Das war die erste Überraschung. Die zweite war das korrekte Englisch, mit dem ihn Singel begrüßte, sich für sein Eindringen entschuldigte und nach seinem Befinden fragte. Singel betrachtete ihn immer noch mit seinem interessierten, engelhaften Lächeln wie jemand, der einen bezaubernden Antipoden entdeckt hat. Entweder litt er an rictus perenne, oder er besaß das außerordentliche Geschick eines Public-Relations-Experten.
»Señor Carvalho, ich möchte Ihnen die Mühe ersparen, Fragen zu stellen, und will versuchen, eine korrekte Bilanz der Situation zu ziehen. Es dürfte klar sein, daß Sie erraten haben, welche Beziehung zwischen dem Besuch besteht, den Sie gestern bei uns machten, und der ernsten Verwarnung, die Sie gestern nacht hinnehmen mußten. Es war nichts anderes als das, eine Warnung. Sie wissen sehr wohl, daß es möglich gewesen wäre, Sie auf dem Grund der Gracht zu versenken.«
Der Ernst des Inhalts änderte nichts an der Verbindlichkeit der Form. Er fuhr in unverändertem Tonfall fort: »Vor ein paar Stunden war ein Polizist bei Ihnen zu Besuch. Ich möchte wissen, worüber gesprochen wurde.«
Carvalho hatte den Eindruck, sein Gesprächspartner habe kaum gewechselt. Singel stellte seine Fragen mit derselben Wohlerzogenheit wie der Inspektor und vielleicht in der Hoffnung, dasselbe zu erfahren.
»Dem Polizisten habe ich nur gesagt, was meinen Interessen dient. Ihnen werde ich ebenfalls nur sagen, was meinen Interessen dient.«
»Wir haben uns gedacht, daß Ihre Interessen wohl nicht mit den unseren kollidieren. Wir haben gestern vielleicht etwas überstürzt reagiert, und Sie suchen Ihren spanischen Freund aus Gründen, die unsere Interessen gar nicht tangieren.«
»Dessen bin ich völlig sicher.«
»Also, erzählen Sie!«
»Sagen wir, ich suche Julio Chesma aus beruflichen Gründen. Jemand hat mich damit beauftragt. Ich bin Privatdetektiv, und es gibt schwerwiegende Gründe für die Annahme, daß es sich bei Julio Chesma und der Leiche, die an einem spanischen Strand gefunden wurde, um ein und dieselbe Person handelt. Ein Klient möchte, daß ich dies bestätige. Die Tätowierung, die der Tote trug, war eine Spur, die mich nach Amsterdam führte. Hier erfuhr ich den Namen des Ertrunkenen und seine Adresse. Jetzt müsste ich noch herausfinden, was von dem Tag an, als er in Ihre Pension einzog, bis zu dem Zeitpunkt, an dem er ertrunken aufgefunden wurde, geschah. Es interessiert mich nicht zu wissen, in welche Geschäfte er verwickelt war, sondern was für ein Leben er in der fraglichen Zeit führte. Alles Weitere interessiert weder mich noch meinen Klienten.«
»Was für eine Beziehung vermuten Sie zum Beispiel zwischen Ihrem ertrunkenen Freund und mir?«
»Ich könnte mir vieles vorstellen. Drogen, Mädchenhandel oder Exportgeschäfte mit Tulpen oder Delfter Porzellan. Sie könnten auch Mitglied der Freimaurer oder des Opus Dei sein.«
»Des Opus Dei?«
»Ich weiß schon, was ich sage.«
»Es stimmt, daß Ihr Freund ein paar Geschäfte mit uns gemacht hat. Und selbstverständlich sind wir nicht interessiert, daß Sie Genaueres darüber erfahren. Wahrscheinlich ist es am klügsten, wenn wir zusammenarbeiten. Wir ebnen Ihnen den Weg, um die Suche nach Ihrem Freund fortzusetzen, aber das wird ein Weg sein, der unsere Geschäfte nicht tangiert.«
»Worum geht es?«
»Frauen. Er war sehr begabt in diesen Dingen und hat es fast immer verstanden, Geschäft und Bett auseinanderzuhalten.«
»Ein vernünftiger Zug, wie mir scheint.«
»Sie haben keine andere Wahl. Sie könnten wohl zur Polizei gehen und ihnen von diesem Gespräch erzählen. Damit würden Sie aber nur meine Festnahme erreichen, eine Festnahme, bei der nichts herauskommen würde, denn die holländische Polizei hat bereits festgestellt, wo ich war, und ich habe alle erdenklichen Alibis. Andererseits können Sie, wenn Sie dies tun, vielleicht erreichen, daß Sie in Holland nicht doch noch ertränkt werden. Aber Wasser gibt es überall, und es gibt auch trockene Todesarten.«
»Ich verstehe.«
»Großartig. Dann will ich Ihnen alles sagen, was ich weiß. Ihr Freund lebte bis vor einem Jahr im Patrice Hotel. Ab und zu war er unterwegs, aus geschäftlichen Gründen. Seit einem Jahr hatte er seinen festen Wohnsitz in Spanien, ebenfalls aus geschäftlichen Gründen. Vor drei Tagen erfuhren wir von seinem Tod aus einer Quelle, die ich nicht nennen will. Wir wußten noch nicht genau, wie es geschehen war. Nach dem, was Sie erzählen, scheint es ein beklagenswerter Unfall gewesen zu sein. Genügt Ihnen das?«
»Nein. Sie haben zu viele Monate seines Lebens in wenigen Worten zusammengefaßt. Ich will mehr wissen.«
»Ich könnte Ihnen einige Adressen nennen, hier und in Amsterdam. Aber ich möchte nicht, daß Sie in der Stadt umherschwirren, immer mit der Polizei auf den Fersen. In Rotterdam werden Sie die Informationen bekommen, die Sie suchen. Können Sie aufstehen?«
»Ja.«
»Das Haus verlassen?«
»Ja.«
»Sie haben wirklich Glück gehabt. Also gut. Fahren Sie morgen nach Rotterdam, und seien Sie um drei Uhr nachmittags auf einem Turm am Hafen, von dem man alle Molen überblicken kann. Ein sehr lohnendes Ausflugsziel! Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß Rotterdam den größten Hafen Europas besitzt. Der Hamburger Hafen ist zwar berühmter, aber der von Rotterdam ist weitaus bedeutender. Gehen Sie nicht bis zum obersten Stockwerk, bleiben Sie im Zwischengeschoß. Gehen Sie dort zur Westseite, stellen Sie sich an die Brüstung, und genießen Sie das großartige Schauspiel, das der Hafen bietet. Für alles übrige sorge ich!«
»Ich hoffe, man wird mich nicht zwingen, vom Turm zu springen!«
»Waffenstillstände und Vereinbarungen haben wir stets respektiert.«
Unvermittelt verlor Singels Stimme jeden berechnenden oder belehrenden Unterton und paßte sich völlig den Umständen eines Krankenbesuches an. »Wenn Sie auf sich aufpassen, können Sie bald gesund und munter nach Spanien zurückkehren! In welcher Stadt wohnen Sie?«
»In Barcelona.«
»Eine schöne Stadt! Früher verbrachten meine Frau und ich unseren Sommerurlaub immer in San Feliu, einem kleinen Dorf an der Costa Brava. Kennen Sie das Hotel Edenmar?«
»Es gibt Tausende von Hotels.«
»Es war immer sehr schön. Aber jetzt haben wir eine andere Richtung eingeschlagen, wir fahren nach Jugoslawien. Diese wilde, beeindruckende Natur! Allerdings ist das Land weniger touristisch erschlossen als Spanien. Ist der Trainer der Fußballmannschaft von Barcelona nicht ein Holländer?«
»Ich glaube schon.«
»Michels, ein sagenhafter Typ. Kein brillanter Stratege, aber sehr willensstark. Er hat die Mannschaft von Ajax zu dem gemacht, was sie heute ist. Er ist der Entdecker von Cruyff, Neeskens und Keiser. Haben Sie die Asse von Ajax schon einmal spielen sehen?«
»Als ich das letzte Mal in Amsterdam war, konnten sie noch nicht einmal ihre Stiefel richtig zubinden.«
»In letzter Zeit waren sie die Besten der Welt. Ihr Spiel ist dynamisch und ungeheuer schnell. Mir gefiel Keiser schon immer besser, obwohl Cruyff der Star ist. Keiser ist ein aggressiver Spieler, hart, gerissen, genial. Wie der Engländer Best, aber stärker.«
Mynheer Singel erging sich darin, den Ruf von Feyenoord schlecht zu machen, der Mannschaft von Rotterdam, dem ewigen Rivalen Amsterdams.
»Feyenoord ist eine Mannschaft ohne Klasse, genau wie ihre Heimatstadt. Die Bomben des Zweiten Weltkriegs haben Rotterdams Schönheit zerstört, heute ist es eine Stadt ohne Charakter. Amsterdam dagegen besitzt beides, Schönheit und Charakter.«
Carvalho hatte inzwischen erkannt, daß Singel sich nicht über ihn lustig machte, sondern einfach die Ebene gewechselt und sich der neuen Sachlage mit vorbildlicher Disziplin angepaßt hatte. Deshalb wunderte er sich nicht, daß er ihn beim Abschied aufforderte: »Bitte zögern Sie nicht, sich jederzeit an uns zu wenden, wenn Sie etwas brauchen sollten! Meine Frau und ich werden Ihnen stets gerne behilflich sein. Sollten Sie infolge des bedauerlichen Mißgeschicks von gestern noch Beschwerden haben, rufen Sie uns an! Wir besorgen Ihnen dann einen Arzt, der Sie in aller Ruhe behandelt. Es ist nicht einzusehen, warum man ohne Sinn und Zweck Aufsehen erregen sollte.«
Singel legte zum Abschied die Hand an die Schläfe und verließ das Zimmer auf Zehenspitzen, wie um jedes Geräusch zu vermeiden, das das hypersensible Gehör des Rekonvaleszenten belasten könnte. Carvalho weigerte sich, über die Szene nachzudenken, die er soeben erlebt hatte. Er war hungrig und hatte Lust auf optische Genüsse. Also sprang er aus dem Bett und kleidete sich an.
Ein junger Mann, der geboren wurde, das Inferno aus den Angeln zu heben, gibt seine sichere Stellung in einem internationalen Unternehmen auf und beginnt, schmutzige Geschäfte zu betreiben, schmutzige Geschäfte mit Rauschgift. Wenn man das, was Singel angedeutet hat, mit den Razzien nach der Entdeckung der Leiche in Beziehung setzt, gibt es keine andere Erklärung. Singel behauptet, bis kurz vor Carvalhos Ankunft in Amsterdam nichts vom Tode Chesmas gewußt zu haben. Aber in einer anderen Stadt läßt ein kleiner Geschäftsmann, der im Büro eines nichtssagenden Friseursalons hockt, Nachforschungen anstellen, um die Identität des Toten herauszufinden. Ein offensichtliches Mißverhältnis. Die Motive von Señor Ramón mußten der zentrale Punkt des Rätsels sein. Ein Mann ist bereit, einhunderttausend Pesetas zu bezahlen für die simple Feststellung der Identität eines Ertrunkenen, die er auch bei der Polizei hätte erfragen können. Aber Señor Ramón hatte kein Interesse, die Polizei auf sich aufmerksam zu machen, und er kannte auch sonst niemanden, der ohne Risiko zu dieser Quelle gehen konnte.
Carvalho hatte es zu seinem persönlichen Anliegen gemacht herauszubekommen, auf welcher Route der Körper von Julio Chesma von der Rokin zum Strand von Vilasar gelangt war. Und er war sehr daran interessiert festzustellen, welche Rolle Señor Ramón bei der ganzen Sache spielte. Als Carvalho auf dem Weg zum Leidseplein war, wußte er noch nicht, wo er zu Abend essen sollte, im Bali oder irgendwo in dem Viertel, in dem er letzte Nacht gewesen war, als er das Hippiemädchen verfolgte. Auf dem Leidseplein ging er zu der Kneipe, in der Singel das Mädchen getroffen hatte. Es war zu dieser Zeit des Nachmittags fast genauso voll wie am Vortag, sowohl unten im Lokal als auch auf einem etwas erhöhten Podest. Auf diesem befand sich nur ein runder Tisch mit vier oder fünf Zechern, die von dort das ganze Lokal überblickten. Carvalho suchte sich einen Tisch an der Wand, von dem er den Verkehr auf dem Platz beobachten und zugleich den ruhigen Eifer der Zecher als Schaupiel betrachten konnte. Ein Hippie-Ehepaar mit seinen Kindern waren seine unmittelbaren Nachbarn sowie ein harmloser Bürokrat, der so in seine Zeitung vertieft war, daß sein Bier schon die Schaumkrone verloren hatte. Hier würde er jetzt höchstens ein Sandwich zu essen bekommen, und Carvalho kannte die Kompromißlosigkeit seines Magens. Die Atmosphäre des Lokals lud nur zu einem Stammtisch oder zu ruhiger Beschaulichkeit ein. Er war aber allein und wollte sich amüsieren.
Deshalb ging er über die Straße zu dem Kino und kaufte sich eine Eintrittskarte. Der Vorfilm lief schon, ein holländischer Kurzfilm mit dem Titel Der Friseursalon. Carvalho verstand nur einzelne holländische Worte, schloß jedoch aus dem, was er sah, daß es um die Jungfräulichkeit eines Mädchens ging, die eine Friseurlehre macht und zusammen mit ihren Arbeitskolleginnen und deren boyfriends ein weekend im Landhaus ihres Chefs verbringt. Sie kommen in Stimmung und landen im Bett. Die widerspenstige Jungfrau wehrt alle Angriffe auf ihr Heiligtum ab, beschließt jedoch am Ende, mit ihrem partnerlosen Chef ins Bett zu gehen. Der alleinstehende, impotente, aber sehr menschliche, sehr väterliche Chef sagt, sie solle nichts von ihm erwarten, was er ihr nicht geben könne. Das Mädchen ist beruhigt, aber tags darauf – sieh an! – erwacht sie mit der Hysterie eines brünstigen Orang-Utan-Weibchens. Sie hat eine Auseinandersetzung mit ihrer Mutter und bekommt eine Nervenkrise, verlässt das Haus, geht zu einer Telefonzelle und telefoniert tränenüberströmt mit ihrem Chef. Für Carvalho war das kein Happy-End. Auf jeden Fall zeugte der Film von einer Plattheit, die die Unterentwicklung des holländischen Kinos bewies.
In der Pause ging Carvalho hinaus ins Vestibül. Mehrere junge, wie Hippies gekleidete Paare hatten ihre Sprößlinge ins Kino mitgebracht, teils weil sie nicht wußten, wo sie sie sonst lassen sollten, und teils weil Fritz the Cat ein Zeichentrickfilm war. Aber sobald Carvalho die ersten Szenen des Films gesehen hatte, wurde ihm klar, daß die Anwesenheit der Kinder eher dem verstohlenen Wunsch nach Sexualerziehung zuzuschreiben war. Der Kater Fritz war ein echter Freak, eine Außenseiterpersönlichkeit, der unter den haschischrauchenden Intellektuellen der New Yorker Szene sexuelle und in Harlem soziale Revolutionen anzettelte. Der Film verbreitete eine Stimmung, die noch schlechter war als Carvalhos eigene. Niedergeschlagen verließ er das Kino und hatte gleichzeitig Lust auf einen Flirt. Er ging in die Straße, wo er letzte Nacht dem Hippiemädchen gefolgt war, entschied sich für ein griechisches Restaurant und bestellte Lammbraten mit Salbei und eine Flasche Paros. Er rundete das Mahl mit einem vorzüglichen Toulomisso-Käse ab. Er aß ohne Konzentration und machte sich Sorgen um seine seelische Verfassung. Fremde Städte täuschen immer das Versprechen neuartiger Genüsse vor. Aber sobald man in ihre eigentliche Geographie vordringt, entdeckt man die abweisende Verschlossenheit der Körper, die sich wiederholende Banalität der Situationen und der Personen. Wenn er eine Frau haben wollte, mußte er wohl oder übel zu einer Prostituierten gehen oder sich auf ein langes verbales Scharmützel mit ungewissem Ausgang einlassen. Das ganze einleitende Zeremoniell, die ganze Phase der Überredung war ihm lästig. Diese Art Kommunikation sollte automatisiert werden. Ein Mann sieht eine Frau an, und die Frau sagt ja oder nein, und umgekehrt. Alles, was darüber hinausgeht, ist Zivilisation.
Carvalho betrachtete der Reihe nach die Gesichter im Restaurant, um festzustellen, ob sich eines seiner direkten Kommunikation darbot. Kein einziges angenehmes Frauengesicht. Er schraubte sein normales Anspruchsniveau herunter und warf einer reifen Frau Blicke zu, die mit einer kurzsichtigen Heranwachsenden an einem Tisch saß und aß. Natürlich war es eine Notlösung. Aber Carvalho ließ seinen Blick auf dem breiten Gesicht der Dame ruhen und wartete darauf, daß sich ihre Blicke begegnen würden. Sie begegneten sich, und die Frau begann eine üble Komödie von Witzeleien mit der Heranwachsenden und warf dabei verstohlene Seitenblicke auf Carvalho. Es war ihm klar, daß er ihr nur neuen Stoff für ihre Träume lieferte, nichts weiter. Er machte eine imaginäre Kerbe in den Pistolenschaft, wo er seine platonischen Eroberungen verzeichnete. Frauen sind fast überall auf der Welt gleich.
Verärgert, daß die Frau über die Ebene eines platonischen Abenteuers nicht hinausgehen würde, hörte er auf, sie anzuschauen. Er verließ das Restaurant mit Salbeiaroma auf der Zunge und in der Nase. Bummelte ohne bestimmtes Ziel durch die Straßen und stand eine halbe Stunde später plötzlich vor dem Rijksmuseum. Gegen Museen war er allergisch, vielleicht als Ausgleich für die begeisterte Bewunderung, die er früher für ihre kathedralische Stille empfunden hatte, und für die Ekstase angesichts der vielen konventionellen Werte. Heute würde er jeden Rembrandt gegen einen schönen Frauenarsch oder einen Teller Spaghetti Carbonara eintauschen.
Er ging zum Paradiso. Der Mitgliedsausweis mußte erneuert werden, denn der erste war beim Bad der letzten Nacht unleserlich geworden. Anstatt sich in den Chor der Kirche zu begeben, ging er über die Seitentreppe nach oben. In einem geräumigen Salon blätterten mehrere Jugendliche in Zeitschriften oder versuchten, ausgeschnittene Bildteile zu Collagen zusammenzufügen. Andere standen an der Theke einer kleinen Bar. Sie hatten denselben lustlosen, desillusionierten Ausdruck wie die Leute, die er tags zuvor im Chor gesehen hatte. Er durchquerte das Zeitungsarchiv und kam zu einer Theke, an dem ein Pärchen in Hippiekleidung Gebäck verkaufte. In dem Gebäck war Haschisch enthalten: ein jämmerlicher Hohn auf die Kunst des Essens. Was kann man von einer Jugend erwarten, die nichts vom Essen versteht und sich auch nicht dafür interessiert? Carvalho kaufte ein arabisch aussehendes Gebäck, um nicht zu sterben, ohne vorher die Speise des Infernos gekostet zu haben. Es schmeckte nach Anis, Mandeln, Mehl und einem seltsamen Stoff, der ebensogut Stutenschweiß oder göttliches Ambrosia sein konnte. Innerlich die Bäcker verfluchend, setzte er seinen Rundgang durch das obere Stockwerk fort. In einem Raum lief ein Film mit Gregory Peck vor einem Publikum, das ebenfalls aus Hippies bestand. Sie saßen auf Klappstühlen oder lagerten auf dem Fußboden. Der Film hieß Wer die Nachtigall stört. Nach dem vierten nervösen Zucken von Gregory Peck hielt er es nicht länger aus und stieg die Treppe hinab zum Mittelschiff. Dasselbe Bild, dieselbe Musik, derselbe psychedelische Anblick, derselbe Gestank im Dienste desselben Nichts, während die Polizei sie von innen und außen bewachte wie eine Herde Schafe, die brav zum Pferch trottet. Einen Moment lang hatte er Lust, mit seinem gesunden Auge den Saal nach Buffalo Bill oder den beiden Schafen abzusuchen. Er hatte das Gefühl, daß sie all diese bedauernswerten Leute in die Irre führten, die glaubten, die Glocken der Befreiung hätten geläutet, aber immer noch nicht wußten, wo.
Er stand spät auf. Als er nach seinem Auge sah, stellte er fest, daß der Bluterguß praktisch verschwunden war. Es war eher ein Schnitt als ein Schlag gewesen, das war jetzt zu erkennen, genau zwischen Braue und oberem Lid. Mit etwas Watte versuchte er, den Jodfleck abzuwischen. Das obere Lid war immer noch geschwollen, aber man konnte nicht behaupten, daß sie ihm ein Veilchen verpaßt hätten.
Die Reise nach Rotterdam wurde ihm lang. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit hatte er Zeitungen gekauft, je ein Exemplar von New York Times und Le Monde. Seit zwei Monaten hatte er keine Zeitung mehr in der Hand gehabt, und wie es schien, hatten sich die Dinge seitdem nicht verändert. Hätte er nicht die letzte Konsequenz des Schwachsinns, den er las, am eigenen Leib zu spüren bekommen, hätte er geglaubt, der Inszenierung eines Albtraums von Verrückten und Gaunern beizuwohnen; reif fürs Zuchthaus, die ganze Bande der großen Herren der Welt. Er brauchte die New York Times nicht mehr zu lesen, die drei ersten Seiten von Le Monde hatten ihm schon genügt. Lieber betrachtete er eine Landschaft, die ständig sich selbst wiederholte, oder die Gesichter der Leute, die auch immer wieder die gleichen waren. Seit ein paar Stunden ließ ihn das Bild von Señor Ramón nicht mehr los, wie er ihm am Tisch gegenübergesessen hatte. Seine gebleichte, sommersprossige Haut, das Wissen in diesen kleinen, harten Augen, den Augen eines eiskalt berechnenden Tieres. Er schien am Ende des Weges angelangt zu sein, auf den ihn dieser Mann geschickt hatte, und dabei waren so viele Fragen aufgetaucht, daß der Fall ihn ganz persönlich in seinen Bann gezogen hatte. Die Reise nach Rotterdam kam ihm wie eine Ewigkeit vor, denn er ahnte, daß der größte Teil der Antworten auf die neu aufgetauchten Fragen nicht in Holland zu finden sein würden. Er fühlte sich besessen von den Nachforschungen, wie früher, als ihn ein Rätsel nicht eher losließ, bis er es gelöst hatte. Es war, als entdeckte er eine verlorene, wenn auch schmerzbereitende Kraft wieder: die Fähigkeit zur Begeisterung.
Die Coosingel begann fast vor dem Hauptbahnhof von Rotterdam und verband ihn in gerader Linie mit dem Hafen. Das ganze Zentrum Rotterdams war nach dem Krieg unter funktionalistischen Gesichtspunkten wieder aufgebaut worden, so daß praktisch eine ganz neue Stadt entstanden war. Er nahm ein Taxi zum Hafen, um mit einem der kleinen Schiffe eine Rundfahrt zu machen, die die endlosen Molen abklapperten. Dabei wollte er sich in die zerbrochene Logik des Falles vertiefen. Er betrat ein Boot der Firma Spido voller lärmender Schüler, für die sich mit jedem Schuppen und jeder Reede, wo Schiffe aus aller Welt vor Anker lagen, neue Welten auftaten. Die Farbe rostigen Eisens wechselte ab mit dem Aquarellweiß der Schiffsrümpfe und dem Wirrwarr von Tausenden Kränen, die in der Mittagsträgheit versanken. Ein alter und leistungsfähiger Hafen ohne den legendären Ruf von Hamburg oder New York; das Spektakuläre waren seine riesigen Dimensionen und seine Leistungsfähigkeit.
Das Mißverhältnis zwischen Señor Ramón und Singel war ebenso groß wie das zwischen Señor Ramón und Quetas Friseursalon. Ein Mann, der soviel Macht ausstrahlte wie dieser Alte, mußte mehr in der Hinterhand haben als einen Friseursalon für Damen. Die Vermutung lag nahe, daß er ebenfalls zu diesem Netzwerk gehörte, für das Singel und Chesma in vorderster Reihe tätig waren. Singel tarnte sich in Amsterdam mit dem neonbeleuchteten Schild Patrice Hotel, und Señor Ramón tarnte sich in Barcelona mit dem Schild Salon Queta. Eine offensichtliche Parallele zwischen den beiden Gestalten. Aber was verband sie mit Chesma? Warum kannte Singel Chesmas Namen und Gesicht, und warum war er für Señor Ramón nur ein Fragezeichen?
Die Barkasse tauchte in den Schatten eines riesigen japanischen Ozeandampfers ein; die Schüler machten Schlitzaugen und riefen den Seeleuten etwas in einer Sprache zu, die sie für diese Gelegenheit eigens erfanden. Es gab Dutzende von Molen, wo Schiffe abgewrackt wurden, und hier erlebten die Passagiere einen kurzen Moment lang die tiefgreifende Veränderung, die mit toten Schiffen vor sich geht. Sie betrachteten den verrosteten Rumpf oder das bloßgelegte Skelett mit ebensoviel Respekt wie eine Leiche bei der Autopsie. Sogar die Kinder verstummten, als wären sie auf einem Schlachthof. Die Julisonne schlug weiße Feuerzungen aus den Hemden. Im Vorbeifahren sah Carvalho, wie die Bevölkerung von Rotterdam sich sonnte, ausgestreckt auf den breiten grünen Ufern der Grachten oder auf den Parkbänken der Mittagsruhe hingegeben. Charo war vermutlich zum Schwimmen nach Castelldefels oder ins Piscinas y Deportes gegangen. Sonnenbräune stand hoch im Kurs in ihrem Gewerbe, und auch Carvalho liebte den Kontrast der braunen Haut mit den hellen, sehr hellen Stellen ihres Körpers. Vielleicht hatte der Alte die Antwort schon gekannt, als er ihm den Auftrag gegeben hatte? Aber warum? Warum hatte er ein Interesse daran, ihn auf diese Hin- und Rückfahrt zwischen einem Ausgangspunkt und einem Ziel zu schicken, die er beide genau kannte?
Als er von seinem Ausflug zu den Molen zurückkehrte, erwartete ihn eine bereits entwickelte Fotografie, die ihn zeigte, wie er gerade die Gangway betrat. Er erstand sie und begab sich zu dem Kontrollturm, der die Schuppen überragte. Weisungsgemäß blieb er auf der großen Aussichtsplattform unterhalb des obersten Stockwerks. Rechts und links ein Labyrinth von Molen und Docks und ein Wald von Kränen, die von dort wie ein Fadengespinst wirkten, eine gesponnene Vision in der Art geklöppelter Spitze, gesehen von einem pointillistischen Maler, in dessen Augen die Angst stand: Angst wegen der toten Natur, des Handels und der Industrie. Grüne, blaue, weiße und rote Schiffe. Schwarze Schiffe, die auf der Route des Bösen fuhren. Schiffe, die nach Norden, vor allem aber nach Süden fahren würden. In Carvalhos Adern regte sich der Drang zur Flucht.
Früher als verabredet war er an Ort und Stelle. Fast allein. In einem Winkel der Aussichtsplattform ein japanisches Paar, das sich vor dem Hintergrund des Hafens gegenseitig fotografierte. Dann erblickte er eine etwa dreißigjährige Frau, deren behandschuhte Hand über den Rand der Brüstung glitt, während sie ging. Sie folgte der Linienführung der Balustrade und schaute dabei unentwegt aufs Meer hinaus, wie um einen totalen und konstanten Überblick über das Schauspiel zu bewahren, das sich ihren Blicken bot. Über ihrer hinreichend entwickelten Brust baumelte ein Fernglas. Sie hatte eine große Nase, ein breites, sommersprossiges Gesicht und gepflegte rotblonde Haare, die ihr über die Schultern fielen. Sie trug ein ärmelloses grünes Kleid, und die Färbung ihrer Haut stammte vom Solarium, vielleicht war es auch der charakteristische zinnoberfarbene Teint der Rothaarigen. Sie hatte appetitliche Schenkel, obwohl man ihren Knöcheln den Zahn der Zeit oder die Kreislaufprobleme ansah. Carvalho begehrte sie einen Moment lang. Aber es erschien ihm unzivilisiert und destruktiv, eine Frau zu begehren, die er aus den Augen verlieren würde, sobald die Person auftauchte, die er hier treffen sollte. Die Frau näherte sich der Stelle, wo Carvalho am Geländer lehnte. Notgedrungen würde sie in ihrem Gang innehalten müssen, um das Hindernis Carvalho zu umgehen. Sie hielt an. Blieb stehen. Hier, eine Handbreit vor Pepes Körper. Schaute auf und dem Mann ins Gesicht, der ihre eigenartige Vorwärtsbewegung aufhielt. Ihre Lippen bewegten sich und fragten in unsicherem Spanisch: »Sind Sie der, den Singel geschickt hat?«
Sie stellte sich als Frau Salomons vor. Witwe Salomons, berichtigte sie. Sie fuhren mit dem Lift nach unten. Als der Fahrstuhlführer den Bremsvorgang einleitete, flüsterte sie Carvalho ins Ohr: »Stimmt es, daß Julio tot ist?«
»Ich glaube schon.«
»Wie schrecklich!«
Sie wirkte betroffen. Rasch ging sie vor Carvalho her und führte ihn zu einem Volvo, der am Fuß des Aussichtsturms geparkt war. Sie sprachen kein Wort, während sie zu dem am wenigsten neuzeitlichen Viertel von Rotterdam fuhren, und hielten in einer kleinen Straße mit Bäumen. An der Ecke schimmerte das Wasser einer Gracht. Sie öffnete ein Haustor, durch das sie auf einen Innenhof gelangten, wo sich ein Mädchen im Bikini und bärtige Jünglinge auf dem Rasen sonnten und sehr blonde Kinder mit einem Gummiball spielten. Die Witwe Salomons schloß die Tür zu ihrer Wohnung auf, und Carvalho stand unvermittelt in der hellen Wohnküche. Von der Küche aus führte eine Treppe zu den oberen Räumen. Die Frau bat Carvalho, auf einer der Bänke an dem weißgestrichenen Eßtisch Platz zu nehmen. Sie selbst setzte sich ihm gegenüber. Zwischen dem Mann und der Frau stand der Tisch und mitten darauf ein geflochtener Korb, in dem mediterrane Früchte leuchteten. Sie schien in Gedanken versunken, sah Carvalho nicht an, sondern starrte wie unter Zwang auf den eisernen Teekessel auf der kalten Herdplatte.
»Es ist schrecklich.«
»Kannten Sie ihn?«
»Sehr gut.«
Sie hob den Kopf und blickte zur Decke empor. In ihren Augen glänzten Tränen, und ihre Kehle schimmerte weiß; sie war breit, aber sehr schön.
»Sehr, sehr gut.«
Damit brach sie in Tränen aus. Carvalho spielte mit einer Pampelmuse, die offensichtlich mit einem Tuch poliert worden war, ebenso wie die Orangen und die Zitronen. Als sie ihr tränenüberströmtes Gesicht wieder hob, schlug Carvalho die Fangzähne seiner Augen in die Schönheit ihrer weißen Kehle. Flüchtig blitzte in ihm der Verdacht auf, die Witwe Salomons sei in einer Filiale von Actor’s Studio in Rotterdam ausgebildet worden. Sie weinte wie Warren Beatty in Fieber im Blut. Dann verstummte sie, als träte sie von der Bühne ab, und ihre Trauer lag genau zwischen Theater und Film. ›Es gibt für alles Talente‹, dachte Carvalho und begann, mit den Fingern eine Orange zu schälen. Die Witwe erhob sich, um ihm ein Tellerchen für die Schalen zu holen. Dabei fiel ihm ein Bonmot von Juan Petit ein, seinem Professor für Französische Literatur, der einmal gesagt hatte: »Stellen Sie sich vor, der angsterfüllte Mensch Sartres hört mitten in einem Anfall von metaphysischer Angst ein Klopfen an seiner Tür. Er öffnet; es ist der Stromableser, der kassieren will. Wenn er bezahlen kann, gut. Dann kann er mit seiner Angst fortfahren. Aber wenn er nicht bezahlen kann, geht seine metaphysische Angst zum Teufel und die andere kommt.« Der Professor war ebenso geistreich wie angsteinflößend, mit seinem Jodzerstäuber, mit dem er immer versuchte, seine Asthmaanfälle zu bekämpfen.
»Entschuldigen Sie! Ich biete Ihnen hier ein Schauspiel!«
Carvalho machte eine uneindeutige Geste, die die Dame als Aufforderung deutete, sich Zeit zu lassen und sich keinen Zwang anzutun. In der Tat brach sie unter heftigen Zuckungen erneut in Tränen aus, feste, schwere Tränen, die hängenblieben. Carvalho aß die Orange auf und ging zum Wasserhahn, um seine Hände zu waschen. Durch das Fenster beobachtete er die Sonnenanbeter, die sich ihre Geschwüre an Körper und Geist vom ältesten und solidesten aller Götter austrocknen ließen. Er stützte den Hintern auf den Kühlschrank auf, vor sich das Bild des Jammers, dargeboten von der Witwe Salomons und den Orangenschalen auf einem Tellerchen aus Delfter Porzellan.
»Kannten Sie ihn sehr gut?«
»Ja. Das sagte ich doch schon. Was denken Sie jetzt von mir? Es ist mir sehr unangenehm.«
»Señora, die Dinge kommen, wie sie kommen. Ich möchte gerne einiges über meinen Freund erfahren. Seine Eltern sind sehr in Sorge. Seit beinahe zwei Jahren haben sie nichts von ihm gehört. Seine letzten Briefe kamen aus Amsterdam.«
»Danach lebte er fast die ganze Zeit in Rotterdam.«
»Hier?«
»Ja.«
»Hatte er immer noch Verbindung zu Singel?«
»Ja. Ich weiß nicht, ich weiß nicht.«
»Was wissen Sie nicht?«
»Ich weiß nicht, ob die Freundschaft mit Singel gut für ihn war. Sie bot ihm die Gelegenheit auszusteigen. Verstehen Sie? Er war nicht dafür geboren, ein einfacher Handlanger bei Philips zu sein.«
»Niemand wird geboren, um Handlanger zu sein.«
»Sie wissen schon, was ich meine. Er besaß eine angeborene Intelligenz. Er war wach. Kommen Sie!«
Die Witwe erhob sich und stieg die Treppe hinauf, die zum obersten Zimmer führte. Carvalho folgte ihr. Sie führte in einen Flur voller Bücherregale. Dazwischen hingen Drucke und echte Gemälde an den Wänden. Von dem Flur aus gelangte man in ein Schlafzimmer, ebenfalls voller Bücher. Am Fenster stand ein Arbeitstisch mit Blick auf den Garten, wo die Sonnenanbeter immer noch still ihrem Gott huldigten.
»Er hatte fast alles gelesen. Und ich glaube nicht, daß es einfache Bücher sind. Englisch las er fast fehlerfrei, er hatte in Amsterdam einen Intensivkurs gemacht. Er war ein Mensch – wie soll ich sagen – mit Tiefe.«
»Tiefgang.«
»Das ist es. Tiefgang. Er meditierte oft. Er dachte ausführlich über die Dinge nach. Und außerdem war er ein Rebell.«
Während die Witwe Salomons erzählte, ging sie im Zimmer auf und ab und hielt dabei die Ellbogen mit den Händen umfaßt. In zehn Minuten gab sie Carvalho eine exzellente Biographie von Julio Chesma. Er war in Puertollano geboren, in der Provinz Ciudad Real. In der Stadt herrschte eine ungeheure Umweltverschmutzung, ungeheuer! Dies betonte die Witwe. Er war Waise, natürlich, wohl infolge der Umweltverschmutzung, und wuchs im Waisenhaus auf, natürlich. Überall hatte er Spuren eines brutalen und verzweifelten Aufbegehrens hinterlassen. Dann zur Legion, natürlich. Kleinere Delikte und Gefängnis, natürlich. Dann hatte er sich in Bilbao eine Verlobte zugelegt und zum erstenmal festen Boden unter die Füße bekommen. Er besuchte Kurse in Abendschulen und beschloß, außerhalb Spaniens Arbeit zu suchen, um die Welt und alles kennenzulernen, was es nördlich und südlich von jedem beliebigen Ort zu sehen gab.
»Das bei Philips konnte nicht lange gutgehen. Julio war unfähig, sich damit zu arrangieren.«
Die Witwe Salomons ahmte mit den Händen das Einführen der Karte in die Stechuhr nach.
»Waren Sie die erste Frau, mit der er in Holland intim wurde?«
»Nein, das glaube ich nicht. Von Philips ging er nach Amsterdam und arbeitete als Türsteher in einem Club mit Live-Show – im Red Light.«
»Als Türsteher?«
»Na ja, manchmal wirkte er auch bei einer Nummer mit. Und in diesem Milieu, wissen Sie, ergeben sich viele Beziehungen, aber es sind keine legalen Beziehungen, mehr will ich dazu nicht sagen.«
»Das heißt also, er bekam Kontakt zur Unterwelt.«
»Nun, nicht direkt. Singel sagte mir, Sie seien unterrichtet. Ich bin nicht der Ansicht, daß ein Dealer zur Unterwelt gehört. Das hängt von der Droge ab. Sie verstehen schon, Heroin, Kokain, Opium, das ja, das ist kriminell.«
Die Witwe sprach, ohne ihn dabei anzusehen. Wie alle Welt vertrat sie die Ideologie, die sie benötigte, um ihr eigenes Leben zu rechtfertigen.
»Hat Chesma Sie über Singel kennengelernt?«
»Nein, umgekehrt. Ich lernte Singel und alles übrige durch Julio kennen. Es war vor zwei Jahren. Er kam ziemlich oft geschäftlich nach Rotterdam. Irgendwie hatte er sich einen Ausweis beschafft, der ihn berechtigte, in einem Künstlerclub zu essen. Es ist dort billiger, und das Essen ist gut. Ich esse immer dort. Ich arbeite bei der Organisation der Rotterdamer Kunstfestivals, auf dem Doolen, ganz in der Nähe des Hauptbahnhofs. Wir lernten uns im Club-restaurant kennen. Später faszinierte mich die Diskrepanz zwischen dem, was dieser junge Mann war und was er hätte werden können.«
»Und Sie wurden Mitglied der Organisation?«
Sie ging in Verteidigungsstellung.
»Singel wies mich an, solche Fragen nicht zu beantworten.«
»Ich wollte auch nur wissen, ob Julio genügend Kraft besaß, Sie in eine illegale Sache hineinzuziehen.«
»Ich machte ein paar Sachen mit, aber sehr selten. Vor allem, damit er sie nicht machte. Wenn er erwischt worden wäre, hätte man ihn ausgewiesen oder eingesperrt. Können Sie sich Julio in einem Gefängnis vorstellen?«
»Ich kann mir jeden in einem Gefängnis vorstellen.«
»Es gibt Leute, die das nicht aushalten.«
»Die könnten Sie an den Fingern einer Hand abzählen, und auf dieser Welt leben etwa dreitausend Millionen Menschen. In Wirklichkeit gibt es nur zwei Arten von Menschen: solche, die ins Gefängnis kommen, und solche, die ins Gefängnis kommen können. Das ist der Schlüssel zum Erfolg der Politiker, hier und überall.«
»Es gibt Leute von außergewöhnlicher Sensibilität, und Julio war so ein Mensch.«
»Seien Sie vorsichtig mit außergewöhnlicher Sensibilität! Solche Leute können im dreckigsten Gefängnis der Welt die Latrinen säubern.«
»Nun, Sie haben ihn eben nicht gut genug gekannt.«
»Erzählen Sie weiter. Julio kommt, Sie verlieben sich, er besucht Sie in unregelmäßigen Abständen. Er zieht Sie in die Drogensache, Sie ziehen ihn in die Sache mit der Literatur. Ein produktiver Austausch! Sie verdienen Geld, und er bildet sich.«
»Ich habe nie einen einzigen Gulden daran verdient! Ich tat das alles nur, um ihm Sorgen abzunehmen.«
Carvalho legte es darauf an, die echte Wut dieser Frau herauszufordern, die es fertigbrachte, ihm eine Rolle vorzuspielen, ohne sich der Täuschung bewußt zu sein. In diesem breiten, weichen rotweißen Bett lag das Geheimnis der Verführung. Alles übrige war Literatur oder ideologische Maske, um dem Skelett des allerursprünglichsten Interesses ein Gesicht zu geben.
Die Witwe hatte sich aufs Bett gesetzt. Die Beine, einer gewissen Entspannung hingegeben, kamen zum Vorschein wie hingegossen, der Rock war fast bis zu den Hüften hochgerutscht. Carvalho würdigte die optische Festigkeit ihres Fleisches.
»Mit der Zeit blieb er immer kürzer in Rotterdam. Er machte zwei oder drei Reisen nach Spanien, bevor er endgültig dorthin zurückkehrte.«
»Wissen Sie, woher er die Idee zu der Tätowierung hatte?«
»Nein. Aber es war wohl sein Grundgedanke, seine Devise. Die Dinge, auf die er sich einließ, nahmen nie ein gutes Ende, er war schon immer und überall ein Ausgestoßener. Aber ein Anführer. Eine echte Führernatur.«
»Warum kehrte er endgültig nach Spanien zurück?«
»Er wußte nicht, ob es für immer war. Nach und nach war unsere Liebe abgekühlt.«
»Auch von Ihrer Seite?«
»Nein.«
Es war ein gedämpftes Nein mit dem Unterton des Begehrens.
»Nein«, wiederholte sie. »Ich liebte ihn nach wie vor. Sehr sogar. Aber er war kein ›Mann fürs Leben‹.«
»Haben Sie Kinder?«
»Einen Sohn.«
»Im Internat?«
»Hat Ihnen Singel das erzählt?«
»Nein. Aber es ist logisch.«
»Der Junge hätte das mit Julio nicht verstanden. Julio selbst war am meisten dagegen, ihn ins Internat zu schicken, aber es gab keine andere Lösung. Das Haus ist zu klein.«
»Holen Sie ihn wieder zu sich?«
»Ich habe mich inzwischen an diesen Lebensstil gewöhnt. Und der Junge auch. Er ist sehr glücklich, glauben Sie mir! Außerdem bin ich noch jung.«
»Hat Julio Ihnen einmal etwas Konkretes aus Spanien erzählt? Oder von konkreten Personen?«
»Nein, er vermied es. Es waren ehrliche Briefe, die er mir schrieb, wenn er andere Frauen kennengelernt hatte, aber er hat sie nie namentlich erwähnt.«
»Schrieb er Ihnen auch in der letzten Zeit?«
»Kaum.«
»Haben Sie die Briefe aufbewahrt?«
»Den einen oder anderen wohl. Anfangs bewahrte ich sie alle auf, aber dann befürchtete ich, mein Sohn würde sie finden. Er verbringt seine Wochenenden bei mir. Es sind sehr intime Briefe.«
»Darf ich einen davon lesen?«
»Tut mir leid, die Briefe sind sehr persönlich.«
»Einen, in dem er erwähnt, was er machte, wo er sich aufhielt, was für Leute er kennenlernte.«
»Er erwähnte niemals Namen.«
»Aber wenn er Ihnen von Beziehungen zu Frauen schrieb, mußte er zwangsläufig konkrete Angaben machen …«
»Nein, niemals. Diese Sicherheitsmaßnahmen waren ihm schon zur Gewohnheit geworden.«
»Irgendeine Adresse?«
»Ja. Das schon.«
Sie erhob sich und wühlte in den Schubladen des Tisches. Dann nahm sie einen Umschlag heraus und reichte ihn Carvalho. Eine gut ausgeschriebene Handschrift, jedoch allzusehr dem Gesetz der dünnen Auf- und dicken Abstriche der schulmäßigen Kalligraphie verpflichtet. Allerdings waren die Auf- und Abstriche synthetisch, verdorben durch den Kugelschreiber. Carvalho sah sich den Absender an und notierte die Adresse: Teresa Marsé, Avenida General Mitre, 46. Barcelona.
»Welche Aufgabe hatte er in der Organisation, als er wieder in Spanien war?«
»Das darf ich Ihnen nicht beantworten.«
»Es geht mir nur um persönliche Beziehungen, nicht um geschäftliche. Genoß er weiterhin das Vertrauen Singels und der anderen?«
»Voll und ganz. Singel tat es aufrichtig leid, als er von seinem Tod erfuhr. So ein schrecklicher Tod!«
Sie begann wieder zu weinen. Dann sah sie Carvalho unter Tränen an.
»Haben Sie seine Leiche gesehen?« fragte sie ihn.
»Nein.«
»Stimmt es, daß er kein Gesicht mehr hatte?«
»Es sieht so aus.«
»Dann ist es sehr gut möglich, daß es nicht er war. Wurde die Identität bestätigt?«
Eine Tätowierung ist schnell gemacht. Ein Körper kann durch einen anderen ersetzt werden. Es war gut möglich, daß der Tote nicht Julio Chesma war. Carvalho sah nicht mehr die aufgelöste Witwe Salomons vor sich, sondern Señor Ramón. Was wollte er wissen? Die Identität eines Toten oder die Bestätigung einer Identität?
»Hat Ihnen Julio niemals einen Hinweis auf seine aktuellen Verbindungen in Barcelona gegeben?«
»Fangen Sie nicht wieder damit an. Ich darf Ihnen darüber keine Auskunft geben. Außerdem weiß ich es nicht. Ich weiß überhaupt nichts.«
»Es könnte eine Abrechnung unter Kollegen gewesen sein.«
»Daran hat Singel auch schon gedacht. Er ist sehr besorgt.«
Die Witwe hatte sich erhoben. Sie hatte ihre Aufgelöstheit verloren und sah auf die Uhr. Bei vielen Anlässen hatte man Carvalho schon weniger rücksichtsvoll zum Gehen aufgefordert.
»Ich muß gehen«, sagte Carvalho und machte Anstalten, sich zu verabschieden.
»Wissen Sie nun alles, was Sie wissen wollten?«
»Nicht alles. Aber der Kreis schließt sich.«
»Wohin führt er Sie?«
»Genau zum Ausgangspunkt zurück. Das ist immer das Überraschende an Kreisen.«
Er ging vor der Witwe her die Treppe hinab, denn er hatte gelernt, daß es zum guten Ton gehört, beim Hinaufgehen der Dame den Vortritt zu lassen, während man selbst beim Hinuntergehen voranschreitet. Nicht alle Frauen kannten die Regel oder verstanden ihren Geist richtig, und in mehr als einem Falle war ihm das Gebot des Anstandes als das glatte Gegenteil ausgelegt worden. Aber die Witwe Salomons war gut erzogen und begrüßte Carvalhos Vorangehen sogar mit einem Lächeln. Pepe überlegte, ob er einen Angelhaken auswerfen, Süßholz raspeln oder die Sache auf dem Niveau einer Trauerfeier zum Gedenken des verlorenen Geliebten belassen sollte. Er brauchte nur zu sagen: ›Ich bedaure, daß wir uns unter so dramatischen Umständen kennenlernen mußten. Haben Sie heute abend schon etwas vor?‹ Das Grinsen des Gesichtes erweckte das, was das Gehirn dachte. Als er sich zu Señora Salomons umwandte, war sein Gesicht zur Maske des Geschäftsführers eines Bestattungsunternehmens erstarrt, der sich bei der Witwe erkundigt, ob der Service zu ihrer Zufriedenheit gewesen sei.
»Ich bin untröstlich, daß Sie all das erleben mußten. Aber es gibt Erinnerungen, die man besser vergißt.«
Der Kopf der Witwe sank auf ihre Brust. Carvalho befürchtete schon einen erneuten Weinkrampf. Aber sie hob das Gesicht, und ihre feuchten Augen lächelten in trojanischer Heiterkeit angesichts der Vorbestimmtheit von Schicksal und Tod. Carvalho warf einen letzten Blick auf den Körper der Trojanerin, die litt, aber entschlossen war, weiterhin am Wegesrand der Kultur nach resozialisierbaren, vielversprechenden, hypersensiblen jungen Männern und guten Kämpfern im Bett zu suchen, solange ihre Haut noch straff und ihr Fleisch noch fest wäre.
Der Polizist wusste nicht, ob Kayser im Hause war. Eine Minute später betrat der rotblonde Inspektor das Büro, der ihn zweimal im Hotel besucht hatte. Kayser sei da und komme sofort. Er bot Carvalho wieder einen seiner zahnstocher-artigen Zigarillos an. Carvalho rauchte normalerweise nur schwere Zigarren, aber er bediente sich, weil er kleine Lekkerbissen liebte.
»Haben Sie etwas Interessantes für Kayser?«
»Ja, ich will mich verabschieden. Morgen früh fliege ich.«
»Eine interessante Neuigkeit. Sie haben uns große Sorgen bereitet, Señor Carvalho!«
»Ganz ohne Grund. Ich bin als einfacher Tourist hier.«
»Wie ich sehe, ist Ihr Auge besser geworden. Gestern gab es zwei Überfälle im Rotlichtviertel.«
»Scheint ein ruhiges Viertel zu sein!«
»Der Schein trügt.«
Die Glastür öffnete sich, und nach dem Arm schob sich ein Mann ins Büro, der nicht weniger hünenhaft war als der Rotblonde und trotz seines weißen Haares eine physische Energie ausstrahlte, die seine ganze Umgebung magnetisierte, vergleichbar mit der Gegenwart eines berühmten Schauspielers, der sich der Bühne bemächtigt und alle anderen auslöscht. Sobald Kayser eingetreten war, vergaß Carvalho den anderen Polizisten. Er nahm nicht einmal wahr, daß dieser weiterhin anwesend blieb. Der Polizist saß in einer Ecke und verfolgte als Zuschauer in der ersten Reihe die falschen Herzlichkeiten, die Carvalho und Kayser austauschten.
»Ich hätte Ihnen nicht verziehen, wenn Sie abgereist wären, ohne mich besucht zu haben, und sei es auch nur in Erinnerung an alte Zeiten. Wie mir Inspektor Israel erzählte, arbeiten Sie nicht mehr für die Amerikaner. Sie sind selbständig. Bringt es denn etwas ein?«
»Jeder Spanier hegt die heimliche Hoffnung, sich eines Tages selbständig zu machen. Sagen wir, es ist eine Arbeit nach meinem Geschmack, und außer dem Klienten trägt keiner die Verantwortung.«
»Auf diese Weise lassen Sie Ihre ganze Begabung brachliegen! Ich habe mir die Sache reiflich überlegt, Freund Carvalho, und bin zu dem Ergebnis gekommen, daß Sie uns hier, in Amsterdam, einen sehr wertvollen Dienst erweisen könnten. Sie genießen bei uns immer noch einen sehr guten Ruf, und eine Menge unserer Jungs haben von Ihnen das ABC ihres Berufs gelernt.«
»Das freut mich.«
»Jetzt würde es nicht um dieselbe Arbeit gehen. Wissen Sie, wie viele Spanier hier in Holland arbeiten? Über zwanzigtausend. Wir sind bemüht, ihnen den Aufenthalt bei uns zu erleichtern, aber leider sind wir dazu nicht immer in der Lage. Sie haben eine seltsame Mentalität, mit der wir nicht genügend vertraut sind. Sie könnten eine Abteilung aufbauen, ganz offiziell natürlich, deren Aufgabe die wohlwollende Überwachung Ihrer Landsleute wäre. Eine beschützende Überwachung. Nicht alle schaffen den Sprung aus einem überbeschützenden Staat wie dem Ihren in ein permissives Land wie das unsere, Señor Carvalho. Wir haben hier eine permissive Gesellschaft, wie es die Soziologen heute ausdrücken. Haben Sie die Soziologie endgültig an den Nagel gehängt?«
»Ich lebe von ihr.«
»Ist das eine Metapher?«
»Möglicherweise. Was meinen Sie?«
»Es ist eine Metapher. Eine sehr gelungene. Ist denn ein Polizist wie ich etwa kein Soziologe?«
Kayser erntete die Zustimmung von Inspektor Israel, der aus dem Hintergrund der Szene aufgetaucht war, um seinen Satz im Rampenlicht aufzusagen. »Stimmt haargenau. Soziologe und Psychologe.«
»Sehen Sie? Eine permissive Gesellschaft wie unsere kann bei Ihren Landsleuten eine innere Verunsicherung hervorrufen. Sex und Politik sind plötzlich in ihre Reichweite gerückt.«
»Sex ist für jeden Immigranten zu teuer.«
»Vielleicht gerade deshalb. Sie haben den Sex in Reichweite, können ihn aber nicht immer bekommen. Das führt zu beklagenswerten Frustrationen, die aufzulösen unglücklicherweise nicht im Bereich unserer Möglichkeiten liegt. Nun gut, aber da ist auch die politische Frage. Sie wissen ja, in Holland herrscht weitestgehende Toleranz gegenüber jeglicher Aktivität, solange sie keine verfassungsfeindlichen Wege beschreitet; wir haben sogar Trotzkisten, Señor Carvalho! Aber ein holländischer Trotzkist besitzt immerhin den unbezweifelbaren Vorteil, von Geburt an Holländer zu sein. Er ist in erster Linie Holländer, und sein Verhalten als Trotzkist überschreitet nicht die Grenzen des Erlaubten. Aber können Sie sich einen spanischen Trotzkisten, Anarchisten oder, kurz und gut, einen Kommunisten in Holland vorstellen? Können Sie sich vorstellen, wie er unter seinen politisch gesehen ausgehungerten Landsleuten Anhänger wirbt? Einen politisch aktiven Spanier, Türken oder Griechen müssen wir viel genauer überwachen als hundert Holländer. Sie könnten eine faszinierende Aufgabe übernehmen: zunächst eine Klassifikation der Ideologien und Aktivitäten, dann deren Quantifizierung. Auf diese Weise würden wir ein exaktes Wissen über die ideologische Entwicklung Ihrer Landsleute bekommen, und davon ausgehend könnte man ihre Aktivität kanalisieren und verhindern, daß sie sich selbst schaden bei dem Versuch, in einem so wenig rezeptiven Kontext aktiv zu werden.«
Carvalho nahm automatisch den neuen Zigarillo an, den ihm Israel von hinten reichte. Kayser sprach weiter, aber Carvalho war geistig blockiert und dachte an andere Dinge, verfolgt von Erinnerungen und Vorstellungen zu dem Thema, das Kayser ansprach. Er bemerkte, daß der Inspektor zu reden aufgehört hatte und mit wohlwollendem Lächeln auf seine Antwort wartete.
»Nein. Daran bin ich nicht interessiert. Meine handwerkliche Arbeit ist mir lieber. Man beauftragt mich mit der Suche nach einer Ehebrecherin oder nach einem verschwundenen Verwandten. Oder ich soll Veruntreuungen von Geschäftspartnern nachweisen. Eine ruhige Arbeit. Ich wechsle nicht zu so großen, wichtigen und bedeutungsvollen Dingen wie Ideen, Politik und dergleichen. Das kann entweder in einem soliden technologischen Geist geschehen oder indem man einen festen ideologischen Standort bezieht. Ich selbst besitze mittlerweile weder das eine noch das andere. Ich arbeite genug, um davon leben zu können. Die technologische Weiterentwicklung unseres Berufes interessiert mich nicht. Darüber lese ich nicht einmal Bücher. Ich habe mich sehr verändert. Und was den zweiten Punkt betrifft, so kümmern mich Trotzkismus, Anarchismus und Kommunismus einen Scheißdreck, genauso die permissive Gesellschaft. Ich bin nicht einmal neutral, ich bin keimfrei.«
»Sie machen einen großen Fehler. Wir versuchen nicht, die neugewonnene Freiheit Ihrer Landsleute abzuwürgen. Wir wollen sie lediglich kanalisieren.«
»Würgen Sie ab, oder kanalisieren Sie, aber ohne mich. Ich habe die CIA verlassen, als ich dort eine glänzende Zukunft hatte. Ich hatte schon drei Triennien angehäuft, und ein wichtiger Posten in Kolumbien sollte bald frei werden, ein sehr wichtiger. Aber ich sagte nein und ging. Ich hatte auf großem Fuß gelebt und nichts auf die hohe Kante gelegt. Jetzt will ich ein wenig sparen, weil ich schon auf die Vierzig zugehe und man an sein Alter denken muß.«
Kayser lachte mit einer beinahe gelungenen Aufrichtigkeit.
»Sie machen wirklich einen großen Fehler. Irgend jemand muß diese Aufgabe übernehmen, und nur wenige Leute besitzen Ihr Geschick und Ihre Erfahrung. Sie kennen den Unterschied zwischen einem einfachen Polizisten und einem, der Theorie und Praxis verbinden kann. Das ist ein Profi der Spitzenklasse, ein Humanist! Die Pragmatiker dagegen, Sie wissen ja, was das für Leute sind. Ist es Ihnen lieber, wenn Ihre Landsleute denen in die Hände fallen?«
»Ich habe keine Landsleute. Ich habe nicht einmal eine Katze.«
Kayser lachte wieder. Er hatte sich erhoben. Israel ebenfalls. Carvalho nahm es als Wink. Kayser begleitete ihn zur Tür, doch plötzlich schlug er sich die Hand vor die Stirn und winkte ihn beiseite, in einen Winkel des kleinen Korridors, der zum Ausgang führte.
»Ich vergaß vollkommen, mich nach Ihrem Gesundheitszustand zu erkundigen. Israel erzählte mir von dem Zwischenfall. Wie Sie sehen, haben wir Ihnen keine peinlichen Fragen gestellt, aus Respekt vor der alten Freundschaft. Beim nächstenmal wird dies nicht mehr der Fall sein.« Kayser war immer noch die Freundlichkeit in Person.
»Verstehen Sie das bitte«, fuhr er fort. »Sie hätten in der Gracht ertrinken können, und wir hätten große Schwierigkeiten gehabt, das unseren Vorgesetzten zu erklären.«
»Ich bin als Tourist gekommen.«
Sie gingen wieder zum Ausgang.
»Wir alle sind nur Reisende, lieber Carvalho.«
Er drückte Kayser und Israel die Hand, verließ das Polizeigebäude und freute sich. Er freute sich, wieder auf die Straße hinauszutreten und das letzte Tageslicht in Amsterdam auszukosten, um bestimmte malerische Winkel und Impressionen wiederzufinden, genau wie ein Tourist, der an einen Ort zurückkehrt, den er verstanden hat.
Die nicht vorhandene Gesprächsbereitschaft seines Sitznachbarn und eine gewisse Ermüdung durch die vielen Ereignisse in den wenigen Tagen trugen zu einer nachdenklichen Rückreise bei. Sobald er im Flughafen von Barcelona den Fuß auf den Boden gesetzt hatte, folgten seine Aktionen einem genau durchdachten Plan. Es war eine ungünstige Zeit, um Charo anzurufen. Es war ihre Stoßzeit, und wenn sie mit einem Kunden beschäftigt war, legte sie für gewöhnlich den Hörer neben das Telefon. Er hatte Glück, Charo nahm den Hörer ab.
»Ich bin ’s. Du mußt heute nacht zu mir nach Hause kommen, egal wann. Ich kann unmöglich zu dir kommen.«
»Mir geht es miserabel.«
»Ich warte auf dich. Ich habe dir etwas mitgebracht.«
»Was denn?«
»Komm, dann kriegst du ’s!«
Er hatte sein Auto auf dem Flughafenparkplatz abgestellt. Obwohl er nur drei Tage weg gewesen war, hatte er das Gefühl, von einer langen Reise heimzukehren. Das Auto war das erste ihm nahestehende Wesen, das er wieder in Besitz nahm, und er war selbst überrascht, daß er für diese Maschine eine gewisse Zärtlichkeit empfand. Je länger er aber durch die Stadt fuhr, um zum Tibidabo zu gelangen, desto mehr schwand seine Fähigkeit zu Staunen und Wiedersehensfreude. Die Landschaft klebte ihm wieder am Körper wie ein vertrautes Kleidungsstück, das ihn in die altbekannten Koordinaten einfügte. Im Briefkasten fand er nur Prospekte. Er ließ sie dort liegen, damit sie weiterhin die feuchte Kühle der Nacht genießen konnten. Er verspürte das dringende Bedürfnis, es sich gemütlich zu machen und das Kaminfeuer zu entzünden. Dabei öffnete er das Fenster, damit die Feuchtigkeit der Julinacht die Hitze des brennenden Holzes ausglich. Wieder fand er kein Papier zum Anzünden. In der Tasche hatte er noch ein sauber gefaltetes Exemplar von Suck, aber so schnell wollte er es nicht opfern, nachdem er es gerade erfolgreich durch den Zoll geschmuggelt hatte. Lieber wollte er ein Buch verbrennen, und diesmal mußte mit tödlicher Sicherheit eine Ausgabe von Don Quijote in der Ausgabe von Sopena dran glauben. Es war ein Werk, gegen das er einen alten Groll hegte. Er freute sich schon darauf, es zu opfern, und das einzige, worum es ihm kurz leid tat, waren die Illustrationen zu den Abenteuern dieses Idioten.
Mit hochgekrempelten Ärmeln errichtete er eine verzwickte Konstruktion aus Holzscheiten und Reisig, darunter schob er den Quijote mit aufgeschlagenen Seiten und zündete ihn an. Die Szene erinnerte ihn an ein altes Märchen von Andersen, bei dem der Leser die aufregende Entwicklung einer Leinpflanze miterlebt, wie sie keimt und wächst, bis sie sich in ein Buch verwandelt und schließlich in einem lustigen weihnächtlichen Kaminfeuer den Tod findet. Er hatte noch über dreitausendfünfhundert Bücher in seinen Regalen, die die Atmosphäre des Hauses belasteten wie Gitterstäbe. Er konnte also in den nächsten zehn Jahren etwa dreitausendfünfhundert Feuer entzünden.
Er nahm die chinesische Jacke für Charo aus dem Koffer und legte sie auf einen Sessel. Im Kühlschrank fanden sich noch Stockfisch und ein paar Dosen mit Erbsen, Paprika, Tomaten und Pökelrippchen. Daraus konnte er einen herrlichen Stockfischreis zubereiten, ein Gericht, das Charo sehr liebte. In einem Plastikbehälter fand er noch ein Stück sobrasada, feine Paprikawurst von den Balearen. Eine Scheibe davon würde die übrigen Zutaten sehr gut ergänzen. Auch mangelte es im Keller nicht an Bierdosen, und für alle Fälle hatte er im Flughafen von Amsterdam noch vier Dosen holländisches Bier gekauft. Dem Koffer entnahm er auch geräucherten Lachs, der dort nur halb so viel wie in Spanien gekostet hatte. Als Vorspeise machte er ein paar Canapés. Er vermengte kleingehackte Zwiebeln, Essiggürkchen und Kapern mit Butter und bestrich damit Pumpernickelscheiben. Dann schnitt er den Lachs in hauchdünne Scheiben und verteilte ihn darauf.
Er hörte Charos Auto vor dem Haus, als er gerade dabei war, ein grobes Flanelltuch naß zu machen, um es auf die Herdplatten zu legen. Darauf stellte er den Topf mit dem kochenden Reis, damit sich die Reiskörner lösten, die eventuell am Boden des Topfes klebten, während der Reis ruhte. Charo kam in die Küche, als er gerade seine Hände mit einem Tuch trocknete.
»Was für eine Seltenheit! Du kochst. Das Kaminfeuer brennt. Jeder, der mitten im Juli ein Feuer im Kamin brennen sieht …«
»Es denkt sich so besser.«
»Ach, du willst heute abend nachdenken? Dafür brauchst du mich also?«
Er spürte eine gewisse erotische Anschmiegsamkeit hinter Charos scheinbar harschen Begrüßungsworten.
»Ich lade dich zu einem Reis mit Stockfisch ein!«
»Das ist schon besser. Oh, das hast du dir gekauft?«
Charo zeigte begeistert auf die chinesische Jacke.
»Die ist nicht für mich.«
Charo hatte sie schon in die Hand genommen und besah sie sich genau.
»Für mich?«
»Für wen sonst?«
»Danke, mein Gönner!«
Damit drückte sie ihm schmatzend zwei feuchte, parodistische Küsse mitten auf den Mund. Carvalho hörte die Urwaldtrommeln der Erotik. Überlegte aber kalt, wie fatal es für sein Reisgericht wäre, wenn er die erotischen Ereignisse vorverlegen und das Abendessen aufschieben würde. Das Essen mußte eben beschleunigt werden.
Charo lobte den Reis begeistert. Sie hatte sich bereits nackt ausgezogen, um nur in der chinesischen Jacke dazusitzen.
»Ist die aus Peking?«
»Schau aufs Etikett!«
»Ich meine, ist sie echt aus China?«
»Aus Hongkong.«
»Stimmt tatsächlich!«
Charo verschlang das Essen wie ein Jugendlicher in einem Wachstumsschub. Das war eines der Dinge, die Carvalho an ihr mochte. In der Tat kann man keinem Menschen trauen, der dem Essen gegenüber gleichgültig ist. Charo verstand es, zum richtigen Zeitpunkt mit dem Essen aufzuhören und das Liebesspiel zu beginnen. Carvalho war sogar ein wenig verliebt in sie, vielleicht weil ihm bei ihr der Erfolg sicher war, ganz im Gegensatz zu der Liebe auf Reisen in fremden Städten, die einem niemals die Abenteuer bieten, die man erwartet.
Sie legten sich auf den Teppich vor dem Feuer. Carvalho beantwortete rasch Charos Fragen über Holland, was unerlässlich war, damit sie seinen Fragenkatalog beantwortete, den er schon parat hatte.
»Und was ist mit deinem Auge? Sieht aus wie ein Kratzer von langen Fingernägeln!«
»Es war eine Faust!«
»Sieht aber aus wie ein Kratzer.«
»Und wie sieht es hier aus?«
»Noch schlimmer. Alles haben sie geschlossen, Stundenhotels, Bars, alles. Hunderte von Mädchen sind im Gefängnis von La Trinidad oder in Alcalá de Henares. Und eine Menge Leute verhaftet.«
»Sind deine Freundinnen noch in deiner Wohnung?«
»La Andaluza ja. Die andere war böse, weil du ihren Verlobten verprügelt hast, und ist weggegangen. Nimm dich vor dem in acht! Er ist kein schlechter Mensch, aber was man sich einbrockt, muß man auch auslöffeln!«
»Hast du La Pomadas gefunden?«
»Sie war eine der ersten, die geschnappt wurden. Sogar schon vor der Razzia!«
»Ihr müßt mir einen Gefallen tun. Du nicht, deine Freundin. Wenn du hingehst, erkennen sie dich und schöpfen Verdacht. Läßt du dir bei Queta die Frisur machen?«
»Wer, ich? Bei der? Nie im Leben! Hinterher sehe ich aus wie eine Vogelscheuche. Ich gehe zu einem guten Friseur, auf der Avenida Mistral. Er hat zwar nicht so einen Namen wie Llongueras oder so einer, aber er macht es wirklich gut. Schau her, wie toll meine Frisur aussieht!«
»Sagenhaft.«
»Schau richtig hin, Mensch! Sieh dir das an, was für ein Schnitt! Glaubst du, die Queta bringt so etwas zustande?«
»Ist ja gut. Ich möchte, daß deine Freundin zu dem Friseursalon geht und sich umsieht. Sonst nichts. Sie soll genau darauf achten, was sie sieht. Wer hereinkommt, wer hinausgeht, was Queta sagt, was sie tut. La Gorda auch, und Señor Ramón. Weiß man hier im Viertel, wie sich Ramón und seine Frau miteinander verstehen?«
»Also, von denen spricht man nicht soviel. Ziemlich merkwürdig. Sie sagen, er sei etwas Besseres. Er soll aus einer sehr guten Familie stammen und verheiratet gewesen sein, und dann hat er anscheinend alles hinter sich gelassen wegen Queta, als er schon älter war. Aber man hört nichts darüber, ob sie sich miteinander verstehen oder nicht.«
»La Andaluza muß mir alles erzählen, was sie sieht. Sie soll keine Fragen stellen, nur die Augen offenhalten und mir dann alles erzählen. Doch! Sie soll sich nach den Arbeitszeiten und den Adressen der Mädchen erkundigen.«
Die Hauswartsfrau sagte, Señorita Marsé werde nicht vor sechs Uhr abends nach Hause kommen. Dann sei sie aber bestimmt anzutreffen, denn um diese Zeit komme der Junge aus der Ganztagsschule, er werde mit dem Bus gebracht, und sie sei immer da, um ihn abzuholen, zu baden, Abendbrot zu machen und so weiter. Der Junge, fügte die Hauswartsfrau aus eigenem Antrieb noch hinzu, um Carvalho die Orientierung zu erleichtern, verbringe die Wochenenden bei seinem Vater und dessen Eltern. Aber die übrigen fünf Tage sei er bei der Mutter. Nun gut, wenn es sehr dringend sei, wenn er unbedingt so schnell wie möglich die Señorita sprechen müsse – sie sei wahrscheinlich in ihrem Geschäft, einer Boutique in der Calle Ganduxer. Also einen Häuserblock weiter oben. Die Boutique, fuhr die Hauswartsfrau fort, um Carvalho Orientierungsprobleme zu ersparen, die Boutique habe sie schon gehabt, als sie noch mit ihrem Mann zusammenlebte. Die Familie des Mannes sei sehr vermögend, ihre auch, aber weniger.
Carvalho brauchte die Frau nicht mehr. Er wimmelte sie mit einer gewissen Unfreundlichkeit ab.
»Kommen Sie eigentlich vom Jugendamt? Sie ist eine großartige Mutter, glauben Sie mir! Der Junge hat alles, was er braucht. Er hält zu ihr!«
»Nein, ich bin nicht vom Jugendamt.«
Die Boutique nannte sich Trip. Sie war in einer wirkungsvollen Mischung aus modernen marokkanischen und nepalesischen Elementen dekoriert, mit der man ein derartiges Geschäft in jeder Straße von Straßburg hätte eröffnen können. In einer Straße von Barcelona wie dieser, einer Insel der Gepflegtheit, großzügig bebaut und mit Gartenanlagen, die der Bodenspekulation entgangen waren, erfüllte Trip seine Aufgabe, einen unbestimmten Prozentsatz der weiblichen Bourgeoisie des Viertels einzukleiden und ihnen zu ermöglichen, vorübergehend in eine andere Haut zu schlüpfen, den Käfig der Seele anders zu dekorieren, den geraden Weg des Funktionalismus, den sich die Bourgeoisie endgültig zu eigen gemacht hatte, zu verlassen und Farben und Stoffe zu verwenden, die denen der echten Inder glichen. Auf alle Fälle war die Bourgeoisie dank Trip kleidungsmäßig auf der Höhe der Bourgeoisie von Straßburg und nur knapp unterhalb des Niveaus von Paris, London oder San Francisco.
Teresa Marsé trug ein Kleid aus ihrer Kollektion. Was in ihrem Gesicht wie Masern aussah, war in Wirklichkeit ein sorgfältig angelegtes Raster künstlicher Sommersprossen. Über ihrem blauäugigen Puppengesicht brannte auf kleiner Flamme die unvermeidliche blonde Angela-Davis-Perücke, und die zu vermutenden Kurven ihres Körpers waren unter einem wallenden Gewand aus bläulicher Dritte-Welt-Kunstseide verborgen, die mit Stickereien ›made in Marrakesch‹ besetzt war. Sie besaß dieses ›Savoir-faire‹ einer Geisha, mit dem junge emanzipierte bürgerliche Frauen es verstanden, die voreheliche Begeisterung für Boutiquen in den Trost für ihr unerfülltes Leben umzumünzen. Die barbarische Sitte unserer Vorväter, einem entehrten Mädchen einen Kiosk zu kaufen, erfuhr eine leichte Abwandlung in dem neuen Brauch, unglücklich verheirateten Frauen mit metaphysischen Ängsten eine Boutique einzurichten. Carvalho erkannte, daß hinter dieser Geisha im wallenden Gewand eine Frau mit wenigen Schnörkeln steckte, und machte keine Umschweife.
»Ich bin auf der Suche nach Julio Chesma. Eine gemeinsame Bekannte aus Amsterdam gab mir Ihre Adresse.«
Das Puppenhafte verschwand aus Teresas Gesicht. Es drückte große Besorgnis und Unsicherheit aus. Wo Julio sei? Er habe seit etwa zwei Wochen nichts von sich hören lassen. Er sei schon öfter tagelang weg gewesen, habe aber zwischendurch immer wieder angerufen.
»Ich weiß weniger als Sie. Ich suche ihn, weil ich eine dringende Mitteilung für ihn habe. Ich komme gerade aus Amsterdam und muß mit ihm sprechen. Es gibt Schwierigkeiten. Sie wissen, was ich meine.«
»Was meinen Sie denn?«
»Wissen Sie nicht, was Julio treibt?«
»Er importiert Käseklöten.«
Ihre Interpretation der Edamerkugeln hatte Carvalho wie ein Schlag in die seelische Magengrube getroffen. Er mußte sich zusammennehmen, um nicht laut aufzulachen. Dadurch nahm sein Gesichtsausdruck eine verdächtige Zweideutigkeit an. Teresa Marsé studierte diesen Gesichtsausdruck genau und interpretierte seine Uneindeutigkeit als Vorboten schlechter Nachrichten.
»Julio ist etwas zugestoßen«, sagte sie.
Carvalho entschied sich für eine begrenzte Offenheit.
»Ich glaube, Sie können mir helfen, wenn Sie Bescheid wissen. Aber vielleicht ist hier nicht der richtige Ort. Essen wir zusammen?«
»Ich habe zwar schon einen Termin, aber das kann ich regeln. Es sollte irgendwo hier in der Nähe sein, denn ich muß noch ein paar Kleider anprobieren, bevor ich die Boutique nach der Siesta wieder aufmache, und um sechs Uhr muß ich zu Hause sein. Ein Lokal, wo wir irgendwas essen können.«
Das war genau das, was Carvalho niemals essen wollte. Er heuchelte jedoch Einverständnis, und sie vereinbarten, sich in zwei Stunden vor dem Café Bocaccio in der Calle Muntaner zu treffen. Carvalho nahm sich vor, das Beste daraus zu machen. Gegenüber gab es ein vorbildliches italienisches Feinkostgeschäft. Dort konnte er sich ein großartiges Abendessen zusammenstellen, um sich für das ›Irgendwas‹ zu entschädigen. Er ging hin und betrachtete zunächst mit kundigem Blick die frischen Teigwaren im Schaufenster. Er wußte nicht, ob er lieber Fettuccine oder Cappelletti kaufen sollte. Drinnen überließ er es ein paar Frauen, die offensichtlich in Eile waren, sich um die Reihenfolge zu streiten, und studierte indessen die Weinregale auf der Suche nach einem Marcelli. Nachdem er ihn gefunden hatte, vertiefte er sich in den Anblick der weichen Hügelchen der Cappelletti. Die Entscheidung war gefallen. Als er noch den Parmaschinken, den Mozzarella und die Tontöpfe mit den Saucen begutachtet hatte, wußte er genau, was er brauchte, und nannte mit völliger Sicherheit seine Wünsche.
Der Gedanke an das geplante Abendessen tröstete ihn in den nächsten Stunden über vieles hinweg. Es zeigte sich, daß Teresa Marsé in Fragen des Essens genau seinen Erwartungen entsprach. Sie gehörte zu der sozialen Klasse, die Canard à l’ Orange schon mit zehn Jahren nicht mehr sehen kann und, sobald sie sich einmal mit einem guten Wein bekleckert hat, gelangweilt ist und einen Billigwein gleichsetzt mit einem 1948er Château Laffitte, denn ihr Gaumen ist sowieso voller Überdruß angesichts der Tatsache, daß das Ende der Fahnenstange erreicht ist. Aus diesem Geist heraus ist es möglich, in einem Café über ein Essen herzufallen, das aus Dosenartischocken, einem halben Brathähnchen und Pommes frites besteht. Carvalho versuchte vergeblich, durch gutes Beispiel zu überzeugen, indem er ganz einfache Eier mit Speck bestellte, »aber richtig in der Pfanne gebraten, bloß nicht vom Bratblech«, warnte er den Kellner. »Ich würde sofort einen Sicherheitshelm für Kellner daraus machen.« Er bestand außerdem darauf, daß der gewöhnliche Wein durch eine Flasche 1928er Paternina ersetzt wurde, dem einzigen Jahrgang dieses Weines, der eine gewisse Erschwinglichkeit mit den richtigen chemischen Grenzwerten verbindet.
Teresa belächelte seine Sorge um das Essen mit aufreizender Überlegenheit. Sie hatte nicht einmal Appetit. Sie ließ die Hälfte ihres Plastikhähnchens auf dem Teller liegen, die Pommes frites hatte sie überhaupt nicht angerührt.
»Halten Sie Diät?«
»Nein. Manchmal schlage ich mir den Bauch voll wie ein Tier. Ich kaufe mir zwei Kilo Pfirsiche und höre nicht eher auf, bis alle weg sind.«
»Gesunde Kost, wie ich sehe.«
Bei einem doppelten Espresso, den sie genau wie Carvalho ohne Zucker nahm, kam Teresa zum Thema. Sie habe schon immer vermutet, daß sich Julio noch mit anderen Dingen beschäftige, allein schon wegen der Tatsache, daß er sich Post an ihre Anschrift schicken ließ. Carvalho erklärte ihr, mit welchen Dingen er sich beschäftigt hatte.
»Warum hat er mir nichts davon gesagt? Mir wäre das doch egal gewesen. Das verstehe ich überhaupt nicht. Sonst wissen Sie wirklich nichts? Ist ihm etwas zugestoßen?«
»Kann sein, daß ihm etwas zustößt. Man muß ihn so schnell wie möglich finden.«
»Dabei kann ich Ihnen nicht helfen.«
»Wo wohnte er?«
»Das weiß ich nicht.«
»Ist ja unglaublich. Sie müssen sich doch irgendwo getroffen haben, und doch sicher nicht in Ihrer Wohnung!«
»Warum nicht?«
»Würden Sie einen Skandal riskieren? Ich nehme an, Ihr Gatte ist tolerant, aber er geht nicht soweit, Ihnen zu erlauben, daß Sie Ihre Liebhaber in derselben Wohnung empfangen, in der Sie mit Ihrem Sohn leben.«
»Woher wissen Sie das alles?«
»Julio erzählte es mir.«
»Das ist nicht wahr. Die Hauswartsfrau hat es Ihnen erzählt. Ich unterhielt mich mit ihr, und sie erzählte mir alles. Sie wollte mir damit einen Gefallen tun, denn sie hielt Sie für einen Spion meines Mannes.«
»Also gut, lassen wir das. Wo trafen Sie sich denn?«
»Meine Eltern haben hier ganz in der Nähe ein leerstehendes Haus, in Caldetas, am Meer.«
»Ich weiß, wo Caldetas liegt.«
»Dort trafen wir uns immer. Meine Eltern fahren nicht mehr hin. Sie wollten es verkaufen, konnten sich aber nicht zu einer Entscheidung durchringen. Ich glaube, sie haben inzwischen vergessen, daß sie dieses Haus immer noch besitzen. Dort trafen wir uns. Deshalb mußten wir weder zu ihm noch zu mir gehen.«
»Kannten Sie irgendeinen seiner Bekannten oder Freunde? Seine Gewohnheiten? Wo aß er normalerweise?«
»Wenn wir zusammen aßen, dann hier. Mehr weiß ich nicht von seinem Leben.«
»Wie haben Sie sich kennengelernt?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Ich habe Zeit.«