Keith

6. KAPITEL

Als Rhiannon merkte, wie sie in den bleiernen, erfrischenden Schlaf fiel, fühlte sie seinen muskulösen Oberschenkel unter dem Kopf. Zur Abwechslung verspürte sie einmal nicht den Wunsch, ihn zu verführen. Tatsächlich war sie Roland näher als jemals zuvor, und dabei hatte sie ihn noch nicht einmal geküsst.

Eine seltsame Wendung der Ereignisse, wusste sie doch ganz genau, dass ihre Gefühle für ihn rein körperlicher Art waren.

Dennoch empfand sie diese Nähe, dieses Zusammensein als angenehm. In gewisser Weise schien es richtig zu sein.

Aber es beunruhigte sie auch. Sie hatte ihm unbedingt zeigen wollen, dass sie ebenso befähigt war wie jeder Mann auf diesem Planeten. Sie hatte ihm zeigen wollen, dass sie ebenso tapfer, ebenso hart, ebenso unerbittlich sein konnte. Sie wollte dafür sorgen, dass er sie nicht mehr aus denselben Gründen zurückweisen konnte wie einst ihr Vater. Weil sie nicht gut genug war.

Jetzt wusste sie von seinem ehernen Mut und seiner Wildheit im Kampf, die er schon als Knabe gezeigt hatte, und musste sich umso mehr anstrengen. Ein so tapferer Mann ließ sich nicht so leicht beeindrucken. Ein Mann, der sich schon als kleiner Junge auf einen Wolf gestürzt hatte, um ein Baby zu retten … das war wahrer Heldenmut, wie immer er es auch nennen wollte. Sie musste gründlich über ihr weiteres Vorgehen nachdenken.

Bevor sie endgültig in tiefen Schlummer fiel, verspürte sie ein wunderbares Gefühl, als er ihr mit der Hand über das Gesicht strich, die Konturen mit dem Finger nachzeichnete. Sie lächelte. Und dann schlief sie ein.

Roland betrachtete sie im Schlaf, konnte sie jedoch in seiner momentanen Haltung nicht besonders gut sehen. Er schob sich unter ihr hervor und erhob sich. Als er neben dem Bett stand, konnte er sie nach Herzenslust betrachten. Herrgott, sie war so schön. Jeder zarte Knochen unter der Satinhaut betonte ihre Züge und verlieh ihrem Gesicht eine Aura höchster Perfektion.

Plötzlich verspürte er den unwiderstehlichen Zwang in sich, ihr Porträt zu malen. Er sehnte sich nach einem Pinsel in der Hand und Ölfarben, die er auf einer Leinwand auftragen konnte.

Ah, doch das waren törichte Gedanken. Malen war eine Beschäftigung für Sterbliche. Etwas, das man am besten im goldenen Licht der Sonne und ihren wärmenden Strahlen unternahm. Kein Zeitvertreib für untote, rastlose Seelen.

Was hatte sie, das diese Neigungen in ihm wachrief? Bei den Göttern, gestern Abend hatte er wahrhaftig in einem Stadion gestanden und eine Fußballmannschaft angefeuert! Hatte Jeans und ein Sweatshirt getragen und sich trotz der Anwesenheit zahlreicher DPI-Agenten in eine Menschenmenge gemischt. Wann hatte er sich zum letzten Mal so verantwortungslos verhalten?

Er schüttelte den Kopf. Sie hatte etwas, das einen Mann zum willenlosen Sklaven machte. Sogar ihn.

Er wusste es ohne jeden Zweifel, als er sie wenige Sekunden später an den Schultern packte und von der Seite auf den Rücken drehte. Sie war so perfekt. Er musste sie ansehen, nur ansehen. Auch wenn er nicht die Absicht hatte, sich den Luxus zu gönnen und ihr Bild auf einer Leinwand festzuhalten, konnte er wenigstens bewundern, was er vor sich sah.

Er streckte die Hand nach dem Hemd aus und zögerte. War es falsch, sie so anzusehen, während sie hilflos schlief und keine Einwände erheben konnte?

Er machte die Augen zu. Nein, Rhiannon hätte ganz bestimmt nichts dagegen.

Er öffnete die Knöpfe, die wenigen, die sie überhaupt geschlossen hatte. Langsam, ganz langsam zog er das Kleidungsstück auseinander, bis ihr Körper in all seiner Pracht vor ihm lag. Er seufzte unwillkürlich. Wie sehr hatte er sich danach gesehnt, sie so zu sehen!

Sein Blick wanderte von dem anmutigen schlanken Hals zur zierlichen Wölbung des Brustbeins. Tiefer, zu den kleinen, festen, makellos runden und blütenweißen Brüsten. In der Mitte hatten sie den hauchzarten Farbton des Fruchtfleischs einer Honigmelone. Hätte er die Absicht, sie zu malen, würde er ihre Brustwarzen erst streicheln, bis sie sich aufrichteten und die Lippen eines Mannes herausforderten, sie zu küssen.

Auch er erlag dieser Versuchung fast. Nur eine dieser zarten Knospen zwischen die Lippen zu nehmen, daran zu saugen, bis sie hart wurde, bis sie an seiner Zunge pochte …

Er schluckte heftig, als er das Verlangen in sich aufsteigen spürte, setzte jedoch die Betrachtung ihres Körpers fort und ließ den Blick über die sanfte Rundung ihres Bauchs, die dunkle Öffnung ihres Nabels, die geschwungene Hüfte mit der grässlichen Narbe an der Seite gleiten. Das Dreieck krauser Löckchen. Gott, sie glänzten wie Satin. Er wollte sie berühren und herausfinden, ob sie wirklich so seidenweich sein konnten, wie sie aussahen.

Ehe er sich ermahnen konnte, es zu lassen, machte er genau das. Er strich mit den Fingern über das seidige Nest. Ja. Sie waren so weich, wie sie aussahen. Weicher. Und obwohl er wusste, dass er es nicht sollte, glitt er mit den Fingern tiefer, spreizte ihre geheimen Lippen, drang in sie ein. Als er spürte, wie als Reaktion darauf Feuchtigkeit seine Finger überzog, schloss er die Augen und stöhnte laut. Er ließ sich auf das Bett sinken und beugte sich über sie. Als er ihren zarten Duft einatmete, verlor er fast die Besinnung. Er bewegte die Finger tiefer hinein und zog sie wieder heraus. Sie erschauerte am ganzen Körper, da sah er hastig auf.

Sie lag genauso da wie vorher, vollkommen reglos. Aber ihre Brustwarzen standen jetzt steil und erregt nach oben. Er hielt die Finger an die Lippen und machte unwillkürlich die Augen zu, als er ihren Geschmack von den Fingerspitzen leckte. Er wollte sie. Mehr als das, er musste sie haben. Und wenn schon nicht körperlich, dann wenigstens …

Roland trat von dem Bett zurück, wendete den Blick jedoch nicht ab. Er musste sie auf eine Leinwand bannen. Es gab keine andere Möglichkeit, diese alles verzehrende Lust zu überwinden. Sicher, er hatte schon lange nicht mehr gemalt. Er hatte den Wunsch, vielleicht auch die Fähigkeit, einem Rechteck aus Leinwand seine Seele einzuhauchen, längst verloren geglaubt. Aber plötzlich war dieses Bedürfnis wieder da. Er hätte nie geglaubt, dass er es jemals wieder verspüren würde.

Heute würde er zu Pinsel und Leinwand greifen. Und wenn das Vögelchen wieder ausflog, konnte er wenigstens ein Stück von ihm hier bei sich behalten.

In der frühesten Morgendämmerung arbeitete Roland hinter dicht zugezogenen Vorhängen und unter einer Decke voller Spinnweben mit Materialien, die er schon vor langer Zeit in Kisten weggepackt hatte. Nur die Ölfarben waren neueren Datums; er konnte einfach nicht widerstehen, neue, moderne Farben zu kaufen, wenn er welche sah. Das war Teil seiner Selbstkasteiung: Er wusste sehr wohl, dass die Farben parat lagen, aber nicht, ob er sie je wieder benutzen würde. Jetzt kam der Geruch der Farben in seiner Nase einer Droge gleich, und der Pinsel flog wie eine Verlängerung seiner Seele über die Leinwand.

Er machte vorher keine Skizze. Das war nicht nötig. Er musste sie nur ansehen, wie sie da auf dem Bett lag, einem Opfer für die Götter gleich, und musste das Bild, das er sich von ihr machte, von seinen Augen über den Verstand in seine Hände strömen lassen.

Er arbeitete fieberhaft und ging auf eine Weise völlig in seinem Schöpfungsakt auf, wie er es seit Jahren nicht mehr erlebt hatte. Er bewegte den Pinsel so behutsam mit den Händen, als würde er ihre Haut liebkosen.

Und dann, fast bevor er bemerkt hatte, dass eine Minute verstrichen war, spürte er Bewegungen im Schloss. Jamey war wach, und Frederick. In diesem Moment gingen sie in den großen Saal und von da weiter in den unteren Ostflügel, wo die Küche ihrer harrte.

Er seufzte traurig, weil er so früh aufgeben musste. Die Freude, die ein so simpler kreativer Akt spenden konnte, hatte er beinah schon vergessen. Und er hatte so wenig erreicht. Formen und Farben auf der Leinwand ergaben noch kein erkennbares Bild. Aber er wusste, im Lauf der nächsten Tage würden sie Gestalt annehmen.

Widerstrebend reinigte er seine Pinsel und schaffte die Farben weg. Die Leinwand ließ er stehen, damit sie trocknen konnte. Er würde sie lange, bevor Rhiannon sich heute Abend regte, sicher verstauen. Nicht dass er glaubte, es würde sie stören, wenn er ihren nackten Körper so eingehend studierte, während sie schlief. Er glaubte sogar, dass die Vorstellung ihr gefallen würde.

Zuletzt trat er ans Bett und genoss ein letztes Mal den Anblick ihrer Nacktheit. Länge und Straffheit ihrer Beine faszinierten ihn mit Fantasien, wie die wohlgeformten Gliedmaßen ihn umfingen, die rundlichen Hüften gegen seine gedrückt wurden.

Er war erregt. Auf schmerzhafte Weise. Ihm wurde klar, dass das die ganze Zeit, während er malte, so gewesen war. Er machte die Augen zu und wollte den Gedanken verdrängen, dass er sich einfach ausziehen und zu ihr ins Bett legen konnte. Er konnte sie streicheln, anfassen, schmecken, so lange er wollte, und sie würde es nie erfahren. Er konnte sich in ihr vergraben. Er konnte Erfüllung in ihrer warmen Feuchtigkeit finden, und sie würde nie eine Ahnung davon haben.

Er beugte sich hinab und blies kühle Luft über ihre Brüste, damit sich die Brustwarzen abermals aufrichteten. Sie reagierte sofort. Vielleicht konnte er sie sogar zum Höhepunkt bringen, ohne dass sie sich dessen später bewusst war.

Der Gedanke war verlockend – nein, quälend. Ihrem Körper das höchste der Gefühle zu entlocken, ohne dass ihr Verstand davon wusste. Nachts konnte er ihrem Zauber widerstehen, wie es ihm beliebte. Tagsüber konnte er sie zum Objekt seiner Lust machen.

Die Versuchung war groß, fast zu groß. Er riss sich mit aller Gewalt zusammen, als ihm klar wurde, dass die Bestie in ihm wieder versuchte, die Oberhand zu bekommen. Es wäre eine Vergewaltigung, Rhiannon auf diese Weise zu benutzen. Ob sie etwas dagegen hätte oder nicht, darum ging es nicht. Sie ohne ihre Einwilligung zu nehmen, wäre unverzeihlich. Wollte er ihr damit die Freude vergelten, die sie in sein Leben brachte?

Freude?

Roland blinzelte und wiederholte ein weiteres Mal den Gedanken. Ja. Heute Morgen hatte er in den wenigen Stunden, die er den Pinsel geschwungen hatte, Freude empfunden. Und vorher, als er mit ansehen durfte, wie Jamey und seine Mannschaft den Sieg beim Fußballspiel errangen, da hatte er ebenfalls Freude empfunden. Pures Vergnügen. Wonne.

Er hätte nie für möglich gehalten, jemals wieder so empfinden zu können.

Er sah ihr ins Gesicht und schüttelte den Kopf. Wer hätte gedacht, dass eine tollkühne, eine unvorsichtige Vampirin wie Rhiannon wieder Freude in sein Leben bringen konnte?

Er zog das Hemd zusammen und knöpfte es zu. Er zog die Decke über sie, beugte sich dicht über sie und berührte mit seinen Lippen ihre. Sie fühlten sich feucht und weich und süß an, selbst im Schlaf. Er ließ die Zunge in ihren Mund gleiten, kostete jeden Teil davon und hörte erst auf, als er spürte, wie der Wahn ihn zu übermannen drohte.

„Danke, Rhianikki, Prinzessin des Nils.“

Roland war nicht zu sehen, als sie aufstand. Aber sie rümpfte die Nase, als sie den schwachen Geruch in der Luft wahrnahm. Sie schnupperte erneut und runzelte die Stirn. Es roch ein klein wenig nach Farbe.

Da sie den Nachhall des Duftes nicht eindeutig identifizieren konnte, wälzte sie sich aus dem Bett, ehe sie an die Verletzung ihrer Hüfte dachte. Sie erstarrte, als sie ihr wieder einfiel, und rechnete damit, dass sie jeden Moment die Schmerzen empfinden würde. Aber dem war nicht so, und als sie das Hemd hob, das sie trug, stellte sie fest, dass die Wunde ohne eine Narbe verschwunden war. Nur die winzigen Stiche konnte man noch erkennen, aber es tat nicht einmal mehr weh.

Sie stand auf, lief in dem Gemach herum und riss auf der Suche nach Kleidung einige Schränke auf. Sie fand nichts, entschied aber, dass sie sich davon nicht die Stimmung verderben lassen würde. Heute Abend fühlte sie sich gut.

Als sie gestern Nacht seine Geschichte gehört hatte, war sie zu der Schlussfolgerung gelangt, dass Roland an absurd lange anhaltenden Depressionen und einem extremen Schuldkomplex litt. Aber da er diese schmerzhafte Wunde jetzt geöffnet und ihr wenigstens einen teilweisen Einblick in die Ursachen gewährt hatte, heilte sie vielleicht besser. Dieser Gedanke erfüllte sie mit Freude. Es gefiel ihr nicht, dass er sich wegen längst vergangener Ereignisse quälte. Damit verschwendete er seine Zeit und Energie. Beides sollte er für sie aufbewahren. Das wäre eine weitaus erregendere Übung.

In diesem Moment ging die Tür auf, und er trat mit einem schweren Krug aus Bleikristall ein, der eine scharlachrote Flüssigkeit enthielt. Er stellte ihn auf den Nachttisch, dann ein Glas daneben.

Sie runzelte die Stirn. „Was ist das?“

„Nahrung. Die brauchst du nach gestern Nacht.“

„Ich brauche sie warm und direkt aus dem Hals eines Unschuldigen, Roland.“

„Rhiannon, das wäre Mord.“

„Wie ich sehe, denkst du immer noch das Schlechteste von mir.“ Sie kam auf ihn zu, und er konnte nicht anders, als darauf zu achten, wie ihr Hemd auseinanderklaffte. „Ich habe sie nie ermordet. Nur gekostet. Hier ein Schlückchen, da ein Schlückchen. Niemand vermisst es.“ Sie machte sich über ihn lustig und genoss es wie immer.

Sein Blick wurde von den runden Brüsten angezogen, die das Hemd enthüllte, daher kam sie noch näher und bückte sich nach dem Krug.

„Aber wenn sie sich erinnern …“

„Ich nehme es nur von schlafenden Männern, Roland. Die meisten behalten es als einen erotischen Traum im Gedächtnis.“ Sie füllte das Glas, richtete sich wieder auf und führte es an die Lippen.

„Und die Male, die du an ihren Hälsen hinterlässt?“

„Man muss nicht zwangsläufig Male hinterlassen. Man kann Blut auch an Stellen saugen, die nur selten jemand unter die Lupe nimmt.“ Sie trank das Glas leer, stellte es ab und fuhr mit der Zungenspitze über die Lippen. „Soll ich es dir zeigen?“

Er wandte den Blick ab, um, wie sie hoffte, einen plötzlichen Anfall von Leidenschaft zu verbergen. „Nein, Rhiannon, lieber nicht. Und ich würde nachdrücklich vorschlagen, dass du dich so ernährst wie wir, aus unserem Vorrat hier. Es wäre gefährlich, Verdacht zu erregen, während sich so viele DPI-Agenten in L’Ombre aufhalten.“

Sie kam näher und strich ihm mit einem Fingernagel sanft über den Hals. „Oder missfällt dir der Gedanke, dass meine Lippen das Fleisch eines anderen Mannes berühren?“

Er sah ihr einen Moment direkt in die Augen.

Sie benetzte ihre Lippen. „Ich hatte einen höchst interessanten Traum.“

Rasch wandte er den Blick ab. „Tatsächlich?“

„Mmm. Ich träume nicht oft, weißt du. Der Schlaf ist zu tief. Aber diesmal … spürte ich etwas.“

„Was denn?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Es war alles sehr kurz. Eine Berührung, eine unglaublich intime Berührung. Und später ein leidenschaftlicher Kuss.“

Er drehte sich von ihr weg, und sie wusste, dass er seine Gedanken abschirmte. „Wirklich sehr seltsam.“

„Vielleicht ist es ja nur so, dass ich mich nach so etwas verzehre.“ Sie trat hinter ihn, sodass sie ihm beim Sprechen den Atem in den Nacken blies. „Würdest du mir nur gefällig sein, dann könnte ich vielleicht besser schlafen, Roland.“

Er erstarrte. „Tut mir leid, Rhiannon. Ich glaube, das wäre unklug.“

Sie schniefte. Er war immer noch nicht hinreichend von ihr beeindruckt. Noch hielt er sie seiner Hingabe für unwürdig. Sie stellte sich vor ihn. „Meine Verletzung muss versorgt werden. Könntest du mir wenigstens dabei behilflich sein?“

Augenblicklich furchte Sorge seine Stirn; als sie zum Bett ging, folgte er ihr auf dem Fuß. „Was ist, Rhiannon? Ist sie noch nicht verheilt?“

Sie setzte sich auf die Bettkante, beugte sich zurück, öffnete das Hemd und entblößte Taille, Hüfte und die untere Hälfte einer Brust. „Sie ist verheilt, aber du könntest die Fäden abschneiden. Sie jucken.“

Roland schloss kurz die Augen. Als er sie wieder aufschlug, schien er zu einer Schaufensterpuppe geworden zu sein. Man sah keine Gefühlsregung in seinen Augen. „Natürlich.“ Er fand die Schere auf dem Nachttisch, zog einen Hocker her und setzte sich so darauf, dass er sich mehr oder weniger auf Höhe der Matratze befand. Er berührte mit der Hand die Stelle an ihrer Hüfte und erstarrte. Dann strich er langsam mit den Fingern darüber.

Sie schloss ihre Augen. „Es tut so gut, wenn du mich berührst.“

Er zog die Hand weg und näherte die kleine Schere ihrer Haut. Vorsichtig schnitt er die Fäden durch.

„Es war selbst im Schlaf angenehm. Du hast mich berührt, Roland, oder nicht? Es war kein Traum.“

Er brachte die Arbeit zu Ende, legte die Schere weg und stand auf. „Ich sehe mich auf dem Gelände um.“ Sie spürte, wie frustriert er war. Warum war er nur so fest entschlossen, ihr zu widerstehen?

„Ich begleite dich.“

„Das mache ich lieber allein. Jameson ist bei Eric und Tamara im großen Saal. Du kannst ihn um etwas zum Anziehen bitten. Eric und ich holen dir später einen Teil deiner Sachen.“

Schlagartig wurde sie wütend. „Ich kann meine Sachen selbst holen, Roland. Außerdem habe ich nicht vor, irgendwo zu bleiben, wo ich so eindeutig unerwünscht bin. Vielleicht schlafe ich morgen wieder in meinem Bett.“

Er sagte nichts und verließ wortlos das Zimmer. Rhiannon nahm das Glas vom Nachttisch und warf es gegen die Wand, wo es in tausend Scherben zerschellte.

Sie hörte ein kurzes Lachen, dann sah Tamara durch die Tür herein, durch die Roland gerade hinausgegangen war.

„Du findest meinen Zorn amüsant, Grünschnabel? Wenn er sich gegen dich richten würde, wäre das anders.“

Tamara schüttelte den Kopf und trat ein. „Ich lache nicht über dich, Rhiannon. Sei nicht so empfindlich. Es ist nur so, dass ich wegen Eric auch ein paarmal etwas an die Wand werfen wollte.“

Rhiannon legte den Kopf in den Nacken. „Er kann unmöglich so unerträglich sein wie Roland.“ Sie ging zum Kamin und warf ein Scheit in die fast erloschene Glut.

„Er wollte nicht mit mir schlafen, obwohl wir es uns beide so sehr gewünscht haben, dass wir fast den Verstand verloren hätten“, verriet Tamara ihr.

Rhiannon richtete sich auf, drehte sich jedoch nicht um. „Und was für Gründe hatte er?“

„Er glaubte, ich wäre abgestoßen, wenn ich wüsste, was er ist.“

„Und warst du es?“

„Ich liebe ihn. Es hat eine Weile gedauert, aber schließlich konnte ich ihn davon überzeugen. Hab Geduld mit Roland. Gib nicht auf.“

Rhiannon wirbelte zur jungen Frau herum. „Du glaubst doch nicht, dass ich ihn liebe, oder? Mein Gott, Tamara, ich bin nicht so töricht, dass ich so etwas zulassen würde.“

Tamara lächelte. „Natürlich nicht. Dann möchtest du nur ein Abenteuer?“

Rhiannon schlug die Augen nieder. „Ich will ihn. Daran ist nichts falsch.“ Sie runzelte die Stirn. „Abgesehen von seiner eisernen Sturheit.“

„Hat er dir denn gute Gründe für seine Zurückhaltung genannt?“

Rhiannon schüttelte den Kopf. „Nur einen Unsinn, dass das, was man will, nicht immer gut für einen ist. Ich kenne den wahren Grund. Er glaubt, ich bin nicht gut genug für ihn. Aber ich werde ihn bald eines Besseren belehren.“ Rhiannon durchsuchte das Zimmer nach ihrem Rock, zog Rolands Hemd aus und griff nach einem neuen.

„Warum um alles in der Welt sagst du das?“

„Weil es stimmt.“ Sie fand den Rock, stieg hinein, machte einige Knöpfe zu und steckte die Hemdenzipfel hinein.

„Das ist verrückt. Du bist die attraktivste Frau, die ich je gesehen habe.“

Rhiannon drehte sich zu ihr um. Vielleicht war dieser Grünschnabel doch nicht so schlimm, wie sie anfangs gedacht hatte. „Und du bist unerträglich fröhlich.“

Sie lächelte. „Warum auch nicht? Ich darf die Ewigkeit mit dem Mann verbringen, den ich liebe.“

Rhiannon verdrehte die Augen. „Musst du so menschlich sein?“ Sie suchte nach ihren Schuhen, fand sie, zog sie an. „Sag Roland, dass ich vor Morgengrauen wieder hier bin.“

Sie spürte Tamaras Schrecken nach dieser Ankündigung. „Rhiannon, wohin gehst du?“

„In mein Haus, etwas zum Anziehen holen.“

„Das solltest du nicht. Es ist nicht sicher, die Agenten des DPI …“

„Ihr Pech, wenn sie mir in die Quere kommen. Heute Nacht bin ich nicht gerade bester Laune.“

Sie ging zur Tür, aber die junge Frau packte sie am Arm. „Rhiannon, bitte warte. Ich muss dir noch etwas sagen.“

Rhiannon legte den Kopf schief. „Dann sag es.“

„Es geht um … diesen Mann, der dich in seinem Labor in Connecticut gefangen gehalten hat.“

„Daniel St. Claire?“

Tamara nickte. „Ja. Er … er war mein Vormund. Er hat mich adoptiert, als meine Eltern ums Leben kamen.“ Tamara schluckte heftig, während Rhiannon die Stirn runzelte. „Später habe ich erfahren, dass ihr Tod geplant war. Er wollte die Vormundschaft über mich nur, damit er Eric anlocken und für seine Experimente gefangen nehmen konnte. Ich weiß, was dir passiert ist – ich habe es nach seinem Tod in seinen Unterlagen gelesen. Und über die beiden anderen in seiner Gewalt. Es … es tut mir leid.“

Rhiannon, die diese Ehrlichkeit rührend fand, streckte eine Hand aus und raufte dem jungen Mädchen die Locken. „Dir muss nichts leidtun, Tamara. Das alles ist vor deiner Geburt passiert. Du kannst von Glück sagen, dass du überlebt hast.“

„Ich weiß nicht, ob ich das ohne Eric geschafft hätte.“ Sie leckte sich die Lippen. „Ich habe Daniel lange Zeit wie einen Vater geliebt, auch als Eric mir die Wahrheit über ihn sagen wollte. Ich hoffe …“

„Dass ich dich nicht dafür hasse“, sprach Rhiannon zu Ende, als sie die Gedanken des Mädchens las. „Lass dir gesagt sein, dass ich das nicht tue.“

Tamara lächelte mit leicht feuchten Augen. „Ich möchte gern deine Freundin sein.“

Rhiannon blinzelte und war wütend, weil sich ein Kloß in ihrem Hals bildete. „Ich glaube nicht, dass ich je eine hatte.“

„Ist nicht einmal Roland ein Freund für dich?“

Rhiannon lachte. „Nein, der ganz besonders nicht. Er mag mich ja nicht einmal.“

„Ich glaube, da irrst du dich. Als wir gestern Nacht hierherkamen, hatte es ganz den Anschein, als würde er sterben, weil er dich so leiden sehen musste.“

„Wirklich?“ Rhiannon zog die Brauen hoch und spürte eine alberne Wärme in sich. Sie riss sich zusammen. „Hör dir das an, da plaudern wir über Männer wie ein paar kichernde sterbliche Teenager. Dabei stehen wir über so etwas, Tamara. Göttinnen unter den Menschen.“

„Aber nichtsdestotrotz Frauen“, antwortete Tamara.

Darüber dachte Rhiannon stirnrunzelnd nach. Dann schüttelte sie den Kopf. „Ich muss gehen. Ich habe heute Abend viel zu erledigen. Sogar etwas einzukaufen.“

„Einkaufen? Aber Rhiannon, das DPI …“

„Pah, sollen sie mich doch durch die Geschäfte jagen, wenn sie glauben, dass sie mit mir Schritt halten können. Ich habe Rolands Erlaubnis, diese Kammer ein wenig aufzupolieren und neue Vorhänge anzubringen. Außerdem möchte ich genügend Kerzen kaufen, dass man diesen Lüster ein Jahr lang damit bestücken kann. So ist es doch, als würde man auf einem Friedhof schlafen.“

Tamara biss sich auf die Unterlippe. „Ich kann dir nicht zum Vorwurf machen, dass du diesen Raum verschönern möchtest. Er sieht aus wie aus einem alten Horrorfilm.“

„Genau. Außerdem werde ich Roland damit an den Rand des Wahnsinns treiben, und ich liebe es, ihn zu quälen. Wenn ich mich nicht beeile, schließen die Geschäfte wieder. Also, bis später.“

Rhiannon lief zur Hintertür hinaus, sprang mühelos über die Mauer und rannte zu ihrem gemieteten Haus außerhalb von L’Ombre.

Sie war nicht naiv. Obwohl sie nicht erkennen konnte, ob das Haus beobachtet wurde, schlich sie vorsichtig zur Rückseite, erklomm eine Mauer und stieg durch ein Fenster in den ersten Stock.

Licht machte sie keines, sondern zündete lediglich einige wenige Kerzen an. Im Dunkeln konnte sie ausgezeichnet sehen. Sie kramte in ihren Sachen, bis sie einen kurzen Rock gefunden hatte, der flatterte, wenn sie sich bewegte, und eine dazu passende Bluse. Dann packte sie noch andere Dinge in einen Koffer, den sie mit ins Schloss nehmen wollte, wenn sie mit ihren Besorgungen fertig war. Schließlich ließ sie heißes Wasser ein, bis die Wanne randvoll war, und verbrachte eine himmlische, wenn auch leider viel zu kurze Zeit darin. Sie wäre gern länger geblieben, hätte etwas Weihrauch verbrannt und sich entspannt, aber da ihr Rolands Warnungen nicht aus dem Sinn gingen, wagte sie es nicht.

Den Koffer würde sie später holen. Vorerst ging sie zu ihrem geheimen Safe und holte einige der Kreditkarten heraus. Sie hatte noch eine Besorgung zu erledigen, eine wichtige. Noch ehe diese Nacht zu Ende ging, würde sie Roland zeigen, wie sehr sie seiner würdig war. Sie nahm den Hörer ab und wählte eine Nummer, die sie gut kannte.

Jacques Renot, ihr Kontaktmann in Frankreich, war hoch bezahlt und uneingeschränkt vertrauenswürdig. Außerdem war er ein Ex-Agent des DPI und wusste, wie man sich in die dortigen Computer hacken konnte.

Er erkannte ihre Stimme sofort, und sie konnte ihn fast durch die Telefonleitung lächeln hören. Wenn sie ihn spätabends anrief, bedeutete das stets einen großen finanziellen Bonus, sobald er seinen nächsten Scheck erhielt. Er war jeden Cent wert, den sie ihm bezahlte. Wer sonst hätte den Überblick über ihre vielen Tarnnamen und zahlreichen Bankkonten behalten können? Ihr Bedürfnis nach Anonymität machte Jacques zu einem sehr reichen Mann.

„Ich brauche den Namen des Hotels in L’Ombre, in dem Curtis Rogers wohnt“, sagte sie nur. „Können Sie mir den beschaffen?“

Oui. Es könnte eine Weile dauern, aber …“

„Ich rufe in zwanzig Minuten wieder an.“ Sie legte auf.

Zum Einkaufen würde sie nicht lange brauchen. Schließlich wusste sie genau, was sie wollte, und Geld spielte keine Rolle, wozu also Zeit verschwenden? Sie hatte Wichtigeres zu tun.