lebender Mensch uns mehr trennen, dein
Vater nicht und auch deine Mutter nicht … Ich gebe dir mein Wort,
daß du nicht zu jung bist, Carlina! Laß es mich dir beweisen! « Er
zog sie in seine Arme und küßte sie heftig auf den Mund. Sie wehrte
sich so verzweifelt, daß er sie freiließ.
Bitter sagte sie: »Und wenn ich mich weigere, wirst du dann einen
Zwang auf mich legen, wie du es mit Lisarda getan hast, die auch zu
jung für diese Dinge war? Willst du mich behexen, damit ich dir
nicht verweigern kann, was du von mir willst, daß ich dir zu Willen
sein muß, auch wenn es nicht mein eigener Wunsch ist?«
Bard senkte den Kopf, die Lippen zu einer dünnen, zornigen Linie
fest zusammengepreßt. »Also das ist es. Also hat dir die kleine
Hure etwas vorgeheult und dir häßliche Lügen gegen mich in den Kopf
gesetzt?« »Sie hat nicht gelogen, Bard. Ich habe ihre Gedanken
gelesen.« »Was sie dir auch sagen mag, sie war nicht unwillig«,
behauptete Bard, und Carlina brauste, nun wirklich böse, auf: »Das
ist ja das Schlimmste daran! Du hast ihren Willen beeinflußt, so
daß sie dir nicht widerstehen wollte!«
»Du würdest ebenso Vergnügen daran finden wie sie«, fuhr Bard sie
heftig an, und sie gab gleicherweise wütend zurück: »Und damit
wärst du zufrieden - daß ich nicht als Carlina zu dir komme,
sondern durch einen auf mein wirkliches Selbst ausgeübten Zwang’?
Zweifellos würde ich dir widerstandslos zu Willen sein, wenn du
mich mit diesem Zauber belegtest - ebenso wie Lisarda! Und ebenso,
wie sie es tut, würde ich dich von da an bis ans Ende meines Lebens
mit jedem Atemzug hassen!«
»Das glaube ich nicht«, sagte Bard. »Ich bin der Meinung, daß du,
sobald du deine törichten Ängste erst einmal losgeworden bist, mich
lieben und zu der Einsicht gelangen wirst, daß ich das getan habe,
was das beste für uns beide war! «
»Nein.« Carlina zitterte. »Nein, Bard … ich bitte dich … Bard, ich
bin deine Frau.« Sie spürte einen Anflug von Schuldbewußtsein, weil
sie versuchte, ihn auf diese Weise zu manipulieren, aber sie war
verzweifelt und außer sich vor Angst. »Würdest du mich benutzen,
als sei ich nichts Besseres als eins meiner Mädchen?«
Vor Schreck ließ er sie los. »Alle Götter mögen verhüten, daß ich
jemals vergesse, dir die dir gebührende Ehre zu erweisen, Carlie! «
Sie nahm schnell ihren Vorteil wahr. »Dann wirst du bis zur
festgesetzten Zeit warten.« Sie entzog sich seiner Reichweite. »Ich
verspreche dir, ich werde dir treu sein. Du brauchst dich nicht
davor zu fürchten, daß du mich verlieren wirst; aber alles kommt zu
seiner richtigen Zeit.« Sie berührte leicht seine Hand und ging
davon. Bard sah ihr nach. Sie hatte ihn zum Narren gemacht! Nein,
sie hatte recht. Es war eine Sache der Ehre, daß sie, seine Frau,
aus eigenem freien Willen und ohne Zwang zu ihm kam. Doch er war
erregt, und der Zorn steigerte noch den Aufruhr in seinem Geist und
Körper. Noch keine Frau hatte sich darüber beschwert, daß er ein
Draufgänger war! Wie kam diese verdammte Schlampe Lisarda dazu, ihn
zu verklagen? Sie hatte gar nichts dagegen gehabt, er hatte ihr nur
eine Gelegenheit geboten, das zu tun, was sie sowieso tun wollte!
Er durchforschte sein Gedächtnis. Ja, zuerst war sie ängstlich
gewesen, aber bevor er mit ihr fertig war, hatte sie gestöhnt vor
Lust. Welches Recht hatte sie, hinterher ihre Meinung zu ändern und
vor Carlina ihre kostbare Jungfräulichkeit zu bejammern, als hätte
diese irgendeinen besonderen Wert? Sie war doch keine Erbin, die
sie der Ehre und der Mitgift wegen bewahren mußte!
Und jetzt hatte Carlina ihn erregt und in einem Zustand heißen
Begehrens zurückgelassen! Er war wütend auf sie. Bildete sie sich
ein, er werde geduldig wie ein Mädchen auf ihre Zustimmung warten?
Plötzlich fiel ihm ein, was er tun konnte, um sich an beiden zu
rächen, an den beiden verdammten Weibern, die ihn zum Narren
hielten! Die Frauen waren alle gleich, angefangen mit seiner
unbekannten Mutter, die ihn hergegeben hatte, damit er bei seinem
reichen, hochgestellten Vater aufwuchs. Und Lady Jerana, die seines
Vaters Gedanken vergiftet und ihn aus seiner Heimat wegschicken
lassen hatte. Und diese elende kleine Schlampe Lisarda mit ihrem
Gewimmer und Gerede vor Carlina. Und auch Carlina selbst war nicht
frei von der allgemeinen Schlechtigkeit der Frauen!
In seiner Wut ging er auf die Galerien zu, wo die oberen
Dienstboten den Festlichkeiten zusahen. Er entdeckte Lisarda unter
ihnen, ein schlankes, kindlich aussehendes Mädchen mit weichem
braunem Haar, deren schmaler Körper gerade erst weibliche Rundungen
anzunehmen begann. In der Erinnerung spannte sich Bards eigener
Körper vor Erregung an.
Sie war unberührt, ja, unwissend und verängstigt gewesen, aber ihr
Widerstreben hatte sich sehr schnell gegeben. Und doch hatte sie
die Frechheit besessen, sich bei Carlina zu beklagen, als sei es
ihr unangenehm gewesen! Verdammtes Mädchen, diesmal würde er ihr
das Gegenteil beweisen!
Er wartete, bis sie in seine Richtung sah. Dann hielt er ihren
Blick fest. Sie erschauerte und versuchte, das Gesicht abzuwenden,
aber er griff nach ihrem Geist, wie er es gelernt hatte zu tun,
berührte etwas tief in ihrem Inneren, unter dem bewußten Willen,
die Reaktion des Körpers auf den Körper. Kam es darauf an, was sie
zu wollen meinte? Diese Reaktion war
da, und sie war ebenfalls wirklich, und alle ihre eingebildeten
Ideen über ihre stolz bewahrte Unschuld bedeuteten nichts
angesichts dieser Realität. Er hielt sie fest, bis er spürte, daß
ihre Sinne erwachten, beobachtete mit distanzierter, bösartiger
Belustigung, wie sie den Weg zu ihm fand. Außer Sicht der anderen
zog er sie hinter einen Pfeiler, küßte sie kundig und spürte ihr
Begehren sie beide überfluten.
In einer ganz versteckten Ecke ihres Geistes erkannte er die Panik
des jetzt unterworfenen bewußten Willens, ihre Angst und ihr
Entsetzen darüber, daß ihr dies nun doch wieder geschah, daß ihr
Körper ihm entgegenkam, obwohl sie es nicht wollte. Das Grauen
sprach ihr aus den Augen. Bard lachte lautlos und flüsterte ihr
etwas zu. Er beobachtete sie, als sie wie eine Schlafwandlerin die
Treppe zu seinem Zimmer emporstieg, wo sie nackt und sehnsüchtig
auf ihn warten würde, bis es ihm gefiel, zu ihr zu
kommen.
Er würde sie eine Weile warten lassen. Das bewies ihr, was sie
wirklich wollte. Ihr Weinen und Schluchzen würde ihr vor Augen
führen, daß sie es die ganze Zeit schon gewollt hatte. Das sollte
sie lehren, sich bei Carlina über ihn zu beklagen, als habe er sie
mißhandelt oder gegen ihren Willen genommen!
Und wenn Carlina es zu hören bekam, nun, dann war sie selbst daran schuld. Gesetz und Tatsachen machten sie zu seiner Frau, und wenn das sie nicht bewog, ihre Pflicht zu erfüllen, hatte sie kein Recht, sich zu beklagen, daß er zu einer anderen ging.
2
Das Jahr war schon ziemlich weit
fortgeschritten, und ein früher Herbst hatte begonnen, als Bard di
Asturien König Ardrin in seinem Audienzsaal aufsuchte.
»Onkel«, sagte er - er hatte dieses Privileg, weil der König sein
Pflegevater war -, »werden wir noch vor der Apfelernte in den Krieg
reiten?«
König Ardrin hob die Augenbrauen. Er war ein großer, imposanter
Mann, hellhaarig wie die meisten di Asturiens, und war einmal
kräftig gewesen. Aber vor einigen Jahren hatte er eine Wunde am Arm
erhalten, die ihn lähmte. Er trug auch noch andere Narben, die Male
eines Mannes, der fast sein ganzes Leben lang sein Reich mit
Waffengewalt hatte verteidigen müssen. »Ich hatte gehofft, es sei
nicht nötig, Pflegesohn. Aber du weißt mehr als ich darüber, was
sich an den Grenzen tut, weil du in den letzten vierzig Tagen mit
der Leibwache dort gewesen bist. Was gibt es für Neuigkeiten?«
»Keine Neuigkeiten von der Grenze«, antwortete Bard. »Dort ist
alles ruhig. Nach Snow Glen brauchen wir mit einer Rebellion in
diesem Gebiet nicht mehr zu rechnen. Aber auf dem Ritt zurück habe
ich Gerüchte gehört. Wußtest du, daß Dom Eiric Ridenow der Jüngere
seine Schwester mit dem Herzog von Hammerfell verheiratet hat?«
König Ardrin blickte nachdenklich drein, doch er sagte nur: »Fahre
fort.«
»Einer meiner Leibwächter hat einen Schwager, der als Söldner im
Dienst des Herzogs steht«, berichtete Bard. »Er hatte das Unglück,
einen Mann zu erschlagen, und ging für drei Jahre ins Exil. Deshalb
trat er in Hammerfell in Dienst, und er ist von seinem Diensteid
entbunden worden. Mein Mann sagte, als sein Schwager sich in
Hammerfell verpflichtete, machte er es zur Bedingung, daß er nicht
in den Kampf gegen Asturias geschickt werden dürfe. Ich finde es
interessant, daß er jetzt von seinem Eid entbunden wird, statt zu
Mittwinter, wie es Brauch ist.«
»Dann meinst du … <
» Ich meine, der Herzog von Hammerfell festigt seine neue
Verbindung zu der Sippe der Ridenow von Serrais<” führte Bard
aus, »indem er seine Armee gegen Asturias führt. Das hätten wir uns
schon im Frühling sagen können. Er wird hoffen, uns unvorbereitet
zu treffen, wenn er vor dem Winterschnee zuschlägt. Außerdem hat
Beltran einen Laranzu unter seinen
Männern, dessen Gabe der Rapport mit Kundschaftervögeln ist. Er
sagt, zwar seien noch keine Armeen auf der Straße, aber es
versammelten sich Männer in der Marktstadt Tarquil, die gar nicht
weit von Hammerfell liegt. Sicher, dort findet zur Zeit der
Gesindemarkt statt, aber der Laranzu
sagt, es seien zu wenige Männer mit Mistgabeln und Milcheimern und
zu viele auf Pferderücken da. Anscheinend finden sich dort die
Söldner zusammen. Und ein Zug Packtiere entfernte sich vom
DalereuthTurm, und du weißt ebenso gut wie ich, was in Dalereuth
hergestellt wird. Was braucht der Herzog von Hammerfell Haftfeuer,
wenn er nicht mit den Ridenows von Serrais gegen uns ziehen will?«
König Ardrin nickte bedächtig. »Ich bin überzeugt, du hast recht.
Nun, Bard, was würdest du, der du diesen Feldzug hast kommen sehen,
tun, wenn du den Befehl hättest?«
Es war nicht das erste Mal, daß Bard diese Frage gestellt wurde.
Nie hatte sie etwas anderes zu bedeuten gehabt, als daß sein
Pflegevater prüfen wollte, ob er das richtige Gespür für
militärische Taktik hatte. Er hätte Beltran und Geremy, wären sie
anwesend gewesen, ebenso gefragt, und dann hätte er sich an seine
eigentlichen Ratgeber gewendet. Trotzdem dachte Bard gründlich über
das Problem nach. » Ich würde jetzt gegen sie reiten, bevor sie
ihre Söldnertruppen zusammengestellt haben, noch bevor sie
Hammerfell verlassen. Ich würde Hammerfell belagern, lange bevor
sie damit rechnen, daß wir wissen, was vorgeht. Der Herzog rechnet
nicht damit, daß der Krieg sein Land heimsuchen wird. Er versammelt
die Söldner nur, um sie Dom Eiric zur Unterstützung zu bringen.
Wenn die Ridenows diesen Sommer gegen uns ziehen, was sie bestimmt
tun werden, sollen wir ihre Armee unerfreulich angeschwollen
finden. Aber wenn wir jetzt in
Hammerfell zuschlagen und den Herzog belagern, bis er bereit ist,
den Schwur zu leisten, nichts gegen dich zu unternehmen, und ihn
mit Geiseln zu bekräftigen, wirst du Dom Eiric und seine Ratgeber
verwirren. Wenn ich den Befehl hätte, würde ich auch einen Teil der
Truppen nach Süden schicken, um das Haftfeuer zu nehmen und zu
zerstören, bevor es gegen uns eingesetzt werden kann. Vielleicht
können wir es auch selbst in Vorrat nehmen. Und da es bestimmt von
Zauberern bewacht wird, würde ich diesem Truppenteil einen
Laranzu oder zwei mitgeben. «
»Wann könnten wir bereit sein, gegen Hammerfell
zu ziehen?« fragte König Ardrin.
»Innerhalb von zehn Tagen, Sir. Bis dahin ist das Zusammentreiben
der Pferde beendet, und die Männer sind frei, dem Schlachtruf zu
folgen«, antwortete Bard. »Aber ich würde die Männer nicht mit
Signalfeuern zusammenrufen, sondern sie heimlich benachrichtigen
lassen. Die Ridenows mögen spionierende Zauberer haben, die die
Feuer aus weiter Ferne erspähen. Wir wären dann zehn Tage, nachdem
es bekannt wird, daß wir die Grenze überschritten haben, vor
Hammerfell. Und wenn wir mit ein paar ausgewählten Männern schnell
reiten, können wir alle Brücken über den Valeron besetzen und jeden
aufhalten, der gegen uns zieht. Eine Abteilung kann dann ins Innere
vorrücken und die Burg belagern.«
König Ardrins strenges Gesicht verzog sich zum Lächeln. »Ich selbst
hätte keinen besseren Plan ersinnen können. Tatsächlich, Bard,
bezweifle ich, daß mir ein ebenso guter eingefallen wäre. Jetzt
habe ich noch eine Frage an dich: Wenn ich die Truppen nördlich
nach Hammerfell führe, kannst du dann nach Süden gehen, um das
Haftfeuer zu nehmen? Ich werde dir einige Leroni und Reiter mitgeben. Du kannst dir die
Männer selbst auswählen, aber nicht mehr als drei Dutzend. Wird das
genug sein?«
Bard überlegte einen Augenblick. Dann fragte er: »Kannst du nicht
vier Dutzend entbehren, Onkel?«
»Nein; dies zusätzliche Dutzend Reiter brauche ich für den Ritt
nach Hammerfell.«
»Dann muß ich mit den drei Dutzend auskommen, Sir. Wenigstens
können sie sich schnell bewegen, wenn es nötig ist.« Bards Herz
klopfte. Er hatte noch nie ein selbständiges Kommando gehabt.
»Prinz Beltran wird euch anführen - offiziell«, sagte der König,
»aber die Männer werden dir folgen. Du verstehst mich, Bard? Ich
muß Beltran den Befehl überlassen. Aber ich werde ihm klarmachen,
daß du der militärische Ratgeber bist.«
Bard nickte. Das ließ sich nicht umgehen; ein Mitglied des
königlichen Hauses mußte dem Namen nach den Befehl führen. König
Ardrin war ein erfahrener Anführer, aber ihm, Bard, wurde eine
knifflige, schnelle Mission mit einer ausgesuchten kleinen Truppe
anvertraut. »Ich will gehen und meine Männer auswählen, Sir.«
»Einen Augenblick.« König Ardrin winkte ihn zurück. »Es wird eine
Zeit kommen, wo du als mein Schwiegersohn die Befehlsgewalt
erhältst. Ich freue mich über deine Tapferkeit, Bard, aber ich
verbiete dir, dich unnötig in Gefahr zu begeben. Deine
strategischen Fähigkeiten brauche ich notwendiger als deinen
starken Arm oder deinen Mut. Sich zu, daß du am Leben bleibst,
Bard. Mein Auge ruht auf dir. Ich bin zu alt, um noch länger als
ein paar Jahre meinen eigenen General zu machen. Du weißt, was ich
zu sagen versuche.« Bard verbeugte sich tief. »Ich stehe Euch zu
Befehl, mein König und Herr.«
»Und es wird ein Tag kommen, an dem ich dir zu Befehl stehe,
Verwandter. Geh jetzt und suche deine Männer aus.«
»Darf ich Lady Carlina Lebewohl sagen, mein Lord?«
Ardrin lächelte. »Das darfst du, selbstverständlich.«
Bard war außer sich vor Freude über soviel Glück. Jetzt war seine
Laufbahn gesichert, und wenn er seine Mission erfolgreich zu Ende
führte, mochte es sein, daß König Ardrin ihm noch mehr Gnade erwies
und ihn Carlina zum Mittwinterfest heiraten ließ. Oder zumindest
mochte er sie überzeugen, sie drängen, ihre Ehe in jener Nacht
traditioneller Freiheiten zu vollziehen. Bestimmt würde sie sich
ihm nicht mehr widersetzen, wenn er der Kämpfer und Befehlshaber
des Königs war!
Er gestand sich selbst ein: Er hatte es satt, mit diesem und jenem
Mädchen ins Bett zu gehen. Carlina war es, die er wollte. Anfangs
hatte sie ihm nicht mehr bedeutet als ein Zeichen dafür, daß der
König ihn hochschätzte, als ein Tor zu Stellung und Macht im Reich,
eine Macht, die ein Nedestro in
Asturias auf andere Weise nicht erlangen konnte. Aber als sie zu
Mittsommer so freundlich mit ihm gesprochen hatte, wurde ihm klar,
daß sie die einzige Frau war, nach der es ihn verlangte.
Er war der Mädchen überdrüssig. Er war Lisardas überdrüssig und des
Spiels, das er mit ihr trieb, indem er ihren unwilligen Körper
zwang, auf ihn zu reagieren, während sie weinte und darauf bestand,
sie hasse ihn. Elende kleine Spaßverderberin, wo er doch sein
Bestes getan hatte, ihr Vergnügen zu bereiten! Aber jetzt
interessierte ihn das nicht mehr. Er wollte keine andere als
Carlina.
Er fand sie in den Nähräumen, wo sie die Frauen beaufsichtigte, die
Leinenkissen herstellten, und winkte sie von ihnen weg. Wieder
wunderte er sich darüber, warum er so verrückt nach diesem
unscheinbaren Mädchen war, wenn rings um sie so viele hübsche
waren. Lag es nur daran, daß sie die Tochter des Königs war, daß
sie als Kinder zusammen gespielt hatten? Ihr Haar war streng aus
dem Gesicht gestrichen und fest eingeflochten, doch trotzdem hingen
Flusen darin, und ihr blaukariertes Kleid hatte er, so kam es ihm
vor, jeden Tag gesehen, seit sie zehn Jahre alt war. Oder ließ sie
sich einfach ein neues machen, wenn sie das alte abgetragen hatte
oder aus ihm herausgewachsen war’?
Er sagte: »Du hast Federn im Haar, Carlina.«
Geistesabwesend zupfte sie daran und lachte. »Natürlich, einige der
Frauen stopfen Federbetten für den Winter und machen Kissen. ich
herrsche über die Federn, während die Frauen meiner Mutter das
Fleisch der Vögel für den Winter einsalzen und pökeln.« Sie blickte
auf das bißchen Flaum nieder, das an ihren Fingern klebte. »Weißt
du noch, Pflegebruder, wie du und ich und Beltran uns in einem Jahr
an die Fässer mit Federn machten und die Federn in sämtlichen
Nähzimmern herumflogen? Ich fühlte mich so schuldig, weil du und
Beltran geschlagen wurdet, und ich wurde nur ohne Abendessen auf
mein Zimmer geschickt! «
Bard lachte. »Dann sind wir besser weggekommen, denn ich möchte
lieber geschlagen werden als einen Tag hungern, und ich bezweifle
nicht, daß Beltran der gleichen Meinung ist! Und in all diesen
Jahren habe ich gedacht, daß du am schlechtesten dabei weggekommen
bist! «
»Aber ich hatte mir den Streich ausgedacht. Du und Beltran und auch
Geremy, ihr wurdet immer für Ungezogenheiten geschlagen, die ich
ausgeheckt hatte«, sagte sie. »Wir hatten viel Spaß in jener Zeit,
nicht wahr, Pflegebruder?«
»Ja, das hatten wir.« Bard ergriff ihre Hände. »Aber ich möchte
dich jetzt nicht mehr Pflegeschwester nennen, Carlina mea. Und ich
bin gekommen, dir große Neuigkeiten mitzuteilen.«
Sie lächelte zu ihm hoch. »Was für Neuigkeiten, mein versprochener
Gatte?« Sie sprach das Wort schüchtern aus.
»Der König, dein Vater, hat mir den Befehl über Truppen gegeben«,
platzte er freudestrahlend heraus. »Ich soll mit drei Dutzend
ausgewählten Männern eine Karawane mit Haftfeuer ergreifen … Dem
Namen nach ist Beltran der Befehlshaber, aber du weißt, und ich
weiß es auch, daß das Amt in Wirklichkeit meins ist … und ich soll
die Männer selbst aussuchen und Leroni
mitbekommen … «
»0 Bard, wie wundervoll!« Gegen ihren Willen freute sie sich über
sein Glück. » Ich bin so froh für dich! Sicher bedeutet das - wie
du, ich weiß es, hoffst -, daß du vom Bannerträger zu einem seiner
Hauptleute aufsteigen und vielleicht eines Tages alle seine Truppen
führen wirst! «
Bard versuchte, nicht allzuviel Stolz zu zeigen. »Der Tag liegt
bestimmt noch viele Jahre in der Zukunft. Aber es zeigt, daß dein
Vater fortfährt, gut von mir zu denken. Ich habe mir gedacht,
Carlina mea, wenn ich bei dieser Mission Erfolg habe, dann wird er
vielleicht unsere Hochzeit ein halbes Jahr vorverlegen, und wir
können zu Mittsommer heiraten … «
Carlina versuchte, ein unwillkürliches Zusammenzucken zu
unterdrücken. Sie und Bard mußten heiraten. Es war ihres Vaters
Wille, der Gesetz im Land Asturias war. Sie wünschte Bard
aufrichtig alles Gute; es gab keinen Grund, warum sie keine Freunde
sein sollten. Und schließlich machte es nicht viel aus, ob zu
Mittwinter oder Mittsommer. Doch auch wenn sie sich das sagte, sie
konnte nicht zustimmen.
Bards Begeisterung war jedoch so groß, daß sie es nicht
fertigbrachte, sie zu ersticken. Sie wich aus: »Das wird geschehen,
wie mein Vater und Herr es will, Bard.«
Bard sah in ihren Worten nur angemessene j jungfräuliche
Schüchternheit. Er drückte ihre Hände fester. »Wirst du mich zum
Lebewohl küssen, meine versprochene Frau?«
Wie konnte sie ihm das abschlagen’? Sie ließ es zu, daß er sie an
sich zog, und seine Lippen, hart und fordernd, raubten ihr den
Atem. Er hatte sie noch nie geküßt, abgesehen von dem brüderlichen
und ehrerbietigen Kuß, den sie vor Zeugen bei ihrer Verlobung
gewechselt hatten. Das hier war anders, und es ängstigte sie, als
er versuchte, ihre Lippen mit seinem Mund zu öffnen. Sie wehrte
sich nicht. Verängstigt und passiv ließ sie es sich gefallen, und
für Bard war das erregender, als es die heftigste Leidenschaft
hätte sein können.
Als sie sich trennten, sagte er mit leiser Stimme, fast in Angst
vor seinen eigenen Gefühlen: »Ich liebe dich, Carlina.«
Das Beben seiner Stimme erfüllte sie von neuem gegen ihren Willen
mit Zärtlichkeit. Sie berührte seine Wange mit den Fingerspitzen
und antwortete sanft: »Ich weiß, mein versprochener
Gatte.«
Als er gegangen war, starrte sie, bis ins Innerste aufgewühlt, auf
die geschlossene Tür. Ihr ganzes Herz sehnte sich nach der Stille
und dem Frieden der Insel des Schweigens. Doch es sah so aus, als
solle das niemals sein, als müsse sie mit oder ohne ihre Zustimmung
die Frau ihres Cousins, ihres Pflegebruders, ihres versprochenen
Gatten Bard di Asturien werden. Vielleicht, redete sie sich zu,
vielleicht wird es nicht so schlimm. Als wir Kinder waren, liebten
wir uns.
»Carlina, was soll ich mit diesem Stoffballen tun?« rief eine der
Frauen. »Am Rand sind die Fäden ganz verzogen, und hier ist ein
großes Stück verdorben … «
Carlina ging zu ihr und beugte sich über das Leinen. Sie sagte: »Du
wirst es geradeschneiden müssen, so gut du kannst, und wenn es
danach für ein Laken nicht mehr breit genug ist, dann hebst du dies
Ende für Kissenbezüge auf. Sie werden in farbigen Mustern mit Wolle
bestickt, die den Webfehler hier verdecken … «
»Wie könnt Ihr an solche Dinge denken, Lady«, stichelte eins der
Mädchen, »wenn Ihr hier den Besuch Eures Liebhabers gehabt habt …
«
Sie benutzte die Form des Wortes, die seine Bedeutung von
versprochener Gatte zu Geliebtem
änderte, und Carlina spürte, wie ihr das Blut heiß in die Wangen
stieg. Aber sie sagte nur mit sorgfältig ruhig und gleichmütig
gehaltener Stimme: »Ja, Catriona, ich dachte, du seist hergeschickt
worden, um unter den Frauen der Königin das Weben und Sticken und
alle weiblichen Künste zu lernen. Aber nun sehe ich, daß du auch
Unterricht in Casta brauchst, um
versprochener Gatte mit der
angemessenen Höflichkeit auszusprechen. Wenn du das Wort wie eben
verwendest, werden dich die anderen Frauen der Königin als
Landpomeranze auslachen.«
3
Bard ritt am nächsten Tag vor Sonnenaufgang
fort. Es war so früh, daß der Himmel im Osten noch nicht begonnen
hatte, die erste Morgenröte zu zeigen. Drei kleine Mondsicheln und
die blasse Scheibe Mormallors schwebten über den fernen Bergen.
Bards Gedanken beschäftigten sich mit der Erinnerung an Carlinas
scheuen Kuß. Vielleicht würde ein Tag kommen, wenn sie ihn aus
eigenem freien Willen küßte, wenn sie froh und stolz war, mit des
Königs Bannerträger, des Königs Kämpfer, vielleicht dem General
seiner gesamten Armee verheiratet zu werden … Es waren recht
angenehme Gedanken, mit denen er an der Spitze seines ersten
Kommandos, mochte es auch klein sein, dahinritt.
Im Gegensatz zu ihm war Beltran, der dunkel gekleidet und in einen
großen Umhang gewickelt war, in verdrießlicher Stimmung. Bard
merkte, daß er sich ärgerte, und fragte sich, warum.
Beltran brummte: »Du siehst so zufrieden aus, und vielleicht freust
du dich ja auch über dies Kommando. Aber ich würde lieber an Meines
Vaters Seite nach Hammerfell reiten, wo er sehen könnte, ob ich
mich gut oder schlecht halte. Aber nein, da werde ich losgeschickt,
wie der Anführer einer Räuberbande, eine Karawane zu überfallen!«
Bard versuchte, seinem Pflegebruder klarzumachen, wie wichtig es
war, dafür zu sorgen, daß das Haftfeuer aus Dalereuth niemals nach
Serrais kam und die Felder und Dörfer und Wälder von Asturias nicht
verwüstete. Beltran sah nur, daß ihm nicht das Privileg zuteil
geworden war, vor den Augen seiner Armee zur rechten Hand seines
Vaters zu reiten. »Mein einziger Trost ist, daß du dort nicht den
mir rechtmäßig zustehenden Platz einnimmst«, murrte er. »Er hat ihn
Geremy gegeben … Verdammnis über ihn, über alle Hasturs!« In diesem
Punkt teilte Bard das Mißvergnügen Beltrans und hielt es für
politisch richtig, ihn das wissen zu lassen.
»Richtig! Er versprach mir, Geremy an die Spitze der mit uns
reitenden Zauberer zu setzen, und im letzten Augenblick teilte er
mir mit, er könne Geremy nicht entbehren. Dafür hat er mir drei
Fremde gegeben«, fiel Bard in Beltrans Murren ein. Er sah zu ihnen
hinüber, die ein wenig abseits von den ausgewählten Kämpfern
ritten: ein hochgewachsener Laranzu,
dessen ergrauender roter Schnurrbart die Hälfte seines
Untergesichts verdeckte, und zwei Frauen. Eine davon, zu dick zum
Reiten, schaukelte auf einem Esel dahin. Die andere war ein dünnes,
kindhaftes Mädchen, so dicht in ihren grauen Zauberermantel
eingewickelt, daß Bard nicht erkennen konnte, ob sie hübsch oder
häßlich war. Er wußte nichts von den dreien, nichts über ihre
Fähigkeiten, und er fragte sich nervös, ob sie ihn als Anführer der
Expedition anerkennen würden. Besonders der Laranzu. Obwohl er, wie alle seiner Art, bis auf
ein kleines Messer an seiner Seite, das auch eine Frau hätte tragen
können, unbewaffnet war, sah er doch aus, als sei er schon lange
vor Bards Geburt auf Feldzügen wie diesem mitgeritten.
Ob Beltran in diesem Punkt auch von düsteren Vorahnungen geplagt
war? Aber er fand bald heraus, daß das Mißvergnügen des Prinzen
einen anderen Grund hatte.
»Geremy und ich hatten einander gelobt, dies Jahr zusammen in die
Schlacht zu reiten, und jetzt hat er sich dafür entschieden, an der
Seite des Königs zu bleiben … «
»Pflegebruder«, erklärte Bard ernst, »ein Soldat hört nur die
Stimme seines Vorgesetzten, muß ihr seine eigenen Wünsche
unterordnen.« Eigensinnig erwiderte Prinz Beltran: »Er hätte es
meinem Vater sagen sollen. Ich bin sicher, Vater hätte unser
Gelübde geehrt und Geremy mit auf diese Expedition gehen lassen.
Schließlich ist es nur eine stumpfsinnige Sache, das Aufhalten
dieser Karawane, nicht viel anders als das Ausheben von
Räuberbanden an der Grenze.« Bard erkannte plötzlich. warum der
König ihm gegenüber betont hatte, den tatsächlichen Befehl über
diese Expedition habe er und nicht Prinz Beltran. Ganz
offensichtlich, dachte er stirnrunzelnd, hatte der Prinz überhaupt
keine Vorstellung von der strategischen Bedeutung der
Haftfeuer-Karawane!
Wenn Prinz Beltran keine militärische Begabung
hat, ist es kein Wunder, daß der König Wert darauf legt, mich für
einen höheren Posten auszubilden. Kann er seine Armee nicht seinem
Sohn Übergeben, dann doch seinem Schwiegersohn …
Hat er keinen zum General geeigneten Sohn,
verheiratet er seine Tochter mit seinem eigenen General statt mit
einem Rivalen außerhalb seiner Grenzen … Er versuchte, Prinz
Beltran die Wichtigkeit ihrer Mission klarzumachen, aber Beltran
blieb übellaunig, und schließlich sagte er: »Ich kann verstehen,
daß du gern möchtest, die Sache sei wichtig, weil du dich selbst
dann wichtiger fühlst.« Und Bard zuckte die Schultern und ließ es
dabei.
Am Nachmittag waren sie in der Nähe der südlichen Grenze von
Asturias angelangt und machten halt, um die Pferde ausruhen zu
lassen. Bard ritt zu den Zauberern hinüber, die sich ein wenig
abseits von den übrigen hielten. So war es der Brauch-, die meisten
Krieger (und Bard war da keine Ausnahme) hüteten sich vor
Lerom König Ardrin mußte diese Mission
für wichtig gehalten haben, sonst hätte er ihm keinen im Feld grau
gewordenen Mann mitgegeben, sondern den jungen, unerfahrenen
Geremy, und sei es nur, um seinem Sohn und seinem Pflegesohn einen
Gefallen zu tun. Trotzdem teilte Bard den Wunsch des Prinzen,
Geremy, den er so gut kannte, sei anstelle dieses Fremden bei
ihnen. Er wußte nicht, wie er mit einem Laranzu reden sollte. Geremy hatte von der Zeit an,
als sie zwölf Jahre alt waren, besonderen Unterricht erhalten,
nicht im Waffenspiel und unbewaffneten Kampf und im Gebrauch des
Dolches wie die anderen Pflegesöhne des Königs, sondern in der
okkulten Beherrschung der Sternensteine, der blauen Kristalle, die
den Leroni ihre Macht gaben. Geremy
hatte ihre Stunden in militärischer Taktik und Strategie, im Reiten
und Jagen weiter geteilt und war mit ihnen auf Feuerwache gegangen
und gegen Räuber geritten, aber selbst damals schon war klar, daß
aus ihm kein Soldat gemacht werden sollte. Und als er es aufgab,
ein Schwert zu tragen, und es gegen den Dolch eines Zauberers
eintauschte und sagte, er brauche keine Waffe außer dem
Sternenstein um seinen Hals, hatte sich eine große Kluft zwischen
ihnen geöffnet.
Und jetzt, als Bard den Laranzu ansah,
den der König mit ihnen geschickt hatte, spürte er etwas von der
gleichen Kluft. Aber der Mann sah aus, als sei er an Feldzüge
gewöhnt, ritt wie ein Soldat und hatte sogar eine soldatische Art
in der Behandlung seines Pferdes. Er hatte magere, falkenähnliche
Gesichtszüge und kühne, farblose Augen von der grauen Härte
getemperten Stahls.
Ach bin Bard di Asturien«, sagte Bard. »Ich kenne Euren Namen
nicht, Sir.«
»Gareth MacAran, a ves ordras, vai dom
… « Der Mann salutierte kurz.
»Was ist Euch über diese Expedition mitgeteilt worden, Meister
Gareth?«
»Nur, daß ich unter Eurem Befehl stehe, Sir.« Bard hatte gerade
genug Laran, um den sehr schwachen,
beinahe unmerklichen Nachdruck wahrzunehmen, den er auf das Wort
Euer legte. Innerlich empfand er große
Befriedigung. So war er nicht der einzige, der Beltran für
hoffnungslos in militärischen Angelegenheiten hielt.
Er fragte: »Habt Ihr einen Kundschaftervogel?«
Meister Gareth wies mit der Hand. Er antwortete ruhig, aber
eindeutig vorwurfsvoll: »Ich habe schon Feldzüge mitgemacht, als
Ihr noch nicht gezeugt wart, Sir. Wenn Ihr mir sagt, welche
Information benötigt wird … «
Der Vorwurf hatte getroffen. Bard erklärte steif: »Ich bin jung,
Sir, aber im Feldzug nicht unerprobt. Meine Zeit habe ich zum
größten Teil mit dem Schwert verbracht, und ich weiß nicht viel
über die höflichen Umgangsformen mit Zauberern. Wissen muß ich, wo
die Haftfeuer-Karawane nach Süden reitet, damit wir einen
Überraschungsangriff machen können und es ihnen nicht gelingt, ihre
Ware zu vernichten.«
Meister Gareth verzog den Mund. »So, Haftfeuer ist es? Ich wäre
froh, wenn all das Zeug im Meer versenkt würde. Dann wird es dies
Jahr wenigstens nicht benutzt werden, Asturias zu belagern. -
Melora!« rief er, und die ältere Leronis kam zu ihm. Bard hatte sie nach ihrem
dicken Körper für eine ältere Frau gehalten. Jetzt sah er, daß sie
dessenungeachtet jung war. Ihr Gesicht war rund und mondförmig mit
hellen, verträumten Augen. Ihr Haar, von einem leuchtenden
Feuerrot, war zu einem unordentlichen Knoten geschlungen.
»Bring mir den Vogel … «
Fasziniert sah Bard zu - der Anblick war ihm nicht neu, aber es
faszinierte ihn jedesmal in gleicher Stärke -, wie die Frau dem
großen Vogel, der auf ihrem Sattelknopf saß, die Kappe abnahm.
Gelegentlich war auch Bard schon mit einem Kundschaftervogel
umgegangen. Im Vergleich damit waren auch die wildesten Jagdfalken
zahm wie die Käfigvögel eines Kindes. Der lange, schlangenähnliche
Hals drehte sich, und der Vogel kreischte Bard mit einem hohen,
krächzenden Schrei an. Aber als Melora ihm das Gefieder
streichelte, beruhigte er sich und gab ein Zirpen von sich, das
beinahe wie eine Bitte um weitere Liebkosungen klang. Gareth nahm
den Vogel, und Bard ließ sich äußerlich nichts von dem Schrecken
anmerken, den die Nähe dieser grimmigen, unbeschnittenen Klauen vor
seinen Augen ihm verursachte. Meister Gareth jedoch ging mit dem
Vogel um, wie Carlina eins ihrer Singvögelchen gehalten hätte. »So,
so, mein Schöner … «, sagte er und streichelte den Vogel liebevoll.
»Geh und sieh, was sie tun … «
Er warf den Vogel in die Luft. Der Vogel flog mit seinen langen,
starken Schwingen davon, kreiste über ihnen und verschwand in den
Wolken. Melora sank in ihrem Sattel zusammen, ihre verträumten
Augen schlossen sich, und Gareth bemerkte leise: »Es ist nicht
notwendig, daß Ihr hierbleibt, Sir. Ich werde den Rapport mit ihr
aufrechterhalten und alles sehen, was sie durch die Augen des
Vogels sieht. Ich werde Euch melden, wann wir weiterreiten können.«
»Wie lange wird es dauern?«
»Wie soll ich das wissen, Sir?«
Wieder hörte Bard einen Vorwurf aus den Worten des Alten heraus.
Hatte König Ardrin ihm diesen Befehl gegeben, damit er all die
kleinen Dinge lernte, die er außer dem Kämpfen wissen mußte …
einschließlich der Höflichkeit, die man einem erfahrenen
Laranzu schuldig ist? Nun, er würde es
lernen.
Meister Gareth erläuterte: »Wenn der Vogel alles gesehen hat, was
zu sehen nötig ist, und sich auf dem Rückweg zu uns befindet, dann
können wir weiterreiten. Er wird uns finden, wo wir auch sind, aber
Melora kann nicht reiten und dabei in Rapport mit ihrem Vogel
bleiben. Sie würde von ihrem Esel fallen, und auch unter
günstigsten Umständen ist sie keine gute Reiterin.«
Bard runzelte die Stirn. Warum hatte man den Soldaten eine Frau
beigesellt, die kaum auf einem Esel, ganz zu schweigen auf einem
Pferd, sitzen konnte!
Meister Gareth sagte: »Weil, Sir, sie von allen Leroni in Asturias die beste im Rapport mit einem
Kundschaftervogel ist. Das ist eine weibliche Kunst, und ich selbst
bin darin nicht so geschickt. Ich kann den Rapport mit diesen
Tieren so weit herstellen, daß ich mit ihnen umzugehen vermag, ohne
zu Tode gehackt zu werden. Aber Melora kann mit ihnen fliegen und
alles sehen, was sie sehen, und es mir ausdeuten. Und jetzt, Sir,
wenn Ihr entschuldigen wollt, darf ich nicht mehr sprechen, ich muß
Melora folgen.« Sein Gesicht verschloß sich, seine Augen rollten
nach oben, und Bard, der nur noch das Weiße sah, erschauerte. Der
Mann war nicht hier. Irgendein
wesentlicher Teil seiner selbst war mit Melora und dem
Kundschaftervogel fort … Plötzlich war er froh, daß Geremy nicht
mit ihnen gekommen war. Es war schlimm genug, diesen Fremden in ein
unheimliches Reich verschwinden zu sehen, in das er ihm nicht
folgen konnte. Das bei seinem Freund und Pflegebruder zu erleben,
wäre unerträglich gewesen.
Die dritte der Leroni hatte ihren
grauen Reitmantel geöffnet und die Kapuze zurückgeworfen. Bard
entdeckte, daß sie ein schlankes junges Mädchen mit einem hübschen,
verschlossenen Gesicht war. Ihr flammendes Haar lockte sich um ihre
Wangen. Sie war schön und ernst. Als sie Bards Blick auf sich
fühlte, errötete sie und wandte sich ab, und etwas an dieser Scheu
verratenden Geste erinnerte ihn an Carlina, wie ein Hauch, beinahe
geisterhaft.
Sie führte ihr Pferd an den Bach und sah nur ganz kurz zu ihren
beiden Kollegen hin, die in Trance versunken auf ihren Reittieren
saßen. Bard stieg ab und ging zu ihr, um ihr die Zügel abzunehmen.
»Damisela, darf ich Euch
helfen?«
»Danke.« Sie überließ ihm die Zügel. Sie vermied es, ihm ins
Gesicht zu sehen, und als er versuchte, ihren Blick festzuhalten,
sah er nur, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Wie hübsch sie
war! Er führte das Pferd an das Wasserloch und stand da mit einer
Hand an den Zügeln.
Er sagte: »Wenn Meister Gareth und Dame Melora wieder zu sich
kommen, werde ich zwei Männer schicken, die sich um ihre Tiere
kümmern sollen.«
»Danke, Sir. Sie werden Euch dankbar sein, denn sie sind nach einem
langen Rapport mit dem Vogel immer müde. Ich kann das überhaupt
nicht«, gestand das Mädchen. Sie hatte eine leise, flüsternde
Stimme. »Aber Ihr seid eine erfahrene Leronis?«
»Nein, vai dom, nur eine Anfängerin,
ein Lehrling. Vielleicht werde ich es eines Tages sein. Im
Augenblick besteht mein Talent darin, dahin zu sehen, wohin sie
keinen Vogel schicken können.« Wieder senkte sie die Augen und
errötete.
»Und wie ist Euer Name, Damisela?«
»Mirella Lindir, Sir.«
Das Pferd war fertig mit dem Trinken. Bard fragte: »Habt Ihr einen
Futterbeutel für Euer Pferd?«
»Mit Eurer Erlaubnis, Sir, ich möchte es jetzt nicht füttern. Das
Pferd einer Leronis ist darauf trainiert, lange Zeit stillzustehen,
ohne sich zu bewegen …« Sie wies auf die beiden
unbeweglichen
Gestalten von Meister Gareth und Melora. »Aber wenn ich meins
füttere, wird das die anderen stören.«
»Ich verstehe. Nun, ganz, wie Ihr wollt.« Bard sagte sich, er müsse
zu seinen Männern zurückkehren und nachsehen, was sie machten.
Darum hätte sich natürlich Prinz Beltran kümmern sollen, aber Bard
hatte begonnen, nicht nur Beltrans Fähigkeiten, sondern auch seinem
Interesse an diesem Feldzug zu mißtrauen. Nun, um so besser. Wenn
alles gut ausging, dann war es Bard allein zuzuschreiben.
Mirella meinte schüchtern: »Laßt mich Euch nicht von Euren
Pflichten abhalten, Sir.«
Er verbeugte sich vor ihr und ging. Ihre Augen, dachte er, waren
schön, und sie hatte eine Schüchternheit an sich, die der Carlinas
nicht unähnlich war. Er hätte gern gewußt, ob sie noch Jungfrau
war. Bestimmt hatte sie ihn mit Interesse angesehen. Er hatte sich
gelobt, er wolle sein Herumhuren aufgeben und Carlina treu bleiben,
aber auf einem Feldzug sollte ein Soldat nehmen, was ihm angeboten
wird. Er pfiff vor sich hin, als er wieder zu seinen Männern
kam.
Es freute ihn, daß die hübsche Mirella, wieder von ihrem grauen
Mantel verhüllt, einige Zeit später vor den Augen seiner Soldaten
an ihn heranritt und bescheiden meldete: »Mit Eurer Erlaubnis, Sir,
Meister Gareth sagt, der Vogel sei jetzt auf dem Rückweg und wir
könnten weiterreiten.«
»Ich danke Euch, Damisela.« Beflissen
wandte er sich eines Befehls wegen an Prinz Beltran.
»Laß die Leute weiterreiten«, sagte Beltran gleichgültig und stieg
selbst in den Sattel. Bard ließ die Männer an sich vorbeireiten und
hielt die Augen offen nach irgendwelchen Mängeln an Mensch und
Tier, nach einem rostigen Stück der Ausrüstung, einem Pferd, dem
anzumerken war, daß es sich einen Stein eingetreten oder ein
Hufeisen verloren hatte. Dann schloß er sich den drei Leroni an.
»Welche Nachricht habt Ihr von Eurem Kundschaftervogel, Meister
Gareth?«
Das gefurchte Gesicht des alten Laranzu
sah abgespannt und müde aus. Er kaute beim Reiten an einem Streifen
Trockenfleisch. Melora neben ihm sah beinahe ebenso erschöpft aus,
die Augen wie VOM Weinen gerötet, und auch sie aß. Sie stopfte sich
Händevoll Trockenobst mit Honig zwischen die verschmierten Lippen.
»Die Karawane befindet sich in einer Entfernung von zwei
Tagesritten, dort … « - Meister Gareth wies die Richtung - »… in
der Vogelfluglinie. Es sind vier Wagen. Ich zählte außer den
Wagenlenkern zwei Dutzend Männer, und an ihrer Kleidung und ihren
Pferden und auch der Art ihrer Schwerter erkannte ich, daß es
Söldner aus den Trockenstädten sind.«
Bard schürzte die Lippen, denn die Söldner aus den Trockenstädten
waren die besten Krieger, und er fragte sich, wie viele seiner
Männer schon jemals gegen ihre seltsamen gekrümmten Schwerter die
Dolche, die sie anstelle eines Schildes auf der anderen
Seite
n trugen, gekämpft haben mochten.
»Ich will meine Männer warnen«, sagte er. Unter den von ihm
ausgesuchten Leuten waren verschiedene Veteranen der Kriege gegen
Ardcarran. Ein richtiger Instinkt mußte ihn geleitet haben, Männer
mitzunehmen, die gegen die Trockenstädte gekämpft hatten.
Vielleicht konnten sie den anderen gute Ratschläge geben, wie sie
mit diesem Stil des Angriffs und der Verteidigung fertig werden
konnten. Und noch etwas. Er warf einen Blick zu Meister Gareth
hinüber und sagte mit leichtem Stirnrunzeln: »Ihr seid in Feldzügen
erfahren, Sir. Ich nehme an, die Frauen wissen es nicht, aber ich
habe gelernt, es gehöre sich nicht für einen Soldaten, im Sattel zu
essen, es sei denn, es gehe beim besten Willen nicht
anders.«
Er spürte das Lächeln hinter dem kupferfarbenen Schnurrbart des
alten Mannes. »Offenbar versteht Ihr nur wenig von Laran, mein Lord, und wie es dem Körper Kraft
entzieht. Fragt Eure Proviantmeister. Sie werden Euch berichten,
daß sie angewiesen sind, uns dreifache Rationen zu geben, und das
mit gutem Grund. Ich esse im Sattel, damit ich die Kraft habe,
nicht hinunterzufallen, und das, Sir, wäre weitaus störender als
das Essen beim Reiten.«
So sehr Bard es haßte, gute Lehren zu bekommen, verstaute er dies
Wissen doch für den Fall, daß er es brauchte, in seinem Gehirn, wie
er es mit allen militärischen Dingen tat. Aber er bedachte Meister
Gareth mit einem finsteren Blick und verabschiedete ihn mit knapper
Höflichkeit.
Nun ritt er zwischen seinen Männern dahin und teilte jedem
einzelnen von ihnen mit, daß sie beim Überfall auf die Karawane
gegen Söldner aus den Trockenstädten kämpfen mußten. Er hörte eine
Weile den Reminiszenzen eines älteren Veteranen zu, der Jahre vor
Bards Geburt mit dessen Vater Dom Rafael in den Krieg geritten
war.
»Es ist ein Trick dabei, wenn ihr gegen Trockenstädter kämpft. Ihr
müßt auf beide Hände Obacht geben, weil sie mit diesen verdammten
kleinen Dolchen, die sie tragen, ebenso gut sind wie unsereins mit
einem ehrlichen Schwert, und wenn sie euer Schwert gebunden haben,
kommen sie mit der anderen Hand an euch und bohren euch den Dolch
in die Rippen. Sie sind darin geübt, mit bei
den Händen zu kämpfen.«
»Gib das an alle Männer weiter, Larion«, sagte Bard und ritt tief
in Gedanken versunken weiter. Welche Ehre für ihn, wenn er das
Haftfeuer erbeutete und König Ardrin heimbrachte! Wie die meisten
Soldaten haßte er Haftfeuer und hielt es für die Waffe von
Feiglingen, obwohl ihm klar war, welche strategische Bedeutung es
hatte, indem es feindliches Land verbrannte. Wenigstens konnte er
dafür sorgen, daß es nicht gegen die Türme von Asturias
geschleudert wurde! Oder die Wälder verbrannte!
An diesem Abend schlugen sie ihr Lager jenseits der Grenzen von
Asturias in einem Dörfchen auf, das am Rand der Ebenen von Valeron
lag, ein Niemandsland, keinem König untertan. Die Dorfbewohner
versammelten sich mit verdrossenen Gesichtern um Bards Männer, als
wollten sie ihnen die Erlaubnis verweigern, hier zu übernachten.
Als sie jedoch die drei Leroni in ihren
grauen Roben erblickten, bekamen sie es mit der Angst zu tun und
zogen sich zurück.
»Die Leute hier«, sagte Bard zu Beltran, als sie abstiegen,
»sollten von einem Lord in Pflicht genommen werden. Es ist
gefährlich, daß auf diesem Land Gesetzlose und Räuber Unterschlupf
finden können. Auch mag sich eines Tages ein Unzufriedener hier
festsetzen und sich zum König oder Baron erklären.«
Beltran blickte verächtlich über die mageren Felder mit dem dürftig
wachsenden Korn und die wenigen Nußbäume, an denen Nüsse geringer
Qualität hingen. Einige davon hatten so wenig Blätter, daß die
Bauern sie zur Pilzzucht verwendeten. »Wen kann dies Land
interessieren? Die Leute können keinen Tribut zahlen. Das müßte ein
armseliger Lord sein, der sich herabließe, solches Volk zu erobern!
Welche Ehre brächte es einem Adler ein, eine Armee von Rabbithorns
zu schlagen?«
»Darum geht es nicht«, erläuterte Bard. »Der springende Punkt ist,
daß ein Feind von Asturias hierherkommen und die Leute gegen uns
aufhetzen könnte, so daß wir dann dicht an unserer Grenze Feinde
hätten. Ich werde meinem Herrn, dem König, darüber berichten, und
vielleicht schickt er mich im nächsten Frühling her. Ich werde dann
dafür sorgen, daß sie, wenn sie schon Asturias keinen Tribut
zahlen, wenigstens auch Ridenow und Serrais keinen geben. Willst du
mit den Männern sprechen und dich vergewissern, daß alles in
Ordnung ist, oder soll ich es tun?«
»Oh. das mache ich schon«, antwortete Beltran gähnend. »Ich nehme
an, sie brauchen die Versicherung, daß ihr Prinz sich um ihr
Wohlergehen kümmert. Ich weiß nicht viel vom Soldatenleben, aber es
sind genug Veteranen da, die es mir sagen können, wenn irgend etwas
nicht in Ordnung ist.«
Beltran ging, und Bard grinste. Beltran wußte vielleicht wenig über
militärische Taktik, aber er wußte genug von der Staatskunst, um
den Wunsch zu haben, die Liebe und Treue der Männer zu gewinnen.
Ein König regierte durch die Loyalität seiner Soldaten. Beltran war
klug genug, um zu akzeptieren, daß Bard das militärische Kommando
bei diesem Feldzug hatte; etwas anderes war kaum möglich. Aber er
ließ sich nicht auf das Risiko ein, die Männer könnten denken,
ihrem Prinzen sei ihr persönliches Wohlergehen gleichgültig. Bard
beobachtete, wie Prinz Beltran von einem Mann zum anderen ging und
Fragen nach den Pferden, den Decken und Ausrüstungsgegenständen,
den Rationen stellte. Die Köche zündeten Feuer an, und Essen
brodelte in einem Kochtopf. Es roch außerordentlich gut nach dem
langen Tagesritt, bei dem es zu Mittag nicht mehr als ein Stück
harten Reisebrotes und eine Handvoll Nüsse gegeben hatte.
Bard, der für den Augenblick nichts zu tun hatte, schlenderte in
die Richtung der etwas abgelegenen Stelle, wo die Leroni ihr Lager hatten. Die Erinnerung an die
Augen der hübschen Mirella war wie ein Magnet. Sie konnte nicht
älter als fünfzehn sein.
Er traf sie dabei an, Feuer zu machen. Ein Zelt war aufgestellt
worden, und durch das Tuch erkannte er die umfangreiche Gestalt der
Leronis Melora, die sich drinnen
bewegte. Er kniete neben Mirella nieder und fragte: »Darf ich Euch
Feuer geben, Damisela?« Er hielt ihr
den mit Öl gefüllten Feuersteinzünder hin, mit dem es einfacher zu
arbeiten war als mit Feuerschwamm.
Sie wandte ihm nicht ihre Augen zu. Er sah das Erröten, das er so
anbetungswürdig fand, ihren hellen Nacken überfluten.
Sie sagte: »Ich danke Euch, mein Lord. Aber ich brauche kein
Feuerzeug.« Und tatsächlich, als sie auf das aufgeschichtete
Brennholz blickte, die Hand auf den seidenen Beutel an ihrem Hals
gelegt, wo sie, wie er vermutete, den Sternenstein verwahrte, schoß
plötzlich eine Flamme hoch.
Bard legte die Hand leicht auf ihr Handgelenk und flüsterte: »Wenn
Ihr mir nur in die Augen blicken wolltet, Damisela, würde auch ich in Flammen
auflodern.«
Sie wandte sich ihm ein wenig zu, und obwohl sie die Augen nicht
hob, sah er, daß ihre Mundwinkel sich zu einem schwachen Lächeln
verzogen.
Plötzlich fiel ein Schatten über sie.
»Mirella«, befahl Meister Gareth streng, ~>geh ins Zeit und hilf
Melora, eure Betten herzurichten.«
Sie errötete, erhob sich schnell und hastete in das Zelt. Auch Bard
stand auf und sah den alten Zauberer zornig an.
»Mit allem Respekt, ich warne Euch, vai
dom«, sagte Meister Gareth. »Sucht Euch Eure Mädchen
anderswo. Diese eine ist nicht für Euch.«
»Was geht das Euch an, Alter? Ist sie Eure Tochter? Oder vielleicht
Eure Liebste, Eure Verlobte?« wollte Bard wütend wissen. »Oder habt
Ihr ihre Treue mit Euren Zaubersprüchen gewonnen?«
Meister Gareth schüttelte lächelnd den Kopf. »Nichts von alledem.
Aber auf einem Feldzug bin ich verantwortlich für die Frauen, die
mit mir reiten, und sie dürfen nicht berührt werden.«
»Mit Ausnahme von Euch vielleicht?«
Wieder das stumme Kopfschütteln und das Lächeln. »Ihr wißt nichts
über die Welt, in denen die Leroni
leben, Sir. Melora ist meine Tochter. Ich werde es nicht zulassen,
daß sie für ein flüchtiges Abenteuer mißbraucht wird. Sie soll
nicht berührt werden, falls es nicht ihr eigener Wunsch ist. Was
nun Mirella betrifft, so muß sie ihre Jungfräulichkeit für das
Gesicht bewahren, und jeden, der sie nimmt, trifft ein Fluch,
solange sie nicht aus eigenem Entschluß auf ihre Zukunft
verzichtet. Ich warne Euch, haltet Euch von ihr fern.« Betroffen,
mit rotem Gesicht und dem Gefühl, wie ein gescholtener Schuljunge
vor den ruhigen Augen des alten Zauberers zu stehen, senkte Bard
den Kopf und murmelte: »Das wußte ich nicht.« »Nein, und darum sage
ich es Euch«, entgegnete der alte Mann freundlich. »Denn Mirella
war zu schüchtern, es selbst zu tun. Sie ist nicht an Menschen
gewöhnt, die ihre Gedanken nicht lesen können.« Bard warf einen
verdrießlichen Blick zu dem Zelt hinüber. Er dachte, sie hätten
besser die fette und häßliche Melora für das Gesicht bestimmen
sollen, denn welcher Mann hätte Lust, ihr die Jungfräulichkeit zu
rauben? Da mußte er ihr Gesicht zuerst mit einem Futterbeutel
zudecken! Warum war es die hübsche Mirella? Meister Gareth lächelte
immer noch liebenswürdig, aber Bard überkam Plötzlich das
unheimliche Gefühl, daß der alte Mann seine Gedanken las.
»Kommt, kommt, Sir«, meinte Meister Gareth gutmütig, » Ihr seid mit
Prinzessin Carlina verlobt. Es ist Euer nicht würdig, nach einer
einfachen Leronis zu sehen. Liegt heute
nacht allein, und vielleicht werdet Ihr von der hochgeborenen Frau
träumen, die zu Hause auf Euch wartet. Schließlich könnt Ihr nicht
jede Frau haben, auf die Euer lüsterner Blick fällt. Zeigt nicht
solch häßliche Laune! «
Bard stieß einen Fluch aus und ging. Er war nicht so dumm, daß er
einen Laranzu verärgert hätte, von dem
der Ausgang des Feldzugs abhängen mochte, aber die Art des alten
Mannes, als spreche er zu dem grünsten aller Jungen, brachte ihn in
Wut. Was ging das Meister Gareth an?
Der Mann, der zur Bedienung der Offiziere mitgeritten war, hatte
für sie, abgetrennt von den anderen, ein kleines drittes Lager
aufgeschlagen. Bard ging, um das für die Männer gekochte Essen zu
probieren - er hatte gelernt, nie seine eigene Mahlzeit zu sich zu
nehmen, bis Pferde und Männer für die Nacht versorgt waren - und um
den Pferch für die Pferde zu inspizieren. Als er zurückkam, wartete
Beltran schon auf ihn. »Du siehst aus, als hättest du schlechte
Laune, Bard. Was ist los mit dir?«
»Verdammter alter Raubvogel«, knurrte Bard. »Hatte Angst, ich
könnte seine kostbare jungfräuliche Leronis berühren, obwohl ich nichts weiter tat, als
der Kleinen mein Feuerzeug anzubieten! « Beltran lachte vor sich
hin. »Das ist doch ein Kompliment, Bard! Er weiß, daß du mit Frauen
umzugehen verstehst. Dein Ruf ist dir vorausgeeilt, das ist alles.
Er fürchtet, kein Mädchen könne dir widerstehen und ihre
Jungfräulichkeit in deiner Anwesenheit bewahren!«
Diese Auslegung gab Bard ein bißchen von seiner Selbstachtung
zurück. Er kam sich jetzt nicht mehr ganz so wie ein gescholtener
Schuljunge vor.
»Meiner Meinung nach«, sprach Beltran weiter, »ist es verkehrt,
Frauen mit auf einen Feldzug zu nehmen - das heißt, anständige
Frauen. Vermutlich muß jede Armee Troßdirnen haben, obwohl ich
selbst keinen Geschmack an ihnen finde. Wenn ich schon Frauen um
mich haben muß, ziehe ich die Art vor, die nicht so aussieht, als
würden sie nur gewaschen, wenn der Herbstregen sie im Freien
überrascht. Aber anständige Frauen auf einem Feldzug sind eine
Versuchung für den Unkeuschen und ein Ärgernis für den Keuschen,
der seine Gedanken auf den Kampf konzentriert.«
Bard nickte. Was Beltran sagte, war richtig. Er antwortete: »Und
was mehr ist, wenn sie erreichbar sind, werden die Männer sich um
sie schlagen, und wenn sie nicht erreichbar sind, werden sie
ihretwegen wie Schlafwandler herumstolpern.«
Beltran erklärte: »Sollte der Tag kommen, an dem ich meines Vaters
Armee befehlige, werde ich es verbieten, daß eine Leronis mitreitet. Es gibt genug Laranzu’in, und ich persönlich finde, Männer sind
für diese Kunst sowieso besser geeignet. Frauen sind zu zimperlich
und haben bei der Truppe ebenso wenig etwas verloren wie Carlina
oder einer unserer kleinen Brüder! Wie alt ist dein kleiner Bruder
jetzt?« »Er muß acht sein«, antwortet Bard. »Neun zu Mittwinter. Ob
er mich wohl vergessen hat? Ich bin nicht wieder zu Hause gewesen,
seit mein Vater mich an den Hof schickte.«
Beltran klopfte ihm verständnisvoll auf die Schulter. »Du kannst
aber doch sicher Urlaub bekommen, um vor Mittwinter nach Hause zu
reisen.«
»Wenn der Kampf in Hammerfell vorbei ist, ehe der Schnee die
Straßen unpassierbar macht«, sagte Bard, »dann will ich es tun.
Meine Pflegemutter liebt mich nicht, aber sie kann mich nicht von
meinem Vaterhaus fernhalten. Ich möchte zu gern sehen, ob Alaric
mich immer noch gern hat.« Bei sich dachte er, daß er vielleicht
seinen Vater bitten könnte, zu seiner Hochzeit zu kommen. Nicht
jeder König von Ardrins Pflegesöhnen wurde von dem König selbst di
catenas verheiratet!
Sie blieben noch lange im Gespräch wach, und als sie endlich
einschliefen, war Bard recht zufrieden. Er dachte kurz und voller
Bedauern an die hübsche Mirella, aber schließlich stimmte es, was
Meister Gareth gesagt hatte. Er hatte Carlina, und schon bald
würden sie verheiratet sein. Beltran hatte recht: Tugendhafte
Frauen hatten bei der Armee des Königs nichts zu suchen.
Am nächsten Morgen wandten sie sich nach einer
kurzen Besprechung mit Meister Gareth und Beltran in die Richtung
der Furt bei Morays Mühle. Heute wußte kein lebender Mensch mehr,
wer Moray gewesen war, obwohl man sich auf dem Land Geschichten
über ihn erzählte, die ihn zu allem möglichen vom Riesen bis zum
Drachenhüter machten. Aber nahe der Furt standen immer noch die
Ruinen einer Mühle, und ein Stück weiter stromaufwärts war eine
zweite Mühle noch in Betrieb. Eine Zollschranke sperrte die Straße
ab, und als Bards Männer sich ihr näherten, kam der Zolleinnehmer,
ein fetter, ergrauender Mann, heraus und sagte: »Auf Befehl des
Lords von Dalereuth ist diese Straße geschlossen, meine Lords. Ich
habe geschworen, die Schranke keinem zu öffnen, der ihm nicht
Tribut zahlt oder von ihm sicheres Geleit innerhalb seiner Grenzen
bewilligt bekommen hat.«
»Bei sämtlichen Höllen Zandrus - «, begann Bard, aber Prinz Beltran
ritt nach vorn. Hoch ragte er über dem kleinen Mann mit seiner
Müllerschürze auf.
»Ich bin gern bereit, dem Lord von Dalereuth eine Kopfsteuer zu
zahlen«, sagte Beltran. »Ich bin sicher, er würde den Kopf eines
unverschämten Burschen, wie du es bist, zu würdigen wissen. Rannvil
… « Er winkte, und einer der Reiter zog sein Schwert. »Öffne die
Tore, Mann, sei kein Dummkopf.«
Der Zolleinnehmer ging mit klappernden Zähnen zu dem Mechanismus,
mit dem das große Zolltor beiseite gerollt werden konnte. Beltran
warf ihm verächtlich ein paar Münzen hin. »Hier ist dein Tribut.
Aber wenn auf unserm Rückweg das Tor wieder für uns geschlossen
ist, hast du mein Wort darauf, daß ich es von meinen Männern aus
dem Boden reißen und deinen Kopf darauf setzen lasse, um die Krähen
zu verscheuchen!«
Als sie hindurchritten, hörte Bard den Mann etwas brummen. Er
beugte sich aus dem Sattel nieder und packte ihn bei der Schulter.
»Was das auch war, sag es uns laut ins Gesicht, du!«
Der Mann blickte auf, sein Kinn war zornig vorgeschoben. Er sagte:
»Die Streitigkeiten unter Höhergestellten gehen mich nichts an,
vai dom. Warum sollte ich leiden, weil
Ihr Edelleute nicht innerhalb Eurer Landesgrenzen bleiben könnt?
Mich kümmert nur meine Mühle. Aber Ihr werdet weder auf diesem noch
auf einem anderen Weg zurückkommen. Ich habe nichts damit zu tun,
was Euch an der Furt da hinten erwartet. Und jetzt, gewinnt Euch
Ehre, wenn Ihr wollt, indem Ihr einen unbewaffneten Mann tötet!
«
Bard ließ ihn los und richtete sich wieder auf. Er sagte: »Dich
töten? Warum? Danke für deine Warnung; du bist gut bezahlt worden.«
Er sah dem Mann nach, der zu seiner Mühle ging, und obwohl er seit
seinem vierzehnten Jahr Soldat war, dachte er jetzt stirnrunzelnd
darüber nach, warum all diese Kriege sein mußten. Warum konnte
jeder Adlige, wenn ihn die Lust dazu anwandelte, sich zum Souverän
über sein Land erklären? Das schuf nur mehr Arbeit für die Söldner.
Vielleicht, dachte er, sollte dies ganze Land unter einer Herrschaft vereinigt
werden, damit von den Hellers bis zum Meer Frieden an den Grenzen
ist … und kleine Leute wie dieser
Müller könnten in Frieden ihre Felder bestellen und ihr Mehl
mahlen … und ich könnte auf den Gütern,
die der König mir verliehen hat, mit Carlina leben … Aber er
hatte jetzt wenig Muße, darüber nachzudenken. Er rief in dringendem
Ton nach Meister Gareth und hob die Hand, um den Männern Halt zu
gebieten.
»Ich bin gewarnt worden«, sagte Bard, »daß etwas an der Furt auf
uns wartet, aber ich sehe nichts. Hat Euer Vogel Euch Kunde
gebracht, oder hat eine Eurer Frauen durch ihre Zauberkraft etwas
gesehen?« Meister Gareth winkte die von ihrem Mantel verhüllte
Mirella herbei und sprach leise mit ihr. Sie zog ihren Sternenstein
aus dem Beutel an ihrem Hals und blickte hinein.
Nach einem Augenblick erklärte sie mit leiser, entrückter Stimme:
»Es wartet weder Mensch noch Tier an der Furt auf uns, aber es ist
Dunkelheit dort und eine Barriere, die wir vielleicht nicht
passieren können. Wir müssen mit großer Vorsicht weiterreiten,
Verwandter.« Meister Gareth hob den Blick und begegnete dem Bards.
Er sagte: »Sie hat das Gesicht; wenn dort eine Dunkelheit ist, die
sie nicht durchdringen kann, müssen wir in der Tat die größte
Vorsicht walten lassen, Sir.«
Aber die Furt lag ruhig und friedlich im Sonnenlicht. Seichte
Wellen kräuselten sich unter karminroten Glanzlichtern. Bard
runzelte die Stirn und versuchte zu erkennen, was vor ihnen lag. Er
konnte nichts sehen, keinen Hinweis auf einen Hinterhalt, keine
sich bewegenden Zweige oder Äste auf der anderen Seite der Furt, wo
ein Pfad zwischen überwachsenen Bäumen nach oben führte. Das wäre
wirklich ein guter Platz für einen Hinterhalt.
»Wenn Ihr mit Hilfe der Zauberei oder des Gesichts nicht über die
Furt hinaussehen könnt«, sagte er, »kann dann nicht der
Kundschaftervogel vorausfliegen und nachsehen, ob sich dort drüben
ein Hinterhalt befindet?«
Meister Gareth nickte. »Selbstverständlich. Der Vogel ist nur ein
Tier und hat nichts mit Zauberei beziehungsweise der Magie eines
ausgebildeten Geistes zu schaffen. Das einzige Magische an dem
Vogel ist Meloras und meine Fähigkeit, mit ihm in Rapport zu
treten. Melora«, rief er, »Kind, laß den Kundschaftervogel
fliegen.« Bard sah zu, wie der grimmige Vogel in die Luft stieg und
über der Furt kreiste. Nach einer Weile schüttelte Meister Gareth
sich, erwachte und winkte Melora, die die Hand ausstreckte und den
zurückkehrenden Vogel darauf landen ließ. Sie streichelte sein
Gefieder und fütterte ihm ein paar Leckerbissen, bevor sie ihm die
Kappe wieder über den Kopf streifte. Meister Gareth sagte:
»Niemand, weder Mensch noch Tier, ist jenseits der Furt versteckt.
Auf viele Meilen gibt es kein lebendes Geschöpf außer einem
Mädchen, das eine Herde Rabbithorns hütet. Was auch hier an der
Furt wartet, vai dom, es ist kein
Hinterhalt bewaffneter Männer.« Bard und Beltran wechselten einen
Blick. Dann sagte Beltran: »Wir können hier nicht den ganzen Tag
auf einen Schrecken warten, den kein Mensch sehen kann. Ich denke,
wir reiten zu der Furt weiter. Aber Ihr, Meister Gareth, bleibt
zurück, denn wir müssen Euch in Reserve haben, falls Ihr gebraucht
werdet. Ich habe von Zauberern gehört, die den Vormarsch einer
Armee aufhielten, indem sie einen Wald oder ein Feld in Brand
steckten, und ich denke, etwas in der Art könnte sich jenseits der
Furt befinden. Davor müssen wir uns in acht nehmen. Bard, willst du
den Befehl zum Weiterreiten geben? « Bards Haut prickelte. Das war
Ihm schon ein- oder zweimal in der Anwesenheit Von Laran so
gegangen. Er selbst hatte nur wenig von dieser Gabe, aber irgendwie
spürte er sie bei anderen. Er wusste das es das talent gab, die
Anwendung von Laran zu riechen. Wenn er in seiner Anwendung
geschult worden wäre, könnte er es vielleicht auch. Das hätte ganz
nützlich sein können. Er hatte immer gedacht, Geremy, der sich zum
Laranzu heranbildete, sei irgendwie nicht ganz so Mann und Soldat
wie Beltran und er selbst. Während er jetzt Meister Gareth zusah,
sagte er sich, daß diese Arbeit ihre eigenen Gefahren und Schrecken
haben mochte, auch wenn ein Laranzu unbewaffnet in die Schlacht
ritt. Das allein muß angsterregend genug
sein, dachte Bard und legte seine Hand an sein Schwert, um
sich seiner zu vergewissern. Er wandte sich seinen Männern zu und
befahl: »Zu vieren abzählen! « Keinem Mann konnte er befehlen, als
erster in irgendein unbekanntes Grauen hineinzureiten. Als
abgezählt worden war, sagte er: »Gruppe zwei, vorwärts! « und
setzte sich an ihre Spitze.
Wieder prickelte seine Haut, und seine Stute warf protestierend den
Kopf hoch, als sie vorsichtig einen Fuß ins Wasser gesetzt hatte.
Aber die Furt lag ruhig da, und Bard gab den Befehl:
»Langsam hindurchreiten! Zusammenbleiben!«
Über ihnen, ganz am Rand seines Sichtbereichs, sah er eine
flüchtige Bewegung. Hatte Meister Gareth den Kundschaftervogel
nicht zurückgerufen? Ein schneller Blick zeigte ihm, daß Meloras
Falke ruhig mit seiner Kappe auf dem Kopf vor der Frau auf dem
Sattelknopf saß. Dann wurden sie also aus der
Ferne beobachtet. Gab es irgendeine Verteidigung
dagegen?
Sie waren jetzt inmitten des Flusses, wo das Wasser am tiefsten war
und die Sprunggelenke der Pferde umspülte. Einem großen Mann wäre
es bis an die Schenkel gegangen. Einer der Soldaten meinte: »Hier
ist nichts, Sir. Wir können die anderen rufen, daß sie uns
nachkommen.«
Bard schüttelte den Kopf. Innerlich fühlte er dies Prickeln, das
ihn vor einer Gefahr warnte, stärker werden. Er biß die Zähne
zusammen und fragte sich, ob er sein Frühstück ausspucken werde wie
eine schwangere Frau …
Er hörte Meister Gareth rufen und wendete sein Pferd mitten im
Fluß. »Zurück!« brüllte er. »Reitet zurück … «
Das Wasser brodelte und stieg bis zum Widerrist seines Pferdes.
Plötzlich war die friedliche Furt ein wütender, gischtender Strom,
eine rasende Unterströmung saugte und riß. Bards Pferd stolperte
unter ihm, als sei er in einen vom Frühlingstauwetter zu
gefährlichen Stromschnellen angeschwollenen Gebirgsbach
hineingeritten. Hexenwasser! Er zog an
den Zügeln, er versuchte, sein wieherndes, untertauchendes Pferd zu
beruhigen, es trotz der Gefahr, vom Wasser mitgerissen zu werden,
ruhig zu halten. Um ihn kämpfte jeder Mann der Gruppe mit den vor
Angst wahnsinnigen Pferden. Bard fluchte. Es gelang ihm, seine
Stute unter Kontrolle zu bekommen und zurück zum Ufer zu lenken. Er
sah, daß einer seiner Männer aus dem Sattel glitt und in den Wogen
verschwand. Ein anderes Pferd stolperte. Bard faßte hinüber und
ergriff den Zügel, sein eigenes Pferd mit einer Hand
regierend.
»Haltet sie fest! Im Namen aller Götter, haltet sie fest! Zurück
zum Ufer! « brüllte er. »Bleibt zusammen! «
Die Überraschung war das Schlimmste; sein Pferd war eigentlich an
Bergbäche und Furten gewöhnt. Hätte er es vorher gewußt, wäre es
ihm vielleicht gelungen, die Stute hinüberzubringen. Mit fest
geschlossenen Knien, stets entgegen der Richtung des Wassers, das
ihr jetzt bis zum Hals ging, brachte er sie wieder auf trockenes
Land. Er stellte sich ans Ufer und griff nach den Zügeln der
anderen, wie sie eintrafen. Ein Pferd lag mit gebrochenem Bein. Es
trat um sich und schrie wie eine Frau, bis es ertrank. Bard
schnürte es die Kehle zusammen. Das arme Geschöpf hatte nie einem
lebenden Wesen etwas getan, und es hatte einen entsetzlichen Tod
gefunden. Von dem Reiter gab es keine Spur. Ein zweites Pferd
rutschte aus, aber der Reiter sprang im Wasser ab und riß es wieder
hoch. Dann zerrte er das hinkende Tier zum Ufer hin. Kurz davor
sank er selbst zu Boden und zappelte halb ertrunken, bis einer der
Männer die Böschung hinuntersprang, ihn faßte und
herausholte.
Bard sah, daß der letzte Mann das Wasser verlassen hatte, und dann
schrie er auf vor Schreck und Grauen. Denn wieder lag das Wasser
ruhig und seicht vor ihnen als die friedliche, normale Furt von
Morays Mühle.
Das also hatte der kleine Mann gemeint
…
In düsterer Stimmung überprüften sie die Pferde. Das Pferd, das ein
Bein gebrochen hatte, lag jetzt still und tot da, und von seinem
Reiter war weit und breit nichts zu sehen. Entweder lag er unter
den Wassern der Furt, oder er war von dem Strom mitgerissen worden,
und seine Leiche würde weiter flußabwärts an die Oberfläche kommen.
Ein anderer Mann hatte es ans Ufer geschafft, aber sein Pferd
lahmte und war unbrauchbar geworden. Ein drittes Pferd hatte seinen
Reiter abgeworfen und war allein ans Ufer gekommen. Der Mann lag
bewußtlos im seichten Wasser, von den Wellen geschaukelt. Bard
winkte einem seiner Kameraden, ihn aufs Trockene zu ziehen, und
dann ließ er seine Finger kurz über die klaffende Kopfwunde
gleiten. Wahrscheinlich würde der Mann nie wieder
aufwachen.
Bard segnete die Vorausschau - wie sie auch zustande gekommen sein
mochte -, die ihn gedrängt hatte, nur ein Viertel seiner Männer in
den Fluß zu schicken. Andernfalls hätten sie ein halbes Dutzend
Männer statt nur zwei Männer und zwei Pferde verloren, und
vielleicht wären noch mehr Pferde gelähmt oder verletzt worden. Er
winkte Meister Gareth zu sich. Grimmig erklärte er:
»Also das lag in der Dunkelheit, die Euer Mädchen nicht lesen
konnte!«
Der Mann schüttelte seufzend den Kopf. »Es tut mir leid,
vai dom … Wir sind mit Psi-Kräften
begabte Menschen, keine Zauberer, und unsere Kräfte sind nicht
unbegrenzt. Darf ich es wagen, zu unserer Verteidigung
vorzubringen, daß Eure Männer ohne uns vollständig ungewarnt in die
Furt geritten wären?«
»Das ist wahr«, gab Bard zu, »aber was tun wir jetzt? Wenn die Furt
gegen uns verhext ist - haben wir die Falle jetzt ausgelöst, oder
wird sie von neuem zuschnappen, sobald wir einen Fuß ins Wasser
setzen?«
»Das kann ich nicht sagen, mein Lord. Aber vielleicht verrät es uns
Mirellas Gesicht«, und er winkte sie zu sich. Er sprach zu ihr mit
leiser Stimme, und wieder blickte das Mädchen in seinen
Sternenstein. Schließlich erklärte sie mit ihrer schwebenden,
schlaftrunkenen Zauberstimme: »Ich kann nichts sehen … es liegt
Dunkelheit auf dem Wasser…«
Bard fluchte lästerlich. Dann war der Zauber also immer noch
vorhanden. Er erkundigte sich bei Beltran: »Glaubst du, wir können
jetzt, wo wir gewarnt sind, die Furt überqueren?«
Beltran antwortete: »Vielleicht, wenn die Männer wissen, was auf
sie zukommt. Es sind ausgesuchte Kämpfer und gute Reiter, jeder
einzelne von ihnen. Aber Meister Gareth und die Leroni können wahrscheinlich nicht hinüber, ganz
bestimmt die eine nicht, die den Esel reitet … «
Meister Gareth erklärte: »Wir sind geübte Leroni, Sir. Wir teilen die Gefahren der Armee, und
meine Tochter und meine Pflegetochter gehen dahin, wohin ich gehe.
Sie haben keine Angst.«
»Es ist nicht ihr Mut, an dem ich zweifle«, sagte Bard ungeduldig.
»Es ist ihre Geschicklichkeit als Reiterinnen. Außerdem würde
dieser kleine Esel in der ersten Welle ertrinken. Ich will nicht,
daß eine Frau dabei umkommt, und außerdem brauchen wir Euch, wenn
es zum Kampf kommt. Könnt Ihr, bevor wir irgend etwas unternehmen,
dafür sorgen. daß wir nicht ausspioniert werden?« Er wies gereizt
auf den über ihnen kreisenden fremden Kundschaftervogel.
»Ich werde tun, was ich kann, Sir, aber ich glaube, wir
konzentrieren unsere Kräfte besser auf das Hexenwasser der Furt«,
gab Meister Gareth zurück.
Bard nickte. Er dachte darüber nach. Wie ein Befehlshaber seine
Männer zum besten Nutzen einsetzte, so mußte er auch, das begriff
er allmählich, die Stärke der Leroni
seiner Armee zusammenhalten und sinnvoll benutzen.
Hat König Ardrin mir dies Kommando gegeben,
damit ich Gelegenheit finde, nicht mir Kämpfer, sondern auch
Zauberer zu befehligen? Selbst
jetzt unter dem Druck notwendiger Entscheidungen dachte er erregt
daran, daß dies Gutes für seine Zukunft bedeutete. Wenn…, dachte er, schnell ernüchtert, er diese scheinbar einfache Mission zu Ende führen konnte,
ohne alle seine Männer an der verhexten Furt zu
verlieren!
»Meister Gareth, dies ist ein Gebiet, auf dem Ihr Spezialwissen
habt. Was empfehlt Ihr mir?«
»Wir können versuchen, das Wasser mit einem Gegenzauber zu belegen,
Sir. Ich kann es nicht garantieren - denn ich weiß ja nicht, wer
uns gegenübersteht und welche Kräfte sie haben -, aber wir werden
unser Bestes tun, das Wasser zu beruhigen. Einen Vorteil haben wir:
Es bedarf ungeheurer Energien, auf diese Weise in die Natur
einzugreifen, und lange kann man so etwas nicht aufrechterhalten.
Die Natur strebt stets danach, zum Normalen zurückzukehren; das
Wasser sucht seinen angemessenen Lauf. So arbeitet die Gewalt des
natürlichen Wassers für uns, während die anderen gegen diese Naturkraft kämpfen müssen. Deshalb
sollte unser Gegenzauber nicht zu schwierig sein.«
»Alle Götter mögen geben, daß Ihr recht habt«, sagte Bard.
»Trotzdem werde ich den Männern sagen, sie sollen sich auf
Stromschnellen gefaßt machen.« Er ritt zwischen ihnen umher, sprach
mit diesem und jenem und sagte dem Mann, dessen Pferd lahmte, er
solle das nehmen, dessen Reiter umgekommen war. Dann lenkte er sein
Pferd nahe an Beltran heran und sagte: »Reite neben mir,
Pflegebruder. Ich möchte nicht vor das Angesicht meines Herrn und
Königs treten müssen, wenn ich es zugelassen habe, daß du in den
Stromschnellen getötet wurdest. Fielest du in der Schlacht, glaube
ich, daß er es verwinden könnte. Aber für etwas anderes will ich
nicht verantwortlich sein.« Beltran lachte. »Meinst du, du reitest
soviel besser als ich, Bard? Da irrst du dich! Ich glaube, du
überschreitest deine Vollmacht ich, nicht du, habe den Befehl über
diese Expedition! « Doch er sagte es lachend, und Bard zuckte die
Schultern.
»Wie du willst, Beltran, aber im Namen der Götter, sei vorsichtig.
Mein Pferd ist größer und schwerer als deins, weil es mein Gewicht
zu tragen hat, und ich mußte alle Kräfte anstrengen, um im Sattel
zu bleiben!«
Er wendete sein Pferd und ritt wieder zu Meister Gareth. »Es ist
unmöglich, daß Mistress Melora die Furt auf diesem kleinen Esel
überquert, wenn Euer Zauber versagt. Kann sie auf einem Pferd
sitzen?«
Meister Gareth antwortete: »Ich bin ihr Vater, nicht ihr Mentor
oder der Herr ihres Geschicks. Warum fragt Ihr die Dame nicht
selbst?« Bard schob das Kinn vor. »Ich habe nicht die Gewohnheit,
Frauen Fragen zu stellen, wenn ein Mann anwesend ist, der ihnen
Befehle erteilen kann. Aber wenn Ihr darauf besteht - nun,
Damisela, könnt Ihr reiten? Wenn ja,
wird Euer Vater Mistress Mirella zu sich auf sein Pferd setzen, da
sie leichter ist als Ihr, und Ihr sollt ihr Pferd nehmen, das recht
ruhig aussieht.«
»Ich möchte mich lieber auf meines Vaters Psi-Kräfte und meine
eigenen verlassen«, erwiderte Melora fest. »Glaubt Ihr, ich will
mein armes Eselchen dem Ertrinken überlassen?«
»Oh, Hölle und Verdammnis, Frau! « entfuhr es Bard. »Wenn Ihr es
fertigbringt, auf einem Pferd zu sitzen, wird einer meiner Männer
Euren Esel führen. Ich nehme an, das Vieh kann schwimmen! « »Du
mußt dein Bestes tun, um zu reiten, Melora«, fiel Meister Gareth
ein. »Und Weißfell bleibt nichts anderes übrig, als zu schwimmen.
Ich bin sicher, er kann im Wasser besser für sich selbst sorgen als
du. Mirella, mein Kind, gib Melora dein Pferd und steige hinter mir
in den Sattel.«
Hurtig kletterte sie auf den Pferderücken, aber die zusehenden
Männer erhaschten doch einen Blick auf lange, wohlgeformte Beine in
rot und blau geringelten Strümpfen. Sie setzte sich zurecht, strich
ihre Röcke glatt und faßte den alten Laranzu um die Mitte. Bard persönlich half, die
dicke, ungewandte Melora auf das Pferd des anderen Mädchens zu
heben. Dort oben hockte sie, dachte er unbarmherzig bei sich, wie
ein auf den Sattel geworfener Sack Mehl.
»Sitzt ein wenig gerader, vai leronis,
ich bitte Euch inständig, und haltet die Zügel fester.« Bard
seufzte. »Ich sollte wohl lieber neben Euch reiten und Euer Pferd
führen.«
»Das wäre freundlich von Euch«, sagte Meister Gareth, »denn wir
müssen uns völlig auf den Gegenzauber konzentrieren. Und ich wäre
auch sehr dankbar dafür, wenn einer Eurer Männer Meloras Esel
führen wollte, weil sie Angst um ihn haben wird.«
Einer der Veteranen platzte lachend heraus: »Mistress Melora, wenn
Ihr dies Wasser durch einen Zauber beruhigen könnt, will ich Euren
kleinen Esel wie ein Baby quer über meinen Sattel nehmen! « Sie
kicherte. Fett und unbeholfen, wie sie war, hatte sie doch eine
süße Stimme und ein entzückendes Lachen. »Ich fürchte, das würde
ihm mehr Angst einjagen als die Stromschnellen, Sir. Wenn Ihr ihn
führt, wird er es schon irgendwie fertigbringen, hinter dem Schwanz
Eures Pferdes herzuschwimmen.«
Der Veteran brachte ein Seil und band den Zügel des Esels an den
Zügel seines eigenen Pferdes. Bard ergriff die Zügel von Meloras
Pferd. Wie schade war es, dachte er, daß es nicht die hübsche
Mirella war, und wieder hörte er Meloras süßes Lachen. Voll
Unbehagen fragte er sich, ob sie seine Gedanken lesen könne, und
riß sich von dieser Überlegung los. Dies war kein Zeitpunkt, über
Frauen nachzudenken, nicht wenn sie eine verhexte Furt durchqueren
mußten und ihnen ein Kampf bevorstand!
»Um der Liebe aller Götter willen, Meister Gareth, fangt mit Eurem
Gegenzauber an.«
Meloras schwerer Körper hing bewegungslos auf dem Pferd. Ein
fremder, konzentrierter Ausdruck senkte sich auf Meister Gareths
Miene. Mirellas Kapuze rutschte ihr übers Gesicht, so daß nichts
mehr von ihr zu sehen war als ihr kleines Kinn. Bard beobachtete
die drei Leroni und spürte an dem
Prickeln in seinem Rückgrat, daß irgendwo in der Nähe kraftvolles
Laran am Werk war
her wußte er das, was war das?
Mit einem merkwürdigen Widerstreben, die bedeutungsvolle Stille
durch ein Wort oder einen Ruf zu unterbrechen, winkte Bard die
Männer schweigend vorwärts. Er spürte das Prickeln immer noch.
Jetzt zog er am Zügel seines Pferdes und trieb es an. Die Stute
warf ihren Kopf und wieherte nervös. Sie erinnerte sich, was
geschehen war, als sie das erste Mal die Furt beschritten
hatte.
»Ruhig, ruhig, Mädchen«, redete er ihr mit leiser Stimme zu, und er
dachte: Ich nehme es ihr ganz und gar nicht
übel, mir geht es genauso … Aber er war ein denkender
Mensch, kein vernunftloses Tier, und er würde sich nicht blinder,
sinnloser Furcht überlassen.
Von Stimme und Händen gedrängt, setzte die Stute einen Fuß in das
Wasser, und Bard winkte den Männern hinter ihm.
Nichts geschah … aber es war auch beim ersten Mal nichts geschehen,
bis sie in der Mitte des Flusses gewesen waren. Bard trieb das
Pferd weiter an und hielt dabei, sich im Sattel zur Seite drehend,
Meloras Zügel. Nach ihm kam Meister Gareth mit Mirella hinter sich,
dann folgten die Männer, Prinz Beltran als Nachhut.
Nun waren sie alle im Wasser. Wenn der feindliche Zauber noch
wirksam war, würde die Flut jetzt über sie hereinbrechen. Er machte
sich darauf gefaßt, er fühlte das unablässige Prickeln, das ihm
zeigte, es war Laran am Werk, und es
nahm zu, bis er das Gegeneinanderwirken der Kräfte von Zauber und
Gegenzauber über der Furt beinahe sehen konnte. Sein Pferd schien
durch verfilzte Schlinggewächse zu schreiten, obwohl davon nichts
zu sehen war … Dann, ganz plötzlich, war es vorbei, verschwunden.
Der Fluß strömte still und unschuldig dahin und war wieder
gewöhnliches Wasser. Bard stieß den zurückgehaltenen Atem aus und
bohrte seiner Stute die Fersen in die Weichen. Die ersten Reiter
hatten das gegenüberliegende Ufer schon zur Hälfte erklommen, und
er hielt mitten im Fluß an und ließ die übrigen an sich
vorüber.
Für den Augenblick wenigstens hatten ihre Leroni die feindlichen Zauberer besiegt.
Bisher war das Wetter auf diesem Feldzug gut
gewesen. Aber als der Tag zu Ende ging, verdunkelte sich der Himmel
mit immer dicker werdenden Wolken, und gegen Abend begann Schnee zu
fallen, leicht, aber ergiebig. Zuerst fielen hin und wieder ein
paar dicke, verklumpte, nasse Flocken, dann wurden sie schärfer und
härter, und sie fielen und fielen und fielen mit idiotischer
Unablässigkeit. Melora, die wieder ihren Esel ritt, wickelte sich
fest in ihren grauen Mantel und zog sich eine Decke über den Kopf.
Die Soldaten holten einer nach dem anderen Schals und Handschuhe
und dicke Kapuzen hervor und ritten mit mißmutigen Gesichtern
dahin. Bard wußte, was sie dachten. Krieg wurde traditionellerweise
im Sommer geführt, und im Winter blieben alle bis auf die
Wahnsinnigen oder Verzweifelten bei ihren eigenen Feuerstellen. Ein
Winterfeldzug brachte ein bestimmtes Maß an Gefahr mit sich. Die
Männer mochten mit einiger Berechtigung sagen, daß sie König Ardrin
wohl dienstpflichtig seien, dies jedoch über Brauch und Recht
hinausging. Es war eben nicht üblich, Soldaten in einen Schneesturm
wie diesen, der sich leicht zu einem Blizzard verstärken konnte,
hineinreiten zu lassen, und deshalb hatte der König kein Recht, es
von ihnen zu verlangen. Wie konnte Bard sie bei der Stange halten?
Zum ersten Mal wünschte er, er hätte nicht hier den Befehl, sondern
reite zu König Ardrins rechter Hand nach Norden auf Hammerfell zu
als Bannerträger seines Souveräns. Für den König war es leicht, mit
Hilfe seines persönlichen Einflusses und seiner Macht treue Dienste
zu erlangen, die über das Übliche hinausgingen. Der König konnte
den Männern Versprechungen machen, und zwar sehr verlockende. Bard
war sich peinlich bewußt, daß er erst siebzehn Jahre zählte, daß er
nichts war als der Bastardneffe des Königs und sein Pflegesohn, daß
er über die Köpfe vieler erfahrenerer Offiziere hinweg befördert
worden war. Wahrscheinlich gab es sogar in den Reihen dieser
Männer, die er selbst für den Feldzug ausgesucht hatte, solche, die
nur darauf warteten, daß er zu Schaden kam, daß er irgendeinen
schrecklichen, nie wiedergutzumachenden Fehler beging. Hatte der
König ihm dies Kommando nur gegeben, damit er sich übernahm, damit
er sich als der grüne, unerfahrene Krieger sah, der er
war?
Trotz seines Triumphs und der Auszeichnung auf dem Schlachtfeld von
Snow Glen war er noch ein Junge. Konnte er diese Mission überhaupt
durchführen? Hoffte der König, daß er versagte, so daß er ihm
Carlina verweigern konnte? Was mochte vor ihm liegen, wenn er
versagte? Würde er degradiert, in Schande nach Hause geschickt
werden?
Er ritt nach vorn, um sich Meister Gareth anzuschließen, der den
unteren Teil seines Gesichts in einen dicken, roten Strickschal
gehüllt hatte, während ihm die Kapuze des grauen Zauberermantels
über die Augen fiel. Bard fragte schroff: »Könnt Ihr gar nichts
gegen dies Wetter unternehmen? Ist das ein beginnender Blizzard
oder nur ein Schneegestöber?«
»Ihr verlangt zuviel von meinen Kräften, Sir«, antwortete der
ältere Mann. »Ich bin ein Laranzu, kein
Gott; das Wetter kann ich nicht befehligen.« Ein Mundwinkel verzog
sich in einem Anflug von Humor zu einem schiefen Lächeln. »Glaubt
mir, Meister Bard, wenn ich das Wetter befehligen könnte, würde ich
es schon meinetwegen tun. Ebenso wie Ihr friere ich und bin vom
Schnee geblendet, und meine Knochen sind älter und fühlen die Kälte
stärker.«
Bard war wütend, daß er seine eigene Unzulänglichkeit eingestehen
mußte. »Die Männer murren, und ich habe ein wenig Angst vor einer
Meuterei. Ein Winterfeldzug - solange das Wetter gut war, machte es
ihnen nichts aus. Aber jetzt - «
Meister Gareth nickte. »Das ist mir klar. Nun, ich will
festzustellen versuchen, wie weit sich dieser Sturm erstreckt und
ob wir bald aus ihm hinauskommen. Doch gehört die Wetter-Magie
nicht zu meinen besonderen Fähigkeiten. Darin ist nur einer der
Laranzu´in seiner Majestät gut, und das
ist Meister Robyl, der mit dem König nach Hammerfell geritten ist.
Er meinte, im Norden am Rand der Hellers, wo die Schneefälle
heftiger sind, werde er nötiger gebraucht. Aber ich werde mein
Bestes tun.«
Und als Bard sich abwandte, setzte er hinzu: »Seid guten Mutes,
Sir. Der Schnee erschwert uns das Vorankommen, aber uns längst
nicht so sehr wie der Karawane mit dem Haftfeuer. Dort müssen sie
all diese Karren und Wagen durch den Schnee schieben, und wenn er
zu tief wird, können sie überhaupt nicht mehr weiter.«
Bard sagte sich, daß er daran hätte selbst denken sollen. Schnee
machte die Karren und Wagen der Karawane unbeweglich, während
leichte Reiterei immer noch durchkommen und kämpfen konnte.
Außerdem, wenn es stimmte, daß zum Schutz der Karawane
Trockenstädter-Söldner angeheuert waren, die aus einem wärmeren
Klima stammten, mochten sie durch den Schnee in Verwirrung geraten.
Bard ritt zu den Männern, hörte sich ihr Murren und ihre Proteste
an und hielt ihnen das vor Augen. Obwohl der Schnee nicht aufhörte
zu fallen und sogar noch dichter wurde, schien der Gedanke sie ein
bißchen aufzumuntern.
Die Wolken und der fallende Schnee wurden jedoch immer dicker, und
nach einem Wort mit Beltran ließ Bard früh haltmachen. Nichts war
dabei zu gewinnen, wenn er murrende Männer zwang, sich durch den
gleichen Schnee vorwärtszumühen, der ihre Beute an Ort und Stelle
festhielt. Nach dem anstrengenden Tag waren die Männer müde und
entmutigt, und einige würden nur ein paar kalte Bissen zu sich
genommen und sich sofort in ihre Decken eingerollt haben. Aber Bard
bestand darauf, daß Feuer angezündet und warmes Essen gekocht
wurde. Er wußte, das tat mehr für die Moral der Männer als alles
andere. Das Lager wirkte auch richtig fröhlich, als einmal die
Flammen von flachen Steinen hochloderten und mit den abgefallenen
Zweigen eines verlassenen Obstgartens - vor ein paar Jahrzehnten
von der Nußfäule verwüstet - genährt wurden. Einer der Männer
brachte eine kleine Sackpfeife zum Vorschein und begann zu spielen,
trauervolle Weisen, die älter waren als die Welt. Die jungen Frauen
schliefen in ihrem gemeinsamen Zelt, aber Meister Gareth gesellte
sich zu den Männern um das Feuer, und nach einer Weile - zwar
protestierte er und sagte, er sei weder Musikant noch Barde - ließ
er sich überreden, ihnen die Geschichte von dem letzten Drachen zu
erzählen. Bard saß neben Beltran im Schatten des Feuers, kaute auf
Trockenobst und hörte mit zu, wie der letzte Drache von einem der
Hastur-Sippe erschlagen worden war und wie alle Vierbeiner und
Vögel in den Hundert Königreichen, als sie mit dem Laran der Tiere spürten, daß der letzte seines
Volkes tot war, ein Klagegeschrei angestimmt hatten, in das sogar
die Banshees einfielen aus Trauer um den letzten des weisen
Schlangengeschlechts … und der Sohn Hasturs selbst, der neben der
Leiche des letzten Drachen auf Darkover stand, hatte gelobt, nie
wieder zum Sport auf irgendein lebendes Wesen Jagd zu machen. Als
Meister Gareth die Geschichte zu Ende erzählt hatte, applaudierten
die Männer und baten um mehr, aber er schüttelte den Kopf und
sagte, er sei ein alter Mann und den ganzen Tag geritten und werde
sich jetzt in seine Decken hüllen.
Bald darauf lag das Lager dunkel und still da. Nur das mit grünen
Zweigen bedeckte kleine rote Auge des Feuers, das man zur
Zubereitung des warmen Breis am Morgen brauchte, knisterte und
beobachtete unter seiner Decke hervor. Ringsumher zeigten dunkle
Dreiecke, wo die Männer in ihren Decken unter wasserfesten Planen
lagen, die sie als niedrige Dächer vor dem immer noch fallenden
Schnee schützten. Es waren mit gegabelten Stöcken gestützte offene
Halbzelte, von denen jedes zwei, drei oder vier Männer beherbergte,
die sich aneinanderdrängten und Decken und Körperwärme teilten.
Beltran lag an Bards Seite und sah merkwürdig klein und jungenhaft
aus. Bard war noch wach. Er blickte in das Feuer und die
weiß-silbernen Streifen, die der Schnee wie blasse Pfeile gegen das
Licht aufblitzen ließ. Irgendwo, nicht weit von ihnen, saß der
Feind mit seinen schweren Karren und Packtieren im Schnee fest.
Neben ihm sagte Beltran leise: »Ich wünschte, Geremy wäre bei uns,
Pflegebruder.«
Bard lachte beinahe lautlos. »Das wünschte ich mir anfangs auch.
Jetzt bin ich nicht mehr so sicher. Vielleicht sind zwei grüne
Jungen mit Befehlsgewalt genug, und Meister Gareths Erfahrung und
Weisheit kommen uns sehr zustatten. Dafür reitet Geremy, der ein
unerfahrener Laranzu ist, mit deinem
Vater, der ein fähiger Kommandant ist … Möglicherweise dachte er,
wenn wir drei zusammen wären, sähe das Ganze zu sehr nach einem der
Jagdausflüge aus, die wir als Jungen unternahmen … «
»Ich denke oft an die Zeit«, sagte Beltran, »als wir drei noch
jünger waren und wie jetzt hinausritten. Wir lagen zusammen und
blickten ins Feuer und redeten von der Zukunft, wenn wir Männer
sein und zusammen ins Feld ziehen würden, in einen richtigen Krieg
und nicht in die Scheinschlachten mit Chervine-Herden … Weißt du
das noch, Bard?«
Bard lächelte in der Dunkelheit. »Das weiß ich noch. Was planten
wir für großartige Feldzüge, wie wollten wir das ganze Land von den
Hellers bis zu den Ufern des Carthon und noch das jenseits des
Meers unterwerfen … Nun, soviel ist wahr geworden von unseren
Träumen, wir reiten alle in den Krieg, genauso, wie wir es
vorhatten, als wir noch kaum wußten, an welchem Ende man ein
Schwert anfassen muß…«
»Und jetzt ist Geremy ein Laranzu, der
mit dem König reitet, und er denkt nur noch an Ginevra, und du bist
des Königs Bannerträger, wegen Tapferkeit ausgezeichnet und verlobt
mit Carlina, und ich … « Prinz Beltran seufzte in der Dunkelheit.
»Nun ja, zweifellos werde ich eines Tages wissen, was ich vom Leben
verlange, und wenn ich es nicht tue, wird mein Vater und König es
mir sagen.«
»Ach, du«, lachte Bard, »eines Tages wird dir der Thron von
Asturias gehören.«
»Das ist keine Sache, über die man lacht«, verwies ihn Beltran, und
seine Stimme klang ernst. »Zu wissen, daß ich nur über meines
Vaters Grab und durch seinen Tod an die Macht kommen werde … Ich
liebe meinen Vater, Bard, und doch glaube ich manchmal, ich werde
wahnsinnig, wenn ich an seinem Schemel stehen und darauf warten
muß, daß ich etwas Richtiges zu tun bekomme … Ich kann nicht einmal
das Königreich verlassen und auf Abenteuer ausziehen, was jedem
anderen Untertan freisteht.« Bard spürte, daß der Jüngere
erschauerte. »Mir ist so kalt, Pflegebruder.«
Einen Augenblick lang hatte Bard das Gefühl, Beltran sei nicht
älter als sein kleiner Bruder, der sich an ihn geklammert und
geweint hatte, als er an den Hof des Königs geschickt wurde.
Unbeholfen klopfte er Beltrans Schulter. »Hier, da hast du noch ein
Stück Decke, ich empfinde die Kälte nicht so stark wie du, das war
schon früher so. Versuch zu schlafen. Morgen kommt es vielleicht
zum Kampf, zu einem richtigen Kampf, nicht zu einer der
Scheinschlachten, an denen wir soviel Spaß hatten, und wir müssen
dafür bereit sein.« »Ich habe Angst, Bard. Ich habe immer Angst.
Warum fürchtet du und Geremy euch nie?«
Bard stieß ein kurzes, schnaubendes Lachen aus. »Wie kommst du auf
den Gedanken, wir fürchteten uns nicht? Wie es bei Geremy ist, weiß
ich nicht, aber ich hatte Angst genug, um meine Hosen wie ein Baby
naß zu machen, und zweifellos wird es wieder so kommen. Nur habe
ich, wenn es geschieht, nicht die Zeit und hinterher nicht den
Wunsch, darüber zu reden. Mach dir keine Sorgen, Pflegebruder. Ich
weiß doch, daß du dich bei Snow Glen gut gehalten hast.«
»Warum hat dann mein Vater dich und nicht mich befördert?«
Bard setzte sich in der Dunkelheit halb auf und
starrte ihn all. »Beißt dieser Floh dich immer noch’? Beltran, mein
Freund, dein Vater weiß, daß du alles hast, was du brauchst. Du
bist sein Sohn und sein legitimer Erbe, du reitest an seiner Seite,
deine Stellung, nur einen Atemzug vom Thron entfernt, ist bereits
anerkannt. Er hat mich ausgezeichnet, weil ich sein Pflegesohn und
ein Bastard bin. Bevor er mir den Befehl über seine Männer geben
konnte, mußte er mich zu jemandem machen, den er von Rechts wegen
befördern durfte. Und indem er mich beförderte, schärfte er ein
Werkzeug, das er zu benützen wünschte, mehr nicht. Es war kein
Zeichen seiner Liebe oder seiner Rücksichtnahme! Bei dem kalten
Wirbelwind in Zandrus dritter Hölle, ich weiß es, wenn du es nicht
weißt! Bist du ein solcher Narr, daß du auf mich eifersüchtig bist,
Beltran? «
»Nein«, antwortete Beltran nachdenklich. »Nein, ich glaube nicht,
Pflegebruder.« Und nach einer Zeit, als er Beltrans ruhiges Atmen
hörte, schlief Bard ein.
4
Am Morgen schneite es immer noch, und der
Himmel war dunkel. Bard schwand der Mut, als er die Männer
verdrossen ihrer Arbeit nachgehen sah, dem Versorgen der Pferde,
dem Kochen eines großen Topfes Brei, dem Aufpacken und Satteln für
den Weiterritt. Er hörte Gemurmel des Inhalts, König Ardrin habe
kein Recht, sie im Winter hinauszusenden. Dieser Feldzug sei das
Werk seines Pflegesohns, der keine Ahnung von Brauch und Sitte
habe. Wer habe je von einer Unternehmung wie dieser gehört, wenn
der Winter vor der Tür stand? »Macht schon, Leute«, drängte Bard.
»Wenn die Trockenstädter in diesem Wetter reiten können, sollen wir
dann verzagen und es zulassen, daß sie das Haftfeuer ins Land
bringen, das gegen unsere Dörfer und unsere Familien geschleudert
werden soll?«
»Trockenstädtern ist alles zuzutrauen«, brummte einer der Männer.
»Als nächstes werden sie im Frühling die Ernte einfahren! Krieg ist
ein Geschäft für den Sommer! «
»Und weil sie glauben, wir werden gemütlich zu Hause bleiben,
halten sie es für ungefährlich, zuzuschlagen«, wandte Bard ein.
»Wollt ihr zu Hause bleiben und sie angreifen lassen?«
»Ja, Warum sollen wir es nicht tun und sie zu uns kommen lassen?
Die Verteidigung unserer Heime gegen einen Angriff ist etwas ganz
anderes, als hinauszuziehen und nach Mühsal geradezu zu suchen!«
begehrte ein stämmiger Veteran auf.
Aber obwohl viel gemurrt und gebrummt wurde, gab es doch keine
Widersetzlichkeit oder offene Meuterei. Beltran war blaß und still.
Bard dachte an ihr Gespräch in der vergangenen Nacht und sagte
sich, daß der Junge Angst hatte. Es war leicht, in Beltran den
.Jüngeren zu sehen, obwohl in Wahrheit nur ein halbes Jahr zwischen
ihnen lag. Bard war immer soviel größer als seine Pflegebrüder
gewesen, immer der Stärkste, der Beste beim Schwertkampf und Ringen
und Jagen, ihr unbezweifelter Anführer.
Deshalb suchte er eine Gelegenheit, mit Beltran über seine
Besorgnis zu sprechen, die Männer könnten meutern, und ihn zu
bitten, zwischen ihnen zu reiten und festzustellen, in welcher
Stimmung sie sich befanden.
»Du bist ihr Prinz, und du repräsentierst den Willen ihres Königs.
Es mag ein Zeitpunkt kommen, zu dem sie mir nicht mehr gehorchen
werden, aber sie werden nicht bereit sein, sich dem eigenen Sohn
ihres Königs zu widersetzen«, redete er ihm schuldbewußt ein.
Beltran blickte mit brummigem Gesicht zu Bard auf. Sollte er
seinerseits Befehle von Bard annehmen? Aber schließlich nickte er
und ließ sich von der Spitze zurückfallen, um neben dem einen und
anderen der Männer herzureiten, ihnen Fragen zu stellen und mit
ihnen zu sprechen. Bard beobachtete ihn und dachte, über dieser
Aufgabe habe Beltran vielleicht seine Ängste vergessen - und die
aufrührerische Stimmung unter den Männern werde sich angesichts der
mitfühlenden Teilnahme ihres Prinzen vielleicht legen.
Und immer noch fiel Schnee. Er reichte jetzt bis zu den
Sprunggelenken der Pferde, und allmählich machte Bard sich ernste
Sorgen, ob die Tiere durchkommen würden. Er bat Meister Gareth, den
Kundschaftervogel auszusenden, erhielt jedoch die schon halbwegs
erwartete Antwort, in solchem Wetter werde er nicht
aufsteigen.
»Vernünftiges Tier«, brummte Bard. »Ich wünschte, ich könnte es ihm
gleichtun! Doch gibt es eine andere Möglichkeit herauszufinden, wie
weit die Karawane von uns entfernt ist und ob wir sie heute noch
treffen werden?«
Meister Gareth antwortete: »Ich werde Mirella fragen. Aus diesem
Grund ist sie ja bei uns, daß sie das Gesicht benutzt. «
Bard blickte zu Mirella hin. Im rieselnden Schnee saß sie auf ihrem
Pferd. Durch die dick beschneiten Zöpfe leuchtete die Kupferfarbe
ihres Haares. Sie starrte in ihren Kristall. Bläuliches Licht
spiegelte sich auf ihrem Gesicht wider. Das einzige Licht an diesem
scheußlich trüben Tag schienen der blaue Stein und die Flamme
ihres kupfrigen Haars zu sein. Sie war mit
Mantel und Schals verhüllt, aber diese konnten die schlanke Anmut
ihres Körpers nicht verstecken. Wieder einmal ertappte Bard sich
dabei, daß seine Gedanken bei ihrer Schönheit verweilten.
Zweifellos war sie das schönste junge Mädchen, das er je gesehen
hatte. Verglichen mit ihr war Carlina ein blasser Stock. Doch
Mirella war völlig außerhalb seiner Reichweite, sakrosankt, eine
Leronis, die des Gesichts wegen
Jungfräulichkeit gelobt hatte. Er sagte sich, mit seiner Gabe
könnte er sich vergewissern, daß es nicht gegen ihren Willen sei. Er könnte sie
zwingen, freiwillig in sein Bett zu kommen …
Aber damit würde er sich Meister Gareth zum Feind machen. Verdammt,
es gab genug willige Weiber in dieser Welt, und er war mit einer
Prinzessin verlobt, und auf jeden Fall war jetzt nicht die richtige
Zeit, überhaupt an Frauen zu denken!
Mirella seufzte und öffnete die Augen. Auf ihrem Gesicht verblaßte
der blaue Schein, und ihr Blick ruhte auf Bard, scheu, ernst, so
direkt, daß Bard sich ein wenig verlegen fragte, ob sie lesen
könne, was er gerade gedacht hatte.
Sie sagte jedoch nur mit ihrer schwebenden Stimme: »Sie sind nicht
weit von uns entfernt, vai dom. Ein Ritt von drei Stunden über
jenen Grat dort … « Sie wies die Richtung, aber der Grat, von dem
sie sprach, war im fallenden Schnee unsichtbar. »Sie haben Lager
gemacht, weil der Schnee dort noch tiefer ist und ihre Karren nicht
weiterkönnen. Sie stecken bis zu den Naben der Räder fest, und die
Zugtiere können sich nicht mehr bewegen. Eins hat im Geschirr ein
Bein gebrochen, und die anderen versuchten durchzugehen und traten
sich beinahe gegenseitig zu, Tode. Wenn wir so weiterreiten wie
jetzt, werden wir sie bald nach Mittag erreichen.«
Bard ritt davon, um diese Nachricht an seine Männer weiterzugeben.
Sie waren darüber gar nicht erfreut.
»Das heißt, wir müssen in tiefem Schnee kämpfen! Und was tun wir
mit der Karawane, nachdem wir sie erbeutet haben, wenn die Zugtiere
unbrauchbar sind?« erkundigte ein alter Veteran sich mißmutig. »Ich
schlage vor, wir lagern hier und warten auf Tauwetter, bei dem wir
die Wagen leichter nehmen können. Wenn sie unfähig sind
weiterzuziehen, warten sie dort auf uns! «
»Uns werden das Essen und das Futter für die Pferde ausgehen«, gab
Bard zu bedenken, »und es ist zu unserem Vorteil, wenn wir den Zeitpunkt der Schlacht bestimmen. Los, wir
wollen so früh wie möglich dort sein! «
Sie ritten weiter, und immer noch fiel Schnee. Bard betrachtete
stirnrunzelnd die grau verhüllten Leroni. Schließlich ritt er nach vorn und fragte
Meister Gareth: »Wie sollen wir die Frauen während der Schlacht
schützen, Sir? Wir haben keinen Mann übrig, der sie bewachen
kann.«
Ach habe es Euch bereits gesagt«, antwortete Meister Gareth. »Diese
Frauen sind fähige Leroni, sie können
für sich selbst sorgen. Melora ist schon in einer Schlacht gewesen,
und obwohl das auf Mirella nicht zutrifft, habe ich doch keine
Angst um sie.«
»Aber diese Männer, gegen die wir kämpfen müssen, sind von Söldnern
aus den Trockenstädten begleitet«, erklärte Bard. »Und wenn Eure
Tochter und Eure Pflegetochter gefangengenommen werden - ob sie nun
Leroni sind oder nicht -, wird man sie
in Ketten fortführen und an ein Bordell in Daillon
verkaufen.«
Melora schaukelte auf ihrem Esel näher. »Ängstigt Euch nicht um
uns, vai dom « Sie legte die Hand auf
den kleinen Dolch, der ihr unter dem Mantel am Gürtel hing. »Meine
Schwester und ich werden nicht lebend in die Hände der
Trockenstädter fallen.«
Die ruhige, sachliche Art, in der sie sprach, schickte einen kalten
Schauer über Bards Rückgrat. Merkwürdigerweise spürte er eine Art
Verwandtschaft zwischen sich und dieser Frau. Auch er hatte schon
früh gelernt, daß ihn in einer Schlacht der Tod oder Schlimmeres
ereilen konnte, und der Unterton in Meloras Stimme ließ ihn an
seine eigenen ersten Kämpfe denken. Unwillkürlich lächelte er sie
an, mit einem schmallippigen, spontanen Grinsen. Er sagte: »Die
Göttin möge verhüten, daß es dazu kommt, Damisela. Aber ich habe
nicht gewußt, daß es Frauen gibt, die die Fähigkeit zu solchen
Entschlüssen und soviel Mut im Krieg haben.«
»Das ist kein Mut«, erwiderte Melora mit ihrer süßen Stimme. »Es
ist nur so, daß ich die Ketten und Bordelle der Trockenstädte mehr
fürchte als den Tod. Der Tod, so habe ich gelernt, ist ein Tor in
ein anderes und besseres Leben, und das Leben hätte keine Freude
mehr für mich, wenn ich in Daillon eine Hure in Ketten wäre. Und
mein Dolch ist sehr scharf, so daß ich mein Leben schnell und ohne
viel Schmerz beenden könnte - ich habe wohl ein bißchen Angst vor
Schmerzen, aber nicht vor dem Tod.«
»Ich sollte Euch dazu einsetzen, meine Männer zu ermutigen,
Mistress Melora.« Bard lenkte sein Pferd neben ihren Esel. »Ich
habe noch nie eine Frau mit soviel Mut kennengelernt.« Er dachte
darüber nach, ob Carlina imstande wäre, auf diese Weise zu
sprechen, wenn sie in die Schlacht ritte. Er wußte es nicht. Er
hatte nie daran gedacht, sie zu fragen.
Seit seinem fünfzehnten Jahr hatte Bard viele Frauen intim gekannt.
Und doch wurde ihm jetzt plötzlich klar, daß er in Wirklichkeit
sehr wenig darüber wußte, wie Frauen sind. Er hatte ihre Körper
gekannt, ja, aber nichts über alles andere an ihnen erfahren. Er
war nie auf die Idee gekommen. daß es für ihn an einer Frau irgend
etwas Interessantes außer dem Geschlechtlichen geben
könne.
Und doch, er erinnerte sich, daß er, als sie alle Kinder gewesen
waren, mit Carlina ebenso frei gesprochen hatte wie mit seinen
Pflegebrüdern. Er hatte eine Menge Zeit mit ihr zusammen verbracht,
hatte ihre Lieblingsspeisen und die Lieblingsfarben ihrer Kleider
und Bänder gekannt, ihre Angst vor Eulen und Nachtfliegern-, ihren
Abscheu vor Nußbrei und Samenkuchen, vor rosa Kleidern und Schuhen
mit überhohen Absätzen. Er hatte gewußt, wie sehr es sie
langweilte, stundenlang bei einer Näharbeit zu sitzen. Er hatte sie
wegen der Schwielen an ihren Fingern getröstet, als sie die
Rryl und die große Harfe zu spielen
lernte, und ihr bei ihren Aufgaben geholfen.
Als er jedoch ein Mann geworden war und begonnen hatte, an Frauen
in Begriffen der Lust zu denken, hatte er sich Carlina entfremdet.
Er wußte nicht, welch eine Art von Frau aus dem Kind geworden war.
Was ihm jetzt noch schlimmer schien, es hatte ihn auch gar nicht
interessiert. Er hatte in ihr kaum etwas anderes als seine
versprochene Frau gesehen. In letzter Zeit hatte er sich oft
vorgestellt, daß sie zusammen im Bett waren. Aber irgendwie war es
ihm nie eingefallen, mit ihr zu reden, gerade so, wie er es jetzt
mit dieser seltsamen, unschönen Leronis
tat, die eine so süße Stimme hatte.
Es war beunruhigend; er hatte kein besonderes Interesse daran, mit
dieser Frau zu schlafen. Tatsächlich stieß ihn der Gedanke ziemlich
ab. Sie war so fett und unbeholfen und häßlich-, sie war eine der
wenigen Frauen, die seine Mannheit kein bißchen erregten. Und
trotzdem hatte er den Wunsch, sich weiter mit ihr zu unterhalten.
Er fühlte sich ihr auf merkwürdige Weise enger verbunden als
irgendwem in vielen Jahren, seine Pflegebrüder ausgenommen. Er
blickte nach vorn, wo Mirella ritt, schweigend und distanziert und
bezaubernd hübsch, und wie zuvor quoll das Begehren in ihm auf.
Dann sah er wieder zu der schwergebauten, plumpen Melora hin, die
auf ihrem Esel - wieder der unbarmherzige Vergleich - wie ein Sack
Mehl hockte. Warum, fragte er sich, konnte die schöne Mirella nicht
eine weiche Stimme haben und warm und freundlich wie die hier sein,
warum ritt sie nicht an seiner Seite und sah ihm mit soviel
teilnehmendem Interesse in die Augen? Meloras Haar hatte fast die
gleiche Flammenfarbe wie das Mirellas, und hinter dem Mondgesicht
mit den drallen Wangen ließ sich die gleiche zarte Knochenstruktur
ihnen. Er fragte: »Ihr und Mistress Mirella seht Euch sehr ähnlich.
Ist sie Eure Schwester oder Halbschwester?«
»Nein«, antwortete Melora, »aber verwandt sind wir; ihre Mutter ist
meine älteste Schwester. Ich habe noch eine Schwester, die
ebenfalls eine Leronis ist - wir alle
sind mit Laran begabt. Seid Ihr nicht
der Sohn von Dom Rafael di Asturien? Nun, meine jüngste Schwester
Melisandra ist eine der Frauen Eurer Pflegemutter; sie trat vor
drei Jahreszeiten in den Dienst Domna Jeranas. Habt Ihr sie dort
nie gesehen?«
»Ich bin seit vielen Jahren nicht mehr zu Hause gewesen«, erklärte
Bard kurz.
»Ach, das ist traurig«, meinte sie voller Mitgefühl, aber Bard
wünschte das Thema nicht weiter zu verfolgen.
Er fragte: »Seid Ihr schon einmal in einer Schlacht gewesen, daß
Ihr so ruhig und furchtlos seid?«
»0 ja, ich war bei der Schlacht von Snow Glen mit den
Kundschaftervögeln an der Seite meines Vaters. Ich habe gesehen,
wie Ihr das Banner des Königs erhieltet.«
»Ich wußte nicht, daß Frauen dabei waren - nicht einmal unter den
Leroni. «
»Aber ich habe Euch gesehen«, berichtete Melora, »und ich war auch
nicht die einzige Frau dort. Eine Abteilung der Entsagenden, der
geschworenen Schwesternschaft vom Schwert, nahm am Kampf teil und
schlug sich tapfer. Wären es Männer gewesen, hätten sie ebenso wie
Ihr Ehre und das Lob des Königs gewonnen. Als die Feinde auf der
südlichen Flanke mit Äxten durchbrachen, hielten sie ihre
Schildreihe gegen sie, bis ihnen Reiter unter Hauptmann Syrtis zu
Hilfe kommen konnten. Zwei von ihnen fielen, und eine hat eine Hand
verloren. Aber sie hielten die Flanke.«
Bard verzog das Gesicht. »Ich habe von den Entsagenden gehört; ich
wußte nicht, daß König Ardrin sich herablassen würde, sie in der
Schlacht einzusetzen! Es ist schlimm genug, daß sie zusammen mit
Männern Feuerwache halten. Ich bin nicht der Ansicht, daß der Platz
einer Frau auf dem Schlachtfeld ist!«
»Ich auch nicht«, erklärte Melora. »Aber ich bin auch nicht der
Meinung, daß der Platz eines Mannes auf dem Schlachtfeld ist, und
mein Vater denkt ebenso. Er würde lieber zu Hause bleiben, die
Laute und die Rryl spielen und unsere
Sternensteine benutzen, um Krankheiten zu heilen und Metalle aus
der Erde zu fördern. Aber solange es Kriege gibt, müssen wir
kämpfen, wie unser Herr und König es befiehlt, Meister Bard.«
Bard lächelte nachsichtig. »Frauen verstehen
diese Dinge nicht. Der Krieg ist Sache des Mannes, und Männer sind
nie glücklicher als beim Kampf, glaube ich. Doch den Frauen sollte
es ermöglicht werden, zu Hause zu bleiben und Lieder zu machen und
unsere Wunden zu heilen.«
»Glaubt Ihr wirklich, die Aufgabe eines Mannes sei der Kampf?«
fragte Melora. »Nun, ich glaube es nicht, und ich hoffe, es wird
ein Tag kommen, an dem die Männer vom Krieg ebenso frei sind, wie
Ihr es den Frauen wünscht.«
»Ich bin Soldat, Damisela«, sagte Bard.
»In einer Frauen-Welt des Friedens hätte ich keinen Platz und keine
Beschäftigung. Aber wenn Ihr den Frieden so liebt, warum überlaßt
Ihr den Krieg dann nicht den Männern, die ihn genießen?«
»Weil«, entgegnete sie temperamentvoll, »ich nicht viele Männer
kenne, die den Krieg wirklich genießen! «
»Ich schon, Damisela. «
»Wirklich? Oder liegt es nur daran, daß Ihr kaum Gelegenheit zu
etwas anderem gehabt habt?« fragte Melora. »Es hat eine Zeit
gegeben, unter den Hastur-Königen, als alle diese Länder in Frieden
lebten. Aber jetzt haben wir hundert kleine Königreiche, die
jahrein, jahraus miteinander kämpfen, weil sie sich nicht einigen
können! Glaubt Ihr wirklich, das sei der natürliche Lauf der Welt?«
Bard lächelte. »Die Welt wird gehen, wie sie will, Mistress Melora,
und nicht, wie Ihr oder ich es gern hätten.«
»Aber«, wandte Melora ein, »die Welt geht, wie die Menschen sie
gehen machen, und es steht den Menschen frei, sie anders gehen zu
machen, wenn sie den Mut dazu haben! «
Er lächelte sie an. Jetzt wirkte sie richtig hübsch mit ihren
funkelnden Augen, und die Haut ihres runden Mondgesichts war wie
frische Schlagsahne. Auf ihre eigene Art, das fiel ihm jetzt auf,
hatte .sie eine warmherzige und sinnliche Persönlichkeit. Ihr
schwerer Körper mochte warm und entgegenkommend sein. Bestimmt
würde sie nicht wimmern wie diese dumme Puppe Lisarda, sondern
mutig ihre Meinung vertreten. Er sagte: »Vielleicht wäre es eine
bessere Welt, wenn Ihr ihren Lauf bestimmen könntet, Mistress
Melora. Schade, daß Frauen keinen Teil an den Entscheidungen haben,
die unsere Welt gestalten.«
Beltran ritt zu ihnen heran. Bard entschuldigte sich bei Melora und
ritt mit dem Prinzen nach vorn.
»Meister Gareth sagt, sie lagern gleich jenseits dieses Waldes«,
berichtete Beltran. »Wir sollten hier haltmachen, damit die Pferde
sich ausruhen und die Männer gut essen können. Eins der Mädchen hat
doch das Gesicht. Dann können wir uns vergewissern, wie wir am
besten angreifen.«
»Richtig.« Bard gab den Befehl, daß die Männer einen
enggeschlossenen Kreis bilden und sich auf einen eventuellen
Angriff gefaßt machen sollten. Es war nicht unmöglich, daß die
Trockenstädter, wenn die Karawane festsaß, losritten und die
Initiative ergriffen.
»Möglich«, meinte Beltran, »aber nicht wahrscheinlich. Der Schnee
wird ihnen noch weniger gefallen als uns. Und sie müssen die
Karawane verteidigen.« Er stieg ab und suchte in seinen
Satteltaschen nach dem Futterbeutel für sein Pferd. »Ich habe
gesehen, daß du mit einer von unseren Leroni schöngetan hast. Du mußt wirklich ein
unverbesserlicher Weiberheld sein, wenn du Lust darauf hast, ein
Wort zu dieser fetten Kuh zu sagen! Wie dumm sie dreinblickt!« Bard
schüttelte den Kopf. »Oh, sie ist in ihrer eigenen Art durchaus
attraktiv, und sie hat eine süße Stimme. Und was einer auch von ihr
sagen mag, dumm ist sie ganz bestimmt nicht.«
Beltran lachte ironisch auf. »Wenn ich dir zusehe, glaube ich
allmählich an die Wahrheit des alten Sprichworts, daß alle Frauen
gleich sind, wenn die Lampe gelöscht ist, denn du spielst den
Galanten wirklich bei allem, was Röcke trägt! Lechzt du so nach
weiblicher Gesellschaft, daß du dich nach einer fetten, häßlichen
Leronis verzehrst?«
Bard entgegnete aufgebracht: »Ich gebe dir mein Wort, daß ich mich
nicht nach ihr verzehre. Meine Gedanken
beschäftigen sich im Augenblick ausschließlich mit der Schlacht,
die jenseits dieses Hügels auf uns wartet, und der Frage, ob wir
gegen Haftfeuer oder Zauberei werden zu kämpfen haben! Ich erweise
ihr Höflichkeit, weil sie Meister Gareths Tochter ist, mehr nicht!
Um Himmels willen, Pflegebruder, richte deine Aufmerksamkeit auf
unsere Mission, nicht auf meine Mängel! «
Bards Helm hing an seinem Sattelhorn. Er hakte ihn los, setzte ihn
auf und befestigte den Lederriemen, wobei er sorgfältig den
Kriegerzopf zurechtstrich. Beltran folgte seinem Beispiel. Sein
Gesicht war heiß, und Bard erinnerte sich an ihr Gespräch in der
Nacht und empfand für einen Augenblick Mitgefühl. Aber dafür hatte
er jetzt keine Zeit. Er ritt an der Reihe seiner Männer zurück,
überprüfte die Ausrüstung jedes einzelnen und sprach mit jedem ein
Wort. Sein Magen verkrampfte sich, und er fühlte sich wie immer vor
einer Gefahr angespannt.
»Wir werden uns dem Gipfel jenes Hügels so weit nähern, wie wir
können, ohne gesehen zu werden«, ordnete er an, »und dort warten,
bis Meister Gareth uns das Zeichen gibt. Dann stürzen wir uns den
Hang hinunter und auf sie und versuchen, sie zu überrumpeln.« Einer
der Männer brummte: »Wenn ihre Laranzu’in alle schlafen!« Bard sagte: »Wenn sie
uns durch Kundschaftervögel oder Zauberei beobachten, gelingt uns
der Überraschungsangriff vielleicht nicht ganz. Aber sie können
nicht im voraus wissen, wie viele wir sind oder wie entschlossen
wir kämpfen werden! Denkt daran, Männer, es sind Söldner aus den
Trockenstädten, dieser Krieg bedeutet ihnen nichts, und der Schnee
ist unser bester Verbündeter, weil sie nicht daran gewöhnt
sind.«
»Wir auch nicht«, murmelte ein Mann weiter hinten. »Verständige
Männer kämpfen nicht im Schnee! «
»Möchtest du lieber das Haftfeuer durchkommen lassen? Wenn sie im
Winter Haftfeuer transportieren können, dann können wir es
erbeuten«, sagte Bard scharf. »Und jetzt wird nicht mehr geredet,
Männer, sie könnten uns hören, und ich möchte sie überrumpeln, so
gut es uns eben gelingt.«
Er ritt vor zu Meister Gareth. »Versucht festzustellen, wie viele
Männer die Wagen bewachen.«
Meister Gareth wies auf Mirella. »Das habe ich bereits, Sir. Ich
kann nicht mehr als fünfzig zählen. Dabei sind die Wagenlenker
nicht mitgerechnet, die auch bewaffnet sein können, aber alle Hände
voll mit den Tieren zu tun haben werden.«
Bard nickte. Er winkte zwei erfahrene Männer, die besten Reiter in
der Gruppe, heran. »Ihr beiden reitet los, kurz bevor wir
angreifen. Deckt euch mit euren Schilden und reitet an die Spitze
des Zuges. Schneidet die Tiere los und jagt sie nach hinten. Das
wird weitere Verwirrung schaffen. Gebt acht, daß ihr nicht von
Pfeilen getroffen werdet.« Sie nickten. Es waren tüchtige Männer,
die schon an vielen Feldzügen teilgenommen hatten, und beide trugen
die rote Schnur um den Kriegerzopf gewickelt. Einer rückte sich den
Helm auf dem Kopf zurück, grinste und lockerte den Dolch, der ihm
am Gürtel hing. »Der da ist für solche Arbeit besser als ein
Schwert.«
»Meister Gareth«, sagte Bard, »Ihr habt Euer Teil getan, und gut
getan. Ihr mögt mit den Frauen hierbleiben. Keinesfalls braucht Ihr
mit uns den Berg hinunter zum Angriff zu reiten. Wenn sie Zauberei
gegen uns einsetzen, benötigen wir Euch für den Gegenzauber. Aber
in der Schlacht seid Ihr mehr als nutzlos.«
»Sir«, antwortete der Laranzu, »ich
weiß, welche Rolle mir in einer Schlacht zufällt. Und meine Tochter
und meine Pflegetochter wissen ebenfalls Bescheid. Mit allem
Respekt, Sir, kümmert Euch um Eure Soldaten und überlaßt meine
Angelegenheiten mir.«
Bard zuckte die Schultern. »Auf Eure Verantwortung, Sir. Hat der
Kampf einmal begonnen, haben wir keine Zeit mehr für Euch.« Er
begegnete Meloras Blick, und plötzlich beunruhigte ihn der Gedanke,
daß sie auf ihrem Eselchen, bis auf einen Dolch unbewaffnet, mitten
hinein ins Kampfgetümmel reiten würde. Aber was konnte er tun? Sie
hatte es hinreichend klargemacht, daß sie seinen Schutz nicht
brauchte.
Trotzdem sah er sie besorgt an, und die Furcht wuchs in ihm. Sie
durchpulste ihn wie ein lebendes Wesen, wurde zu nacktem,
unvernünftigem Entsetzen. Er sah, wie ihr bei lebendigem Leib das
Fleisch von den Knochen geschnitten wurde, sah sie in Ketten
weggezerrt, sah Trockenstädter-Räuber um ihren verstümmelten Körper
streiten, sah seinen Pflegebruder Beltran fallen … Er hörte sich
vor Entsetzen stöhnen. Einer der Männer im Glied schrie mit hoher,
panikerfüllter Stimme:
»0 nein - seht, da fliegt er, der Dämon … «
Bard warf den Kopf zurück und sah Dunkelheit über ihnen schweben,
eine Dunkelheit mit gräßlichen Klauen, und sie fuhr auf sie nieder,
nieder. Er hörte Mirella aufschreien … Flammen ergossen sich über
sie, und er wich zurück, spürte den versengenden Atem des Feuers.
Plötzlich wurde er sich der Realität bewußt. Nichts roch verbrannt
oder verkohlt.
»Bleibt im Glied, Männer!« rief er. »Es ist eine Illusion, ein
Schauspiel, um Kinder zu ängstigen … nicht schlimmer als ein
Feuerwerk beim Mittsommerfest! Haha, ist das das Beste, was sie
fertigbringen? Wenn sie könnten, würden sie einen ganzen Wald in
Brand stecken, aber das da kann niemanden verletzen, niemand wird
im Schnee verbrennen -vorwärts! « Er wußte, Aktion war das beste
Mittel, die Illusion abzuschütteln. »Angriff! Den Berg hinunter,
Männer! « Er bohrte seiner Stute die Fersen in die Weichen. Sie
fiel in Galopp. Oben auf dem Hügel angelangt, konnte er die Wagen
endlich sehen. Es waren vier, und seine Männer stürmten den Abhang
hinunter, schnitten die Packtiere los und schlugen mit ihren langen
Peitschen auf sie ein. Die Tiere brüllten und setzten sich in
schwerfälligen Galopp, und einer der Karren schwankte und fiel
krachend um. Bard stieß einen Kriegsruf aus und ritt weiter. Ein
Trockenstädter, ein großer, blasser Mann mit lose fliegendem
blondem Haar, zielte mit einem langen Speer nach Bards Pferd. Bard
bückte sich und erstach ihn. Aus dem Augenwinkel sah er, daß
Beltran einen der Trockenstädter niederritt. Der Mann fiel, wälzte
sich auf dem Boden und schrie unter den Pferdehufen. Dann verlor
Bard seinen Pflegebruder aus den Augen, da ihn drei der Söldner auf
einmal angriffen.
Später konnte er sich an keine Einzelheit der Schlacht mehr
erinnern, nur an Lärm, an Blutlachen auf dem Schnee, erstickende
Kälte und an den immerfort weiter fallenden Schnee. Irgendwann
stolperte sein Pferd, und er sprang aus dem Sattel und kämpfte zu
Fuß weiter. Er hatte keine Vorstellung davon, mit wie vielen er
kämpfte oder ob er sie tötete oder nur zurückschlug. Einmal sah er
Beltran im Gefecht mit zwei riesigen Söldnern. Bard rannte durch
den Schnee, fühlte die Nässe in seine Stiefel eindringen, zog
seinen Dolch und erstach den einen der Männer. Dann riß das
Kampfgetümmel ihn und Beltran wieder auseinander. Er stand auf dem
ersten der Wagen und rief seinen Männern zu, sich bei den Wagen zu
sammeln und sie zu halten. Rings um ihn tobte der Schlachtenlärm.
Schwerter und Dolche klirrten, verwundete Männer und sterbende
Pferde schrien. Und dann war alles still, und Bard sah seine Männer
sich durch den Schnee auf die Wagen zuarbeiten und sich rings um
sie versammeln. Mit Erleichterung stellte er fest, daß Beltran,
wenn sein Gesicht unter dem Helm auch blutete, noch auf den Füßen
war. Er sandte einen Mann ab, ihre Toten und Verwundeten zu zählen,
und ging mit Meister Gareth, die Wagen zu inspizieren. Wenn jetzt
die Fässer Trockenobst für die Proviantmeister der Armee statt des
erwarteten Haftfeuers enthielten, würde er sich wie ein verdammter
Idiot vorkommen!
Er kletterte auf einen der Wagen, öffnete vorsichtig ein Faß und
schnüffelte. Ein beißend scharfer Geruch stieg ihm in die Nase. Er
nickte grimmig. Ja, das war Haftfeuer, das bösartige Zeug, das,
einmal angezündet, alles verbrannte, was es berührte, sich durch
Kleider und Fleisch und Knochen fraß … In der Natur kam es
normalerweise nicht vor; es wurde durch Zauberei hergestellt.
Wahrscheinlich hatten die Trockenstädter geglaubt, im Schnee werde
es sich nicht entzünden. Da hatten er und seine Männer Glück
gehabt. Oder vielleicht war ihnen gar nicht gesagt worden, was sie
bewachten. Manchmal wurden in Haftfeuer getauchte Pfeile dazu
benutzt, Pferde unter den Reitern zu treffen. Das war eine grausame
und unsoldatische Methode, denn die Pferde wurden von dem Schmerz
wahnsinnig und gingen durch, und dadurch entstand mehr Schaden als
durch das Feuer
Bard teilte ein halbes Dutzend nicht oder nur leicht verwundeter
Männer dazu ein, die Wagen zu bewachen, und stellte sie unter
Meister Gareths Befehl. Mit Erleichterung sah er, daß Mclora
unverletzt war, doch ihr Gesicht war mit Blut verschmiert. Sie
sagte ruhig: »Ein Mann griff mich an, und ich erstach ihn. Es ist
sein Blut, nicht meins.«
Drei weiteren Männern befahl Bard, die durchgegangenen Pferde
zusammenzutreiben. Den Trockenstädtern, die am schwersten verwundet
waren, wurde ein schneller Tod gegeben. Wer von ihnen noch hatte
reiten oder laufen können, war verschwunden.
Bard wollte gerade darangehen, die wieder eingefangenen Packtiere
zu zählen - denn ohne sie konnten sie die Wagen nicht wegschaffen
-, als hinter ihm ein Kriegsruf gellte und er sich einem großen
Trockenstädter gegenübersah, der ihn mit Schwert und Dolch angriff.
Offenbar war der Mann hinter den Wagen versteckt gewesen. Er
blutete aus einer großen Wunde am Bein, aber er parierte Bards
Schwertstreich und unterlief seine Deckung mit dem Dolch. Bard
gelang es, ihn abzuwehren, das Schwert niedersausen zu lassen und
seinen eigenen Dolch aus dem Gürtel zu reißen. Dann hielten sie
sich in tödlicher Umklammerung, taumelnd, schwankend, die Dolche
erhoben. Der Dolch des Söldners bedrohte Bards Kehle. Mit seiner
freien Schwerthand stieß Bard die beiden Dolche in die Luft, fing
seinen eigenen beim Niederfallen auf und trieb ihn seinem Gegner
tief in die Rippen. Der Trockenstädter schrie auf und starb,
während er noch weiterkämpfte.
Bard zitterte, und ihm war übel von dem Schock des plötzlichen
Angriffs. Er nahm sein Schwert auf und steckte es in die Scheide.
Dann bückte er sich, um seinen Dolch aus der Wunde zu ziehen. Aber
er steckte fest in einem der Rückenwirbel und widerstand allen
Bemühungen, ihn loszureißen. Schließlich lachte Bard hart auf und
sagte: »Begrabt ihn mit ihm. Soll er ihn mit sich in Zandrus Höllen
nehmen. Zum Ausgleich nehme ich mir seinen.« Er hob den Dolch des
Trockenstädters auf, eine wunderschön verzierte Waffe mit einer
Klinge aus dunklem Metall und einem mit ziseliertem Kupfer und
grünen Edelsteinen besetztem Heft. Anerkennend betrachtete er den
Dolch. »Er war ein tapferer Mann«, sagte er und ließ den Dolch in
seine eigene Scheide gleiten.
Sie brauchten den Rest des Tages, um die Zug- und Packtiere
zusammenzutreiben und die drei Männer, die sie verloren hatten, zu
begraben. Sieben weitere waren mehr oder weniger schwer verwundet.
Einer von ihnen, erkannte Bard voller Kummer, würde den langen
Rückweg nach Asturias durch den Schnee nicht überleben. Meister
Gareth hatte eine Schenkelwunde davongetragen, behauptete jedoch,
wahrscheinlich werde er am nächsten Tag reiten können. Und
währenddessen fiel der Schnee still und mit gnadenloser
Gerechtigkeit immer weiter. Der kurze Herbsttag wurde schnell zur
Nacht. Bards Männer durchstöberten die Wagen nach den besten
vorhandenen Vorräten und kochten ein Festmahl. Eins der Packtiere
hatte ein Bein gebrochen, und ein Mann, der Erfahrung als Metzger
hatte, schlachtete es fachgerecht, worauf das Fleisch über einer
Feuergrube geröstet wurde. Die Trockenstädter hatten auch eine
Menge Wein mit sich geführt, das süße, schwere, heimtückische Zeug
aus Ardcarran. Bard erlaubte seinen Männern, zu trinken, soviel sie
wollten, denn der Kundschaftervogel und Mirellas Gesicht
bestätigten, daß kein Feind in ihrer Nähe war. Sie saßen ums Feuer
und sangen rauhe Lieder und prahlten damit, was sie in der Schlacht
vollbracht hatten, und Bard sah ihnen zu.
Auf einmal stand Melora in ihrem grauen Mantel hinter ihm und
sagte: »Wie können sie nach einem Tag voller Blut und Metzelei da
sitzen und lachen und singen, wenn so viele ihrer Freunde und auch
Feinde tot liegen! «
Bard antwortete: »Ihr fürchtet Euch doch wohl nicht vor den
Geistern der Toten, Damisela? Glaubt
Ihr, die Toten kommen wieder, eifersüchtig, weil die Lebenden
lustig sind?«
Sie schüttelte schweigend den Kopf. Dann sagte sie: »Nein. Aber für
mich wäre dies eine Zeit des Trauerns.«
»Ihr seid kein Soldat, Lady. Für einen Soldaten ist jede Schlacht,
die er überlebt, eine Gelegenheit, sich zu freuen. Und deshalb
schmausen sie und singen und trinken, und wären wir mit einer
regulären Armee auf dem Marsch und nicht nur ein einzelner Trupp,
würden sie sich auch mit den Troßdirnen vergnügen oder Frauen in
der nächsten Stadt finden.«
Melora erschauerte. »Wenigstens sind keine Städte in der Nähe, wo
sie plündern und vergewaltigen können … «
»Hört, Damisela, wenn Männer in die
Schlacht ziehen, überantworten sie ihr Leben dem Kriegsglück. Warum
sollten Frauen nicht davon berührt werden? Und die meisten nehmen
es recht friedlich hin.« Er lachte und stellte fest, daß sie nicht
wegsah oder sich zierte oder kicherte. Die meisten Frauen, die er
kannte, wären schockiert gewesen oder hätten doch so
getan.
Melora erklärte nur ruhig: »Ja, so wird es sein. Die Aufregung, die
Erleichterung noch am Leben und nicht tot zu sein, die allgemeine
Erschütterung durch die Schlacht … Darüber hatte ich nicht
nachgedacht. Doch ich hätte es nicht friedlich hingenommen, wenn
die Trockenstädter gesiegt hatten. Ich bin sehr froh, daß sie
unterlagen, und froh, daß Ich noch lebe.~< Sie stand so nahe bei
ihm, daß er irgendein schwaches Parfüm riechen konnte, das aus
ihrem Haar und ihrem Mantel aufstieg. Ach hatte Angst, wenn sich
das Glück gegen uns wenden sollte, brachte ich nicht den Mut auf,
mich zu töten, sondern würde lieber Gefangennahme, Vergewaltigung,
Sklaverei auf mich nehmen als den Tod. Der Tod schien mir etwas
sehr Schreckliches zu sein, als ich die Männer sterben sah … « Er
drehte sich um und nahm ihre Hand in seine; sie entzog sie ihm
nicht. Mit leiser Stimme sagte er: Ach bin froh, daß Ihr noch am
Leben seid, Mclora.«
Ebenso leise antwortete sie: »Und ich, daß Ihr am Leben seid.« Er
zog sie an sich und küßte sie und stellte verwundert fest, wie
weich sich ihr schwerer Körper und ihre vollen Brüste anfühlten,
wie warm ihre Lippen unter seinen waren. Er spürte, daß sie sich
dem Kuß völlig hingab. Doch danach zog sie sich ein wenig zurück
und flüsterte: »Nein, ich bitte dich, Bard. Nicht hier, nicht so,
nicht mit all deinen Männern rings um uns … Ich würde dich nicht
zurückweisen, darauf hast du mein Wort. Aber nicht jetzt. Mir ist
gesagt worden … es sei nicht richtig … «
Widerstrebend ließ Bard sie los. Ich könnte
sie so leicht lieben, dachte er. Sie ist nicht schön, aber sie ist so warm, so süß… und
all die aufgestaute Erregung des Tages quoll in ihm auf. Trotzdem
wußte er, daß sie recht hatte. Wo es keine Frauen für die anderen
Männer gab, verstieß es gegen Anstand und Sitte, wenn der
Kommandant eine für sich allein hatte. Bard war Soldat und zu
vernünftig, um sich ein Vorrecht herauszunehmen, das seine Männer
nicht teilen konnten. Ihre Willigkeit machte die Sache noch
schlimmer. Er hatte sich einer Frau noch nie so nahe
gefühlt.
Aber - er holte tief und resigniert Atem. »Die Wechselfälle des
Krieges, Mclora. Vielleicht … eines Tages …«
»Vielleicht«, sagte sie sanft, gab ihm die Hand und sah ihm in die
Augen. Er glaubte, niemals eine Frau so sehr begehrt zu haben.
Neben ihr waren alle anderen Frauen, die er kannte, wie Kinder,
Lisarda nicht mehr als ein kleines Mädchen, das mit Puppen spielte,
selbst Carlina kindisch und unreif. Trotzdem hatte er zu seinem
Erstaunen nicht den Wunsch, die Sache zu überstürzen. Er wußte
genau, daß er diesen Zwang auf sie ausüben konnte, so daß sie,
sobald das ganze Lager schlief, ungesehen von seinen Männern zu ihm
kommen würde. Doch schon der Gedanke daran erfüllte ihn mit
Abscheu. Er wollte sie so, wie sie war, ihr ganzes Selbst; aus
ihrem freien Willen sollte sie ihn begehren. Besäße er nur ihren
Körper, entginge ihm alles, was sie zu Melora machte. Ihr Körper war schließlich nur der
einer fetten, schwerfälligen Frau, jung, aber bereits aus der Form
geratend. Es war etwas anderes, das sie ihm so unendlich
begehrenswert machte. Ein Gedanke schoß ihm durch den Kopf. Er hob
die Augen und platzte mit der Frage heraus.
»Hast du mich mit einem Zauber belegt, Mclora?«
Sie legte ihm die dicken Hände mit großer Zärtlichkeit um die
Wangen und sah ihm gerade in die Augen. Auf der anderen Seite des
Feuers sangen die Männer ein Rüpellied:
Es zogen einmal vierundzwanzig Leroni nach Ardcarran;
Jetzt macht von ihnen keine mehr Gebrauch von ihrem Laran …
»O nein, Bard«, sagte Melora sehr leise. »Es
ist nur, daß wir uns berührt haben, du und ich. Wir sind ehrlich
miteinander gewesen, und das ist etwas Seltenes zwischen einem Mann
und einer Frau. Ich liebe dich sehr, und ich wünschte, die Umstände
wären anders und wir wären heute abend an einem anderen Ort als
hier.« Sie beugte sich vor und berührte seine Lippen ganz leicht
mit den ihren, nicht mit Verlangen, sondern mit Zärtlichkeit, die
ihm wärmer machte als die wildeste Leidenschaft. »Gute Nacht, mein
lieber Freund.«
Er drückte ihr die Hand und ließ sie gehen, und er sah ihr mit
einem Bedauern und einer Traurigkeit nach, die neu für ihn
waren.
Die Karawanenleute kamen, besetzten jede Ecke, Da konnt man’s nicht mehr anders treiben als hängend von der Decke.
Es brachten einmal vierundzwanzig Bauern Säcke mit Nüssen, Die waren oben zugebunden, doch unten aufgerissen …
Beltran sagte hinter ihm: »Sie scheinen sich zu
amüsieren. Sie singen da ein paar neue Strophen, die ich noch nicht
gehört hatte.« Er lachte vor sich hin. »Dabei fällt mir ein, wie
wir Schläge dafür bekamen, daß wir die schmutzigeren Verse dieses
Liedes in Carlinas Schulheft schrieben.«
Bard war froh, an etwas anderes denken zu können. »Und du sagtest
unserm Lehrer, das sei ein Beweis dafür, daß Mädchen nicht lesen
lernen sollten.«
»Ich persönlich würde das Lesen gern den Frauen überlassen, die
nichts Wichtigeres zu tun haben«, meinte Beltran. »Doch vermutlich
werde ich Staatspapiere und solche Dinge unterschreiben müssen.« Er
beugte sich über Bard. Sein Atem roch nach süßem Wein, und Bard
merkte, daß der Junge vielleicht ein bißchen mehr getrunken hatte,
als er vertragen konnte. »Das ist der richtige Abend, um sich zu
betrinken«, sagte Beltran.
»Was macht deine Wunde?«
Beltran lachte. »Ach was, Wunde! Mein Pferd rannte mit mir den Berg
hinunter, und ich wurde im Sattel nach vorn geschleudert und schlug
mit dem Gesicht auf das Sattelhorn. Davon bekam ich Nasenbluten,
und deshalb kämpfte ich während der ganzen Schlacht mit
blutüberströmtem Gesicht! Ich glaube, ich habe schreckenerregend
ausgesehen.« Er zwängte sich unter Bards Zelt, dessen offenes Ende
zum Feuer zeigte, und setzte sich dort nieder. Die Plane über ihnen
hielt den Schnee ab. »Endlich scheint es sich
aufzuklären.«
»Wir müssen feststellen, ob es unter den Männern welche gibt, die
einiges Geschick im Wagenlenken und im Umgang mit Packtieren
haben.«
Beltran antwortete mit einem gewaltigen Gähnen. »Jetzt ist das
vorbei. Ich glaube, ich könnte zehn Tage lang schlafen. Horch, es
wird früh still, aber die meisten Männer sind betrunken wie Mönche
zu Mittwinter.«
»Was hättest du sonst von ihnen erwartet, wo keine Frauen da sind?«
Beltran zuckte die Schultern. »Ich mißgönne ihnen ihren Rausch
nicht. Unter uns, Bard, mir ist es so lieber … Nach der Schlacht
von Snow Glen zerrte mich eine Gruppe der jüngeren Männer mit sich
in ein Hurenhaus in der Stadt… « Er verzog angeekelt das Gesicht.
»Ich finde keinen Geschmack an solchen Spielen.«
»Auch ich ziehe willige Gefährtinnen den bezahlten Damen vor«,
stimmte Bard ihm zu. »Doch ich bezweifele, ob ich nach einer
Schlacht wie dieser einen Unterschied merken würde.« In seinem
Inneren wußte er, daß er nicht die Wahrheit sagte. Heute nacht
wollte er Melora, und wenn er die Auswahl unter allen Kurtisanen
Thendaras oder Carcosas gehabt hätte, wäre seine Wahl immer noch
auf sie gefallen. Auch wenn er Carlina hätte haben können? Er hatte
keine Lust, darüber nachzudenken. Carlina war seine ihm anverlobte
Frau, und das war etwas anderes.
»Du hast nicht genug zu trinken gehabt, Pflegebruder.« Beltran
reichte ihm eine Flasche. Bard setzte sie an die Lippen und nahm
einen tiefen Zug. Der starke Wein tat ihm wohl. Er betäubte den
Schmerz darüber, daß Mclora nach ihm ebenso verlangt hatte wie er
nach ihr und daß er sie zu seinem eigenen Erstaunen hatte gehen
lassen. Verachtete sie ihn jetzt, hielt sie ihn für einen grünen
Jungen,
der sich fürchtete, einer Frau seinen Willen aufzuzwingen? Spielte
sie mit ihm? Nein, er hätte seine Mannheit auf ihre Ehrlichkeit
gewettet … Einer der Männer spielte die RryL Man brüllte nach Meister Gareth, er solle
kommen und für sie singen. An seiner Stelle tauchte Melora aus dem
Zelt auf.
»Mein Vater bittet euch, ihn zu entschuldigen«, sagte sie ruhig.
»Seine Wunde bereitet ihm große Schmerzen, und er kann nicht
singen.« »Wollt dann ihr kommen und Wein mit uns trinken, Lady?«
Das fragten sie sehr respektvoll, aber Melora schüttelte den Kopf.
»Ich werde meinem Vater ein Glas bringen, wenn ihr erlaubt.
Vielleicht verhilft ihm das zum Einschlafen. Aber meine Verwandte
und ich müssen für ihn sorgen, und deshalb werden wir nicht
trinken. Ich danke euch.« Ihre Augen richteten sich auf Bard, der
in der Dunkelheit auf der anderen Seite des Feuers saß, und er
entdeckte in ihnen eine neue Traurigkeit.
»Ich dachte, er sei nicht schwer verwundet«, meinte Bard.
»Das habe ich auch gedacht«, antwortete Beltran, »aber ich habe
gehört, daß die Trockenstädter manchmal Gift der einen oder anderen
Art auf ihre Klingen tun. Doch ich habe noch nie von einem gehört,
der daran gestorben wäre.« Wieder riß er den Mund weit auf und
gähnte.
Die Männer um das Feuer sangen Lied auf Lied. Schließlich brannte
das Feuer herunter und wurde zugedeckt, und die Männer wickelten
sich in Gruppen von zweien, dreien oder vieren, um sich gegenseitig
vor der Kälte zu schützen, in ihre Decken. Bard ging leise zu dem
Zelt, das die Frauen sich teilten und in dem jetzt auch der
verwundete Laranzu lag.