Ich erinnere mich, wie ich im Schnee lag, ein kleines, warmes Bündel, das langsam kälter wurde, und die Wölfe leckten an mir. Oder fraßen mich, ich konnte es nicht sagen. Ich wusste nur, dass das Gewirr ihrer Leiber – in ihren Pelzen glitzerte Eis – auch noch das winzige bisschen Wärme von mir abhielt, das die Sonne verströmte. Ich versank in einem eisigen Meer und wurde wiedergeboren in eine warme Welt.
Ich sah ihn wieder – den Wolf, der mich mit der Schnauze angestupst hatte, erst in die Hand, dann an die Wange, anstatt mir mit gieriger Zunge die letzte Wärme zu stehlen. Er stand am Waldrand am anderen Ende unseres Gartens. In der Dämmerung, wenn ich zu lange draußen auf meiner Reifenschaukel blieb, spürte ich seinen Blick, doch wenn ich mich umdrehte, sah ich ihn nur noch im Unterholz verschwinden.
Angst hatte ich nie vor ihm. Er war noch jung, trotzdem wäre er groß genug gewesen, um mich von der Schaukel zu reißen, wenn er gewollt hätte. Vor der älteren Wölfin, die ihn oft begleitete, fürchtete ich mich jedoch. Noch scheuer als er, beobachtete sie mich, oder besser gesagt: Sie beobachtete ihn dabei, wie er mich beobachtete. Ich sah den Hunger in ihren blassgelben Augen.
Während mein Körper sich in den eines Teenagers zu verwandeln begann, Ecken und Kanten zu Kurven wurden und ich die Reifenschaukel immer häufiger als ruhiges Plätzchen zum Lesen nutzte statt zum Schaukeln, reifte auch er zu einem ausgewachsenen Wolf heran. Das unregelmäßige Fell eines Jungtiers wich einem wunderschönen, weich aussehenden Pelz. Seine Augenfarbe änderte sich von Babyblau zu einem bräunlichen Gelb und die Neugier darin wich Misstrauen. Doch noch immer hatte ich keine Angst.
Ich war fasziniert von ihm und ihm schien es mit mir ebenso zu gehen. Es war wie ein Flirt, beinahe, doch ich wusste, dass Wölfe sich Partner fürs Leben suchten und diese hungrige Wölfin höchstwahrscheinlich seine Gefährtin war. Doch ich war jung und naiv. Ich malte mir große Abenteuer aus, in denen ich nachts zu einem Wolf wurde und mit ihm durch einen goldenen Wald preschte, in dem es niemals schneite.
Eines orangebraunen Abends, als ich unter dem Baum mit der Reifenschaukel saß und ein Buch über König Artus las, spürte ich plötzlich eine Schnauze an meiner Hand, dann an meiner Wange. Ich rührte keinen Muskel, um ihn nicht zu erschrecken, doch es half nichts. Bevor ich auch nur den Blick in seine Richtung wenden konnte, war er schon wieder verschwunden.
Der nächste Wolf, den ich zu Gesicht bekam, war sie, die mich vom Waldrand her anknurrte.
Wochen vergingen zwischen seinen Besuchen und ich fühlte seine Abwesenheit genauso stark wie seine Gegenwart. Und bald schon waren er und die Wölfin nicht mehr die einzigen, die mich an meinen Leseabenden beobachteten. Ein massiger Rüde, dessen Schnauze zu ergrauen begann, stapfte geheimnisvolle Pfade im Schutz der Bäume, ohne mich aus den Augen zu lassen. Dann verschwand er, lautlos trotz seiner Größe, genau wie mein Wolf.
Außerdem zeigte sich nun auch ein mageres, geschecktes Tier, jedoch nur aus der Ferne. Ich war froh, dass es nicht näher kam, wenn ich seinen fleckigen Pelz im Sonnenlicht aufblitzen sah, das durch die Baumkronen drang. Alles an ihm – sein stumpfes, strähniges Fell, die Kerbe in seinem Ohr, das brandig tränende Auge – deutete auf einen kranken Körper hin und in den wild rollenden Augen schien bisweilen auch ein kranker Geist aufzublitzen.
Und dann, eines Abends kurz vor den Weihnachtsferien, erschien die Wölfin zwischen den kahlen Baumgerippen, die ihr keinerlei Möglichkeit zum Verstecken boten. Ich beobachtete sie, sicher hinter der Scheibe des Wohnzimmerfensters, als plötzlich ein weiterer Wolf neben ihr auftauchte. Es war nicht mein Wolf; seine Schultern waren breiter und sein Pelz beinahe schwarz. Er drückte seine Schnauze an ihre, die liebevolle Berührung eines Gefährten, während die treulose Wölfin weiter zum Haus hinübersah, bevor sie die Geste erwiderte.
Weihnachten riss mich fort von den Wölfen im Wald, doch keine Geschenke, kein leckeres Essen, nicht mal die liebevollen Umarmungen meiner Großmutter vermochten die Wölfe aus meinem Kopf zu vertreiben.
Ich sah ihn nicht wieder, bis es zum vierten Mal in diesem Winter schneite. Zögernd stapfte er durch die weiße, pulvrige Schicht auf mich und meinen halbfertigen Schneemann zu.
»Na, Wolf, hast du Hunger?« Er sah zumindest so aus; man konnte seine Rippen zählen. Ich holte ein Plätzchen aus meiner Jackentasche und warf es ein Stück weiter in den Schnee. Auf die Bewegung hin stob er davon, doch als ich den Kopf hob, war das Plätzchen nicht mehr da und er stand am Waldrand und leckte sich über die Lefzen.
Die Wölfin erschien neben ihm, lautlos wie ein Geist, und starrte mich an.
»Ich kenne dein Geheimnis«, sagte ich zu ihr.
Sie knurrte und verschwand. Er, der langsam alt genug war, um auch ohne ihre schützende Gegenwart mutig zu sein, blieb allein zurück.
Ich lächelte ihm zu. »Ich weiß, du hast nur Augen für mich.«
Er senkte den Kopf und wedelte kurz mit dem Schwanz, bevor die Bäume auch ihn verschluckten.
Am kältesten Tag des Jahres, ich war ganz allein zu Hause, hörte ich Schreie. Es war die Art von Schreien, bei der sich die Härchen an meinen Armen aufrichteten und Tränen in meine Augen stiegen. Im Nu hatte ich mir den Mantel übergeworfen und war aus der Tür, in der Hand Dads Neunmillimeter von ganz oben auf dem Küchenschrank.
Ich fürchtete, draußen in der schleichenden Dämmerung den Ursprung der Laute nicht zu finden, doch meine Sorge war unbegründet. Als ich über den hart gefrorenen Schnee zwischen die Bäume schlitterte, war das Geschrei in ein hohes, anhaltendes Heulen übergegangen. Ich hatte Angst zu stürzen und dabei aus Versehen die Pistole abzufeuern.
Die Bäume schienen sich in immer gleicher Monotonie bis in die Ewigkeit zu erstrecken, genauso wie das Heulen, dünn und unmenschlich in der Stille der Nacht.
Dann riss es plötzlich ab.
Nichts regte sich im Wald. Der Frost hatte jede Spur von Leben unter einer Schicht kalten Glases erstarren lassen.
Doch das war nicht wichtig, denn ein Stück weiter vorn sah ich die Frau. Ein dunkelroter Schmetterling breitete sich unter ihrem Körper aus und brachte den Schnee zum Schmelzen.
Sie war tot. Es war die unbestreitbare Wahrheit und die Indizien waren so grausam, dass ich später nichts anderes sagen konnte, als dass es ein Wolf getan hatte.
Ich rannte nicht zum Haus zurück, obwohl mein Instinkt mich dazu drängte. Zu fliehen war ein Eingeständnis von Angst und Angst ein Zeichen von Schwäche. Ich wusste nicht, wie viele Kugeln sich in der Pistole befanden, und konnte nicht sicher sein, dass meine steif gefrorenen Hände sie tatsächlich ihrem Ziel zuführen würden. Also ging ich zurück, zwischen den nackten Bäumen hindurch, und meine Augen nahmen Bewegungen im Wald ringsum wahr, wie die von Fischen im Wasser.
Die Polizei rückte mit Taschenlampen, Schusswaffen und beruhigenden Worten an. Sie nannten mich Ma’am, obwohl ich noch eine Miss war, trampelten die Stille des Eiswaldes nieder und kehrten mit nichts als einer Handvoll blutigen Schnees zurück.
Die Suche nach der Leiche zog sich über Wochen hin, doch die Polizei suchte sich buchstäblich einen Wolf. Sie fanden nichts als zermürbende Stille, und nachdem sie wieder fort waren, tauchte ein neues Tier auf. Es war ein Weibchen und ich sah Furcht und einen Ausdruck von Beklemmung in ihrem Blick, obwohl sie frei war und gehen konnte, wohin das geheimnisvolle Gefüge der Bäume sie führte.
Er erschien ein paar Tage später, allein, und ich war hin- und hergerissen zwischen der Erleichterung, dass er immer noch nur Augen für mich hatte, und Wut.
Im tauenden Schnee trat ich ihm schließlich entgegen, so nah, dass ich die Hand ausstrecken und sein glänzendes Fell hätte berühren können. »Hast du sie getötet?«
Er zuckte nicht vor meiner Stimme zurück. Er stand bloß da, reglos wie eine Statue.
»Die Schreie gehen mir einfach nicht aus dem Kopf.« Beinahe hätte ich »ihre Schreie« gesagt, doch das hätte es aus irgendeinem Grund noch unerträglicher gemacht.
Zu meiner Überraschung schloss er die Augen. Es widersprach jedem Instinkt, den ein Wolf haben sollte. Ein Leben lang dieser regungslose Blick und jetzt schien es, als erstarrte er in beinahe menschlichem Kummer, die leuchtenden Augen geschlossen, Kopf und Schwanz gesenkt.
Etwas so Trauriges hatte ich noch nie gesehen.
Langsam, fast ohne mich zu bewegen, näherte ich mich ihm, wie immer ohne eine Spur von Angst. Seine Ohren zuckten wachsam, als ich näher kam. Ich ging in die Hocke und war ihm jetzt so nah, dass ich den wilden Duft seines Pelzes riechen und seinen warmen Atem spüren konnte.
Und dann tat ich, was ich schon die ganze Zeit hatte tun wollen – ich streckte die Hand nach ihm aus, und als er nicht zurückwich, vergrub ich beide Hände in seinem Fell. Außen war es nicht so seidig, wie es aussah, aber unter dem drahtigen Deckhaar wurde es weich und flauschig wie die Federn eines Kükens. Mit einem dumpfen Seufzen drückte er seinen Kopf an meinen Körper, die Augen noch immer geschlossen. Ich hielt ihn im Arm, als wäre er nichts weiter als ein Schoßhund. Nur sein wilder, strenger Geruch erinnerte mich an das, was er wirklich war.
Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung wahr: In der Ferne sah ich den gescheckten Wolf und näher, am Waldrand, stand die alte Wölfin. Ihre Augen glühten.
Ich spürte ein plötzliches Grollen an meinem Körper, das mehr und mehr anschwoll, und mir wurde klar, dass mein Wolf sie anknurrte. Unerwartet forsch kam die Wölfin näher und er wandte in meinen Armen den Kopf, um sie anzusehen.
Sie knurrte nicht und irgendwie war das sogar noch schlimmer. Ein Wolf hätte doch knurren müssen. Sie aber starrte uns bloß an, ihr Blick flog zwischen ihm und mir hin und her. Ihr gesamter Körper drückte Hass aus.
Der magere Wolf beobachtete uns, reglos, von seinem Versteck zwischen den Bäumen aus. Noch immer leise knurrend, drängte mein Wolf sich enger an mich und zwang mich einen Schritt zurück, dann noch einen. Auf diese Weise bewegten wir uns zusammen in Richtung des Hauses. Meine Hand ertastete die Tür und ich stolperte zurück ins Haus. Wie Geister verschmolzen der Gescheckte und die Wölfin mit dem Wald und schließlich verschwand auch mein Wolf in der Dunkelheit.
Wochen vergingen. Der Wald war frei von Wölfen, aber voller Vögel, so klein, dass sie in meine Handfläche gepasst hätten, und frischer grüner Knospen, die nach neuem Leben dufteten. Es war unerträglich. Ich wollte nicht dasitzen und Massen von Tieren in diesem Wald sehen, nur das eine nicht, nach dem ich mich sehnte. Doch ich wollte auch nirgendwo anders sein, für den Fall, dass er wieder auftauchte. Wozu war die Wölfin in ihrer Wut imstande?
Meine Eltern fuhren ohne mich in den Frühjahrsurlaub und ließen mich für drei Tage in einem Haus zurück, das ebenso leer war wie der Wald. Am zweiten Tag ergriff mich Unruhe, eine unstete Zeitgenossin, und trieb mich schließlich erneut in den Wald, das tröstende Gewicht der Pistole in meiner Hand. Von der Trostlosigkeit, die dort noch wenige Monate zuvor geherrscht hatte, als die Schreie mich angelockt hatten, war nichts mehr übrig. Nun waren die Bäume in sattes Grün gehüllt und von Ranken überwuchert; sorgloses Vogelgezwitscher und das selbstvergessene Surren von Insekten schufen eine lebhafte Geräuschkulisse.
Aber es war derselbe Wald wie zuvor und wieder waren es Schreie, die meine Schritte lenkten, doch diese Schreie waren für niemanden wahrnehmbar außer mir selbst.
Ich fand ihn zusammengekrümmt am Fuß einer Birke, wo er leise vor sich hin wimmerte. Sein glänzender Pelz war verschwunden, er war nackt. Aber ich wusste, dass es mein Wolf war, noch bevor er die Augen aufschlug. Seine blassgelben Augen öffneten sich, als er mich näher kommen hörte, doch er regte sich nicht. Er war rot verschmiert, vom Ohr den Hals hinunter bis zu den Schultern – wie eine tödliche Kriegsbemalung.
Schnell hockte ich mich neben ihn, legte die Pistole ins frische Gras und nahm meinen Rucksack ab. Ich holte ein Geschirrtuch, bedruckt mit lachenden Enten, heraus und löste vorsichtig die Hand, die er sich auf die Wunde an seinem Hals presste. Dann legte ich das Tuch darauf und strich ihm das blutverschmierte Haar aus den Augen. Neben all dem Wilden lag nun auch eine Klarheit in seinem Blick, die ich nie zuvor darin gesehen hatte.
»Ich will nicht zurück.« Diese gequälten Worte riefen sofort eine Erinnerung in mir wach: ein Wolf, der voll stummem Schmerz vor mir stand. »Wenn ich … wenn ich anfange, mich zu verwandeln, lass mich sterben.«
Er würde nicht sterben. Ich hatte es selbst überlebt.
»Hab keine Angst.«
Er erschauderte und schloss die Augen. »Ich habe dich beobachtet. Um da zu sein, wenn du dich verwandelst. Um dir zu helfen. Aber es ist nie passiert.«
Ich erinnerte mich daran, wie oft ich davon geträumt hatte, ein Wolf zu sein und Abenteuer mit ihm zu erleben.
»Du bist doch gebissen worden. Du hättest dich verwandeln müssen, so wie wir anderen auch.«
An meinem Hals waren noch immer die Narben zu sehen. Ich dachte an die Zungen der Wölfe, an ihre Zähne. Ich dachte daran, wie er seine Schnauze in meine Hand, an meine Wange gestoßen hatte und sich dann aus seiner Wolfsgestalt in seine wahre Haut gezwungen hatte. Wie er mich nach Hause getragen hatte, weg von den hungrigen Blicken und zurück ins Leben.
Ich spürte die Hoffnung in seiner Stimme. »Ich glaube nicht, dass es ein Heilmittel gibt«, sagte ich leise. »Hast du mich deswegen die ganze Zeit beobachtet?«
Er erschauderte abermals. »Zuerst ja.«
Ich legte seine Hand auf das Geschirrtuch, damit er es selbst halten konnte, packte die Pistole in den Rucksack und lehnte ihn zurück an den Baum; ich würde ihn später holen.
»Diesmal rette ich dich.« Ich sammelte meine Kräfte und hob ihn auf meine Schultern. Schwer, aber nicht so schwer, wie er hätte sein sollen, und für mich sogar leicht.
Etwas bewegte sich am Rand meines Gesichtsfelds und da stand die Wölfin, ein paar Schritte von mir entfernt, den Blick starr auf mich gerichtet.
Ich spürte, wie er auf meinen Schultern zu zucken begann und sein menschlicher Körper den immerwährenden Kampf verlor. Die Wölfin kam auf mich zu. Sie würde sich die Genugtuung nicht nehmen lassen, ihn sterben zu sehen, nachdem er sie abgewiesen hatte.
Ich trat vor und fletschte die Zähne, um ihr zu zeigen, dass sie sich von meiner unveränderlichen Gestalt hatte irreführen lassen.