Kapitel 13 Das war definitiv ein Laut. Halb Gurgeln, halb Schrei? Ich beuge mich weiter vor und lausche angestrengt, aber es ist nichts zu hören als der Regen und das rauschende Wasser.
»Bist du da drin?« Ohne sehen zu können, was unter Wasser liegt, mache ich in dem Schlamm einen Schritt nach vorn.
Diesmal bleibt eine Antwort aus. Ich überlege noch einmal, was ich da eben gehört habe. Könnte das Smitty gewesen sein? Der sich irgendwo dort unten versteckt? Oder dort festhängt?
»He!«
Smitty? Ich drehe mich ungeschickt zu der Stimme um und rutsche fast aus. Eine Hand fängt mich unterhalb des Ellbogens auf.
»Hab dich!« Russ strahlt mich an; der Regen lässt ihn blinzeln. »Entschuldige, falls ich dich erschreckt habe. Ich weiß, du wolltest, dass wir im Auto bleiben, aber du schienst mir ein bisschen Hilfe gebrauchen zu können.« Er ist klatschnass. Ich sollte mich freuen, sollte froh sein und dankbar – aber von wegen, meine Gedanken kreisen nur um Smitty. »Siehst du da irgendwas?«
»Nein. Ich dachte, ich hätte was gehört, aber …« Ich beiße die Zähne zusammen. »Da unter der Brücke ist eine Aussparung auf halber Höhe des Mauerwerks. Ich glaube, dass da unten auch ein Weg langführt, nur ist der jetzt überschwemmt. Ich will mal in diesen Hohlraum gucken, was da ist.«
Russ schaut zu der Stelle hin, dann schüttelt er den Kopf. »Da ist nichts, was uns weiterbringt. Wir sollten losmachen. Das ist zu gefährlich.«
»Ich sehe trotzdem mal nach.«
»Bobby …« Er schüttelt den Kopf. »Hast du gesehen, wie hoch das Wasser ist? Du wirst jämmerlich ersaufen.« Er hält meinen Arm fest.
»Loslassen!«, brülle ich ihn an. Was er vor Schreck über meine heftige Reaktion auch tut, jedenfalls für einen kurzen Moment. Aber dann greift er nach meinem Seil.
»Dann lass mich das wenigstens übernehmen.« Er sieht mich eindringlich an. »Ich bin stark.«
»Ja, weiß ich.« Ich ziehe ihm das Seil aus den Händen. »Schön für dich, Herkules.« Ich stolpere und stapfe durch das ansteigende Wasser zu der Stelle hinunter, wo ich auf diesen schmalen, am Ufer entlangführenden Pfad stoßen müsste, und bin mir nur zu bewusst, wie lächerlich ich vermutlich aussehe und wie total bescheuert ich bin. Das ist Selbstmord. Und ich muss zugeben – sosehr ich es auch hasse –, dass ich vielleicht längst umgedreht wäre, wenn Russ jetzt nicht gerade hinter mir stehen würde.
Ich lege eine eiskalte, nasse Hand auf den rauen Stein der Brücke und taste mich dort entlang, bis ich unterhalb des Brückenbogens bin. Das Wasser droht mir in die Watstiefel zu laufen, die Strömung zerrt an meinen Knien.
»Hallo!«, rufe ich über das Wasserrauschen hinweg zu dem Hohlraum hinauf.
Ich kneife die Augen zusammen. Ich muss noch dichter heran. Meine Hände fühlen sich taub an, als wäre ich gerade aufgewacht. Das Seil hinter mir herziehend, setze ich vorsichtig einen Fuß nach unten und klammere mich am Mauerwerk fest, damit ich nicht hinfalle. Das Wasser drängt sich kalt um die Watstiefel, aber meine Fußspitze findet schließlich festen Boden – glatten, flachen Stein – da, wo der Treidelpfad unter der Brücke entlangführt. Ich ziehe den anderen Fuß hinterher und werde fast weggeschwemmt, kralle verzweifelt meine Finger in die Mauer, presse mich ganz flach an den bröckligen Stein. Ein beruhigendes Gefühl an meiner Wange. Plötzlich schneidet etwas in meine Taille ein. Ich sehe mich mühsam um und da ist Russ und hält das Seil straff.
»Los, geh! Ich hab dich!«, ruft er gegen das Tosen an.
Ich verziehe das Gesicht und würde am liebsten lachen. Als wenn das so einfach wäre, du Schwachkopf. Immerhin wird es für meinen Tod einen Zeugen geben.
Ich verpasse mir selbst ein hübsches Kalkstein-Peeling, als ich meinen Kopf wieder zurückdrehe, und taste mich vorsichtig die Wand entlang, versuche die Kraft der Strömung so zu nutzen, dass sie mich gegen die Wand drückt. Der Boden ist echt sehr glatt – wenn ich ausrutsche, bin ich weg. Das Wasser drängt gegen meine Schenkel, klatscht mir am Rücken hoch. Was soll’s. Es ist dermaßen kalt, dass ich von der Hüfte abwärts kein Gefühl mehr habe.
Ich kann jetzt an diese Aussparung in der Mauer herankommen; sie ist nur ein Stück über mir. Ich strecke die Arme nach oben und die steinerne Kante bietet erstaunlich guten Halt. Mit einer Hand taste ich den Boden des Hohlraums ab, ob sich dort vielleicht etwas verbirgt. Dann schiebe ich mich ein Stück weiter und mache das Ganze noch mal. Ich entwickle da richtig einen Rhythmus:
Festhalten, festhalten, Schritt, tasten.
Festhalten, festhalten, Schritt, tasten.
Langsam bewege ich mich den Pfad entlang und suche nach – keine Ahnung, was. Hättest du dich nicht ein bisschen klarer ausdrücken können, Mum? Wo unter der Brücke? Und was soll da sein?
Zum ersten Mal kommt mir die Idee, dass sie mich ja vielleicht auch vor irgendetwas warnen wollte. Ich meine, sie hat eigentlich nur »underbridge« geschrieben. Damit hat sie ja vielleicht auch gemeint: »Bleib weg! Geh da nicht hin! Unter der Brücke ist es gefährlich.« Meine Gedanken rasen. Haust unter einer Brücke nicht normalerweise ein Troll? Ihr wisst schon, wie in den Gutenachtgeschichten und so. Und Räuber lauern an Treidelpfaden. Ich glaube nicht, dass sich unter einer Brücke je etwas Gutes ereignet hat. Vielleicht hätten wir gar nicht hierherkommen sollen. Zu spät, verflucht.
Gerade als ich diesem Gedanken noch nachhänge, stoße ich mit meiner suchenden Hand auf etwas.
Ich riskiere es, auf die Zehenspitzen zu gehen, um besser heranzukommen, und meine armen schmerzenden Finger schließen sich darum. Ein gepolsterter Gurt. Ich ziehe daran. Er ist mit irgendetwas Schwerem verbunden. Ich ziehe kräftiger und dann noch mal mit Schmackes.
Das Ding kippt um, aus dem Hohlraum heraus und fast über meinen Kopf hinweg in den schnell fließenden Fluss. Im letzten Moment reiße ich es zurück, zerre mir Nacken und Schulter dabei – aber das spielt keine Rolle; ich rette das Teil, stecke rasch einen Arm durch den Gurt, halte mich wieder an der Wand fest und mache mich daran, zurück aufs (sozusagen) Trockene zu zockeln.
»Was ist das?«, ruft Russ zu mir herunter.
»Ein Rucksack.«
Die Enttäuschung schmeckt wie Galle im Mund. Ein Rucksack, kein Smitty. Wehe, wenn Mum da nicht was total Nützliches reingepackt hat, das die ganze verflixte Mühe wert ist!
»Was ist drin?«, ruft Russ wieder.
Ich bedenke ihn mit einem Mörderblick, der im Halbdunkel unter der Brücke aber bestimmt total wirkungslos bleibt. »Lässt du mir vielleicht noch einen Moment Zeit zum Nachsehen?«
»Entschuldige.«
Draußen ist es hell genug, dass ich sehen kann, wie er mich angrinst. Er hat dermaßen gute Laune, das ist nicht mehr normal. Für einen Moment frage ich mich, ob er vielleicht eine Art Androide ist. Oder Alien. Oder ein Erwachsener im Körper eines Teenagers. Niemand in meinem Alter ist ständig gut drauf.
»Soll ich dich ziehen?«, ruft er.
»Ich komm schon klar«, antworte ich rasch. Irgendwie bin ich nicht sonderlich heiß darauf, der Allgemeinheit den Inhalt des Rucksacks zu zeigen. Bis eben war mir das noch gar nicht so klar. Ich reiße mich nicht gerade drum, länger im Eiswasser rumzustehen, aber ich brauche ein paar zusätzliche Sekunden, um mir zu überlegen, wie ich es hinbiegen kann, dass ich mir den Krempel allein ansehe.
Dann lässt Russ sein Seilende fallen und ist weg.
»Na toll«, murre ich und taste mich, so schnell wie ich kann, vorwärts. Ich bin fast unter der Brücke hervor, als Russ wieder in Sicht kommt. Aber diesmal ist er nicht allein. Ein Zombie hält ihn in tödlicher Umarmung.
»Russ!«, schreie ich.
Zuerst halte ich den Zombie für eine halbe Portion, ein Kind, aber wie Russ da versucht, ihn abzuwehren, begreife ich, dass es doch ein Erwachsener ist, aber eben wortwörtlich nur eine halbe Portion. Rumpf, Arme, Kopf. Alles unterhalb der Taille fehlt, da schlackern nur feuchte Fleischfetzen herum wie Krepppapierstreifen an einem Windspiel, während Russ versucht, sich von dem Vieh zu befreien. Keine Ahnung, wie es ihn überhaupt gekriegt hat, keine Ahnung, wie es sich überhaupt vorwärts bewegt, aber es ist aufgeschwemmt und aufgebläht und ich schätze, es hat sich schon eine ganze Weile im Wasser getummelt.
Russ und sein Tanzpartner ringen miteinander und Russ gewinnt. Das Ding ohne Beine klatscht neben mir ins Wasser und kommt wie ein Korken wieder hochgeschossen. Prompt rudert es mit seinen Armen drauflos, in einem Kraulstil, wie ich ihn noch nie gesehen habe. Es hat Kraft und ist wild entschlossen und die Kälte macht ihm nichts aus. Von der Strömung unterstützt ackert es sich in meine Richtung, öffnet sein Maul und stößt einen gurgelnden Schrei aus. Es ist ein Mann, mit kräftigen Schultern und ohne Haare und einem dermaßen aufgequollenen Gesicht, dass es fast lila ist, weil jede sich verästelnde dunkle Ader vor Anstrengung hervortritt. Wie ein Schlag trifft mich die sichere Gewissheit, dass ich gegen diesen Zombie absolut nichts ausrichten kann. Mist, er hat mich gesehen und prompt ist Russ vergessen. Der Zombie hat sein neues Ziel ins Visier genommen und hält auf mich zu – gleich ist es aus mit mir.
Ich muss mich festhalten und kann nach diesem Vieh weder treten noch schlagen und so schreie ich. Wehrlos wie eine Maus in einer Klebefalle. Ohne fliehen zu können, ohne mich verstecken oder sonst irgendetwas tun zu können. Ich kann nur warten, bis er mich holt. Zum Heulen.
Russ streckt einen Arm vor, der weit weg ist, aber da mir nichts anderes übrig bleibt, mache ich einen Satz darauf zu. Ich verfehle ihn natürlich, aber als ich ins Wasser klatsche, bekommt meine Hand irgendetwas zu fassen, das aus dem Uferbereich ragt – eine treibende Wurzel? Ich ziehe mich daran vorwärts, ganz taub vom eiskalten Wasser. Das Ding ohne Beine zischt vorbei und seine riesigen Wurstfinger schlagen wie wild aufs Wasser ein, als ob es mich immer noch kriegen will. Pech für den Zombie; er ist zwar ein guter Schwimmer, aber gegen den Fluss kommt er nicht an. Die Strömung trägt ihn davon und er brüllt protestierend, dreht sich um und sieht mit traurigem, vorwurfsvollem Blick zu mir zurück, weil das voll unfair ist und ich total gut geschmeckt hätte.
Gerade als ich mich traue, erleichtert aufzuatmen, gibt die Wurzel nach und ich bin wieder unter Wasser, werde herumgewirbelt, rudere mit den Armen, versuche mit den Füßen den Grund zu finden, will mich irgendwo festhalten und habe ebenso viel Angst davor, von dem Ding ohne Beine gerettet zu werden, wie vorm Ertrinken. Mein eines Knie schrammt an irgendetwas entlang – ich habe einen Watstiefel verloren – und ich spüre den Grund und stoße mich Richtung Oberfläche ab.
Dann stehe ich am Ufer. Wieder auf diesem Treidelpfad. Aber jetzt auf der anderen Seite des Flusses.
Der Rucksack hängt noch über meiner Schulter. Gut, dann muss ich nur zusehen, dass ich nicht an Unterkühlung sterbe, und weiter hoch aufs Trockene klettern; die anderen können auch auf dieser Seite der Brücke zu mir stoßen.
Die anderen? Sie sind weg.
Russ steht nicht mehr am Flussufer und der Jeep ist nirgends zu sehen. Durch den Regen kommt ein brutal wummernder, alles zum Beben bringender Lärm auf mich zugerollt. Ein Schatten streift den durchweichten Boden und das Flutwasser verflacht sich seltsam, wie niedergedrückt von einer unsichtbaren Kraft.
Ein Hubschrauber.
Schwarz glänzend schwebt er da, wie ein Käfer des Bösen. Er verharrt nur für eine Sekunde in der Luft und sinkt dann. Er landet und ich verliere fast das Gleichgewicht, so hart trifft mich sein Wind.
Drei Männer springen heraus und laufen geduckt in meine Richtung. Soldaten, in Schwarz.
Scheiße! Scheißdreck!
Die werden mich jeden Moment sehen. Ich muss hier weg – aber dann wird mir plötzlich klar, dass ich immer noch das Seil um die Taille habe und dass dieses Seil immer noch an dem Baumstamm am anderen Ufer festgemacht ist. Ich versuche den Knoten mit meinen steifen Fingern zu lösen, aber durch die Nässe sitzt er knallfest.
Die ersten beiden Soldaten haben das Flussufer jetzt erreicht. Sie suchen nach etwas oder jemandem.
Hinter mir hat der Hubschrauber das Wasser auseinandergepeitscht und ich werde von einer heranrollenden Welle erfasst. Ich platsche in den Fluss und sinke; wieder strömt mir die Eiseskälte übers Gesicht und den Hals hinunter und es fühlt sich an, als würden meine Trommelfelle von dem Lärm und dem Druck jeden Moment platzen. Der Rucksack zieht mich tiefer und ich drehe mich, kämpfe, versuche nach oben zu schwimmen oder jedenfalls dorthin, wo oben sein müsste. Ein brennender Schmerz in meiner Lunge, der gewaltige Drang, Luft zu holen; ich kann an nichts anderes mehr denken. Ich fingere und fummele, aber der Knoten will nicht nachgeben. Ich strampele mit den Beinen, eigentlich bloß aus Panik – aber wie es der Zufall so will, stoßen meine Füße auf Grund und ich habe mich selbst zur Wasseroberfläche hinaufgeschickt, wo ich japse und Wasser trete und nicht fassen kann, dass ich noch lebe.
Endlich gibt der Knoten nach, aber überall um mich herum ist nur noch wühlendes Wasser; wildes, eisiges, rasendes Wasser.