Regel Nr. 3: Unfälle passieren
Niemand darf je erfahren, dass das Ziel absichtlich eliminiert wurde. Unbeantwortete Fragen können die Illusion eines tragischen Unfalls zerstören.
Rebecca hatte sich als Erstes angeschaut, was Prince bei seinem Remote-Login vor dem Ändern des Passworts getan hatte. Sie hatte gehofft, dadurch einen Hinweis darauf zu bekommen, wie die Hacker an sein Admin-Passwort gekommen waren. Dabei war sie auf einen Ordner gestoßen, der dupliziert worden war, aber nur alte Dokumente enthielt. Es kam ihr merkwürdig vor, dass Prince sich die Mühe gemacht hatte, eine Kopie derart alter Dateien anzulegen, also verglich sie den Verzeichnisbaum mit dem Wochenarchiv von Prince’ Rechner.
Von diesem Moment an war die Welt in sich zusammengestürzt. Als Rebecca sich darauf vorbereitete, den Anwesenden zu präsentieren, was sie gefunden hatte, empfand sie denselben Ekel und die gleiche Verwirrung wie bei der Entdeckung des Bilderordners an diesem Morgen. Sie hasste die Vorstellung, Prince könnte ein Pädophiler gewesen sein. Noch schlimmer war, dass ausgerechnet sie dem NCCU jetzt diese Neuigkeit mitteilen musste. Obwohl der Gedanke sie anwiderte, hatte Rebecca noch immer eine gewisse Loyalität zu Prince oder zumindest zur Firma verspürt, doch je tiefer sie grub, desto deutlicher erkannte sie, dass die Fotos nur die Spitze eines Eisbergs aus Verkommenheit darstellten, und sie wusste, dass Prince ihre Loyalität nicht mehr verdient hatte.
»Ich weiß noch nicht, wie das alles zusammenpasst. Es ist schrecklich. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass Mr Prince irgendetwas tun würde, um der Firma zu schaden, aber es sieht ganz so aus, als hätte er schon seit einiger Zeit vorgehabt, uns zu verlassen. Heute Morgen habe ich herausgefunden, dass er seine Anteile an PrinceSec an die Firma verkauft hat und die Absicht hatte, sich von seiner Frau scheiden zu lassen. Die Scheidungspapiere wurden ihr bereits zugestellt. Sie sagt, das Geld vom Anteilsverkauf sei nicht auf ihrem gemeinsamen Konto, also muss Mr Prince irgendwo noch ein anderes Konto haben. Ich kann die ganze Geschichte nicht glauben, aber wenn man sich die Fakten und diese Bilder anschaut, stinkt die ganze Sache zum Himmel.«
»Dieser kranke Bastard«, murmelte Franklin und starrte auf die Fotos, die Rebecca aufgerufen hatte.
Rebecca sagte nichts. Hätte sie Jack Taylor zuerst davon berichten sollen, was sie gefunden hatte? Aber die Fotos hatten sie so tief erschüttert, dass sie bei Taylor nicht sicher sein konnte. Schließlich war er seit Langem mit Prince befreundet. Hatte Prince seine perverse Neigung vor ihm geheim gehalten?
»Und diese Bilder waren auf seinem Desktop?«, fragte Franklin.
»Nein. Der Ordner war gelöscht worden, allerdings nicht sehr gründlich. Nachdem sich Prince eingeloggt hatte, um sein Passwort zu ändern, hat er noch einiges mehr getan, was in der Logdatei auftauchte. Das Löschen des Ordners gehört dazu, aber da sind auch noch einige Browserverläufe, die ich mir ansehen muss. Er hat offensichtlich vermutet, dass irgendjemand sich in nächster Zeit seinen Computer anschauen würde«, erwiderte Rebecca verbittert.
Franklin wandte sich ab und setzte sich neben die Tastatur auf den Schreibtisch. Er wollte sich die Fotos offensichtlich nicht länger anschauen müssen, als unbedingt nötig. Er schüttelte den Kopf und fragte: »Es kommt Ihnen nicht merkwürdig vor, dass so etwas auf einem öffentlichen Computer gespeichert war?«
»Doch, natürlich«, erwiderte Rebecca, »aber Prince ist offenbar davon ausgegangen, dass es niemandem auffällt. Er war sehr darauf bedacht, niemanden auch nur in die Nähe seines Büros und seines PCs zu lassen. Ich schätze, jetzt kennen wir den Grund dafür. Nur …« Sie stockte.
»Nur was?«, fragte Mitchell.
»Nur passt das alles nicht zu ihm.«
Mitchell schnaubte abfällig. »Vielleicht haben Sie ihn doch nicht so gut gekannt, wie Sie dachten!«, stieß er hervor.
Rebecca fragte sich, warum er so wütend war. Wahrscheinlich, weil es hier um Kinderpornografie ging. Außerdem hatte sie das Gefühl, dass man ihr die Schuld an Prince’ Verhalten gab. Sie hasste Jack Taylor dafür, dass er sie alleine in die Höhle des Löwen geschickt hatte. Die NCCU war keinesfalls der Feind, aber PrinceSec hatte so viele Verträge mit verschiedenen staatlichen Stellen abgeschlossen, dass das Unternehmen fast schon der Regierung und damit der NCCU gehörte. Der Schutz sensitiver Daten war von entscheidender Bedeutung, und Rebecca war von dem, was sie auf ihrem Server gefunden hatte, tief erschüttert. Nichts davon war ihre Schuld, aber sie wollte auch nicht diejenige sein, die alles an die NCCU weitergab. Es wäre Jack Taylors Aufgabe gewesen, hier zu stehen. Und dass Prince ein Perverser war, stellte noch die geringste ihrer Sorgen dar – die wirklich schlechten Nachrichten kamen erst noch.
Nachdem Taylor sie an diesem Morgen angerufen hatte, war Rebecca direkt ins Büro gefahren und hatte sich von Günther Klein, dem Sicherheitschef, auf den neuesten Stand bringen lassen. Klein hatte sie nicht darauf hinweisen müssen, wie dringend ihre Aufgabe war. Praktisch jeder Prozess innerhalb der nationalen Infrastruktur – von Kraftwerken und Wasseraufbereitungsanlagen über Öl- und Gaspipelines bis hin zu den Flughafen-, Schifffahrts- und Verkehrssteuerungssystemen – lief auf einem SCADA-System. Die Abkürzung stand für Supervisory Control and Data Acquisition. Einfach ausgedrückt: Die industriellen Steuerungssysteme ermöglichten es, dass diese wichtigen Anlagen von einem einzigen Administrator aus der Ferne bedient werden konnten. Dieser Administrator konnte Alarmsignale deaktivieren und Prozesse überwachen, ohne dass Techniker vor Ort sein mussten. Auf diese Weise konnte alles effizienter und kostengünstiger erledigt werden. Dummerweise waren diese Systeme jedoch hinsichtlich ihrer Effizienz und nicht ihrer Sicherheit entwickelt worden. Die Leute sagten oft, sie seien in einer Zeit entstanden, in der es noch keine Terroristen gab. Das war natürlich Blödsinn, aber die SCADA-Systeme waren definitiv in einer Zeit installiert worden, in der man noch nicht davon ausgegangen war, irgendeine böswillige Macht könne versuchen, aus einem Abwassersystem eine Waffe zu machen.
Der globale Trend zu standardisierten Lösungen hatte in Kombination mit einer erhöhten Anzahl an Verbindungen zwischen den einzelnen SCADA-Systemen, Büronetzwerken und sogar Handys dafür gesorgt, dass diese Systeme deutlich anfälliger für Cyberangriffe geworden waren. Cryptos war die Lösung für dieses Sicherheitsproblem geworden – eine robuste Software, die auf den existierenden SCADA-Systemen installiert werden konnte und die eine zusätzliche Sicherheitsbarriere um jeden Bediener und jeden Computer innerhalb des Systems bildete. Das Programm war Anthony Prince’ Schöpfung gewesen; er hatte dessen Verbreitung beinahe schon zu einem Kreuzzug gemacht. Prince war durchs ganze Land gereist und hatte sich mit zahlreichen Firmenchefs, Politikern und Geldgebern getroffen. PrinceSecs guter Ruf als Hersteller außergewöhnlich zuverlässiger Sicherheitssoftware hatte dafür gesorgt, dass die Regierungsbehörden, die Angst vor einem Terroranschlag auf die nationale Infrastruktur hatten, rasch zugriffen, und das hatte sich auf dem privaten Sektor fortgesetzt. Letzten Endes war es deutlich billiger, die Software zu installieren, als die Steuerungssysteme von Grund auf neu zu entwerfen. Cryptos war überall, und die Sicherheit dieses Programms beruhte darauf, dass jedes Gerät innerhalb des Systems individuell geschützt wurde.
»Das ist aber noch nicht das Schlimmste«, fuhr Rebecca fort, gab einen Befehl ein und rief ein Dokument auf. »Das hier ist das Serverlog von Samstagmorgen. Wir sind gerade dabei, die letzten Updates der Cryptos-Software zu installieren. Dazu gehört, dass wir per Remote-Zugriff auf die Computer unserer Kunden zugreifen. Um sicherzustellen, dass jedes System das richtige Update erhält, verwenden wir eine Datenbank, die aufzeichnet, welche Prozesse Cryptos verwendet, auf welchen Computern das Programm installiert ist und welche Version jeweils läuft. Die Datenbank ist normalerweise außerhalb jeglicher Netzwerke gespeichert, aber während der vierundzwanzig Stunden, in denen das Update aufgespielt wird, befand sich die Datenbank auf dem Netzwerkserver.« Rebecca blickte Franklin an.
»Verstehe«, meinte er. »Erzählen Sie weiter.«
»Daher war die Datenbank auf dem Netzwerkserver, als die Hacker auf unser Netzwerk zugegriffen haben. Falls der Zugriff erfolgreich war, besitzen sie sämtliche Informationen über die einzelnen Computer, was bedeutet, dass sie durch eine Hintertür Zugang zu praktisch jedem System haben, das sie ausschalten wollen.«
»Großer Gott!« Franklin war fassungslos, und das aus gutem Grund. Rebecca hatte eine Kopie der Datenbank aufgerufen, die jetzt alle sehen konnten. Es war ein riesiges, sehr ausführliches Dokument, das nur für interne Firmenzwecke gedacht war. Darin stand jedes Detail über jeden Computer innerhalb der Systeme ihrer Kunden.
»Das ist die einzige Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass wir jede Installation und jedes Update korrekt ausführen«, erklärte Rebecca. »Im Grunde ist es ein Kundenbetreuungsdokument. Wir initiieren die Updates zentral, und die Datenbank ermöglicht es uns, die Fortschritte zu überwachen.«
»Das ist mir klar«, sagte Franklin. »Aber dass Sie all diese Daten in einem Dokument auf einem offenen Server speichern, ist doch verrückt!«
»Es war kein offener Server. Gut, man konnte über das Netzwerk darauf zugreifen. Aber dazu musste man schon genau wissen, wo man suchen muss. Die Datenbank war nur übers Wochenende auf dem Server verfügbar, und es wussten gerade mal vier Leute innerhalb der Firma davon.« Es war keine überzeugende Argumentation, aber PrinceSec hatte tatsächlich alles getan, um das Risiko zu minimieren, das das Vorhandensein der Datenbank auf dem Server darstellte.
»Namen«, sagte Franklin barsch.
»Wie bitte?«
»Namen«, wiederholte er. »Wer wusste, dass die Datenbank dort war?«
Rebecca hatte das Gefühl, verhört zu werden.
»Anthony Prince, Jack Taylor, Günther Klein, der für das Aufspielen des Updates verantwortlich war, und ich. Prince, Taylor und ich waren die Einzigen mit einem Admin-Zugang.«
»Wo waren Sie am Samstagmorgen?«
Rebecca wirbelte auf ihrem Stuhl herum und funkelte ihn an. Sein Tonfall gefiel ihr ganz und gar nicht.
»Mr Franklin, ist Ihnen bewusst, dass ich jederzeit auf die Datenbank zugreifen kann? Das ist schließlich mein Job. Wir hatten einen gravierenden Sicherheitsverstoß, über dessen Konsequenzen ich gar nicht erst nachdenken möchte. An diesem Wochenende hat es zu viele zufällige Vorfälle gegeben, daher müssen wir schlicht und einfach davon ausgehen, dass wir angegriffen wurden. Und jetzt müssen wir schnell handeln und das Loch stopfen, sonst könnte es zu einer nationalen Katastrophe kommen. Ich bin hier, um genau das zu versuchen, aber nicht, um mir von Ihnen Schuldzuweisungen anzuhören.«
»Sie haben recht«, lenkte Franklin ein. »Tut mir leid. Fahren Sie bitte fort.«
»Wir wissen nicht mit Sicherheit, auf welche Daten die Hacker tatsächlich Zugriff hatten. Wir hatten gehofft, dass Ihr Team uns helfen kann, das herauszufinden. Auf jeden Fall müssen wir dafür sorgen, dass jeder, auf dessen Systemen Cryptos läuft, über die Gefahr in Kenntnis gesetzt wird, um Sicherungsmaßnahmen einleiten zu können. Falls es ein Leck gegeben hat, müssen wir es eindämmen, ohne dass es zu einer landesweiten Panik kommt.«
Franklin wandte sich seinem Team zu.
»Miller, Squires – gehen Sie die Kundenliste durch. Jedes dieser Systeme muss gesichert werden. Reden Sie mit den Administratoren. Der erste Schritt sollte sein, dass sie alle ihre Passwörter ändern. Sie müssen eine weitere Firewall installieren. Und erstellen Sie eine separate Liste mit sämtlichen Anlagen, in denen es in den letzten vierundzwanzig Stunden zu seltsamen Vorfällen gekommen ist. Selbst ein flackerndes Licht in der Kantine reicht schon aus, um Alarm zu schlagen.«
Rebecca sah, wie sich zwei Agenten, bei denen es sich um Miller und Squires handeln musste, abwandten und sich an die Arbeit machten.
»Sharpe, Roche, Patel – Sie arbeiten mit Mrs MacDonald an einem Patch, den wir diesen Organisationen in der Zwischenzeit bereitstellen können.« Er drehte sich zu Rebecca um und zog eine Augenbraue hoch. »Ich gehe davon aus, dass Sie in Anbetracht des Risikos mit dieser Vorgehensweise einverstanden sind.«
Rebecca nickte. Sie fühlte sich ganz klein.
»Mitchell, nehmen Sie die Laufwerke und Rechner, die Mrs MacDonald mitgebracht hat, und beginnen Sie mit der Suche. Ich will wissen, wer diese Daten geklaut hat und warum.«
Rebecca fiel auf, wie Mitchell lächelte, als er diese Worte hörte. Er hatte die ganze Zeit einen nervösen Eindruck gemacht. Jetzt entspannte er sich sichtlich.
»Ich möchte bei der Analyse dabei sein«, erklärte Rebecca. »Es handelt sich schließlich um sensible Firmendaten, daher …«
Franklin schnitt ihr grob das Wort ab. »Bei allem Respekt, aber Ihr Fachgebiet ist Cryptos, und Mitchell ist auf Angriffserkennung spezialisiert. Er wird Ihnen sagen können, wie diese Leute hereingekommen sind und was sie alles angestellt haben. Falls Prince in diesen Angriff verwickelt war, und sei es nur durch Nachlässigkeit, findet Mitchell das ebenfalls heraus. Außerdem kann ich mich darauf verlassen, dass er mir sofort alles meldet.«
Rebecca wusste, dass sie diesen scharfen Tonfall verdient hatte, nachdem sie zuvor Franklins Autorität untergraben hatte. Dennoch gefiel es ihr nicht, dass Mitchell Prince’ Rechner in die Hände bekommen sollte. Der Mann hatte irgendetwas Merkwürdiges an sich – und da war eine Wildheit in seinen Augen, die sie beunruhigte.
Ihr wurde bewusst, dass Franklin sie noch immer erwartungsvoll anschaute.
»Ist das okay für Sie, Mrs MacDonald?«, fragte er.
»Natürlich«, erwiderte sie angespannt.
Sie sah, wie Mitchell auf seltsame Weise lächelte, als er fragte: »Haben Sie Prince’ Anmeldedaten oder Ihre eigenen verwendet, als Sie diesen Computer heute Morgen überprüft haben?«
Rebecca hörte zum ersten Mal seine Stimme. Sie war tiefer, als sie gedacht hatte. Sanft und beruhigend.
»Ich habe mich mit meinem eigenen Admin-Login angemeldet, auf diese Weise haben wir ein sauberes Protokoll«, antwortete sie.
»Perfekt«, sagte Mitchell.
Rebecca hatte das Gefühl, dass er es auch so meinte.
Wieder stieg Panik in Mitchell auf. Noch nie hatte er sich so klaustrophobisch, gefangen und entblößt zugleich gefühlt. Ihm war, als würde jeder im »Schweinestall« ihn anstarren, und er hatte das beklemmende Gefühl, dass ihn alle als den erkannten, der er tatsächlich war. Strider war schon immer ein gesonderter Teil seines Lebens gewesen, der in den Schatten lauerte und den Abschaum beseitigte, wenn Mitchell die Hände gebunden waren. Es beunruhigte ihn, dass Strider nun an seinem Arbeitsplatz, vor seinen Kollegen und insbesondere dieser Frau von PrinceSec auftauchte. Sie spürte irgendetwas, das hatte er in ihren Augen gesehen. Sie schaute ihn auf eine Art und Weise an, als wüsste sie, dass er etwas verbarg.
Mitchell wollte nur noch hier raus, zurück in die Sicherheit seiner Wohnung. Er musste einen Weg finden, Strider bei diesem ganzen Schlamassel außen vor zu halten. Er wusste, er hätte mehr Zeit darauf verwenden sollen, die gelöschten Daten auf Prince’ Festplatte zu überschreiben, damit keine Spuren zurückblieben, aber er war nicht davon ausgegangen, dass jemand nach gelöschten Daten suchen würde. Mitchells Pläne gingen nur deshalb auf, weil niemand die Unfälle, die er arrangierte, je untersuchte. Normalerweise wurde der Tod seiner Zielpersonen als Unfall akzeptiert. Technische Geräte versagten, Flugzeuge stürzten ab – so was passierte nun mal. Es hatte nie einen Zwischenfall gegeben, der die Illusion störte, und auch keine Schuldzuweisungen. Das war sein Markenzeichen.
Aber bei Prince lief es völlig anders. Das konnte doch nicht wahr sein! War es einfach nur Pech, dass sein Ziel zu genau derselben Zeit Opfer eines weiteren Angriffs geworden war? Es waren einfach zu viele Zufälle: Die Tatsache, dass Prince seine Anteile verkauft hatte. Dass er seine Frau verlassen hatte. Dass sein eigenes Passwort verwendet wurde, um sich Zugriff auf den Server zu verschaffen und die Datenbank genau zu der Zeit zu stehlen, als die Küstenwache seine Leiche entdeckt hatte. In Anbetracht all dieser Vorfälle würde nun jeder davon ausgehen, dass Prince ermordet worden war – und das wiederum bedeutete, dass man nach ihm suchen würde.
Mitchell war von den Enthüllungen dieses Vormittags so durcheinander, dass ihm übel wurde. Sein Magen verkrampfte sich. Er schmeckte Galle und schluckte sie herunter. Seine Finger trommelten auf der Schreibtischplatte, als könne er sich durch eingebildete Tasteneingaben einen Ausweg aus diesem Schlamassel erzwingen, so wie er es bisher jedes Mal getan hatte. Er war jedem, der ihm zu nahe kam, stets ein paar Schritte voraus gewesen.
Sicher, in seiner Anfangszeit war er unbeholfen gewesen und hatte Fehler gemacht. Dennoch war es ihm immer wieder gelungen, in den digitalen Schatten zu verschwinden, bevor er auffliegen konnte. Er hatte einhundert Wege gefunden, sich zu verstecken oder zu tarnen, sich vor den Augen seiner Verfolger in Luft aufzulösen. In den ersten Jahren wäre er ein paar Mal um ein Haar erwischt worden, doch seitdem Strider Teil seines Lebens geworden war, hatte er stets die Kontrolle gehabt. Er war ein Schatten. Ein Attentäter. Ein Profi. Wieso war ihm dieses Mal so viel entgangen?
Er hatte geglaubt, alles zu wissen, was es über Prince’ geheimes Doppelleben zu wissen gab. War er so besessen von Prince’ Rolle in Teddybärs Picknicknetzwerk gewesen, dass er blind für alles andere geworden war? Oder hatte Prince sein Doppelleben so geschickt geführt, dass es ihm gelungen war, ein noch größeres Geheimnis zu verbergen? Mitchell konnte es nicht glauben. Aber falls es stimmte, musste Prince Hilfe gehabt haben.
Er hatte Prince monatelang beobachtet. Wieso hatte er dann nicht gewusst, dass der Mann sich scheiden lassen wollte? Warum war ihm der Verkauf der Firmenanteile nicht aufgefallen?
Jetzt, wo Mitchell darüber nachdachte, ergab das alles Sinn. Er hatte gesehen, wie große Geldsummen auf Prince’ Geheimkonto geflossen waren, war aber davon ausgegangen, dass das Geld von jemandem aus Teddybärs Picknicknetzwerk kam. Schließlich waren schon ähnliche Summen auf das Konto eingezahlt worden, seitdem es zwei Monate zuvor eröffnet worden war. Er hatte gewusst, dass Prince Großbritannien in dieser Woche verlassen und nach Thailand reisen wollte, aber dass der Mann vorgehabt hatte, für immer unterzutauchen, war Mitchell entgangen.
Am meisten irritierte Mitchell die nahezu völlige Gewissheit, dass es noch jemanden geben musste, der jetzt über Strider Bescheid wusste. Jemanden, der gewusst hatte, dass Prince tot war, bevor der Flugzeugabsturz gemeldet worden war. Was wiederum bedeutete, dass dieser Jemand Prince ebenso genau beobachtet hatte wie Strider. Dieser Jemand war noch am Leben, und er hatte momentan die Oberhand, da Strider nicht die leiseste Ahnung hatte, um wen es sich handelte.
Doch er hatte einen entscheidenden Vorteil: Er war derjenige, der hier und jetzt uneingeschränkten Zugang zu dem Rechner hatte, der ihn belasten konnte. Wenn er clever war, konnte er dies ausnutzen und gleichzeitig den geheimnisvollen Hacker enttarnen. Vielleicht war das Glück ja doch auf seiner Seite. Mitchell wusste, dass Strider ihm aus dem Code entgegenblicken würde, sobald er den Computer eingeschaltet hatte. Aber er hoffte, auch seinen geheimen Feind sehen zu können.
Bei dieser Aussicht erfasste ihn Jagdfieber. Der verborgene Hacker hatte ihn einmal übertölpelt, aber da hatte Strider noch nicht gewusst, dass noch jemand mit im Spiel war. Dieser Jemand war ein Könner, aber das war er selbst auch.
Zum ersten Mal an diesem Tag lächelte Mitchell.
Du weißt vielleicht von Strider, dachte er, aber von mir weißt du nichts.
Er dehnte seine Hände mit ineinander verschränkten Fingern und beugte sich über die Tastatur. Als der Rechner hochgefahren war, huschten seine Finger über die Tasten.
Die Jagd war eröffnet.
Nightshade lag auf seinem Bett und schaute sich die Nachrichten über Anthony Prince’ tragischen Unfalltod im Fernsehen an. Hubschrauber flogen über das Wrack der Cessna hinweg, das auf dem schmalen Strand am Fuß der Klippen lag. Ein sehr poetischer Ort zum Sterben, schoss es Nightshade durch den Kopf. Sehr malerisch. Das Flugzeug war noch bemerkenswert intakt. Es lag halb im Wasser, halb auf dem Strand. Einer der Flügel war abgerissen, und die Nase hatte sich beim Aufprall verformt, aber der Rumpf war noch größtenteils an einem Stück. Ausgebrannt und hohl, aber nicht auseinandergefallen. An der Küste lagen Trümmer, und auf dem Wasser schillerte regenbogenartig der ausgelaufene Treibstoff.
Nightshade stellte den Fernseher lauter, um sich den Bericht anzuhören.
»Der Pilot, die einzige Person an Bord der Maschine, wurde als Anthony Prince identifiziert, Gründer des britischen Softwareunternehmens PrinceSec. Ein Firmensprecher ließ heute Morgen verlauten, das Unternehmen sei schockiert und tief bestürzt über den Tod von Mr Prince, dessen Kreativität und lenkende Hand der Firma fehlen werde. Es ist noch nicht bekannt, aus welchem Grund der Jet abgestürzt ist, doch fest steht, dass aufgrund heftigen Regens schlechte Sichtverhältnisse herrschten. Das könnte den Piloten behindert haben. Die Flugüberwachung hat hinsichtlich seiner Route allerdings nichts Ungewöhnliches entdecken können. Man hofft, aus dem Flugschreiber weitere Informationen sichern zu können. Mr Prince hinterlässt eine Frau und zwei erwachsene Söhne.«
Nightshade hätte zu gern gewusst, wie Strider diesen Hack bewerkstelligt hatte. Es schien ein Meisterwerk zu sein. Aus dem Bericht ging eindeutig hervor, dass der Pilot etwas anderes gesehen haben musste als die Flugüberwachung.
Auf der Konferenz der »Black Hat Hacker« – so werden jugendliche Hacker genannt, die kriminelle Absichten verfolgen, etwa, indem sie Daten stehlen oder das Zielsystem beschädigen – hatte Nightshade im letzten Jahr die Demonstration eines ähnlichen Hacks gesehen. Aber es war nur eine theoretische, nicht mal ansatzweise so komplizierte Simulation gewesen. Wieder einmal war Nightshade beeindruckt von Striders Fähigkeiten. Er beschloss, ihn zu fragen, wie er das bewerkstelligt hatte, bevor er ihn endgültig beseitigte.
Er wollte den Fernseher gerade ausschalten, als der Reporter fortfuhr: »Außerdem haben wir aus Quellen, die dem Unternehmen nahestehen, erfahren, dass PrinceSec an diesem Wochenende Opfer eines Cyberangriffs geworden ist. Zwar ist über das Ausmaß und die Absichten dieser Attacke noch nichts bekannt, aber das Unternehmen bittet jeden, der die Cryptos-Software benutzt, umgehend die Passwörter zu ändern und sich mit dem Notfall-Support in Verbindung zu setzen, um die Systemsicherheit zu gewährleisten. Die Cryptos-Software bildet das Fundament der Sicherheitsmaßnahmen in vielen Unternehmen und Einrichtungen im ganzen Land. PrinceSec hat uns versichert, dass die Software völlig sicher ist, aber bis sie mehr wissen, bitten sie ihre Kunden, sich mit ihnen in Verbindung zu setzen.«
»Das ist nicht gut«, murmelte Nightshade. »Das ist gar nicht gut.«
Im nächsten Augenblick klingelte auch schon sein Telefon. Er seufzte und nahm das Gespräch an.
»Ja, Chef?«
»Gibt es etwas, das ich wissen sollte?«
Die Stimme am anderen Ende klang leicht verzerrt. Nightshade hatte sich inzwischen an die digitalisierten Töne gewöhnt, da er seit über einem Jahr auf diese Weise mit seinem Auftraggeber kommunizierte. Doch trotz der Modulation hörte er, dass sein Boss unzufrieden war.
»Die Umstände haben sich geändert. Ich musste improvisieren. Mir ist bewusst, dass das nicht ideal ist, aber das Resultat ist dasselbe.«
»Niemand sollte von unserem Eindringen erfahren. Was ist passiert?«
»Prince wurde ermordet.«
Die Information wurde am anderen Ende mit Schweigen zur Kenntnis genommen.
»Sein Jet wurde absichtlich zum Absturz gebracht. Als ich wie geplant versucht habe, mich einzuloggen, waren seine Passwörter bereits geändert worden. Wie gesagt, ich musste improvisieren, bevor sich das Zeitfenster wieder schloss. Aber Sie können mir vertrauen. Der Plan wird wie abgesprochen ausgeführt.«
»Wer hat Prince ermordet? Wissen Sie das schon?«
»Ich arbeite daran. Es war eine Einzelperson, soweit ich es erkennen kann. Ich bin noch dabei, herauszufinden, ob er dafür bezahlt wurde.«
»Können Sie an ihn rankommen?«
»Überlassen Sie das nur mir, Boss«, entgegnete Nightshade. Er war bereits sehr viel weiter.
»Sind Sie sicher, dass wir weitermachen können wie geplant?«
»Ja, das kann ich garantieren. Vertrauen Sie mir, wir sind noch auf Kurs.«
Nightshade hörte ein Seufzen am anderen Ende und wusste, dass er den Anrufer besänftigt hatte.
»Sie hätten mich sofort informieren müssen.«
»Ich wollte Sie nicht beunruhigen, Chef.«
»Finden Sie heraus, wer Prince ermordet hat, und beseitigen Sie diese Person. Und rufen Sie mich beim nächsten Mal sofort an, falls sich irgendetwas ändert.«
»Ja, Chef«, sagte Nightshade mit eisiger Stimme.
»Und suchen Sie mir einen neuen Käufer. Die Waren im Zulauf müssen an den Mann gebracht werden.«
Der Anrufer legte auf.
Nightshade starrte auf sein Telefon und schüttelte den Kopf.
»Vielen Dank für Ihre harte Arbeit und das schnelle Umdenken. Ich weiß nicht, was wir ohne Sie gemacht hätten«, murmelte er sarkastisch und warf das Telefon neben sich aufs Bett. »Keine Manieren, diese Leute.«