VIERTES KAPITEL
Im Pueblo
Es wäre unnütz und auch Zeitverschwendung gewesen, wenn wir jetzt noch den Spuren Thomas Meltons hätten folgen wollen. Es stand fest, daß er sich jetzt auf dem kürzesten Weg zu seinem Sohn befand, darum wendeten wir uns südwestlich, um den Umweg, welchen wir gestern hatten machen müssen, einzuholen. Diese Richtung führte uns zwischen der Sierra Madre und den Zunibergen hindurch.
Sonderbar! Als wir die Berge hinter uns hatten, gab es sofort eine ganz andere Witterung als bisher. Der ewig heitere Himmel umzog sich täglich einige Male mit schweren, dunklen Wolken, und sandte einen heftigen Gewitterregen herab, um sich schnell wieder aufzuklären. Wir befanden uns im Quellgebiet des kleinen Colorado, in welcher Gegend um diese Jahreszeit solche heftige Regen mit heiterem Himmel täglich wiederholt abwechseln. Dies war uns in einer Beziehung lieb, in der anderen aber nicht. Die Feuchtigkeit lockte ein lebhaftes Grün hervor; es gab überall Wasser und genug Futter für die Pferde; aber unsere Kleider wurden Tag und Nacht nicht trocken, und ein solcher Zustand konnte so plötzlich nach der großen Hitze, welche wir hinter uns hatten, für unsere Gesundheit gefährlich werden. Wir waren, Vogel natürlich ausgenommen, gewohnt, bei größter Hitze oder Kälte im Freien zu kampieren; jetzt aber wäre uns ein trockenes Obdach des Abends recht willkommen gewesen.
Gegen Abend des dritten Tages nach dem Tod Harry Meltons erklärte uns Winnetou, daß wir morgen in der Nähe des Flujo blanco ankommen würden. Es regnete heftig; das war kein Regen mehr, sondern ein herabstürzender See, welcher einen beinahe vom Pferd herunterschlug. Es tat mir nur leid um den armen Franz Vogel, welcher so etwas nicht gewohnt war und die Unbilden dieses Wetters doch mit möglichster Ergebung zu tragen versuchte.
Wir befanden uns in einer Gegend, in der es hier und da ganze Gruppen von Bäumen und Sträuchern gab, was auf Quellen und Wasserläufe schließen ließ. Südlich von uns lag die Sierra Bianca, welche wir freilich in dem Regen nicht sehen konnten.
Dann waren die Wolken wie weggeblasen, und der blaue Himmel lachte über uns, aber freilich auf wie lange! Jetzt hatten wir wieder freie Aussicht. Droben auf der Sierra schien es fortzuregnen; je weiter herunter aber, desto klarer und durchsichtiger war die Luft. Hatte man noch vor nur fünf Minuten keine zehn Schritte weit durch den Regen zu sehen vermocht, so konnte man jetzt – ah, sogar den Mann sehen, welcher da oben auf der Höhe stand, auf welche wir zuritten. Da oben war es kahl; es gab keinen Baum. Der Mann mußte schon im Regen da oben gestanden haben und demselben ganz schutzlos preisgegeben gewesen sein. Jetzt bewegte er sich. Er kam herabgestiegen und erreichte den Fuß des Berges gerade, als wir dort vorüber wollten. Er war ein Indianer in den mittleren Jahren, halb in Leder, halb in Callico gekleidet und machte in der Freundlichkeit, mit welcher er uns grüßte, einen gar nicht üblen Eindruck. Waffen hatte er nicht bei sich. Er betrachtete uns mit neugierigen Blicken und schien gar zu gern mit uns sprechen zu wollen. Darum fragte ich ihn:
„Zu welchem Stamm gehört mein roter Bruder?“
„Ich bin ein Zuni“, antwortete er. „Woher kommt mein weißer Bruder?“
„Von Acoma herüber.“
„Und wo will er hin?“
„An den Colorado und dann noch weiter. Ist mein Bruder in der Gegend bekannt?“
„Ja. Ich wohne hier in der Nähe mit meinem Weib.“
„Gibt es vielleicht einen Ort, an welchem man die Nacht lagern kann, ohne vom Regen weggespült zu werden?“
„Es gibt einen, und wenn es meinen Brüdern recht ist, will ich sie in das Haus, in welchem ich wohne, führen.“
„Ah, es gibt hier ein Haus?“
„Ja. Meine Brüder mögen kommen und es sich ansehen. Wenn es ihnen gefällt, können sie bei mir bleiben. Kein Regen dringt durch die Decke, und das Feuer brennt während der ganzen Nacht.“
Er schritt uns voran, und wir folgten ihm.
„Ein Zuni? Was sind das für Leute?“ fragte mich Emery. „Bist du schon einmal mit einem oder mehreren von ihnen zusammengekommen?“
„Ja. Die Zuni sind die zahlreichsten unter allen Pueblo-Indianern, und haben früher gar keine unbedeutende Rolle gespielt. Sie sind friedliebend und gelten für begabter als die anderen Pueblos.“
„Der Mann sieht nicht verdächtig aus. Ich bin neugierig, was das für ein Bauwerk ist, welches er als sein ‚Haus‘ bezeichnet. Es wäre gar nicht übel, wenn wir eine Nacht unter Dach und Fach zubringen und dabei unsere Kleider einmal trocknen könnten.“
Der Zuni führte uns über eine große Grasfläche, durch welche sich ein schmaler Bach schlängelte. Am Ende derselben stand das ‚Haus‘, ein großer Mauerwürfel, in welchem es nur eine einzige Öffnung gab, durch die man in das Innere gelangen konnte. Die Mauern bestanden aus Lehm, aus weiter nichts, das Dach aus Schilf, welches außen und innen auch mit Lehm beworfen war. Die vier Wände umschlossen einen einzigen Raum, welcher allen Zwecken zu dienen schien. In einem Winkel lagen verschiedene Früchte als Erträgnisse der Bodenarbeit des Indianers. In der anderen Ecke befand sich eine Lagerstätte, welche aus Laub und Fellen bestand. In der Mitte der Hinterwand, der Tür gegenüber, stand der Herd, eine einfache Erhöhung des Fußbodens, welcher auch aus Lehm bestand. Daneben lag Vorrat von Holz, das zum Gebrauch zugerichtet war. Die Türöffnung konnte mit Hilfe einiger Felle verhangen werden. Das Interessanteste für uns waren große Stücke geräucherten Wildbrets, welche an der Decke hingen. Der Zuni-Indianer war wahrscheinlich ein großer Jäger vor dem Herrn.
Als wir in das Haus traten, erhob sich von dem Lager eine Frau, welche uns neugierig anschaute und sich dann entfernte, ohne sich zunächst wieder sehen zu lassen.
„Dies ist mein Haus“, sagte der Indianer. „Wenn es meinen Brüdern gefällt, mögen sie bleiben, solange es ihnen beliebt.“
Ein Blick Winnetous belehrte mich, daß er nichts dagegen habe, hier zu bleiben; darum antwortete ich dem Zuni:
„Wenn uns mein Bruder ein Feuer anbrennen lassen will, damit wir unsere Kleider trocknen können, werden wir bei ihm bleiben.“
„Das Feuer wird sofort brennen.“
Er kauerte sich an den Herd nieder, um anzuzünden, was mich einigermaßen wunderte, weil er doch eine Frau besaß, welche diese Arbeit übernehmen konnte. Gewöhnlich ist ein Indianer zu stolz für solche Beschäftigungen.
Für die Pferde gab es draußen einen eingepfählten Raum, in welchen wir sie trieben, nachdem wir ihnen die Sättel abgenommen hatten; die letzteren sollten uns als Kopfkissen dienen. Während der Zuni Feuer machte, erkundigte ich mich bei ihm:
„Wie lange wohnt mein Bruder schon in dieser Gegend?“
„So lange ich lebe“, antwortete er.
„So kennt er auch das Wasser, welches Flujo blanco genannt wird?“
„Ja, es ist nicht weit von hier.“
„Ob dort wohl Menschen wohnen?“
Diese Frage hatte für uns die größte Wichtigkeit, und ich war neugierig, was und wie er darauf antworten würde. Er entgegnete ganz unbefangen:
„Ja, es gibt dort rote und weiße Menschen.“
„Seit wann?“
„Seit mehreren Jahren.“
„Befindet sich etwa ein Pueblo dort?“
„Ja, ein Pueblo, welches seit undenklichen Zeiten den Zunis gehörte. Da kamen einst mehrere Indianer aus Mexiko, aus der Sonora herüber, als die Gegend noch zu Mexiko gehörte; sie fanden Gold an dem Wasser und kauften den Zunis das Pueblo ab. Die Bezahlung bestand in Waffen, welche sie später brachten. Seitdem gehörte das Pueblo einem Häuptling der Yuma-Indianer. Vor einigen Jahren kam der Enkel desselben an das Wasser. Er brachte eine sehr schöne weiße Squaw und mehrere Krieger und deren Frauen und Kinder mit. Sie wohnten in dem Pueblo. Der Häuptling ging mit seiner Frau oft fort, nach der großen Stadt, welche Frisco heißt, und kam nur selten einmal zurück. Dann starb er, und ich sah seine weiße Squaw eine lange Zeit nicht mehr. Seit einigen Tagen aber ist sie wieder dort mit einem weißen Mann.“
„Kamen sie geritten?“
„Gefahren. Sie saßen in einer alten Postkutsche. Ein Kutscher war dabei und ein Führer aus Albuquerque, welcher auf seinem Pferd nebenher ritt. Gestern in der Nacht kam noch ein Mann, ein Weißer. Ich habe gehört, daß er der Vater des Weißen ist, den die Squaw mitgebracht hat.“
„Von wem erfuhrst du das?“
„Von ihm selbst.“
„Wann?“
„Als er bei mir einkehrte.“
„Hm! Er kam mitten in der Nacht und ist bei dir eingekehrt? Das ist doch seltsam! Wer dein Haus des Nachts findet, muß es genau kennen. Ist er denn schon früher bei dir gewesen?“
„Nein. Aber mein Feuer brannte, und ich hatte die Tür offen; da leuchtete es weit in die Gegend hinaus; er sah es und kam herbei, um mich nach dem Pueblo zu fragen. Er wartete bei mir, und als es Tag geworden war, habe ich ihn hingeführt.“
„Wie weit ist es bis dorthin?“
„Wer schnell reitet, der kommt in zwei Stunden hin.“
„So bist du also befreundet mit den Weißen und Roten, die dort wohnen?“
„Ja.“
„Hat man dir denn nicht gesagt, daß wir kommen würden?“
„Nein. Ihr wollt auch hin?“
„Ja. Würdest du uns den Weg zeigen, wenn es morgen früh hell geworden ist?“
„Gern.“
„Ist er schwierig zu finden?“
„Wer den Ort nicht genau kennt, der reitet am Eingang zum Pueblo vorüber, ohne etwas zu bemerken. Der Flujo fließt durch ein Tal, welches dort von sehr steilen und sehr hohen Felsenwänden eingeschlossen ist. Auf der linken Seite des Flusses sind die Felsen ein klein wenig auseinandergetreten, und dadurch wurde ein enger Gang gebildet, welcher nach dem Pueblo führt.“
„Wir möchten die Bewohner desselben überraschen. Sie wissen zwar, daß wir kommen, aber nicht wann. Könntest du uns hinbringen, ohne daß wir unterwegs bemerkt werden?“
„Sehr leicht. Ich werde euch so leiten, daß kein Mensch euch sehen kann.“
„Ist das Pueblo groß?“
„Nein, aber außerordentlich fest und sicher. Kein Feind könnte es ersteigen, wenn die Bewohner sich verteidigen. Wenn man von dem Fluß aus durch den engen Weg geht, gelangt man in ein weites, rundes Loch, welches rings von Felsen umgeben ist, die so steil sind, daß kein Mensch hinangelangen kann. Der Boden des Loches ist grün; es stehen da viele Bäume, Sträucher und andere Pflanzen. Da können die Pferde weiden, und da bauen die Yuma-Indianer ihre Kürbisse, Zwiebeln und andere Früchte an, welche sie brauchen. Ganz vorn, gerade da, wo der Weg in das Loch mündet, ist das Pueblo an dem Felsen emporgebaut. Es ist schmal, aber sehr hoch, obgleich es nicht ganz bis zur Zinne der Felsen reicht. Da wohnte die weiße Squaw mit ihrem Yumahäuptling, und da wohnt sie jetzt wieder mit dem Weißen und seinem Vater.“
Das erzählte der Mann in aller Aufrichtigkeit. Es war klar, daß er uns nicht für Feinde der Bewohner des Pueblo hielt, sonst hätte er sich wohl gehütet, so offen mit uns zu sein. Am wenigsten aber hätte er uns die Örtlichkeit so genau beschrieben. Es war also meines Erachtens nach kein Grund vorhanden, Mißtrauen gegen ihn zu hegen, und Winnetou war auch meiner Ansicht; das ersah ich aus seiner Miene, ohne daß ich ihn zu fragen und er es mir besonders zu sagen brauchte.
Und dennoch war ich von diesem Zuni-Indianer nicht vollständig befriedigt. Ich vermochte mir freilich nicht gleich zu sagen, warum; aber als ich länger darüber nachdachte und ihn weiter beobachtete, kam ich auf den Grund des Argwohnes, der trotz alledem in mir lag. Es war die große Freundlichkeit, welche er gegen uns zeigte. Der Indianer ist in jeder Beziehung zurückhaltend; ganz besonders aber zeigt er sich gegen Fremde erst dann wohlwollend, wenn er sie näher kennengelernt hat. Von dem Zuni aber wurden wir wie alte, liebe Bekannte behandelt, und er war von einer geradezu erstaunlichen Aufrichtigkeit gegen uns. Er hatte mit der Jüdin und den Meltons gesprochen; sollten ihm diese denn wirklich nicht gesagt haben, daß von ihrem Hiersein möglichst niemand etwas erfahren solle?
Dazu kam noch ein Zweites. Sein Weib hatte das Haus verlassen und war nicht wiedergekommen. Draußen donnerte und blitzte es wieder, und der Regen strömte abermals, wie aus Schüsseln gegossen, herab. Was tat die Frau in diesem Wetter draußen? Die Ursache, die sie im Freien hielt, mußte eine sehr wichtige sein, besonders da ihr Mann Arbeiten verrichtete, die sonst der Squaw obzuliegen pflegen.
Zu diesen Arbeiten gehörte auch die Speisung seiner Gäste. Er spendete uns aus seinem Vorrat ein geräuchertes Wildviertel, welches er für uns zerlegte, ohne aber mitzuessen. Als wir ihn dazu aufforderten, erklärte er, kurz vorher gegessen zu haben.
Das glaubte ich ihm nicht. Er hatte da oben auf dem Berg gestanden, im strömenden Regen, wie ein Wächter, der seinen Posten nicht verlassen darf. Als er uns gesehen hatte, war er heruntergekommen. Je mehr ich darüber nachdachte, desto auffälliger kam mir dieser Umstand vor. Es war ja beinahe so, als ob er von da oben aus nach uns ausgeschaut hätte! Kurz und gut, ich nahm mir vor, vorsichtig zu sein. Ich trug infolgedessen die Gewehre, welche wir abgelegt hatten, in den einen Winkel und legte auch die Sättel da nieder. Als Winnetou dies sah, zog er seine Brauen ein ganz klein wenig empor. Das war nach seiner Weise gerade soviel, als ob er zu mir gesagt hätte: „Warum das? Hegst du etwa Verdacht? Nun, da wollen wir uns freilich vorsehen.“
Der Zuni hatte auch Waffen, nämlich eine Flinte, welche aber nicht viel zu taugen schien, und einen Bogen mit Köcher und Pfeilen. Diese Gegenstände hingen an einem Pflock, welcher in die Wand geschlagen war. Während wir aßen, hockte er nach Indianerart in unserer Nähe und schien sich darüber zu freuen, daß es uns so vortrefflich schmeckte. Wir fragten ihn nach dem Wildreichtum der Gegend, und da klagte er über die Gilenno-Apachen, welche oft herüberkämen und dann alles Wild vertilgten.
„Diese Hunde haben hier nichts zu suchen!“ sagte er. „Warum bleiben sie nicht drüben auf dem Gebiet, welches ihnen niemand streitig macht! Ich hasse überhaupt alle Apachen.“
„Alle! Warum? Man hat doch nie gehört, daß die Zunis Krieg gegen sie geführt haben!“
„Weil wir zu schwach gegen sie sind. Sie nehmen uns weg, was uns gehört, ohne daß wir uns wehren können. Sie sind alle Diebe und Räuber, welche man von der Erde vertilgen sollte!“
„Alle? Es gibt viele wackere und berühmte Männer unter ihnen!“
„Das glaube ich nicht. Mein Bruder mag mir doch einmal einen nennen!“
„Nun zum Beispiel Winnetou!“
„Schweig auch von diesem! Wenn ich euch morgen nach dem Pueblo bringe, werdet ihr von den dortigen Yuma-Indianern hören, was für ein räudiger Schakal er ist.“
„Ist er denn jemals ein Feind der Yumas gewesen?“
„Stets! Einmal aber hat er sie in so große Verluste gebracht, daß sie es ihm nie vergessen werden. Wehe ihm, wenn er einmal in ihre Hände fiele!“
„Große Verluste? Wie ist das gewesen?“
„Sie hatten eine Hazienda überfallen und kostbaren Raub davongetragen; um diesen hat er sie gebracht. Und dann standen ihre Krieger bei einem alten Bergwerk, in welchem fremde Bleichgesichter arbeiten sollten. An dem Ertrag hatten auch die Yumas teil; Winnetou aber hat sie auch darum betrogen.“
„Wie ist das möglich? Er ist doch ein einzelner Mann. Wie kann er einem ganzen Stamm solchen Schaden zufügen?“
„Er war nicht allein, sondern es befand sich ein zweiter bei ihm, welcher noch viel, viel schlimmer ist als der Häuptling der Apachen, ein Bleichgesicht, Old Shatterhand geheißen.“
„Hm, der Westmann! Da besinne ich mich. Wenn ich mich nicht irre, habe ich von dieser Angelegenheit gehört. War es nicht die Hazienda del Arroyo, und das Bergwerk hieß Almadén alto, um welche es sich damals handelte?“
„Ja.“
„Hatten denn die Yumas Ursache, die Hazienda zu überfallen, auszurauben und in Brand zu stecken?“
„Das – das weiß ich nicht“, antwortete er verlegen.
„Es ist nur die Raublust gewesen; ich weiß es gewiß. Und bei dem Bergwerk handelte es sich um ein noch größeres Verbrechen.“
„Das ist nicht wahr!“
„Doch! Man hatte eine große Anzahl von Bleichgesichtern ins Land gelockt und sperrte sie in das Quecksilberbergwerk ein. In demselben sollten sie als Gefangene ohne Lohn arbeiten, bis ein qualvoller Tod sie von ihren Leiden erlöste.“
„Was ging das Winnetou und Old Shatterhand an?“
„Die armen Menschen waren Landsleute von Old Shatterhand; darum errettete er sie.“
„Und trat dabei als Feind der Yumas auf! Wunderst du dich nun noch darüber, daß sie ihn und Winnetou hassen?“
„Ja, denn wenn ich mich recht erinnere, haben die beiden Männer dann Frieden mit den Yumas geschlossen.“
„Der gilt nichts mehr. Ich sage nochmals, wehe ihnen, wenn sie den Yumas einmal in die Hände fallen sollten!“
Der Zuni sprach jetzt, ganz entgegengesetzt von seiner vorherigen Freundlichkeit, mit einer Erbitterung, welche mir unerklärlich war. Darum sagte ich:
„Du scheinst ein sehr guter Freund der Yumas zu sein, denn du sprichst geradeso zornig, als ob du selbst einer wärst.“
„Ich bin ihr Freund, und ihre Feinde sind auch die meinigen!“ gestand er ein.
„Du scheinst aber von ihnen falsch unterrichtet worden zu sein. Winnetou und Old Shatterhand haben damals sehr mild gegen die Yumas gehandelt; sie haben die Roten mehrere Male besiegt und ganz in ihrer Gewalt gehabt, sind aber trotzdem ungemein nachsichtig mit ihnen verfahren. Schweigen wir von der Sache!“
„Ja, schweigen wir, denn wenn ich daran denke, möchte ich den Apachen und seinen weißen Freund nicht anders als am Marterpfahl sehen!“
Er wendete sich von uns ab, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und starrte düster in das Feuer. Seine Freundlichkeit war zu Ende. Winnetou warf mir einen bezeichnenden Blick zu.
Hätte der Zuni gewußt, daß wir die beiden waren, die er so gern an dem Marterpfahl sehen wollte! Eigentlich war es auffällig, daß er nicht auf diesen Gedanken kam. Er mußte es doch dem Apachen ansehen, daß er ein Indianer war. Warum fragte er ihn nicht, zu welchem Stamm er gehörte? Winnetou wäre viel zu stolz gewesen, seinen Namen zu verleugnen. Und dann die Silberbüchse und mein Henrystutzen! Jedermann kannte die beiden Gewehre, wenn auch nur vom Hörensagen. Dort lehnten sie in der Ecke, und der Schein des Feuers fiel hell auf sie. Wenn der Zuni nur einen Blick hinwarf, mußte er wissen oder wenigstens ahnen, wen er vor sich hatte. Der Mann wurde mir immer unbehaglicher.
Da endlich kam seine Frau wieder. Sie war so durchnäßt, daß ihre Kleider sich eng an ihren Körper legten. Ohne einen Blick auf uns zu werfen, ging sie an uns vorüber und nach dem Lager, auf welchem sie bei unserer Ankunft gesessen hatte; dort setzte sie sich wieder hin. Sie war nicht häßlich, hatte aber ein unstetes, verschüchtertes Wesen und schien mehr die Sklavin ihres Mannes zu sein.
„Wo mag sich das arme Weib in solchem Wetter herumgetrieben haben!“ meinte Emery in deutscher Sprache, da es möglich war, daß der Zuni ein wenig englisch verstand. „Welchen Grund kann es geben, jetzt da hinaus zu gehen und stundenlang draußen zu bleiben!“
„Einen sehr triftigen“, antwortete ich. „Wie weit, sagte vorhin der Zuni, daß es nach dem Flujo blanco sei?“
„Zwei Stunden zu reiten.“
„Und wie lange ist die Frau ungefähr abwesend gewesen?“
„Gewiß über vier Stunden, und – ah, meinst du etwa, daß sie bei den Meltons gewesen ist?“
„Ich halte es für sehr möglich, um unsere Ankunft zu melden –“
„Deinen Scharfsinn sonst in allen Ehren, Charley, diesmal aber verrechnest du dich!“
„Möglich, aber nicht wahrscheinlich. Ich möchte behaupten, daß der Zuni uns sofort erkannt hat, als er uns kommen sah, und daß seine Freundlichkeit nur Maske war.“
„Das wäre! Wenn du recht hättest, könnte es für uns unangenehm werden! Wir sollen hier abgefangen werden?“
„Wahrscheinlich.“
„Dann müssen wir augenblicklich fort!“
„Nein, wir bleiben!“
„Mensch, willst du dich hier ergreifen lassen?“
„Nein.“
„Aber dies wird ganz gewiß geschehen, wenn du wartest, bis sie kommen!“
„Zu warten brauchen wir nicht, denn sie sind, wenn ich mich nicht überhaupt irre, jedenfalls schon da.“
„Meinst du?“
„Ja. Sie sind wahrscheinlich gleich mit der Frau gekommen.“
„Und stehen draußen?“
„Ja.“
„Wetter! Und wir sitzen hier bei offener Tür am hellen Feuer! Einige Schüsse, und man ist mit uns fertig!“
„Keine Sorge! Die Meltons wollen uns lebendig haben und werden uns darum nicht bekommen.“
Um für den Notfall gleich einige Kugeln versenden zu können, ging ich nach der Ecke und holte meinen Stutzen. Bei dieser Gelegenheit trat ich auch an die Tür und zog die Felle so vor, daß nur ein schmaler Streifen offen blieb, durch welchen der Rauch abziehen konnte. Nun war es unmöglich, uns von draußen am Feuer sitzen zu sehen. Damit war aber der Zuni nicht zufrieden.
„Warum verschließest du die Tür?“ fragte er mich. „Willst du, daß wir hier ersticken?“
„Der Rauch zieht auch jetzt noch ab; kein Mensch erstickt“, antwortete ich.
„Aber die Tür muß offen sein!“
Er stand auf.
„Ich bitte dich, sie zuzulassen, weil man uns von draußen sehen kann.“
„Wer soll draußen sein?“
„Vielleicht weißt du es.“
„Es ist niemand da, und die Tür wird wieder geöffnet!“
Er wollte hingehen, um die Felle zu entfernen. Diese Hartnäckigkeit ließ meine Vermutung als Gewißheit erscheinen.
„Bleib stehen, sonst schieße ich!“ rief ich ihm zu, indem ich den Stutzen auf ihn anlegte.
Er drehte sich herum zu mir und erschrak, als er das Gewehr auf sich gerichtet sah.
„Du willst auf mich schießen?“ rief er aus.
„Ja, wenn du dich nicht sofort hin zu deiner Squaw setzest.“
„Warum dorthin?“
„Frage nicht, sondern gehorche!“
„Das Haus gehört mir und nicht euch!“
„In diesem Augenblick ist es unser. Es kommt ganz auf dich an, ob es dir wieder gehören wird.“
„Ihr seid meine Gäste; ich habe euch zu mir gebracht. Behandelt man seinen Wirt in dieser Weise?“
„Ja, weil er uns nur eingeladen hat, um uns zu verderben. Also setze dich augenblicklich, wenn du nicht eine Kugel haben willst!“
Er tat, als ob er gehorchen wolle, und näherte sich dabei der Stelle, an welcher seine Flinte hing. Ich stand schnell auf, stellte mich vor dieselbe, deutete nach dem Lager und sagte:
„Nicht hierher, sondern dorthin sollst du gehen. Und nun mach schnell, sonst ist's mit meiner Geduld zu Ende!“
Er stand vor mir und blitzte mich wütend mit seinen dunklen Augen an.
„Schnell!“ wiederholte ich. „Ich bin Old Shatterhand und hier sitzt Winnetou, von denen du vorhin gesprochen hast. Du willst uns nur am Marterpfahl sehen, wirst uns aber wohl auch so betrachten müssen!“
Da ließ er ein verächtliches Lachen hören und sagte:
„Glaubst du, daß ich über eure Namen erschrecken soll? Das fällt mir nicht ein! Ich habe schon, als ich euch kommen sah, gewußt, wer ihr seid!“
„Dachte es!“
„Ihr kamt hierher, um zu töten, seid aber selbst dem Tod in die Arme gelaufen. Weißt du, wer ich bin?“
„Nun?“
„Kein Zuni, sondern einer jener Yumakrieger, welche mit ihrem Häuptling und seiner weißen Squaw hierhergezogen sind. Heute wirst du die Rache für die Hazienda del Arroyo und für Almadén alto erfahren!“
Er wendete sich von mir und schritt dem Lager zu, machte aber plötzlich eine Wendung und sprang, den Fellvorhang beiseite schiebend, zur Tür hinaus. Ich hätte ihn durch einen Schuß daran hindern können, wollte dies aber nicht gern tun. Seine Frau richtete sich langsam auf; wir sollten es nicht bemerken. Sie wollte auch plötzlich fortspringen. Da fragte ich sie:
„Sehnst du dich vielleicht nach deinem Mann?“
Sie antwortete nicht.
„Wenn du ihm folgen willst, so tue es; wir halten dich nicht.“
Sie sah mir mit ungewissem Blick ins Gesicht und fragte:
„Was werdet ihr mit mir tun, wenn ich lieber bleibe?“
„Nichts, wir kämpfen nicht mit Frauen. Bleib also getrost sitzen und tue, was dir gefällt; nur darfst du uns auch nicht stören in dem, was wir tun werden.“
„Señor, du bist gut! Ich werde hierbleiben und nichts tun, was euch mißfallen kann.“
Nachdem wir den verschobenen Türvorhang wieder zugezogen hatten, versahen sich auch die anderen drei mit ihren Gewehren. Ich setzte mich wieder an das Feuer. Emery und Winnetou folgten meinem Beispiel; Vogel aber sagte in ängstlichem Ton:
„Um des Himmels willen, setzen Sie sich doch nicht wieder dorthin!“
„Warum nicht?“ fragte ich.
„Weil man dort von den Kugeln, die durch die Tür kommen, getroffen wird! Die Feinde schleichen sich an die Tür und sehen unter dem Vorhang herein.“
„Das gerade ist's, was wir wollen.“
„Daß sie dann schießen?“
„Dazu kommen sie nicht. Wir sind schneller als sie. Wenn wir uns hinter die Wand versteckten, könnten sie uns nicht sehen und würden also auch nicht zu schießen versuchen; wir kämen also um das Vergnügen, ihnen eine Lehre zu geben. Setzen Sie sich nur getrost mit her! Sie haben nichts zu fürchten. Sie können sich auf unsere Augen verlassen, nur müssen Sie sich hüten, selbst auch die Tür zu beobachten. Die Kerle da draußen würden dies bemerken. Blicken Sie also überall hin, nur nicht nach der Tür!“
„Aber wenn sie nun auf den Gedanken kommen, das Haus zu stürmen?“
„Wie wollen sie das anfangen?“
„Indem sie sich plötzlich zur Tür hereinstürzen.“
„Das werden sie bleibenlassen! Sie wissen genau, daß in diesem Fall alle unsere Gewehre auf sie gerichtet sein würden. Dem Schnellfeuer meines Stutzens entkäme keiner von ihnen. Sie sind auch gar nicht so zahlreich, daß sie sich nicht zu schonen brauchten.“
Er setzte sich nieder, mit dem Rücken nach der Tür gerichtet, zog aber von Zeit zu Zeit ganz unwillkürlich die Schultern in die Höhe; es war ihm jedenfalls ganz so zumute, als ob er jeden Augenblick von draußen eine Kugel zu erwarten habe. Wir unterhielten uns mit Absicht laut, um die draußen über unsere Wachsamkeit zu täuschen. Scheinbar uns gar nicht um den Fellvorhang bekümmernd, hatten wir denselben aber dennoch scharf im Auge. Er wurde zuweilen von dem draußen gehenden Wind hin und her bewegt; das machte unsere Beobachtung natürlich schwer.
Da sah ich zwischen seinem unteren Rand und dem Erdboden die Mündung eines Gewehres erscheinen; sie wurde höchstens zwei Zoll weit hereingesteckt; da flog aber auch schon die Silberbüchse an Winnetous Wange; sein Schuß krachte und draußen erscholl ein Schrei. Die Gewehrmündung wurde zurückgezogen.
„Der das versucht hat, kommt nicht wieder“, lachte Emery. „Die Kerle sind wirklich Prügel wert! Uns hier fangen zu wollen!“
„Meinen Sie, daß ihnen dies nicht gelingt?“ fragte Vogel.
„Keine Rede davon! Wir brauchen uns nur an die Tür zu legen und das Feuer ausgehen zu lassen, daß sie uns nicht sehen können, so putzen wir einen nach dem anderen von ihnen weg.“
„Noch besser ist's, wir steigen auf das Dach“, bemerkte ich. „Da haben wir Aussicht nach allen Seiten.“
Winnetou nickte. Die Decke war nicht mehr als fünf Ellen hoch. Man konnte, um die unserigen zu schonen, mit der Flinte des Indianers ein Loch hineinstoßen. Doch mußten wir vorher das Feuer ausgehen lassen, sonst hätte dasselbe zum Loch hinausgeleuchtet und unsere Absicht verraten. Als es nicht mehr brannte, nahm Emery die Flinte von der Wand und begann zu arbeiten. Winnetou sollte ihm helfen, ihn ablösen. Ich ging zur Tür, um etwaige Überraschungen fernzuhalten.
Ich lag auf dem Boden und schob den Kopf langsam zwischen der Mauer und dem Ledervorhang hinaus. Vor der Tür war niemand. Ich blickte nach rechts, an der äußeren Mauer hin – niemand war zu sehen! Nach links – ah, da kam einer geschlichen, langsam, leise, nach echter Indianerweise. Ich wartete, bis er nur noch drei Fuß von der Tür entfernt war, fuhr dann blitzschnell hinaus, nahm ihn mit der linken Hand bei der Brust, gab ihm mit der rechten acht, zehn, zwölf schallende Ohrfeigen rechts und links und schleuderte ihn dann weit fort, wo er zu Boden flog. Es war ein Indianer; er hatte sein Gewehr, welches er in der Hand hielt, fallen lassen; ich hob es auf und nahm es mit ins Haus. Der Mann kam gewiß auch nicht sogleich wieder. Hätte es sich nicht um mehr gehandelt, so wäre mir die Ohrfeigenszene höchst spaßhaft erschienen. Übrigens hatte es aufgehört zu regnen, und der Himmel begann sich wieder aufzuklären. Nach kurzer Zeit war in der Decke ein so großes Loch entstanden, daß wir hindurchsteigen konnten. Wir drei anderen kamen von Emerys Schultern leicht auf das Dach, und der letztere wurde dann heraufgezogen. Natürlich standen wir nicht aufrecht da oben, sondern bewegten uns nur kriechend, sonst wären wir beim Schein der jetzt wieder sichtbaren Sterne entdeckt worden. Wir verteilten uns. Ich nahm die vordere, Winnetou die hintere, Emery die rechte und Vogel die linke Giebelseite des Hauses.
Als ich mich vor die Kante geschoben hatte und da hinabblickte, sah ich fast gerade unter mir zwei Kerle stehen. Um ihnen nicht lebensgefährlich zu werden, schickte ich ihnen nur zwei Revolverschüsse hinab. Sie schrien vor Schreck über den so unerwarteten Angriff laut auf und rannten eiligst davon. Auf der hinteren Seite fiel jetzt ein Schuß aus Winnetous Silberbüchse, und dann ertönte seine sonore Stimme durch die Nacht:
„Fort von den Pferden, sonst trifft der nächste Schuß gerade in den Kopf!“
Da hinten lag nämlich am Haus der eingefriedigte Platz, auf welchem wir unsere Pferde untergebracht hatten. Eben als der Apache seine Wache begann, hatte man sie fortschaffen wollen. Auch auf den beiden anderen Seiten wurde geschossen. Die Kerle schlichen eben um das ganze Haus herum; nun aber zogen sie sich soweit wie möglich von demselben zurück. Ihre Absicht, sich unser zu bemächtigen, war schmählich mißglückt. Es wagte sich keiner mehr heran, und als es Tag geworden war, ließ sich kein Mensch in der weiten Umgebung sehen.
Wir stiegen wieder hinab. Da lag die Frau noch da, wo sie gestern abend gelegen hatte. Sie schien mit keiner großen Zuneigung an ihrem Mann zu hängen. Winnetou ging zu ihr hin und fragte:
„Warum ist meine rote Schwester nicht hinaus zu ihrem Mann gegangen?“
„Weil sie nichts mehr von ihm wissen will“, antwortete sie. „Señores, schenkt mir ein wenig Geld, damit ich zu meinem Stamm zurückkehren kann!“
„Du willst nach der Sonora hinab?“ fragte ich erstaunt.
„Ja, Señor.“
„Und wahrscheinlich ganz allein den weiten Weg mitten zwischen so viele fremde Stämme hindurch!“
„Ich fürchte die Stämme nicht. Eine arme Squaw hat keinen Feind.“
„Das ist wahr. Kein Krieger wird dir ein Leid tun. Warum aber willst du denn fort von deinem Mann?“
„Weil er mich gezwungen hat, unseren Stamm zu verlassen und mit hierher zu gehen. Ich habe die Eltern und Brüder daheim, und hier sterbe ich vor Sehnsucht langsam hin.“
„Ist dein Mann nicht freundlich mit dir?“
„Er ist ein böser Mensch. Ich hasse ihn!“
„Gut! Wir werden dir soviel geben, daß du unterwegs überall bezahlen kannst, was du brauchst.“
Ich gab ihr, so viel ich konnte, Emery leistete das Zehnfache; Vogel spendete einige Dollars, und Winnetou langte ein Goldkorn aus seinem Gürtel, um es ihr zu schenken. Da rief sie aus:
„Señores, ich danke euch! Ihr solltet hier euer Verderben finden und übt doch Barmherzigkeit an mir. Wie freue ich mich, daß der Anschlag gegen euch nicht gelungen ist!“
„Welche Absicht hatte man denn eigentlich?“ erkundigte ich mich.
„Ihr solltet hier bei uns schlafen und im Schlaf ergriffen werden.“
„Von wem stammt der Plan?“
„Von den beiden Weißen, welche Vater und Sohn sind. Der Sohn kam zuerst mit der weißen Squaw hier an; er hat euch für tot gehalten; dann kam sein Vater und erzählte, ihr befändet euch hart hinter ihm und hättet seinen Bruder ermordet und ausgeraubt. Da mußten wir auf den Berg steigen, um nach euch auszuschauen und euch einzuladen, in unser Haus zu kommen. Als ihr angekommen wart, mußte ich trotz des Wetters nach dem Flujo blanco reiten, um die beiden Señores dort zu benachrichtigen. Sie ritten sofort mit mir und nahmen alle ihre Krieger mit.“
„Konntest du uns nicht warnen?“
„Nein. Mußte ich euch nicht für böse Menschen halten? Aber als du so freundlich zu mir sprachst, erkannte ich, daß wir getäuscht worden waren. Nun habt ihr mich gar so reichlich beschenkt; ich wollte, ich könnte euch dankbar sein!“
„Das kannst du, wenn du uns die Auskunft erteilst, um welche wir dich bitten werden.“
„Frage nur, Señor! Ich werde dir gern alles sagen, was ich weiß.“
„Ich will dir vertrauen, denn dein Auge hat einen guten und ehrlichen Blick. Dein Mann hat uns gestern abend die Lage eures Pueblo beschrieben. Denkst du, daß er uns da nicht getäuscht, sondern die Wahrheit gesagt hat?“
„Er hat euch nicht belogen, denn es war ihm von dem Vater der weißen Señores befohlen worden, die Wahrheit zu sagen.“
„Aber wir sollten doch hier in dem Haus festgehalten werden!“
„Das war der Anfang des Planes. Falls das nicht gelingen sollte, wollte man euch in eine zweite Schlinge locken.“
„Kennst du diese?“
„Ja, denn jeder und jede von uns mußte sie kennen, und alle waren froh, Rache wegen damals an euch nehmen zu können.“
„Hoffentlich werden wir von dir etwas über die Schlinge erfahren!“
„Ich sage es dir. Mein Mann mußte euch das Pueblo beschreiben, denn wenn der Anschlag hier mißlang, wollte man euch dorthin locken.“
„Es bedarf keiner Lockung, denn wir sind fest entschlossen, das Pueblo unter allen Umständen aufzusuchen.“
„Das würde euer Ende sein, wenn ich euch jetzt nicht warnen könnte. Da ihr hier nicht überrumpelt worden seid, so werden alle unsere Leute, welche in der Nacht hier waren, nach dem Pueblo reiten und dabei recht deutliche Spuren machen, damit ihr den Weg leicht finden könnt. Es geht in das Tal des Flujo blanco hinab, über diesen hinüber und dann eine Strecke am linken Ufer hinauf, bis das Tal so eng wird, daß nur noch der Fluß und ein einziger Reiter Platz findet. Gerade an dieser Stelle öffnet sich der Felsen; ein schmaler Weg führt hinein und nach dem Pueblo; zu beiden Seiten sind hohe Felsen, welche kein Mensch erklettern kann. Da hinein will man euch haben. Die Hälfte unserer Leute erwartet euch in dem Felsenweg; die andere Hälfte hat sich unterwegs in einen Hinterhalt gelegt, um euch vorüberzulassen und dann zu folgen. Zwischen diese beiden Abteilungen sollt ihr kommen.“
„Kein übler Plan! Eine Felsenenge, die uns zwingt, einzeln hintereinander zu reiten, rechts und links senkrechte Felswände und vorn und hinten eine Feindesschar!“
„So ist es, Señor. Der Alte hat den Plan ausgedacht.“
„Wie gesagt, nicht übel; aber er hat einen Fehler oder gar gleich mehrere, denn wenn du uns auch nicht gewarnt hättest, würden wir in die Falle niemals gegangen sein. Wir lassen uns von diesem Alten nichts vormachen. Wenn er uns fangen will, muß er es listiger anfangen und nicht so plump wie hier. Sein erster Versuch ist mißglückt, auch ohne daß wir gewarnt worden sind; sein zweiter würde noch viel weniger gelingen. Also die eine Hälfte eurer Leute soll sich in einen Hinterhalt legen und uns vorüberlassen, während die andere Hälfte uns voran nach dem Pueblo reitet?“
„So ist es, Señor.“
„Und dabei sollen auch noch deutliche Spuren gemacht werden? Meine Schwester mag glauben, daß wir nicht blind sind. Wir würden die Spuren zählen und sofort bemerken, daß die Hälfte derselben plötzlich fehlt. Ja, diese Hälfte würde nicht einmal fehlen; sie kann doch nicht in der Luft verschwinden; wir würden an der Fährte erkennen, daß eine Hälfte dahin und die andere dorthin geritten ist. Wir würden von den Pferden steigen, dem Hinterhalt heimlich folgen und ihn vernichten.“
„Aber wie wolltet ihr dann durch die Enge kommen?“
„Vielleicht gingen wir gar nicht hinein, und selbst wenn wir es täten, hätten wir keine Feinde hinter uns, sondern nur vor uns. Die Feinde müßten ebenso einzeln hintereinander halten wie wir; es könnte also von jeder Seite her nur der vorderste kämpfen, und da würde von euch wohl niemand übrigbleiben, um die Leichen eurer Gefallenen zu zählen.“
Ich sah, daß sie durch diese Darlegung in große Bestürzung geriet. Sie rief bittend aus:
„Señor, tut dies nicht! Ich will nicht, daß durch meine Warnung unsere Leute getötet werden. Lieber würde ich mich selbst töten!“
„Beruhige dich! Wir betrachten die Yumas nicht als unsere Feinde. Wir haben damals Frieden mit ihnen geschlossen und wollen an ihnen wie an Freunden handeln. Wenn es auf uns ankommt, wird keinem von euch ein Leid geschehen. Wir wollen nur die beiden Weißen haben, die euch doch gar nichts angehen; das ist alles. Wir werden versuchen, unseren Zweck durch List zu erreichen, so daß es gar nicht zum Kampf kommt. Sag mir also, ist die Felsenenge der einzige Weg, welcher in das Pueblo hinein und aus demselben herausführt?“
„Ja; es gibt keinen zweiten.“
„Kann man nicht die Felsen ersteigen, durch welche rings das Loch gebildet wird?“
„Nein; das ist unmöglich, denn sie sind so gerade und steil wie die Mauern dieses Hauses. Wenn du es wünschst, kann ich es euch zeigen.“
„Wann? Wo?“
„Gleich jetzt. Der Fluß liegt tief und die Ebene hoch. Wer da weiß, wo das Pueblo liegt, der kann bis an seinen oberen Rand reiten und von da aus auf die Wohnungen niederblicken.“
„Das müssen wir freilich sehen. Willst du uns führen?“
„Ja. Steigt auf eure Pferde und reitet von hier aus gerade nach Süden, bis ihr an einen großen, alleinliegenden Felsen kommt; dort erwartet mich. Ich muß einen Umweg machen, damit meine Spur nicht mit der eurigen zusammenfällt.“
Wir trugen unsere Sättel hinter das Haus und legten sie unseren Pferden auf. Der angebliche ‚Zuni‘ besaß zwei Pferde; auf dem einen war er fort; das andere stand mit den unsrigen in der Umpfählung; die Frau wollte auf demselben nachkommen.
Wir ritten in der angegebenen Richtung fort und sahen nach einer halben Stunde den Felsen vor uns liegen, an welchem wir warten sollten. Schon nach kurzer Zeit kam die Squaw; sie ritt uns voran, und wir folgten ihr, jetzt nach Westen zu.
Es war ein buschiges Land, durch welches wir kamen, eine Hochebene, in welche sich die Wasserläufe tief eingeschnitten hatten. Es ging im Trab wohl eine Stunde lang über dieses Hochplateau dahin, bis wir an einen Busch kamen, über welchen die Kronen vieler Bäume emporragten. Er besaß eine bedeutende Ausdehnung, welche eine hufeisenförmige Gestalt zu haben schien. Hier stieg die Squaw ab und band ihrem Pferd die Vorderbeine zusammen, so daß es nicht weit fortzulaufen vermochte. Wir taten mit unseren Pferden dasselbe und folgten ihr dann in den Busch hinein. Sie führte uns quer durch denselben, blieb nach einer Weile stehen und sagte:
„Noch einige Schritte, und wir befinden uns an dem Rand des tiefen Lochs, in welchem ihr das Pueblo sehen werdet. Nehmt euch in acht, damit man euch nicht zufällig von unten erblickt!“
Infolge dieser Warnung legten wir uns auf die Erde nieder und krochen zwischen den letzten Büschen hindurch, bis wir plötzlich vor uns hatten, was wir sehen wollten. Es gähnte uns eine Tiefe entgegen, welche so senkrecht hinunterfiel, daß es einen fast schwindeln konnte. Der Boden bestand aus einer grasigen Matte, auf welcher vielleicht zwanzig Pferde und einige hundert Schafe weideten. Letztere waren jedenfalls bestimmt, ihr Fleisch zur Nahrung der Bewohner herzugeben. Aus dem Gras erhoben sich hohe Bäume, welche aber, von unserem Standort aus betrachtet, wie kleine Gewächse erschienen.
„Wieder ein Talkessel!“ sagte Winnetou, der neben mir lag.
Der Apache hatte wohl Grund, diese Worte auszusprechen. Ja, wieder einmal so ein Talkessel! Während unserer Kreuz- und Querzüge hatten solche Kessel wiederholt eine bedeutende Rolle für uns gespielt. Wie oft waren diese Örtlichkeiten für unsere Gegner verhängnisvoll geworden, während wir uns stets gehütet hatten, unseren Aufenthalt in einer derartigen Falle zu nehmen! Und wenn dies einmal nicht zu umgehen gewesen war, so hatten wir es fast immer zu bereuen gehabt.
Und der Kessel, welchen wir jetzt vor uns hatten, konnte denen, welche darin wohnten, zu einem wahren Gefängnis werden, da es, wie wir deutlich sahen, nur einen einzigen Weg gab, auf dem sie ihn verlassen konnten, nämlich die schmale Felsenenge, von welcher die Squaw gesprochen hatte.
Der Kessel hatte eine beinahe kreisrunde Form, und seine Felsenwände stiegen gerade wie Mauern völlig lotrecht in die Höhe. Es gab da keinen Absatz oder Vorsprung, welcher zu erklimmen war, keinen Riß, in dem man in die Höhe klettern konnte. Das Ganze kam mir vor wie ein riesiger Bärenzwinger, der so gebaut ist, daß die Bewohner unten auf dem Boden bleiben müssen.
Wir lagen dem Eingang schräg gegenüber und sahen nun freilich, wie eng er war. Ein einzelner Reiter hatte eben Platz, hindurchzukommen. Neben dem Eingang, welcher hinaus zum Flujo blanco, zum Flüßchen führte, erhob sich der Bau, den die Jüdin ihr ‚Schloß‘ genannt hatte. Und sie hatte gar nicht so unrecht gehabt, dem Bau diese Bezeichnung zu geben.
Das Schloß war ein Pueblo, geradeso in terrassenförmig übereinanderliegenden Stockwerken gebaut, wie es früher beschrieben worden ist. Man sah, daß sich in früheren Zeiten eine große Steinmasse vom Felsen losgelöst hatte und in die Tiefe gestürzt war; die Brocken derselben hatte man zum Bau des Pueblo verwendet. Dasselbe lehnte sich mit seiner hinteren Seite eng an die Felsenwand und zählte acht sich deutlich voneinander unterscheidende Stockwerke, welche ebenso viele Terrassen oder Plattformen bildeten, da jedes höher liegende immer ein Stück hinter dem nächst tieferen zurücktrat. Das Ganze glich einer regelmäßigen vierseitigen Pyramide, welche, senkrecht durchschnitten gedacht, mit der einen Hälfte im Freien lag, während die andere Hälfte in den Felsen hineingebaut zu sein schien. Acht Leitern lagen an, an jedem Stockwerk eine. Wenn auch nur die unterste weggenommen wurde, konnte kein Fremder den Bau ersteigen, der mit seinen übereinanderliegenden Felsenstücken den Eindruck einer uneinnehmbaren Zwingburg machte.
Bei den Verhältnissen jener Zeit, in welcher das Pueblo errichtet wurde, hatte es seinen Zweck gewiß vollkommen erfüllt. Es war schon an und für sich uneinnehmbar gewesen, wozu dann noch der Umstand kam, daß es nicht draußen im Freien, sondern hier in der Verborgenheit lag, in die man nur durch den so überaus schmalen Eingang dringen konnte, den zu verteidigen einige wenige Männer genügten. Die Festung war nur durch Überrumpelung, nicht einmal durch Aushungern zu nehmen gewesen, denn wenn die Talsohle gärtnerisch verwertet gewesen war, so hatte sie an Gemüsen und Früchten gewiß so viel geliefert, wie die Bewohner zum Leben brauchten, und Wasser war auch mehr als genug da; es glänzte uns aus einem ziemlich großen Becken entgegen, welches kreisförmig in die Mitte des Erdgeschosses eingebaut worden war. Wahrscheinlich wurde es von einer unterirdischen Quelle gespeist.
Was uns am meisten interessierte, waren die Menschen, welche wir sahen. Vor dem schmalen Eingang lagerte eine Anzahl von Indianern, welche ihn, mit Gewehren bewaffnet, zu verteidigen hatten. Ihr Anführer – denn dies schien er zu sein – saß über ihnen auf der ersten Plattform des Pueblo, und zwar in schöner Gesellschaft, nämlich Jonathan Meltons und der Jüdin. Der erstere hatte ein Gewehr in der Hand.
„Siehst du, Señor, daß es so ist, wie ich gesagt habe?“ fragte mich die Indianerin. „Die Krieger am Eingang warten auf euch. Und die anderen Krieger haben sich draußen am Fluß in Hinterhalt gelegt, um euch durch die Enge hereinzutreiben.“
„Wo ist der Vater des jungen Weißen, welcher da unten sitzt?“
„Draußen bei dem Hinterhalt. Er macht dort und sein Sohn hier den Anführer. Sie glauben, daß sie euch ganz gewiß fangen werden.“
Da meinte der Englishman:
„Wie schön könnten wir den Jonathan hier wegputzen! Soll ich ihm eine Kugel hinunterschicken?“
„Ja nicht!“ antwortete ich. „Erstens wollen wir ihn doch lebendig haben, und zweitens würdest du ihn wohl kaum treffen.“
„Oho! Meinst du, daß ich nicht schießen kann?“
„Pshaw! Du weißt, daß ich deine Fertigkeit kenne; aber ein Schuß von hier oben herab in die Tiefe ist allemal eine höchst unsichere Sache. Auch ich wage es nicht zu behaupten, daß ich ihn treffen würde.“
„Well! Und drittens?“
„Drittens würden wir durch den Schuß verraten, wo wir uns befinden, und uns damit den größten Schaden tun. Es könnte das ganze Gelingen unserer Absichten dadurch vollständig in Frage gestellt werden.“
„Gut, also nicht schießen. Aber was denn tun? Wollen wir hier hinabspringen, um den lieben Jonathan beim Schopf zu nehmen?“
„Hinab? Vielleicht ja, wenn auch nicht springen. Schau hinüber zum Pueblo! Wie weit ist es wohl von hier oben, also von der Kante der Felswand, bis hinunter auf seine oberste Plattform?“
„Ich schätze wenigstens vierzig Ellen.“
„So weit ist es allerdings.“
„Willst du etwa eine so lange Leiter bauen?“ lächelte er.
„Wenn du Witze machen willst, so sieh zu, daß sie geistreicher ausfallen!“
„Hm, ja, die Sache ist freilich ernst. In das Pueblo müssen wir unbedingt, und da es unmöglich ist, da vorn durch den Eingang hereinzukommen, so müssen wir freilich hier hinunter.“
„Von einer Unmöglichkeit will ich nicht gerade sprechen. Ich habe schon der Squaw erklärt, auf welche Weise wir uns den Zugang erzwingen könnten. Aber das Erzwingen setzt einen offenen Angriff voraus, und wenn wir auch wirklich den Talkessel da unten unverletzt erreichten, so könnte man uns von den Terrassen des Pueblo aus ganz gemächlich wegputzen. Nein, ich meine, daß es auch möglich ist uns hereinzuschleichen, natürlich des Nachts. Da müßten wir aber die feindlichen Wachen leise überwältigen und wohl gar erstechen, und das möchte ich vermeiden. Es bleibt uns also doch nichts übrig, als von hier oben aus hinunter zu kommen.“
„Wohl mit Hilfe unserer Lassos?“
„Ja.“
„Du, das ist gefährlich, weil wir die Lassos gekauft haben. Hätten wir sie selbst gemacht, so wäre uns ihre Festigkeit garantiert; aber an gekauften Riemen sich in eine solche Tiefe hinabzulassen, ist mehr als das Leben gewagt; man kann fast sicher sein, daß sie reißen.“
„Sie werden halten, denn sie sind mit Fett getränkt und dann geräuchert worden.“
„Dennoch möchte ich mich ihnen nicht anvertrauen. Denkst du auch daran, daß sie bei der Tiefe ins Schwingen kommen müssen?“
„Ja. Ich werde dein Mißtrauen dadurch zerstreuen, daß ich mich zuerst herablasse; ich ziehe dann die Lassos unten straff an, so daß ihr herunterklettern könnt, ohne ins Schwingen zu geraten.“
„Well! Versuche es und wenn es gelingt, will ich gern nachkommen. Doch frage vorher die Squaw, ob –“
„Nein, nein!“ unterbrach ich ihn. „Die Frau darf nichts davon wissen, daß wir hier herab wollen. Ich glaube zwar, daß sie es ehrlich mit uns meint, aber es ist auf alle Fälle besser, wenn sie nichts erfährt. Sie kann, selbst wenn sie entschlossen ist, nichts zu verraten, sich doch ihrem Mann oder einem anderen Yuma gegenüber verschnappen.“
„Dann ist es gut, daß wir jetzt deutsch gesprochen haben. Wo mag der Apache hingegangen sein?“
Winnetou war nämlich nach rechts hin zwischen den Büschen verschwunden. Ich ahnte seine Absicht und antwortete also:
„Es ist wirklich sonderbar, mit welcher Übereinstimmung Winnetou und ich bei solchen Angelegenheiten zu denken pflegen. Ich bin überzeugt, er ist da hinüber, um, gerade über dem Pueblo liegend, hinabzuschauen und dabei zu überlegen, wie wir hinunterkommen können.“
Ich hatte das Richtige getroffen. Winnetou kehrte nach kurzer Zeit zurück und sagte:
„Es gibt nur einen Weg, der uns ohne Blutvergießen zum Ziel führt. Wir müssen uns auf die Plattform hinunterlassen.“
Er bediente sich bei diesen Worten der Siouxsprache aus demselben Grund, der uns veranlaßt hatte, deutsch zu sprechen.
„Meinst du, daß unsere Lassos dazu ausreichen?“ fragte ich ihn.
„Ja.“
„Und daß sie nicht zerreißen?“
„Sie werden festhalten. Unsere drei Lassos sind so lang, daß sie, wenn wir sie zusammenbinden, bis hinunter auf die oberste Plattform des Pueblo reichen werden.“
„Wie aber befestigen wir sie oben?“
„Es steht ein Baum hart am Rand, dessen Wurzeln so fest sind, daß er uns halten wird. Hoffentlich stimmt mein Bruder meinem Vorschlag bei, heute abend hinunter zu klettern?“
„Ja, ich stand ja im Begriff, dir denselben Vorschlag zu machen. Was tun wir aber bis zu der Zeit, in welcher wir ihn ausführen können?“
„Kann sich mein Bruder die Frage nicht selbst beantworten?“
„Vielleicht. Es gilt vor allen Dingen dafür zu sorgen, daß die Feinde nicht erraten, was wir zu tun beabsichtigen.“
Winnetou nickte mir einverstanden zu und sagte:
„Ja, wir müssen ihre Aufmerksamkeit von hier oben ablenken. Wie denkt mein Bruder, daß das am besten geschehen kann?“
„Wir müssen sie zu der Ansicht bringen, daß wir sie unten am Fluß angreifen werden.“
„Richtig! Sie müssen glauben, daß wir uns durch die Enge an das Pueblo schleichen wollen. Um diese Absicht zu erreichen, müssen wir hinab zu ihnen.“
„Jetzt schon?“ fragte Emery.
„Ja“, antwortete der Apache. „Sie sollen und müssen uns doch sehen, oder wenigstens müßten sie bemerken, daß wir uns da unten aufhalten.“
„Das ist aber viel zu gefährlich. Wenn wir uns ihnen zeigen, werden sie uns einfach wegschießen.“
„Das könnten sie nur dann, wenn wir ihnen so nahe kämen, daß uns ihre Kugeln erreichen könnten. Das werden wir aber nicht tun.“
„Es liegt ja ein Teil von ihnen im Hinterhalt; diese Leute müssen uns kommen sehen, während wir nicht wissen, wo sie stecken; wir können ihnen also geradezu in die Hände laufen.“
„Nein, denn wir haben Augen und auch Ohren. Und vielleicht weiß die Frau, wo der Hinterhalt zu suchen ist.“
Als wir uns darauf bei ihr erkundigten, antwortete sie:
„Wenn ihr wieder mit nach unserem Hause zurückkehrt und der Fährte folgt, welche da gemacht worden ist, damit ihr sie leicht sehen sollt, so kommt ihr an einen kleinen Bach, welcher sich in den Flujo blanco ergießt. Dort wollten sie sich trennen. Die eine Abteilung wollte am Flujo aufwärts nach dem Pueblo gehen, und die andere sollte dem Bach soweit folgen, daß sie von euch nicht gesehen werden kann; sie liegt zwischen Büschen versteckt.“
„Und wartet wahrscheinlich jetzt mit Schmerzen auf uns“, fügte ich hinzu; „denn die erste Abteilung ist am Pueblo angekommen; wir sehen die Krieger da unten liegen. Wollen wir die Herrschaften noch länger auf uns warten lassen?“
„Nein, wir reiten jetzt hinunter nach dem Fluß“, meinte Winnetou. Und sich zu der Frau wendend, fuhr er fort:
„Meine Schwester wird es ehrlich mit uns meinen?“
„Ja“, antwortete sie einfach und mit einem Gesicht, dem man es ansah, daß sie die Wahrheit sagte.
„Da sollst du belohnt werden. Wenn wir die beiden weißen Männer durch List und ohne Kampf in die Hände bekommen, so geben wir dir noch mehr Gold, als du schon erhalten hast. Werden wir aber durch dich verraten, so wird die erste Kugel, welche wir abschießen, dich treffen. Das glaube mir! Wir belohnen gern; wir wissen aber auch zu bestrafen!“
„Ich will heimlich fort von hier, aber den Meinen nicht schaden. Ihr wollt sie nicht töten, sondern schonen, und ihr gebt mir Gold, daß ich leichter nach der Sonora kommen kann; darum habe ich euch freiwillig gesagt, was ihr wissen wolltet, und werde euch nicht verraten.“
„So mag meine Schwester jetzt nach ihrem Haus zurückkehren.“
Sie wollte der Aufforderung folgen, aber wir wußten doch noch etwas nicht, was von großer Wichtigkeit war; selbst der sonst so umsichtige Winnetou hatte vergessen, sich danach zu erkundigen; darum fragte ich sie:
„Du kennst wohl die Räume des Pueblo genau?“
„Alle.“
„Weißt du, wo die weiße Squaw wohnt, welche mit dem Wagen angekommen ist?“
„In der ersten Etage des Pueblo.“
„Wo ist der Eingang zu ihr?“
„Auf der zweiten Terrasse von unten. Es ist ein Loch, durch welches eine Leiter hinunterführt. Das Loch befindet sich in der Mitte der Plattform.“
„Also in der ersten Etage. Da wohnen die Indianer wohl unter ihr in dem Erdgeschoß?“
„Nein.“
„Zu was wird dasselbe benutzt?“
„Zur Aufbewahrung der Vorräte, des Maises und der anderen Früchte und Gemüse, die im Tal angebaut werden. Auch ist der Brunnen dort.“
„Ich sehe ihn. Es ist eine Zisterne?“
„Nein; das Wasser kommt vom Fluß hereingelaufen.“
„So steht die kleine Wasserfläche, welche wir von hier aus sehen, also mit dem Flujo blanco in Verbindung?“
„Ja. Das Wasser versiegt nie, weil der Fluß nie ganz austrocknet.“
„Wo wohnen denn nun die Deinen, die Yuma-Indianer?“
„In den oberen Etagen.“
„Und weißt du vielleicht, wo sich die beiden Weißen aufhalten, der Vater und der Sohn, die wir haben wollen?“
„Der Sohn wohnt in der ersten Etage.“
„Und der Vater? Wo wohnt der?“
„In der Etage über seinem Sohn.“
„Wie kann die weiße Squaw sich hier in der Wildnis wohl fühlen? Es muß ihr doch alles fehlen, was eine Weiße nötig hat, um zufrieden zu sein!“
„Es fehlt ihr nichts, denn der Häuptling hat alles, was sie wünschte, damals angeschafft. Es war sehr schwer, die vielen Sachen durch die Wildnis herbeizuschaffen; aber sie hatte ihn so verblendet, daß ihm keine Anstrengung für sie zu groß erschien. Unsere Männer waren immer nach Prescott oder Santa Fé unterwegs, um zu holen, was sie sich bestellte.“
„Besaß denn euer Häuptling den Reichtum, welcher nötig war, so außerordentliche Wünsche zu erfüllen?“
„Danach darfst du mich nicht fragen, denn ich kann nicht darüber sprechen. Kein roter Mann und keine rote Squaw wird sagen, wo das Gold und Silber liegt, welches die Weißen so gern haben wollen.“
„Gut! Ich weiß nun alles, was ich wissen wollte. Du kannst heimkehren. Aber vergiß ja nicht, was Winnetou dir gesagt hat. Bist du unehrlich, so bekommst du eine Kugel; bist du aber treu, so wirst du noch mehr Gold von uns erhalten.“
„Wann, Señor?“
„Sobald wir die beiden Weißen in unseren Händen haben.“
„Und wo?“
„In deinem Haus. Höchstwahrscheinlich kommen wir daran vorüber, wenn wir diese Gegend verlassen.“
„So bitte ich euch, es ja niemand sehen zu lassen, wenn ihr mir etwas gebt.“
„Keine Sorge! Wir werden dich für den Nutzen, den wir von dir haben, doch nicht in Schaden bringen!“
Sie stieg wieder auf ihr ungesatteltes Pferd und ritt davon. Wir setzten uns auch auf. Sie verschwand nach Nordosten, denn dies war die Richtung, in welcher ihr Haus lag. Wenn man von dort aus nach dem Flujo blanco wollte, mußte man sich gerade westlich wenden; wir mußten also, um von dem Punkt, an welchem wir uns befanden, dorthin zu gelangen, nordwestlich reiten. Wie weit, das war nicht schwer zu berechnen, da wir wußten, wieviel Zeit wir gebraucht hatten, um hierher zu kommen. Von dem Haus bis an den Flujo waren zwei Reitstunden; wir brauchten jedenfalls kaum die Hälfte der Zeit, zumal wir unsere Pferde schnell laufen ließen.
Nach drei Viertelstunden erreichten wir die Fährte, welche die Yumas für uns so deutlich zurückgelassen hatten, und alle Anzeichen verrieten, daß der Fluß jetzt nahe war. Da erkundigte sich Emery bei dem Apachen:
„Was habt ihr denn nun eigentlich vor? Ihr wollte euch den Yumas zeigen. Aber wo und in welcher Weise das geschehen soll, davon habe ich noch kein Wort gehört.“
„Mein Bruder hat es noch nicht gehört, weil er nicht danach gefragt hat. Wir werden den Hinterhalt aufsuchen, in welchem die zweite Abteilung steckt und auf uns lauert.“
„Offen aufsuchen?“
„Nein, heimlich.“
„Aber ich denke, sie sollen euch sehen; da dürft ihr doch nicht heimlich vorgehen!“
„Ja, sie sollen uns sehen, aber erst dann, wenn wir bei ihnen sind.“
„Ah! Also angeschlichen! Da können wir aber unmöglich die Pferde mitnehmen!“
„Nein. Wir lassen sie zurück. Unser Bruder Vogel wird bei ihnen bleiben; er könnte ja überhaupt nicht mit uns gehen, weil er das Anschleichen nicht versteht und uns nur schaden würde.“
„So müssen wir vor allen Dingen ein gutes Versteck für ihn und die Pferde suchen, damit er uns nicht etwa gar samt ihnen abhanden kommt.“
Ein solcher Ort war bald gefunden, eine weit ausgestreckte Gruppe von Büschen, welche wir rechts von uns erblickten. Dorthin ritten wir, stiegen ab, versteckten da unsere Pferde und gaben Vogel alle Anweisungen, welche wir unter den gegenwärtigen Verhältnissen für nötig hielten. Er sah es gar nicht gern, daß wir ihn nicht mitnahmen, mußte aber doch zugeben, daß er zu dem, was wir vorhatten, nicht das nötige Geschick besaß und uns wenigstens keinen Vorteil bringen konnte.
Als wir ihn in guter Sicherheit wußten, kehrten wir nach der Spur der Yumas zurück und folgten ihr weiter. Das geschah von jetzt an so vorsichtig wie möglich, da anzunehmen war, daß sie uns, weil wir nicht gekommen waren, aus lauter Ungeduld einen Kundschafter entgegengeschickt hatten. Wir nahmen uns jeden einzelnen Baum oder Busch zur Deckung und verließen ihn nicht eher, als bis wir uns überzeugt hatten, daß sich kein Feind vor uns befand.
Auf diese Weise kamen wir nach einiger Zeit in die Nähe des tiefen Felsentals, welches der Flujo in die Hochebene eingeschnitten hatte. Das Tal bildete einen Cañon, auf welchen wir uns senkrecht zu bewegten; das heißt, die Linie, in welcher er verlief, bildete mit derjenigen, der wir folgten, zwei rechte Winkel.
Plötzlich senkte sich das Terrain abwärts. Es war wie eine Art schmaler Hohlweg, welcher hinunter zum Fluß führte. Wir stiegen ihn nicht hinab, denn Winnetou, der an alles dachte, sagte:
„Ehe wir dem hohlen Weg folgen, müssen wir erst sehen, wohin er führt. Gehen wir also seitwärts von ihm weiter, bis wir den Rand des Cañons erreichen.“
Das geschah. Bald kamen wir auf der hohen Felsenkante an, von der aus wir hinab zum Fluß blicken konnten. Wir sahen die Stelle, an welcher der Hohlweg auf ihn mündete. Der Stelle gegenüber am anderen Ufer befand sich die Mündung eines Baches, jedenfalls desselben, von welchem die Squaw gesprochen hatte. Er kam zwischen den Felsen herausgeflossen und ließ zwischen diesen und sich so viel Platz, daß man längs seiner Ufer gehen und auch reiten konnte. Emery deutete in diese Richtung und sagte:
„Also da drin steckt der Hinterhalt! Wie wollen wir hinankommen, ohne bemerkt zu werden? Wenn wir am Bach aufwärts gehen, müssen uns die Kerle kommen sehen!“
„Müssen wir daran aufwärts gehen?“ fragte ich ihn. „Es muß doch einen anderen Weg geben, und wenn er nicht hier zu finden ist, so werden wir ihn uns anderswo suchen.“
„Ah! Du willst den Roten von hinten kommen?“
„Ja. Sie erwarten, daß wir ihnen bachaufwärts folgen, nicht aber, daß wir von drüben her bachabwärts kommen; wir werden sie also wahrscheinlich überrumpeln.“
„Dann müssen wir aber über den Fluß hinüber, über den Cañon, über die Felsen, ohne daß wir fliegen können!“
„Können wir nicht fliegen, so steigen wir. Kommt jetzt zum Hohlweg! Wir kennen nun das Terrain und ich denke, daß wir unseren Zweck erreichen werden.“
Wir gingen also die kurze Strecke bis zum Hohlweg zurück und stiegen denselben hinab, natürlich mit der Vorsicht, die in solchen Verhältnissen geboten war. Unten am Fluß angekommen sahen wir, daß die Spur der Yumas sich teilte; die eine Hälfte war aufwärts geritten, die andere über den Fluß und den Bach hinaufgegangen. Das hätten wir gesehen, auch wenn wir nicht von der Squaw unterrichtet gewesen wären. Wie die beiden Meltons uns eine solche Blindheit hatten zutrauen können, war mir geradezu unbegreiflich. Jedem Menschen wäre die Spur aufgefallen, und nun erst einem Winnetou!
Auch wir gingen über den Fluß, folgten aber nicht etwa dem Bach, weil da oben die Yumas auf uns warteten, sondern schritten dem Flujo blanco entlang abwärts weiter, bis wir eine passable Stelle des Ufers fanden, wo wir hinaufstiegen. Nun standen wir auf der Hochebene jenseits des Flusses und gingen auf derselben weiter, schräg links nach dem tiefen Bett des Baches zu, wo wir auch bald eine Stelle fanden, wo wir hinuntersteigen konnten.
Die Yumas erwarteten uns von links her, am Bach aufwärts kommend; wir aber befanden uns nun rechts von ihnen und schlichen uns abwärts auf sie zu. Das geschah natürlich mit noch viel größerer Vorsicht, als wir bisher angewendet hatten. Emery schien noch immer nicht im klaren über die Absicht zu sein, die Winnetou und ich verfolgten. Als wir einmal an einer gutgedeckten Stelle anhielten, fragte er mich:
„War es denn eigentlich notwendig, diese Anstrengung zu machen, Charley?“
„Ja“, antwortete ich. „Die Yumas erwarten, daß wir kommen. Kämen wir nicht, so würden sie uns suchen; sie fänden unsere Fährte, die nach dem Pueblo führt, und wenn es ihnen auch wahrscheinlich nicht gelänge, uns zu überfallen, so wäre unsere Absicht doch verraten und mit Sicherheit darauf zu rechnen, daß man uns empfangen würde, wenn wir uns abends an den Lassos in den Talkessel hinabließen.“
„Hm, mag so sein; aber wir könnten uns an einem anderen Ort verstecken, um den Abend abzuwarten!“
„Hätte nichts gefruchtet, Emery. Wir müssen sie irremachen; sie müssen denken, daß wir durch die Flußenge nach dem Pueblo wollen. Und dann, denke doch, wie hübsch wir sie täuschen! Sie schauen und horchen den Bach hinunter, weil sie denken, daß wir am Fluß aufwärts gehen oder, wenn wir die zweite Fährte entdecken sollten, am Bach hinauf kommen; in beiden Fällen würden wir ihnen gerade in die Arme laufen. Nun aber befinden wir uns über ihnen und kommen von einer Seite, von der sie uns nicht erwarten.“
„Nun, und dann, was haben wir davon?“
„Was wir davon haben?“ fragte ich erstaunt. „Welche Frage!“
„Du wunderst dich über sie? Du willst den Roten doch nichts tun! Ja, wenn wir sie erschießen wollten oder dürften, so hätte es doch einen Zweck, hier in der Hitze herumzuklettern und unter Lebensgefahr herumzuschleichen. Wenn ihnen aber nichts geschehen soll, so können wir sie nur erschrecken und müssen sie dann laufen lassen.“
„Ja, sie, aber einen anderen nicht, den alten Melton. Den werden wir fassen, falls es möglich ist; dann haben wir heut abend nur noch seinen Sohn zu ergreifen. Bist du nun zufriedengestellt?“
„Wenn es so ist, ja. Daß es dem alten Melton gelte, davon habt ihr nichts gesagt.“
„Weil es sich von selbst verstand. Nun aber weiter, sonst werden die Kerle ungeduldig und sind imstande, ihr Versteck zu verlassen.“
Wir schlichen weiter, jetzt nicht mehr gehend, sondern auf dem Boden kriechend; jeder Augenblick konnte uns die Gesuchten zeigen.
„Uff!“ hörte ich da auf einmal den Apachen im Ton des Erstaunens sagen.
Er war uns einige Schritte voran, hatte sich erhoben, stand an einem dichten Strauch und deutete daran vorüber nach dem lichten Platz, der vor ihm lag. Wir huschten zu ihm hin und wurden von gleicher Verwunderung oder vielmehr Enttäuschung ergriffen. Das Gras des Platzes war niedergetreten; hier hatten die Yumas gesteckt, aber keiner von ihnen war zu sehen.
„Fort!“ meinte Winnetou.
„Ja, wenn es nämlich keine Finte ist“, warnte ich. „Es ist möglich, daß sie unser Kommen bemerkt und sich nur zurückgezogen haben, um uns mit ihren Kugeln zu empfangen.“
„Wollen sehen“, meinte der Apache. „Meine Brüder mögen hier ein wenig warten.“
Er ging eine Strecke zurück, sprang dann über den Bach und kam dann auf der anderen Seite wieder herangekrochen. Dort gab es so viel Gesträuch und Gestrüpp, daß die Yumas, falls sie vor uns steckten, ihn nicht sehen konnten. Er kam wie eine Schlange drüben vorüber und verschwand dann auf ungefähr zehn Minuten. Dann kehrte er zurück. Er ging dabei aufrecht, ein Zeichen, daß er keinen Feind gesehen hatte.
„Fort“, rief er uns schon von weitem zu. „Über den Fluß. Ich konnte ihre Spuren sehen, bis sie im Wasser verschwanden.“
„Fatal!“ zankte da Emery. „Sie sind jedenfalls hinauf nach dem Pueblo, weil ihnen die Geduld ausgegangen ist. Mit der Ergreifung des alten Melton ist es also nichts.“
„Wenn es nur das wäre, wollte ich es loben!“ meinte ich.
„Nur das? Was weiter könnte denn geschehen sein?“
„Sie sind über den Fluß; wenn sie da unsere Fährte sehen, so – – –“
„Alle Wetter, ja! Dann sind sie derselben nach. Sie werden also am Ufer abwärts gehen, das Ufer ersteigen und, geradeso wie wir, nach dem Bach kommen. Wir brauchen also nur hier sitzen zu bleiben und sie in Empfang zu nehmen! Glücklicher konnte sich das ja gar nicht lenken!“
„Ich bin nicht so froh wie du. Ja, wenn sie unsere Spur gesehen haben, so sind sie ihr gewiß gefolgt; aber es fragt sich nur, wie! Wenn sie rückwärts gegangen, woher wir gekommen sind, so müssen sie Vogel und unsere Pferde finden.“
„Das wäre das größte Pech, welches wir haben könnten!“
„Mehr als Pech! Wir müssen schnell weiter, um zu erfahren, wohin sie sich gewendet haben.“
Wir eilten den Bach hinab und an den Fluß. Schnell ging es durch das seichte Wasser, und da sahen wir denn auf dem Boden, da, wo der Hohlweg in den Fluß mündete, viel mehr Spuren, als wir vorhin gesehen hatten. Ich betrachtete sie, konnte aber nicht klug werden; Emery ging es ebenso, und auch Winnetou schüttelte den Kopf. Er betrachtete die Eindrücke, maß sie mit den Fingern aus, schüttelte wieder den Kopf und sagte endlich:
„Vielleicht sind die Yumas schon wieder zurück. Meine Brüder mögen mir schnell zu unseren Pferden folgen!“
Wir rannten den Hohlweg hinauf. Oben angekommen, wo es Gras gab, sahen wir zu unserem Schrecken allerdings, daß die Yumas hier gewesen waren; sie hatten unsere Fährte gesehen und waren ihr gefolgt, aber leider nicht vorwärts, wohin wir gegangen, sondern zurück, woher wir gekommen waren. Jetzt gab es einen Dauerlauf nach den Büschen, wo wir Vogel mit unseren Pferden gelassen hatten. Es fiel uns nicht ein, vorsichtig zu sein; es galt unserem Gefährten und unseren Pferden. Wir brachen laut, wie gehetztes Wild, durch die Büsche, die Gewehre in der Hand, um sofort zuschlagen oder schießen zu können.
Jetzt waren wir da – aber unsere Pferde waren fort und Vogel mit ihnen. Der Rasen war nicht zerstampft; keine Spur eines Kampfes war zu sehen. Unser berühmter Violinvirtuose war ganz regelrecht überrumpelt worden. Die Spuren gingen von hier aus in einem Bogen zurück nach dem Hohlweg. Wir so erfahrenen, wir klugen, wir überklugen Menschen hatten eine ganz armselige, eine ganz beschämende Schlappe erhalten.
Emery hätte vor Wut platzen mögen; er fuhr uns an:
„Da steht ihr nun und starrt einander an! Wo ist denn der alte Melton, den ihr fangen wolltet? Wäret ihr mir gefolgt, so ständen wir nicht da wie Schuljungen, die Prügel bekommen haben!“
„Hat mein Bruder Emery noch keinen Fehler gemacht?“ fragte Winnetou in seiner ruhigen Weise.
„Genug, genug!“ antwortete der Englishman in possierlicher Aufrichtigkeit. „Aber wir dürfen uns hier nicht aufhalten; wir müssen fort; wir müssen ihn befreien; kommt also rasch, kommt!“
Er rannte fort. Als er aber sah, daß wir ihm nur langsam folgten, blieb er stehen und rief uns zu:
„So kommt doch nur, kommt! Es ist keine Zeit zu verlieren!“
„Wohin denn?“ fragte ich. „Nach dem Pueblo?“
„Nach dem – – ah, du meinst, daß sie ihn dorthin geschleppt haben? Dann geht es freilich nicht so schnell, wie ich dachte!“
„Gewiß können wir nicht jetzt, am hellen Tag, hin und die Festung erstürmen. Wir würden uns doch nur die Köpfe einrennen.“
„Aber was tun wir bis zur Nacht?“
„Warten – weiter nichts.“
„So kommt! Wir wollen wieder nach dem Rand über dem Pueblo, wo wir heut abend hinab wollen. Von dort aus können wir sehen, was sie mit unseren Pferden und mit Vogel machen!“
„Und wenn die Yumas nach uns suchen, finden sie auch diese Spur, kommen uns nach und vereiteln unser Rettungswerk! Dann bekommen wir nicht nur die beiden Meltons nicht, sondern auch Vogel ist verloren – von unseren Pferden gar nicht zu reden.“
„Aber wo wollen wir sonst die lange Zeit zubringen?!“
„Ich werde es euch zeigen“, sagte Winnetou. „Meine Brüder mögen mir folgen!“
Er schritt voran, nach dem Hohlweg zu, und setzte sich, als er bei demselben angekommen war, hinter den Büschen nieder.
„Ist es meinen Brüdern so recht, hier zu sitzen?“ fragte er.
„Mir nicht!“ antwortete Emery mürrisch. „Da sitzen wir den Feinden ja gerade vor der Nase!“
„Das ist doch das einzig richtige“, erklärte ich ihm. „Weil die Yumas ganz bestimmt wieder hierher kommen werden, sobald sie Vogel nach dem Pueblo gebracht haben.“
„Werden sich hüten!“
„Wenigstens werden die Meltons einen oder einige Kundschafter senden, um zu erfahren, wo wir sind und was wir tun.“
„Und wenn die Kerle kommen? Was dann?“
„Wir schicken sie nach dem Pueblo zurück und lassen die Meltons grüßen. Auf diesem Weg erlangen wir die Sicherheit, daß unserem Gefährten kein Leid geschieht.“
„Hm, ja; das will ich gelten lassen. Der arme Teufel befindet sich in einer Gefahr, die gar nicht größer sein kann!“
„So gar groß ist sie nicht! So lange wir noch da sind, braucht er nichts zu fürchten.“
„Oho! Denke doch an die Erbschaft!“
„Nun? Weiter!“
„Wenn er ihnen das sagt, bringen sie ihn auf der Stelle um!“
„Er wird doch nicht so dumm sein, ihnen das zu sagen!“
„Warum nicht? Ich denke gerade, daß er es in seiner Angst, in seinem Ärger sagt.“
„Er wird es sagen“, behauptete Winnetou in seiner ruhigen Weise. „Er wird es sagen, und gerade darum hat Winnetou sich hierher gesetzt.“
Jetzt passierte mir etwas Seltenes; nämlich ich erriet nicht, was der Apache mit diesen Worten meinte. Als er sah, daß ich ihn fragend anblickte, fuhr er fort:
„Glaubt mein Bruder Charley, daß die Meltons sich vor uns fürchten?“
„Ja.“
„Werden sie denken, daß sie uns hier fangen und vernichten können?“
„Nein. Ich bin im Gegenteil überzeugt, sie wissen, daß ihre Rolle wahrscheinlich bald zu Ende gespielt ist.“
„Ja, überfallen und töten lassen wir uns nicht von ihnen; Vogel haben sie fangen können, uns aber nicht. Wir haben hier ihr Nest entdeckt. Sollten sie entkommen, so sind wir immer wieder hinter ihnen her und lassen ihnen keine Ruhe, bis wir sie ergriffen haben. Das wissen sie. Auf einmal fällt Vogel in ihre Hände, wirft ihnen ihre Verbrechen vor und sagt, daß er der einzige und richtige Erbe ist. Was werden sie tun?“
„Ihn sofort umbringen!“ antwortete Emery im Ton der Überzeugung.
„Ist mein Bruder Charley derselben Überzeugung?“
„Nein“, erwiderte ich, denn ich wußte nun, was Winnetou gemeint hatte. „Der Mord könnte ihre Lage nicht verbessern, sondern er würde sie nur verschlimmern, weil die Mörder dann bei uns auf kein Erbarmen mehr rechnen dürften.“
„Mein Bruder hat recht; denn wenn sie ihn nicht töten, sondern ihn als Geisel gebrauchen, ist Rettung für sie möglich.“
„So meint mein Bruder Winnetou, daß, wenn wir hier sitzen bleiben, bald ein Kundschafter und dann ein Unterhändler kommen wird?“
„Ja.“
„Mein Bruder ist der scharfsinnigste von uns dreien. Er irrt sich nie, und ich bin jetzt auch überzeugt, daß seine Vermutung sich erfüllen wird.“
„Ich zweifle sehr daran“, brummte Emery unwillig. „Und selbst wenn es sich bewahrheiten sollte, würdet ihr mit diesen Menschen in Unterhandlung treten?“
„Ja. Man tut, was klug ist. Es gilt zunächst, dafür zu sorgen, daß dem jungen Mann kein Leid geschieht, und dies können wir nur dadurch erreichen, daß wir scheinbar auf die Vorschläge, welche uns etwa gemacht werden, eingehen oder sie wenigstens in Überlegung ziehen. Wir sind heute unvorsichtig und dadurch unglücklich gewesen, doch ist bei dem Unglück ein großes Glück, welches mich mit dem Unfall vollständig auszusöhnen vermag.“
„Welches Glück?“
„Daß wir unsere Lassos bei uns haben. Hätten wir sie bei den Pferden zurückgelassen, so wären sie uns verloren, und ich wüßte nicht, wie wir Vogel befreien wollten.“
„Pshaw! Heraus muß er auf jeden Fall; eher ruhe ich nicht!“
„Aber unter welcher Vermehrung der Gefahren und Schwierigkeiten! So aber bin ich überzeugt, daß er schon morgen früh wieder frei sein wird. Ich hoffe nämlich, daß –“
Winnetou unterbrach mich durch einen Wink, den er mir gab. Er lag so, daß er ein Stück in den Hohlweg hinein- und hinabblicken konnte; ich sah seine Augen funkeln; dann hörte ich Schritte; es kam jemand, langsam und vorsichtig, wie einer, der seiner Sache nicht sicher ist. Wir schoben uns noch weiter ins Gebüsch hinein; da kam er – ein Indianer. Er sah nach links und rechts, und als er rundum niemand erblickte, trat er vollends aus dem Hohlweg heraus und begann, die Spuren zu mustern, welche sich von uns und seinen Leuten hier im Gras befanden.
Jetzt kehrte er uns den Rücken zu. Winnetou erhob sich und stellte sich leise hinter ihn; auch ich stand leise auf, und Emery folgte geräuschlos unserem Beispiel. Jetzt fragte der Apache laut:
„Was sucht mein roter Bruder hier im Gras?“
Der Yuma fuhr herum, sah uns und ließ vor Schreck seine Flinte fallen. Winnetou schleuderte sie schnell mit dem Fuß fort und fügte hinzu:
„Hat mein Bruder etwas verloren?“
Ich sah es wie einen blitzartigen Entschluß über das braune Gesicht des Yuma gehen und schnellte mich mit drei Schritten vor den Hohlweg hin. In demselben Augenblick tat er das gleiche. Er flog mir gerade in die Arme, die ich fest um ihn schlang; er machte zwar einen Versuch, sich loszureißen, als ihm dieser aber nicht gelang, verhielt er sich still und ließ sich von Winnetou vollends entwaffnen. Als ich ihn dann aus dem Hohlweg zur Seite führte, wo wir gesteckt hatten, und ihm befahl, sich niederzusetzen, gehorchte er ohne Widerstreben. Winnetou legte sich so, daß er hinter dem Busch hervor den Hohlweg überblicken konnte, und sagte dann zu dem Gefangenen:
„Weiß mein Bruder, wer wir sind?“
Der Gefragte nickte.
„Er mag unsere Namen sagen!“
„Winnetou und Old Shatterhand; das andere Bleichgesicht kenne ich nicht.“
„Der weiße Mann ist ein berühmter Jäger, der sich noch nie vor einem Feind gefürchtet hat. Mein Bruder hat unsere Namen richtig genannt. Wo hat er sie gehört, oder hat er uns vielleicht selbst kennengelernt?“
„In der Sonora, bei der Hazienda del Arroyo und in Almadén alto habe ich euch gesehen.“
„Wenn mein Bruder sich erinnert, was dort geschehen ist, so wird er auch wissen, daß wir nicht Feinde der Yuma sind, denn wir haben Frieden mit ihnen geschlossen. Warum treten die Yumas hier gegen uns auf?“
Der Gefragte antwortete nicht.
„Wir haben damals mehrere Hunderte von Yumas besiegt, und jetzt seid ihr so wenige. Meint ihr, daß ihr diesmal glücklicher sein werdet?“
„Wir wohnen in einem Pueblo, in das kein Feind kommen kann!“
„Mein Bruder irrt sich. Der Felsen von Almadén alto war viel fester und viel schwerer zu ersteigen als euer Pueblo; wir sind dennoch hineingekommen und haben den Besitzer sogar gefangen herausgeschafft. Und Almadén alto wurde von vielen Yumas bewacht, und hier mein Bruder Shatterhand hat es ganz allein erobert. Wie leicht ist es uns da, in euer Pueblo zu gelangen! Ihr könnt alle wachen; wir werden uns doch, wenn wir wollen, ungesehen durch die Flußenge und den schmalen Eingang schleichen. Wenn wir dies tun, seid ihr verloren; daher rate ich euch, es nicht soweit kommen zu lassen!“
Diese Worte nahmen dem Yuma einen Stein vom Herzen. Er war gefangen; wir konnten ihn töten; jetzt aber antwortete er schnell:
„Warum gibt der Häuptling der Apachen einen Rat, der nicht befolgt werden kann?“
„Nicht befolgt? Warum?“ fragte Winnetou, obgleich er den Roten recht gut verstanden hatte.
„Weil die, an welche er gerichtet ist, den Rat nicht hören können.“
„Wir werden dich zu ihnen senden!“
Da hellte sich das Gesicht des Yuma noch mehr auf, und er sagte:
„So laß mich gehen! Ich werde meinen Brüdern sagen, welchen Rat du mir gegeben hast.“
„Warte noch! Seit wann schämen sich rote Krieger nicht, Sklaven eines Weibes, einer weißen Squaw zu sein?“
„Wir sind nicht ihre Sklaven.“
„Ihr seid es. Ihr fangt um ihretwillen sogar Feindschaft mit drei berühmten Kriegern an, von denen ihr wißt, daß sie euch, sobald sie nur wollen, vernichten werden. Um dieses Weibes willen nehmt ihr Menschen in Schutz, welche Diebe und Mörder sind und nicht einmal zu einem Stamm der roten Männer gehören. Man sollte euch verachten!“
Das Auge des Yuma blitzte zornig auf. Er beherrschte sich aber und sagte:
„Die Weiße war die Squaw unseres Häuptlings; nur deshalb dienen wir ihr noch.“
„Welcher rote Krieger hat jemals der Squaw seines Häuptlings gedient und noch dazu nach dem Tod desselben? Mein Bruder mag seinen Gefährten sagen, was Winnetou von ihnen denkt, wenn sie die weiße Frau und deren beiden Freunde noch länger beschützen. Ihr habt einen jungen Weißen gefangen, der unser Freund ist; ihr habt uns unsere Pferde geraubt; ihr habt uns gestern abend überfallen, um uns zu fangen und zu töten. Das alles fordert unsere Rache heraus, und diese wird euch unvermeidlich treffen, wenn ihr euch nicht zu der Sühne versteht, welche ich von euch fordere.“
„Was verlangt Winnetou von uns?“
„Unsere Pferde, den jungen Mann, von dem ich eben sprach, und die beiden Weißen, welche bei der Squaw im Pueblo wohnen.“
„Das ist sehr viel verlangt! Und was bietet uns Winnetou dafür?“
„Alles! Das Leben!“
Man sah es dem Yuma an, daß er einen großen Respekt vor Winnetou hatte, dennoch zuckte es ironisch um seine dünnen Lippen, als er hierauf antwortete:
„Wenn man uns das Leben nehmen will, werden wir es auch zu verteidigen wissen. Oder meint der Häuptling der Apachen, daß ihn keine Kugel trifft?“
„Ja. Hier bei euch bin ich vor jeder Kugel sicher; ich weiß das so genau, weil ich euch kenne. Also du weißt, was ich verlange: Den Vater und seinen Sohn, die bei euch wohnen; den jungen Weißen, den ihr ergriffen habt, und unsere Pferde.“
„Und was wird geschehen, wenn unsere Krieger nicht in deine Forderungen willigen?“
„Das sage ich nicht; aber ihr werdet es bald erfahren. Jetzt kannst du gehen. Wir bleiben noch hier, bis die Sonne zehn Hände breit vom westlichen Horizont entfernt ist. Habt ihr dann noch nicht geantwortet, so entscheidet der Tomahawk zwischen uns, und wir kommen in der Dunkelheit am Fluß hinauf, schießen jeden weg, der uns im Weg liegt, dringen in euer Pueblo ein und holen uns alles, was ihr uns verweigert. Dann werden eure Frauen und Kinder ein Heulen und Schreien beginnen über den Tod, der ihre Männer und Väter hinweggerafft hat!“
„Winnetou ist ein großer Krieger; aber die Yumas sind keine Mäuse, welche furchtsam aus ihren Löchern fliehen, wenn sie den Feind kommen hören!“
„Ihr werdet ihn gar nicht hören. Er wird mitten unter euch sein, ehe ihr es denkt.“
„So haben wir unsere Messer, sie ihm ins Herz zu stoßen!“
„Das könnt ihr nicht, weil ihr ihn gar nicht sehen werdet. Mein Bruder mag jetzt gehen und in sein Pueblo zurückkehren, um uns Antwort zu bringen. Je eher wir dieselbe bekommen, desto besser wird es für die Yumas sein.“
„Darf ich mein Gewehr mitnehmen?“
„Nein. Ein Gefangener bekommt seine Waffen erst dann, wenn Friede geschlossen ist, nicht eher.“
Der Yuma stand auf und verschwand stolzen Schrittes und erhobenen Hauptes im Hohlweg. Sein Stolz ließ nicht zu, uns merken zu lassen, wie froh er war, uns so heiler Haut entkommen zu sein. Als er fort war, fragte Emery:
„Ist mein Bruder Winnetou vielleicht der Ansicht, daß die Yumas uns aus Angst die drei Personen und unsere Pferde ausantworten werden?“
„Nein“, antwortete der Apache; „aber Winnetou weiß genau, wie es nun kommen wird.“
„Ich bin wirklich neugierig, dies zu hören!“
„Der Yumakrieger ist ausgesandt worden, zu erkunden, wo wir uns befinden, aber nicht etwa, weil man uns angreifen will, denn nun, da unser Gefährte gefangen worden ist, weiß man, daß wir doppelt vorsichtig sein werden. Er kehrt jetzt zurück und erzählt den Meltons, wo er uns getroffen hat, daß wir ihn überwältigt und was ich ihm alles aufgetragen habe. Was von mir verlangt worden ist, werden wir nicht bekommen, sondern man wird uns anderes anbieten.“
„Was?“
„Den Gefangenen und unsere Pferde. Außerdem wird man dem ersteren einen Teil der Erbschaft versprechen und dafür verlangen, daß wir uns entfernen und nie wieder etwas gegen die beiden Meltons vornehmen. Meine Brüder glauben nicht, was ich sage? Sie werden bald erfahren, daß ich recht habe, daß ich mich nicht irre. Wir werden nicht lange zu warten haben, bis eine Botin kommt.“
„Eine Botin?“ fragte Emery erstaunt.
„Ja. Die Meltons werden sich hüten, selber zu kommen, und was sie uns zu sagen haben, das können sie keinem Yuma anvertrauen; da gibt es nur eine Person, welche sie senden können, und das ist die weiße Squaw, von der sie wohl auch glauben, daß wir uns von ihrem schönen Gesicht betrügen lassen werden.“
Ich hatte alle Achtung vor dem Scharfsinn des Apachen; wie oft war ich von der Untrüglichkeit seines Instinktes förmlich betroffen worden; jetzt aber war ich doch der Ansicht, daß er zuviel behaupte, gab aber dem Gedanken kein Wort. Er schien zu ahnen, was ich dachte, denn er sagte zwar auch nichts, aber sein Auge ruhte mit jenem, ich möchte sagen, überlegen lächelnden Ausdruck auf mir, den ich immer an ihm beobachtet hatte, wenn er seiner Sache sicher, ich aber anderer Meinung gewesen war und sich seine Behauptung dann doch bewahrheitet hatte.
Wir warteten wohl über eine Stunde lang. Wir lagerten jetzt so, daß wir alle drei in den Hohlweg blicken konnten. Da sahen wir einen Roten kommen; es war der Yuma, mit welchem wir vorhin gesprochen hatten.
„Nun, Winnetou, ist's etwa die weiße Squaw?“ fragte Emery.
„Noch nicht“, antwortete der Gefragte in gleichmütigem Ton.
„Es wäre auch wenigstens sonderbar, wenn sie uns ein Weib als Unterhändler senden wollten; es wär das eine Unglaublichkeit.“
„Mein Bruder wird wohl noch manches als Wahrheit erkennen müssen, was er vorher für unglaublich gehalten hat. Hören wir, was der Mann uns zu sagen hat!“
Der Yuma kam langsam zu uns heran, setzte sich zu uns, als ob sich das von selbst verstehe und dabei für ihn gar keine Gefahr vorhanden sei, und wartete, bis wir ihn anreden würden. Winnetou war zu stolz, das zu tun; mir fiel es auch nicht ein, das erste Wort zu sagen, und Emery schien wohl Lust dazu zu haben, weil er neugierig war, ich bat ihn aber durch einen Blick, zu schweigen. So war also der Yuma doch gezwungen, das Wort zu ergreifen. Er tat dies, indem er fragte:
„Meine Brüder haben wohl nicht gedacht, daß ich so schnell zurückkehren werde?“
„Wir haben gar nicht mehr an dich gedacht“, antwortete Winnetou. „Ob du wiederkommen würdest oder nicht, das war wohl für euch von großer Wichtigkeit, uns aber konnte es sehr gleichgültig sein.“
„Ich habe deine Botschaft ausgerichtet.“
Er glaubte, es werde nun eine neugierige Frage kommen, da dieselbe aber ausblieb, fügte er hinzu:
„Ich habe sie den beiden Männern gesagt, welche bei der weißen Squaw wohnen.“
„Und nicht den Yumakriegern?“ entfuhr es dem Englishman.
„Auch ihnen; es haben sie also alle gehört. Der Vater dessen, welcher der Mann der weißen Squaw geworden ist, hat mich zu euch gesandt, um euch die Antwort zu sagen.“
„Und die lautet?“
„Die weiße Squaw soll zu euch gehen, um mit euch zu sprechen.“
Über Winnetous Gesicht ging ein leises, aber siegbewußtes Lächeln; der Englishman aber fuhr zornig auf:
„Die weiße Squaw? Meinst du, daß wir mit Weibern zu verhandeln pflegen?“
„Der Mann, der mich geschickt hat, war der Ansicht, daß ihr gern mit ihr sprechen würdet.“
„Warum ist er nicht selbst gekommen?“
„Weil er keine Zeit dazu hat.“
„So mag er seinen Sohn schicken!“
„Auch dieser wird nicht kommen. Sie denken, daß ihr sie nicht wieder fortlassen würdet.“
„Könnte möglich sein! Hätten auch alle Veranlassung dazu!“
Dies hatte Emery in seinem grimmigsten Ton gesagt; da aber meinte Winnetou:
„Wenn ein Unterhändler zu uns kommt, so halten wir ihn nicht zurück, wenn er wieder gehen will, er mag sein, wer er will. Der Häuptling der Apachen ist nicht gewohnt, mit einem Weib zu verhandeln; damit aber die Krieger der Yumas erfahren mögen, daß wir so freundlich wie möglich mit ihnen sein wollen, gebe ich die Erlaubnis, daß die Frau kommen darf. Geh also nach dem Pueblo und sag es ihr!“
Er entfernte sich, und wir warteten nun mit Spannung auf die Ankunft der Angehörigen des zarten Geschlechts, welche nach allem, was geschehen war, die Stirn hatte, mit uns sprechen zu wollen.
„Nun“, meinte der Apache zu Emery, „hat mein Bruder die Erfahrung gemacht, daß selbst das Unmögliche möglich werden kann?“
„Das ist hier allerdings der Fall! Wie die Person es wagen kann, zu uns zu kommen, ist mir unbegreiflich. Bin neugierig, was sie uns mitteilen wird!“
„Das, was ich gesagt habe. Winnetou wird ihr kein Wort gönnen; meine Brüder mögen mit ihr reden.“
„Ich nicht, denn ich befürchte, so grob zu werden, daß ich alles verderben würde. Charley, willst du das Amt übernehmen?“
„Auch mich widert es an; aber ich sehe, daß ich den Umständen Rechnung tragen muß. Sprich mir aber nicht darein; du könntest unserer Angelegenheit dadurch Schaden bringen.“
Man war im Pueblo jedenfalls von unserer Einwilligung überzeugt gewesen, denn wir hatten noch nicht lange gewartet, so sahen wir die Jüdin unten im Hohlweg erscheinen. Sie hatte eine junge Indianerin bei sich, welche einen aus Rohr und Schilf geflochtenen leichten Sessel trug.
Die Judith hatte Toilette gemacht, hier in der Wildnis an der Grenze zwischen New Mexico und Arizona! Als sie sich uns näherte, nahm ihr Gesicht ein siegreiches Lächeln an; sie nickte uns grüßend zu, gab der Indianerin einen Wink, den Stuhl uns gegenüber zu setzen, nahm Platz und sagte:
„Ich bin erfreut, Señores, Sie so wohl zu sehen. Der weite Ritt scheint auf Ihre Gesundheit keinen nachteiligen Einfluß ausgeübt zu haben; darum hoffe ich, daß Ihr Wohlbefinden auf unseren Gegenstand von guter Wirkung sein werde!“
Wir waren weder aufgestanden, noch hatte sie einen Gruß von uns empfangen. Mein Gesicht war gewiß kein freundliches, als ich ihr antwortete:
„Keine Redensarten! Bleiben wir streng bei der Sache, welche uns zusammenführt! Sie wohnen jetzt mit dem sogenannten Small Hunter und mit seinem Vater im Pueblo?“
„Ja.“
„Sie wußten in New Orleans noch nicht, daß dieser Mann sein Vater war. Wann haben Sie es erfahren?“
„Hier, als der Vater ankam.“
„So kennen Sie nun wohl auch den richtigen Namen Ihres Bräutigams?“
Sie schwieg, und erst als ich meine Worte wiederholte, fragte sie:
„Muß ich Ihnen das sagen?“
„Sie müssen nicht; Sie können es leugnen; aber wir würden wohl eher einig werden, wenn Sie die Wahrheit sagten. Schämen werden Sie sich wahrscheinlich nicht, das zu tun.“
Sie errötete nicht und erbleichte nicht; sie antwortete lachend:
„Mir wurde gesagt, daß ich mich vor Ihnen weder zu schämen noch zu fürchten hätte. Sie sind uns ungefährlich; darum kann ich Ihnen ohne besondere Angst sagen, daß ich den Namen meines Verlobten allerdings kenne.“
„Jonathan Melton und sein Vater heißt Thomas Melton. Nicht wahr?“
„Sehr richtig.“
„Und sein Oheim?“
„Harry Melton.“
„Wissen Sie, wo der letztere sich gegenwärtig befindet?“
„Das werden Sie wohl besser wissen als jeder andere! Sie haben ihn ja erstochen.“
„Von wem wissen Sie das?“
„Von seinem Bruder. Einem so gewalttätigen Menschen, wie Sie sind, ist alles, selbst so ein Raubmord zuzutrauen.“
„Hm! Sie halten mich also für gewalttätig?“
„Natürlich, denn ich habe alle Ursache dazu! Oder haben Sie mich nicht schon einmal durchpeitschen lassen wollen?“
„Allerdings, und ich gestehe Ihnen, daß es mich jetzt eine gewisse Anstrengung kostet, nicht gewalttätig zu sein. Bleiben wir aber ruhig; das ist besser. Da Sie den Namen Ihres Verlobten kennen, wissen Sie auch, weshalb ich mich hier befinde?“
„Ja. Er hat es mir aufrichtig gesagt.“
„Und Sie gestehen es ebenso aufrichtig zu! Sie wissen also, daß er ein Betrüger ist?“
„Betrüger? Was der eine so nennt, nennt der andere anders. Jonathan ist ein Pfiffikus, und es fällt mir nicht ein, ihn darum zu tadeln.“
„Ich begreife das. Sie haben abgewirtschaftet; Sie besitzen nichts mehr als den Stein- und Lehmhaufen, den Sie so hochtrabend Ihr Schloß nannten und den Ihnen jeder Indianer streitig machen kann. Nun ist es Ihnen sehr willkommen, daß Ihr Jonathan ein großes Erbe angetreten hat, welches Sie mit verzehren wollen. Habe ich recht?“
„Warum sollte ich Ihnen unrecht geben! Es würde doch zu nichts führen.“
„Aber bedenken Sie, daß Sie dadurch zur Mitschuldigen werden!“
„Was ist Schuld, Señor! Schuld ist alles, was das Gewissen beschwert; das meinige aber ist leicht.“
„Um diese Leichtheit beneide ich Sie nicht. Da Sie mit einer geradezu verblüffenden Aufrichtigkeit sprechen, will ich ebenso offen sein. Ich bin gekommen, Ihren Jonathan zu fangen.“
„Das wissen wir“, lachte sie.
„Und da Sie sich als Mitschuldige bekennen, habe ich große Lust, auch Sie festzunehmen!“
Jetzt änderte sie doch die Farbe und fragte schnell und in unsicherem Ton:
„Señor, ich bin Parlamentärin. Wollen Sie mich etwa gleich hierbehalten?“
„Das könnte ich!“
„Nein, denn das wäre doch wohl gegen alles Völkerrecht!“
„Völkerrecht! Wo es sich um so große, so schauderhafte Verbrechen handelt! Habe ich Ihnen versprochen, Sie nach dem Pueblo zurückkehren zu lassen?“
„Nein, aber das verstand sich doch ganz von selbst!“
„Es war nicht so selbstverständlich, wie Sie meinen; doch will ich Sie beruhigen. Es fällt mir nicht ein, Sie zurückzuhalten. Sie können ungehindert in Ihre ehrenwerte Gesellschaft zurückkehren. Wenn es mir noch nötig erscheinen sollte, mich Ihrer Person zu versichern, so werde ich das so spät wie möglich tun.“
„Eine sehr freundliche Rücksicht für mich!“ lächelte sie mich an.
„O nein; es hat einen ganz anderen Grund. Ich mag Sie nicht bei mir haben, und darum will ich Sie so lang wie möglich von mir fernhalten. Das ist die wahre Ursache.“
„Sie halten Ihr Versprechen, Señor. Sie sind ebenso aufrichtig mit mir wie ich mit Ihnen. Ich habe Sie gehaßt vom ersten Augenblick, an dem ich Sie sah!“
„Danke! So eine wirkliche, wahre und echte Ehre ist mir lange nicht widerfahren.“
„Und darum“, fuhr sie schnell fort, „ist es mir ein wahrer Hochgenuß, jetzt mit Ihnen verhandeln zu können – doch vom Verhandeln kann eigentlich keine Rede sein! Ich bin nur gekommen, mir einen hohen Genuß zu bereiten, indem ich Ihnen sage, daß Sie sich hier ganz vergeblich bemühen. Sie bekommen weder einen Menschen in die Hand, noch einen Pfennig von dem Geld, das Sie haben wollen! Sind Sie denn wirklich so verrückt, zu glauben, daß Sie in unser Pueblo dringen können?“
„Und wenn es mir dennoch gelänge, in den Felsenkessel zu gelangen?“
„Das ist eben unmöglich. Ich weiß zwar von damals her, daß Sie es verstehen, sich glatt und unbemerkt wie eine Schlange durchzudrängen, aber bei der hiesigen Örtlichkeit ist das unmöglich. Sie müßten über unsere Wächter wegsteigen.“
„Das ist doch nicht schwer! Es gibt gewisse Griffe und gewisse Stiche, welche einem über fünf und über zehn Wächter weghelfen. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich, wenn ich nur will, ganz gewiß in Ihr Tal komme!“
„Ja, die gewissen Griffe und Stiche sind Ihnen freilich zuzutrauen. Es ist nur gut, daß Sie davon sprechen; da kann man doch seine Vorbereitungen treffen. Aber selbst wenn Sie wirklich in unseren Talkessel gelangten, was hätten Sie davon? Sie wären dann noch immer nicht im Pueblo.“
„Das würde man ersteigen.“
„Bilden Sie sich nicht ein, allmächtig zu sein! Und wären Sie im Pueblo, so hätten Sie noch niemand von uns fest. Wir sind bewaffnet und würden Sie wahrlich nicht schonen! Und noch weniger Hoffnung hätten Sie, das Geld zu bekommen!“
„Ich bin im Gegenteil überzeugt, daß ich es mir doch hole!“
„Keinen Pfennig! Aber, Señor, Ihre verrückte Idee hat Ihnen bisher so viel Mühe gemacht, daß wir Mitleid mit Ihnen haben und Ihnen etwas zukommen lassen wollen.“
„Was denn wohl, meine gütige Señora?“
„Sie wissen wohl, wo Vogel sich gegenwärtig befindet?“
„Ja.“
„Das ist wieder ein eklatanter Beweis, daß es mit Ihrer vielgerühmten Klugheit nicht allzuweit her ist. Welcher vernünftige Mensch kommt auf die Idee, einen solchen unerfahrenen Knaben mit hierher zu nehmen! Was hindert uns, ihn unschädlich zu machen?“
„Das hätte nicht den geringsten Vorteil für Sie!“
„Nicht? Wirklich nicht?“
„Durch den Tod des einen Erben, der noch mehrere Nebenerben hat, werden Sie noch lange nicht der rechtliche Besitzer der Erbschaft. Das Verbrechen bleibt Verbrechen. Sie werden sich wohl hüten, den jungen Mann zu ermorden.“
„Ich? Nun ja, mir ist es sehr gleichgültig, ob er stirbt oder ob er leben bleibt. Aber Jonathan und sein Vater werden ihn gewiß töten, wenn ich unverrichteter Sache von Ihnen zurückkehre.“
„Unverrichteter Sache! Sie haben uns also gewisse Anträge zu stellen, gewisse Vorschläge zu machen?“
„Ja. Wir sind bereit, Ihnen gewisse Vorteile abzulassen –“
„Und verlangen dafür noch größere Vorteile für sich selbst!“
„Wohl kaum! Hören Sie, was ich Ihnen alles biete! Sie bekommen Ihre Pferde wieder, auch den jungen Menschen, der sich Vogel nennt und mit Hunter verwandt gewesen zu sein behauptet –“
„Schön!“
„Vogel erhält hunderttausend Dollars in guten Wertpapieren und Sie bekommen zehntausend Dollars in ebenso sicheren Papieren.“
„Für mich?“
„Ja. Bedenken Sie, was das heißt, da Sie dem Onkel Melton, als Sie ihn erstachen, sein Geld abgenommen haben. Sie gelangen also in den Besitz eines Vermögens!“
„Sehr richtig, Señora!“
„Dafür verlangen wir weiter nichts, als daß –“
Sie stockte und sah mich forschend an, was ich zu dem Folgenden wohl sagen würde.
„Nun, als daß –?“ fragte ich.
„Als daß Sie die Verfolgung Jonathans und seines Vaters aufgeben, nie wieder gegen irgendeinen Menschen von dieser Angelegenheit sprechen –“
„Natürlich, natürlich!“
„Und Vogel und seine Verwandten bestimmen, sich mit den hunderttausend Dollars zufriedenzugeben und ebenso verschwiegen zu sein, wie Sie sein werden.“
„Welch eine Bescheidenheit, welch eine wirklich großartige Bescheidenheit!“
„Nicht wahr? Für das viele Geld ein wenig Verschwiegenheit! Kann man etwa weniger verlangen?“
„Nein, auf keinen Fall.“
„Sie sind also einverstanden?“
„Ja.“
„Das freut mich! Ich glaubte wirklich nicht, daß Sie so verständig sein würden, so schnell Ihren Vorteil zu erkennen. Wenn Sie alle drei einverstanden sind, so –“
„Wir sind einverstanden“, unterbrach ich sie, „vollständig einverstanden. Nur haben Sie sich noch nicht erkundigt, auf welchen Punkt sich das Einverständnis bezieht.“
„Nun, auf welchen?“
„Darauf, daß die Meltons die allergrößten Schurken sind, welche es unter der Sonne gibt.“
„Das gehört doch nicht hierher!“
„Gehört vielleicht auch die andere Wahrheit, über welche wir gleichfalls so einverstanden sind, nicht hierher, nämlich die, daß Sie eine ebenso große Schurkin sind wie die beiden Meltons zusammen?“
„Señor, wozu die Redensarten! Wollen Sie unser schönes Übereinkommen zerstören?“
Sie mochte wirklich geglaubt haben, daß ich auf ihren Vorschlag eingehen wolle, denn ich hatte so ruhig und gleichmütig gesprochen, wie es trotz meiner Empörung möglich war. Erst jetzt schien sie zu bemerken, daß eine Ironie des Grimmes aus mir gesprochen hatte. Sie war bei ihren letzten Worten aufgestanden, als ob sie sich im Zorn entfernen wolle. Ich erhob mich nun auch aus dem Gras und antwortete:
„Unser Übereinkommen? Haben Sie denn in Wirklichkeit annehmen können, daß ich mit Ihren mehr als wahnsinnigen Forderungen einverstanden sei?“
„Wahnsinnig nennen Sie dieselben? Wahnsinnig?“ rief sie aus. „Überlegen Sie sich doch, was ich Ihnen biete!“
„Ich brauche es mir nicht zu überlegen! Vogel wird ohnehin alles bekommen, alles, außer dem natürlich, was bis jetzt schon von dem Geld verschwunden ist!“
„Das zu sagen, ist Wahnsinn. Greifen Sie zu?“
„Nein.“
„So bekommen Sie Ihre Pferde nicht wieder!“
„Ich hole sie mir!“
„Und Vogel stirbt!“
„Wird ihm auch nur ein Haar gekrümmt, so bezahlen Sie es mit Ihrem Leben, Señora Judith! Merken Sie sich das! Es ist mein bitterster Ernst!“
„Möchte wissen, wie und wann Sie an mich kommen wollten!“
„Das werden Sie erfahren! Ich dachte, Sie hätten allen Grund, nicht allzu zuversichtlich zu sein. Sie haben Winnetou und Old Shatterhand ja kennengelernt!“
„Dafür werden Sie uns nun auch kennenlernen. Also gehen Sie auf meine Vorschläge ein?“
„Nein und wieder nein!“
„So sind wir fertig!“
„Für diesen Augenblick, nicht aber für später. Ich denke vielmehr, unser neues und schönes Verhältnis wird erst jetzt beginnen!“
„Drohen Sie immerhin; ich lache Sie doch aus!“
Sie gab der Indianerin, die während unserer Unterhaltung fern gestanden hatte, einen Wink, den Sessel aufzunehmen, und schritt dem Hohlweg zu. Dort angekommen, blieb sie stehen, blickte eine kurze Zeit sinnend nieder, kehrte dann um, kam wieder zu mir und sagte:
„Señor, ich will Sie trotz alledem noch einmal warnen. Trauen Sie sich wirklich zu, in unser Felsennest einzudringen?“
„Ja. Es ist nicht eine Spur von Gefahr dabei!“
„Und ich sage Ihnen, daß wir uns bis auf den Tod verteidigen werden!“
„Ist mir gleichgültig. Ich habe noch ganz andere Gegner vor mir gehabt, als die Meltons sind. Sie selbst rechne ich natürlich gar nicht.“
„Oh, ich bitte, mich doch zu rechnen, und zwar sehr! Wenn es Ihnen trotz aller Erwartung durch irgendeinen günstigen Zufall gelingen sollte, in meine Nähe vorzudringen, würde ich Sie ohne Gnade niederschießen!“
„Tun Sie das, Señora!“
„Ja, ich werde es tun; darauf können Sie sich verlassen. Ich kämpfe um einen Preis, der mir hoch genug ist, einen Mord zu begehen. Ich habe mich an den Reichtum gewöhnt; ich kann und mag ohne ihn nicht leben; er wird mir jetzt wieder geboten, und Sie wollen mir ihn rauben. Nehmen Sie sich also auch vor mir in acht!“
Sie machte eine Bewegung, sich wieder fort zu wenden, besann sich aber und fügte noch hinzu:
„Wir glaubten, Sie würden auf meine Vorschläge eingehen, dennoch –“
„Dann wäre ich ein Subjekt, welches Ihnen und den Meltons gleichgestellt werden müßte“, unterbrach ich sie.
Sie fuhr, ohne auf meine Worte zu achten, weiter fort:
„Dennoch dachten wir auch daran, daß Sie sich doch vielleicht weigern könnten. Für diesen Fall erhielt ich den Auftrag, Ihnen bis morgen mittag eine Frist zur Überlegung zu geben.“
„Sehr freundlich von Ihnen!“
„Allerdings, denn es ist eine Gnadenfrist. Morgen mittag werde ich wieder hierherkommen. Werden Sie hier sein?“
„Jedenfalls, nämlich wenn wir uns nicht schon vorher wiedergesehen haben.“
„Das werden Sie nicht fertigbringen!“ lachte sie. „Also morgen mittag. Leben Sie wohl, Sie großer Held und Retter von Leuten, die Sie nichts angehen!“
„Nicht so schnell, nicht so schnell, Señora! Wir gehen ein Stückchen mit.“
„Warum?“ fragte sie verwundert, indem sie stehenblieb.
„Weil wir als Caballeros wohl wissen, was sich schickt, wenn man den Besuch einer Dame erhalten hat. Wir bringen Sie zu den Ihrigen.“
„Da wird man auf Sie schießen!“
„Höchstens auf Sie, nicht aber auf uns!“
„Nein, nein, auf Sie! Bleiben Sie, bleiben Sie ja!“
„Pah! Gehen Sie nur; wir fürchten uns nicht.“
„Nun, wenn Sie erschossen werden wollen, so habe ich nichts dagegen; es kann mir nur lieb sein. Also machen Sie, was Sie wollen!“
Sie ging mit ihrer Indianerin den Hohlweg hinab; ich schritt dicht hinter ihr; dann folgten mir Winnetou und Emery, die wohl nicht gleich begriffen, was ich eigentlich für eine Absicht verfolgte. Unten am Fluß angekommen, wendete sich die Jüdin links, in den engen Cañon hinein. Als sie sah, daß ich ihr auch da auf der Ferse blieb, hielt sie den Schritt an und sagte erregt:
„Ich glaube gar, daß Sie weitergehen wollen!“
„Natürlich will ich das!“
„Aber ich sagte Ihnen schon, daß die Indianer, welche da oben auf mich warten, auf Sie schießen werden!“
„Meine teure Señora, haben Sie doch um uns keine Angst! Sie sehen ja, daß wir ganz dicht hinter Ihnen gehen. Sobald jemand auf uns schießt, wird er Sie treffen, doch nicht uns. Sie sind unser Schild!“
Sie erschrak.
„Gehen Sie; gehen Sie! Kehren Sie zurück!“ rief sie aus. „Ich gehe sonst keinen Schritt weiter!“
„Nicht? Nun, Sie werden mit sich sprechen lassen. Es war eine große Torheit von den Meltons, Sie zu uns zu schicken. Wir sind zwar anständig genug, Sie zurückkehren zu lassen, ja, wir werden Sie sogar zwingen, zurückzukehren, aber wir gehen mit.“
„Nein, nein, Sie bleiben!“ zeterte sie.
„Fällt uns gar nicht ein! Es ist Ehrensache für uns, Sie zu begleiten. Sie lachten mich aus, als ich sagte, daß es uns sehr leicht sein würde, durch die Felsenenge zu kommen; nun muß ich Ihnen doch beweisen, daß wir von Ihnen unschuldigerweise verlacht worden sind. Sie werden heute wieder erfahren, daß Winnetou und Old Shatterhand sehr genau wissen, wie man etwas anzufangen hat. Also bitte, gehen Sie weiter!“
„Ich gehe nicht!“
„So zwinge ich Sie! Zürnen Sie mir nicht, schönste Señora, wenn Ihr Schwanenhals ein wenig mit meiner Faust in Berührung kommen sollte.“
„Wagen Sie es, Unverschämter!“
„Pah! Vorwärts, Fräulein Silberberg!“
Ich nahm sie hinten beim Genick; da ließ sie sich niedersinken und blieb sitzen, indem sie ausrief:
„Und wenn Sie mich töten, bringen Sie mich nicht fort!“
„Sie Spaßvogel! Töten werde ich Sie nicht, und dennoch werden Sie gehen. Also vorwärts, ich habe keine Lust, mich an dem, was ich tun will, von einer Person Ihres Schlages hindern zu lassen. Auf mit Ihnen!“
Ich nahm sie nur bei dem einen Oberarm, aber mit einem Druck, unter welchem sie sofort mit einem Schmerzensschrei auffuhr. Sie schritt weiter. Wenn sie den Schmerz nicht mehr fühlte, blieb sie stehen; sobald ich aber die Hand wieder zusammenschloß, ging sie schnell vorwärts. Winnetou und Emery folgten eng hinter mir. Der erste hielt seine Büchse auf der rechten und der andere auf der linken Seite an mir vorüber schußbereit. So konnten sie schießen, während jeder, der uns eine Kugel senden wollte, Judith treffen mußte.
Es war mir keineswegs angenehm, so verfahren zu müssen, denn die Jüdin mochte moralisch noch so tief stehen, sie war doch ein Weib; aber es handelte sich nicht nur um die Befreiung Vogels, sondern um das Gelingen unseres ganzen Planes; da konnte ich mich nicht von zarten Bedenken abhalten lassen.
Der Cañon wurde immer enger. Bald sahen wir Indianer, welche hinter einem Strauch an einem Felsen auf der Lauer lagen. Auch sie sahen uns. Die junge Indianerin war mit dem Stuhl vorausgeeilt und hatte sie benachrichtigt. Sie konnten nicht schießen, ließen uns aber so nahe kommen, daß ich meinen Revolver zog und, die Jüdin immer vor mich herschiebend, einige Schreckschüsse abgab. Da rissen sie aus. So trieben wir sie von Strecke zu Strecke immer weiter zurück, bis ich einen nach dem anderen seitwärts verschwinden sah, und zwar, wie wir dann wohl bemerkten, in der Felsenenge, welche aus dem Cañon des Flujo blanco nach dem Felsenkessel des Pueblo führte.
Wir kamen bei dieser Enge an. Das war die Stelle, welche uns heute früh so gefährlich hatte werden sollen. Darum sagte ich zu Judith:
„Hier sollten wir erdrückt werden. Die Hälfte der Yumas wollte uns in der Enge erwarten, und die andere Hälfte, welche unten am Bach im Hinterhalt lag, hatte die Aufgabe, uns dann von hinten zu drängen. Sie sehen, daß es nicht so leicht ist, mit uns Komödie zu spielen, während es uns gar nicht schwer geworden ist, dahin zu gelangen, wohin wir wollten.“
„Sie sind ein Teufel, ein wahrer Teufel!“ zischte sie mich an.
„Dem widerspreche ich nicht, Señora. Ich gestehe sogar sehr gern, daß es mir allerdings ein wirkliches Vergnügen machen wird, jedem eine Kugel entgegenzuschicken, der es wagen sollte, das Pueblo durch diese Felsenenge zu verlassen. Da drinnen stecken jetzt alle Ihre Leute beisammen; sie sind eingeschlossen. Wir setzen uns jetzt vor den Eingang und lassen niemand heraus. Wir sind zwar nur drei Personen, aber bedenken Sie, daß wir außer unseren Gewehren sechs Revolver haben, wozu mein Stutzen kommt, von denen der alte Melton Ihnen einige Stückchen erzählen kann. Wir haben in Summa über sechzig Schüsse, ohne daß wir zu laden brauchen. Sagen Sie das Ihren Leuten! Sagen Sie ihnen auch, daß wir keinen Pardon geben, wenn dem Gefangenen etwas geschieht! Und vergessen Sie nicht, auch zu erwähnen, daß wir ein sehr scharfes Gehör besitzen! Wollte sich jemand trotz alledem herausschleichen, so würden wir ihn schon von weitem hören, und eine tödliche Kugel wäre ihm sicher. Und nun gehen Sie hinein! Wir brauchen Sie nicht mehr. Aber da Sie uns für morgen mittag bestellt haben, werden wir zu dieser Zeit noch hier sitzen. Haben Sie uns dann wieder etwas zu sagen, so bin ich gern bereit, zu erfahren, ob Sie noch so stolz sprechen, wie Sie heute gesprochen haben. Der ‚große Held und Retter‘ sagt Ihnen Lebewohl!“
Ich ließ ihren Arm los, und sie verschwand augenblicklich in der Enge. Wir setzten uns, die Gewehre schußfertig haltend, vor derselben nieder. Es war schon nicht mehr sehr hell hier im tiefen Cañon; der Tag neigte sich zur Rüste.
„Alle Wetter, Charley, war das ein Gedanke von dir!“ flüsterte Emery. „Wer hätte geglaubt, daß es möglich sei, am hellen Tag mit heiler Haut bis hierher zu kommen!“
„Pah! Der Gedanke war einfach genug; er lag so nahe, daß man jeden, der ihn nicht gefaßt hätte, für einen Idioten halten müßte.“
„Obgleich du das sagst, glaube ich nicht, daß ich auf ihn gekommen wäre. Nun haben wir gewonnen! Das Pueblo ist unser!“
„Noch lange nicht. Aber ich denke, daß die Meltons fliehen werden.“
„Alle Wetter! Dann könnten wir ihnen wieder, wer weiß wie weit, nachlaufen!“
„Daran dachte ich. Es lag also nahe, ihnen die Flucht abzuschneiden, den Weg zu verlegen. Es gibt nur einen einzigen Weg, vor welchem wir jetzt sitzen. Sie wissen, daß wir da sind, daß wir auf jeden schießen werden, der sich aus der Enge wagen wollte; sie werden sich hüten, das zu tun; wir haben sie also fest.“
„Wenn das nur so sicher wäre! Es ist doch denkbar, daß sie alle zugleich einen Ausfall machen.“
„Alle zugleich! Wie wäre das möglich? Es kann ja nur immer einer heraus. Für zwei ist kein Platz. Wie sie nacheinander kämen, würden wir sie empfangen. Wir brauchen gar nicht drei zu sein; es genügt einer von uns, den Ausgang zu bewachen.“
„Hm, hast recht. Die Kerle stecken jetzt in ihrer eigenen Falle. Aber wir können doch nicht ewig hier sitzen; wir müssen hinein!“
„Natürlich! Wenn es dunkel geworden ist, schleichen wir uns fort. Leider haben wir keine Pferde. Wir müssen also den weiten Weg zum Felsenrand hinauf zu Fuß machen.“
„Dann wird aber hier der Ausgang frei!“
„Ja, aber das wissen sie nicht. Sie denken, wir bleiben hier, und wagen sich nicht heraus.“
„Aber wenn wir uns oben herabgelassen haben, dann sehen sie uns und werden hier heraus fliehen.“
„Das kann der Fall sein, ist aber nicht zu verhindern.“
„O doch. Einer von uns muß hier bleiben.“
„Hm! Das ließe sich wohl machen. Was sagt mein Bruder Winnetou dazu?“
„Unser Bruder Emery hat recht“, antwortete der Apache. „Er mag hier zurückbleiben. Mit seiner Doppelbüchse und seinen zwei Revolvern kann er alle, die herauswollen, zurückhalten.“
„Ja, das werde ich“, stimmte der Englishman bei. „Ich bin zudem kein großer Turner und Kletterer; die Partie an den Lassos herab wäre mir sehr schwergefallen. Hier aber habe ich nichts zu tun, als loszudrücken, wenn jemand die Nase heraussteckt.“
„Aber werden wir zwei alles, was es im Pueblo zu tun gibt, fertigbringen?“ fragte ich Winnetou.
„Ja“, nickte er.
„Die beiden Meltons ergreifen?“
„Ja; ich den einen und du den anderen.“
„Und uns gegen die Yumas wehren, die uns daran hindern wollen?“
„Sie hindern uns nicht. Sie werden gar nicht im Pueblo sein. Sie liegen gewiß da drin vor der Enge, wo sie in den Felsenkessel mündet. Wie wir hüben wachen, daß sie nicht heraus können, so wachen jene drüben, damit wir nicht hinein können.“
„Ich gebe es zu. Aber es ist immerhin ein kühner Gedanke, wenn nur zwei Männer es wagen, sich von einem so hohen Felsen in einen so tiefen Kessel hinabzulassen, in welchem sich so viele Feinde befinden. Die dümmste Kugel wirft den Tapfersten über den Haufen.“
„Die Yumas werden gar nicht schießen. Sie befinden sich nicht im Pueblo, sondern am Ausgang des Kessels. Im Pueblo sind nur die beiden Meltons und die Jüdin. Mit diesen dreien werden wir wahrscheinlich fertig, ohne daß die Yumas etwas davon merken. Dann kann uns niemand etwas anhaben, da die Meltons uns, wie vorhin die Jüdin, dann als Schutz und Schirm dienen werden. Mein Bruder Charley stellt sich die Sache viel schwerer vor, als sie ist.“
So etwas hatte Winnetou mir noch nicht gesagt. Ich wußte, daß er nicht an meinem Mut zweifelte, und doch war es mir, als ob ich mich zu schämen hätte. Die Ausführung unsers nächtlichen Unternehmens kam mir eben schwerer und gefährlicher vor als ihm. Das Pueblo hatte einen für den Angreifer gefährlichen Bau. Wer in eine Wohnung wollte, mußte durch ein in der Decke derselben befindliches Loch steigen. Ehe man da den Fußboden erreichte, konnte man zehn Kugeln oder Messerstiche erhalten haben. Und vorher die Passage an den Lassos herab! Es gab wahrscheinlich Sternenschein. Wie leicht konnten wir, oben am Lasso hängend, unten gesehen werden! Dann wurden wir wahrscheinlich ‚abgeschossen‘, wie zum Beispiel auf der Vogelwiese zu Tiegelhausen oder Pfannenstadt von der löblichen Schützengilde alljährlich zur schönen Sommerzeit ein hölzerner Vogel ‚abgeschossen‘ wird.
Als ich das dem Apachen erklärte, ließ er sein bekanntes Lächeln sehen und sagte:
„Mein Bruder hat eine viel zu hohe Meinung von den Männern, welche sich jetzt da drin beim Pueblo befinden. Die Yumas bewachen die Felsenenge. Werden sie das im Dunkeln tun?“
„Nein. Sie werden sicher ein Feuer anzünden. Sie müssen jeden Augenblick gewärtig sein, daß wir von hier aus eindringen. Im Dunkeln könnte uns das gelingen; bei einem Feuer aber nicht.“
„Sie werden bei diesem Feuer sitzen. Das blendet aber ihre Augen so, daß sie nicht sehen können, was oben an der dunkeln Felsenwand geschieht. Sie werden uns nicht bemerken.“
„Aber wenn die Meltons und vielleicht auch Judith im Dunkeln oben auf der Plattform sitzen – Die können uns sehen.“
„Ja, die könnten uns sehen, werden es aber nicht. Mein Bruder darf nicht vergessen, daß sie uns auch dann noch hier an dieser Stelle vermuten. Ihre Aufmerksamkeit wird also stets nach dieser Gegend, nach dem Eingang gerichtet sein. Nach der Felswand aber werden sie gar nicht schauen.“
Ich sah ein, daß er recht hatte, und fühlte mich beruhigt. Ich war so bedenklich gewesen, weil meiner Ansicht nach der entscheidende, der letzte Schlag heute fallen sollte. Mißglückte uns dieser, so stand zu befürchten, daß wir dann nichts mehr tun konnten.
Emery hatte sich die Worte des Apachen von dem Feuer zu Herzen genommen. Er stand auf und entfernte sich, um dürres Holz zusammenzusuchen; ich half ihm dabei. Es war besser, wenn er ein Feuer hatte, das zweierlei Nutzen zugleich gewährte. Erstens diente es zur Beleuchtung, und zweitens war es, wenn es nicht außerhalb, sondern innerhalb der Felsenenge angezündet wurde, ein Hindernis für jeden, der aus derselben heraus wollte.
Als es dunkel geworden war, kamen leichte Rauchwolken durch die Enge zu uns herausgedrungen. Die Yumas hatten also drinnen ihr Feuer angezündet. Wir häuften nun auch Holz in dem Eingang zusammen und steckten es in Brand. Wir hatten soviel Feuermaterial zusammengelesen, daß die Flamme die ganze Nacht hindurch genährt werden konnte.
Nun wäre es ein großer Fehler gewesen, hätte Emery in der Nähe des Feuers sitzen bleiben wollen. Er suchte sich einen Platz im Gebüsch, wo er im Dunkeln saß, gerade dem Feuer gegenüber. So konnte er über das letztere hinweg ein Stück in die Enge hineinblicken und schon beizeiten jeden sehen, der etwa herausdringen wollte. Nun war es für Winnetou und mich Zeit, zu gehen. Ich ließ mir den Lasso des Engländers geben, weil wir ihn brauchten. Er hatte ihn, geradeso wie wir, in Schlingen gebunden von der rechten Achsel auf die linke Hüfte herunterhängen.
„Da hast du ihn“, sagte er. „Ich will hoffen, daß er nicht zerreißt. Wann werdet ihr oben ankommen?“
„Frühestens in fünf Viertelstunden, weil wir nicht reiten können.“
„Ist es euch nicht möglich, mir ein Zeichen zu geben, wenn ihr unten seid?“
„Nein, denn das Zeichen würde uns wahrscheinlich verraten.“
„Aber ich möchte euch doch gern helfen, wenn es zum Kampf kommen sollte!“
„Hoffentlich brauchen wir dich nicht.“
„Und wenn aber doch?“
„So horche nach der Felsenenge. Gibt es gewöhnliche Schüsse oder sonstigen Lärm, so bleibst du auf deinem Posten und läßt niemand heraus. Hörst du aber den starken tiefen Knall meines Bärentöters, der sicherlich bis hier herausdringen wird, so befinden wir uns in Gefahr und du kommst über und durch die beiden Feuer hinein in den Felsenkessel. Sobald ich dich erscheinen sehe, werde ich dir zurufen, was du tun sollst.“
„Well! So mag es sein. Hoffentlich gibt's keine Schrammen oder gar Löcher in unseren Personen zu flicken. Heute haben wir die beiden Halunken endlich fest, und ich glaube nicht, daß sie uns wieder entkommen werden.“
Ich war derselben Meinung, als ich ihm nun die Hand gab, um mich mit dem Apachen zu entfernen.
Es war jetzt hier im Cañon so dunkel, daß ein gewöhnlicher Mann die Hand vor dem Auge nicht hätte sehen können. Unsere Sehwerkzeuge aber waren so geübt, daß wir wenigstens nicht an die Bäume rannten, nicht in das Wasser strauchelten und auch leidlich schnell fortkamen. Als wir dann das Tal des Flusses und nachher auch den Hohlweg hinter uns hatten, wurde es besser, denn die Sterne leuchteten uns zur Genüge.
Wir schritten so rasch wie möglich vorwärts, und zwar ohne uns zu unterhalten, da es nichts Wichtiges zu sprechen gab. Dennoch dauerte es über eine Stunde, ehe wir oben auf der Hochebene am Rand des Talkessels ankamen. Winnetou führte mich zu dem Baum, an welchem die Lassos befestigt werden sollten.
Unten brannte da, wo die Felsenenge in den Kessel mündete, ein großes Feuer; sonst war alles dunkel. Tiefe Stille herrschte. Wenn die Yumas sich unterhielten, wenn irgendein Pferd schnaubte oder es sonst ein Geräusch in der Tiefe gab, so hörte man hier oben nichts davon.
„Denkt mein Bruder, daß wir gleich hinuntergehen?“ fragte Winnetou.
„Ja.“
„Aber die Yumas sind jetzt noch zu wachsam. Es wäre wohl besser, wenn wir noch warteten.“
„Ganz wie mein Bruder will.“
Wir legten uns also nieder und trafen zunächst unsere Vorbereitungen, deren es nicht viele gab. Wir hatten nur die Lassos zusammenzubinden, weiter nichts. Als dann vielleicht eine Stunde vergangen war, machten wir uns ans Werk. Da gab es zunächst einen kurzen Streit. Jeder wollte der erste sein, weil das gefährlich war. Winnetou behielt schließlich die Oberhand, indem er sagte:
„Der erste darf nicht hinunterklettern, sondern er muß hinabgelassen werden, und da du stärker bist als ich, so mußt du oben bleiben und den zweiten machen.“
Wir hatten das eine Ende der zusammengebundenen Lassos an dem Stamm des Baumes befestigt; er schlang sich das andere über Brust und Rücken und unter den Armen hindurch, hängte seine Büchse über und kniete am Rand des Abgrundes nieder. Ich nahm das Riemenseil in die Hände, stemmte die Füße fest ein und ließ es langsam durch die Finger gleiten. Da das Seil über die Felsenkante ging, so trug dieselbe einen Teil der Last mit, und ich brauchte mich fast gar nicht anzustrengen. Die Lassos waren noch nicht ganz abgelaufen, so merkte ich, daß Winnetou unten angekommen war. Er zog sie fest an, daß ich nicht in Schwingung geraten sollte. Ich hatte es nun freilich schwerer als er. Sich an einem starken Seil vierzig Ellen hinabzulassen, das ist leicht, aber sich an einem dünnen Lasso so tief hinabzugreifen, das ist schwer. Man kann, wenn man nicht die Füße zu Hilfe nimmt, das Fleisch von den Händen verlieren. Es ging also langsam; aber als ich unten bei Winnetou anlangte, waren meine Hände zwar glühend heiß, doch Schmerzen hatte ich nicht. Meine beiden Gewehre hatte ich natürlich, über den Rücken gehängt, mitgebracht.
Wir befanden uns auf der obersten Plattform. Gar nicht weit von uns lehnte die Leiter, und wenige Schritte davon sahen wir ein offenes Loch, den Eingang zu der unter uns liegenden Etage, auf deren Decke oder Dach wir standen.
„Hast du etwas Verdächtiges bemerkt?“ fragte ich den Apachen.
„Nein“, antwortete er.
„Vielleicht ist jemand unter uns. Wir müssen in das Loch horchen.“
„Das ist nicht nötig, denn es ist niemand da. Befände sich irgendwer unter uns, so würde die Leiter nicht außen an-, sondern nach innen im Loch liegen.“
„Das ist richtig. Steigen wir also auf die nächste Plattform hinab!“
Wir krochen nach der Leiter und stiegen nicht von Sprosse zu Sprosse, sondern rutschten gleich an derselben hinab, weil das viel schneller ging. Auch hier gab es ein Loch, welches offen stand, und auch hier lehnte eine Leiter außen an. Es befand sich also auch niemand in der Etage, auf deren Plattform wir jetzt standen. Winnetou deutete nach dem Feuer hinab und sagte:
„Da unten sitzen die Krieger alle, welche, wie wir gehört haben, die obersten Stockwerke bewohnen; dieselben sind also leer.“
Schon stand ich im Begriff, ihm beizustimmen, als wir unter uns die Stimme eines kleinen Kindes hörten.
„Was ist das?“ flüsterte der Apache. „Es sind also dennoch Menschen hier!“
„Still!“ warnte ich. „Wir haben nur an die Krieger, also an die Männer gedacht, die Frauen und Kinder aber vergessen. Wir müssen außerordentlich vorsichtig sein und dürfen nicht das geringste Geräusch verursachen, sonst kommen die Squaws heraus, um nachzusehen.“
„Das können sie nicht, weil die Männer, als sie nach unten stiegen, die Leitern mit nach außen genommen haben. Die anderen Familienglieder können also nicht eher heraus, als bis die Krieger wieder heraufkommen und die Leitern in die Löcher hinablassen.“
So huschten wir unhörbar von einer Terrasse immer auf die nächst tiefere herab, bis wir auf der vierten angekommen waren, an welcher die Leiter zu unserem Leidwesen nicht außen lehnte; sie steckte in dem Loch.
„Das ist gefährlich“, raunte mir Winnetou zu. „Es kann jeden Augenblick jemand heraufkommen und uns sehen. Wir müssen fort!“
„Wieder aufwärts?“
„Nein, auf die nächste Plattform hinunter.“
„Aber wie? Es gibt ja keine Leiter da, und aus dem Loch ziehen können wir sie doch unmöglich, weil man das sofort bemerken würde.“
„Wir holen uns die vorige her, auf welcher wir soeben herabgekommen sind.“
„Nein. Es könnte jemand hier aus der Wohnung kommen, die Leiter sehen, welche gar nicht hergehört, Verdacht schöpfen und Lärm machen.“
„So müssen wir ohne Leiter hinab!“
„Aber wie?“
„Wir helfen einander. Komm!“ Die Etagen waren nicht viel über vier Ellen hoch; man konnte also notgedrungen auch ohne Leiter hinab, aber freilich nicht springen, weil dies Lärm verursacht hätte. Wir krochen nach der Kante unserer Plattform vor. Aus dem Eingangsloch der tieferen Terrasse glänzte ein sehr matter, kaum bemerkbarer Lichtschein zu uns herauf.
„O weh!“ flüsterte ich dem Apachen zu. „Da unten liegt die dritte Plattform, als die Decke des zweiten Stockwerkes, in welchem Melton der Vater wohnt. Er ist in seiner Wohnung und hat Licht. Das ist höchst gefährlich für uns, zumal wir keine Leiter haben und also befürchten müssen, Geräusch zu verursachen.“
„Um so schneller müssen wir hinab. Ich werde meinen Bruder an seinem langen Bärentöter hinunterlassen; dann mag er sich hart an die Mauer stellen, damit ich auf seine Schultern steigen kann.“
Ich gelangte auf die angegebene Weise glücklich hinunter. Winnetou stieg von oben auf meine Schultern. Um ihm dann mit meinen verschlungenen Händen eine weitere, tiefe Stufe zu geben, mußte ich das Gewehr weglegen; ich lehnte es an die Mauer neben mich. Der Apache trat in meine Hände und wollte von da den einen Fuß auf den Boden setzen; der Schritt war aber zu weit; er strauchelte, stieß an den schweren Bärentöter, und dieser stürzte, einen lauten, schweren Schlag verursachend, um. Und das gerade über der Wohnung des alten Melton!
„Schnell fort und an das äußerste Ende der Terrasse!“ flüsterte ich. „Dann niederducken; denn er wird höchstwahrscheinlich kommen!“
Wir huschten auf dem Dach hin und bis zum Ende desselben, wo wir uns platt niederlegten. Kaum war dies geschehen, so sahen wir den Alten erscheinen. Er kam mit dem ganzen Oberkörper aus dem Loch, und fragte im Pueblodialekt laut:
„Payu ti-i – ist wer hier?“
Als er keine Antwort bekam, stieg er vollends heraus und schritt langsam über die Plattform hin, glücklicherweise in uns entgegengesetzter Richtung. Er hatte Verdacht geschöpft. Als er auf jener Seite nichts sah, kam er auf diese, doch nicht soweit, daß er uns sehen konnte. Dann kehrte er an das Loch zurück und stieg hinab. Als seine Gestalt verschwunden war, krochen wir hin und blickten vorsichtig hinab. Da das Loch nur so groß war, daß ein starker Mann hindurch konnte, so war von dem unter uns liegenden Raum nicht viel zu sehen. In die viereckige Stelle, welche wir überblickten, ragten zwei Beine eines Stuhles herein; das war alles, was sich unseren Augen bot. Das Licht brannte jedenfalls nicht unter uns, sondern in einem nebenanliegenden Gemach. Ein leises Hüsteln ließ sich von Zeit zu Zeit vernehmen, sonst war es still. Thomas Melton befand sich jedenfalls allein da unten.
„Was tun wir?“ fragte ich den Apachen leise.
„Wir müssen ihn haben“, antwortete er. „Er hat niemand bei sich; besser können wir ihn nicht bekommen.“
„Aber wie! Wollen wir hinab?“
„Nein. Ehe einer von uns hinunter käme, hätte er ihn bemerkt und machte Lärm oder griff gar zu den Waffen, was noch schlimmer wäre.“
„So muß er herauf!“
„Ja. Ruf ihn! Aber nicht mit lauter Stimme, sonst merkt er, daß es eine fremde ist.“
„Gut, ich werde ihn täuschen. Nimm du ihn bei der Kehle, aber gleich so, daß er keinen Laut ausstoßen kann. Das übrige tue dann ich.“
Ich beugte mich in das Loch hinab und rief in jenem unterdrückten, hastig heimlichen Ton, bei welchem fast alle Stimmen sich ähnlich klingen:
„Vater, Vater, bist du unten?“
„Ja“, antwortete er, und ich hörte ein Geräusch, wie wenn jemand von einem Stuhl aufsteht. „Was willst du!“
Er hielt mich also, wie ich beabsichtigt hatte, für seinen Sohn.
„Komm herauf, schnell, schnell!“
„Warum?“
„Mach nur, mach schnell!“
„So rede doch laut! Oder soll es niemand hören?“
Bei diesen Worten hörte ich ihn kommen. Ich zog schnell den Kopf zurück, und Winnetou hielt die Hände griffbereit. Wir knieten beide an der Seite des Loches, der er, wenn er die Leiter heraufkam, den Rücken zukehren mußte. Wir hörten ihn steigen. Jetzt erschien sein Kopf, sein Hals; die Schultern kamen aus dem Loch hervor.
„Was ist's denn? Wo bist – –“
Weiter kam er mit seiner Frage nicht, denn Winnetou hatte ihm die Finger wie eiserne Klammern um den Hals gelegt. Zwei Faustschläge von mir gegen seinen Kopf, dann griff ich ihm rasch unter die Arme, um ihn zu halten, sonst wäre er hinuntergestürzt, denn seine Füße hatten den Halt verloren; sie waren von der Leitersprosse abgeglitten.
„Er ist ohnmächtig“, flüsterte Winnetou mir zu. „Laß ihn los, damit er an der Leiter hinunterrutscht!“
„Nein, denn das würde einen lauten Fall geben, und sein Sohn wohnt unter ihm. Ich halte ihn fest; steige du hinter ihm hinab und unterstütze ihn; da kommt er ohne Geräusch auf den Boden zu liegen.“
Das war eher gesagt, als getan. Das Loch war nicht weit genug für zwei, und die Gestalt Meltons nahm die ganze Leiter ein, so daß die Füße des Apachen nur schwer die Sprossen treffen konnten. Doch endlich war er unten und nahm den leblosen Körper in Empfang. Ich stieg nach.
Als ich unten angekommen war, zog ich zunächst die Leiter zu uns herab, damit wir nicht gestört werden konnten; dann sah ich mich schnell um. Wir befanden uns zwischen vier kahlen Lehmwänden, die nichts einschlossen als nur die Leiter und den alten Holzstuhl, dessen zwei Hinterbeine ich vorhin gesehen hatte. Rechts und links führten Türöffnungen weiter. Ich warf einen Blick nach rechts hinein, wo Melton vorhin gesessen hatte. Ebenso vier kahle Wände, ein alter Tisch, zwei Holzstühle und ein Lager, welches aus mehrfach übereinandergelegten Fellen und Decken bestand. Das sah sehr trist aus, war aber für einen Mann wie Thomas Melton mehr als gut genug. Ich zog mein Messer, schnitt eine Lagerdecke in lange Fetzen und kehrte dann zu Melton zurück, um ihm Hände und Füße zu binden. Ein Stück der Decke bekam er auf den Mund gebunden, daß er nicht laut werden konnte. Nun hatten wir Zeit, wenn auch nicht lange, uns umzusehen. Auf dem Tisch stand eine primitive Tonlampe, welche mit schlechtem Öl gespeist wurde; diese mußte uns leuchten.
Es lagen sechs Räume nebeneinander, die nur ganz spärlich das hatten, was man Möbel nennen könnte. Man sah, daß alles mit dem Beil gefertigt war. In einer der Stuben, die aber nicht Stuben zu nennen waren, denn sie hatten keine Fenster und durch die Türöffnungen konnte auch kein Licht dringen, fanden wir die Waffen des Alten. Wir ließen sie liegen. Zu unserer Beruhigung diente der Umstand, daß die Etage durch kein Innenloch mit der tieferen verbunden war. Von da unten, wo Jonathan Melton mit der Jüdin wohnen sollte, konnte also während unserer Abwesenheit niemand herauf und den Alten befreien. Wir kehrten zu diesem zurück und zogen ihn in die Stube, in welcher die Lampe gestanden hatte. Dort legten wir den Tisch um, mit der Platte nach unten und den Beinen nach oben; dann schoben wir den Körper des Gefangenen zwischen die vier Beine hinein, und banden ihn an dieselben fest. Nun konnte er unmöglich von selbst loskommen. Darauf löschten wir die Lampe aus, legten die Leiter an, stiegen auf die Plattform zurück und zogen die Leiter empor, um mit Hilfe derselben auf die nächst tiefere Etage, derjenigen Jonathan Meltons, zu kommen.
Das Türloch derselben war auch offen, und hier drang ein sehr heller Lichtschein nach oben. Nachdem wir die Leiter herabgelassen und an derselben niedergestiegen waren, schlichen wir uns nach dem Loch und horchten zunächst. Zwei Personen sprachen miteinander, eine männliche und eine weibliche; ich erkannte Jonathans und Judiths Stimmen. Auch hier führte eine Leiter hinab, weshalb draußen an der Terrasse keine lag. Das Loch war fast noch einmal so groß als die, welche wir bisher gesehen hatten; darum lag, als ich hinunterblickte, ein größerer Raum als beim alten Melton vor mir. Ich sah außer der Leiter freilich nichts als wieder Füße, und zwar vier; diesmal waren es keine Stuhlbeine, sondern zwei mit Männerstiefeln und zwei mit kleinen Pantoffeln bekleidete Füße. Jonathan und Judith schienen auf einer Bank nebeneinander zu sitzen. Eben hörte ich die letztere sagen:
„Du denkst also, daß die drei Menschen draußen vor unserem Eingang halten bleiben?“
„Ja“, antwortete er. „Um uns zu bewachen!“
„Und wir können sie nicht verjagen?“
„Nein. Es gibt leider nur diesen einen Weg nach außen. Und wenn hundert und noch mehr Mann hier beisammen wären, so könnten wir nichts machen, weil die Passage durch die Enge nur einzeln möglich ist. Die ersten würden von ihnen erschossen, und würden mit ihren Leibern für die anderen den Weg verstopfen. Mein einziger Trost ist der, daß wir hier Proviant für Monate, und Wasser für eine ganze Ewigkeit besitzen. Bis dahin wird den drei Halunken wohl die Geduld ausgegangen sein!“
„Solange brauchen wir nicht zu warten. Komm, mein Lieber, ich will dir etwas zeigen!“
„Was?“
„Das wirst du sehen. Wir steigen nach unten.“
Nach unten steigen? Da mußten sie doch höchstwahrscheinlich zur Leiter heraufkommen. Wir entfernten uns also schleunigst von dem Loch und legten uns in der entferntesten Ecke der Terrasse nieder, um nicht gesehen zu werden. Wir warteten aber vergeblich; sie kamen nicht. Es schien, man konnte aus der ersten Etage von innen nach dem Erdgeschoß gelangen. Wir krochen also bis an die Kante der Plattform vor und blickten vorsichtig hinab, sahen aber nichts. Wir hätten gern gewußt, was die Jüdin ihrem Jonathan zu zeigen hatte; jedenfalls hing es mit der Frage des Entkommens zusammen. Erst nach längerer Zeit wagten wir uns zum zweiten Mal an das Loch. Die beiden saßen wieder unten und spannen das Thema, welches sie vorhin abgerissen hatten, weiter. Gleich der Anfang ihres nunmehrigen Gespräches ließ vermuten, daß es einen für uns sehr wichtigen Inhalt haben werde, denn sie sprachen von der Möglichkeit der Flucht, des Entkommens aus dem Talkessel. Ich beugte den Kopf tiefer hinab, um ihre Worte leichter verstehen zu können; da aber faßte Winnetou leider meinen Arm, zog mich zurück und flüsterte mir zu:
„Rasch fort; da oben kommt jemand; ich höre es!“
Wir befanden uns, wie bereits erwähnt, auf der zweiten Terrasse, von unten herauf gerechnet, also in so unbedeutender Höhe über der Sohle des Tales, daß wir, wenn wir aufrecht standen, von dem Schein des Feuers, welches am Eingang brannte, getroffen wurden. Wir durften uns also nicht aufrichten und schoben uns kriechend von dem Loch weg, wo wir uns im Lampenlicht befunden hatten. Ich hatte kein Geräusch gehört, konnte mich aber auf die scharfen Sinne des Apachen verlassen. Als wir uns eine kleine Strecke von dem Loch entfernt hatten, hielten wir an, um zu lauschen. Es war nichts zu hören, darum fragte ich Winnetou mit leiser Stimme:
„Was für ein Geräusch hat mein Bruder vernommen?“
„Neben uns Schritte und auch eine Stimme.“
„Aber es kommt niemand. Es wird nicht auf der nächsten, sondern auf einer noch höheren Plattform gewesen sein.“
„Nein; es war gleich über uns. Ich weiß ganz genau, daß –“
Er hielt inne, denn gerade über uns hörten wir eine leise, und zwar männliche Stimme sagen:
„Komm doch weiter! Warum bleibst du hier stehen?“
„Weil ich etwas gesehen habe, was mir auffällt“, wurde ebenso leise geantwortet, doch hörten wir es.
„Was?“
„Zwei Köpfe waren da unten über dem Loch.“
„Das ist doch nicht auffällig!“
„Zwei Köpfe, welche lauschten? Das soll nicht auffällig sein?“
„Nein. Es werden die Dienerinnen dagesessen haben.“
„Nein. Es waren Männer.“
„Rote? Es sind Krieger von uns gewesen.“
„Nein. Es war ein Indianer, dessen Kopf nur mit seinem langen Haar bedeckt war, und ein Weißer, der einen Hut trug.“
„Also ein Krieger von uns, und vielleicht der Vater des jungen Bleichgesichtes.“
„Auch das nicht, denn der Vater besitzt einen anderen Hut. Es waren Fremde!“
„Das ist unmöglich!“
„Ich würde das auch denken, wenn ich sie nicht, gerade als ich den Rand hier erreichte, ganz deutlich gesehen hätte.“
„Nun lege dich nieder! Wir wollen einmal hinabsehen.“
Wir hörten am Geräusch, daß sie sich niederlegten und über die Kante der Terrasse herabblickten. Wir befanden uns gerade unter ihnen. Ein Glück, daß wir nichts Helles an unseren Anzügen hatten! Dennoch mußten sie, wenn sie scharfe Augen besaßen, uns sehen. Darum vergingen für uns einige Minuten großer Spannung; dann hörten wir die Frage:
„Siehst du etwas?“
„Nein.“
„Ich auch nicht. Du wirst dich jedenfalls getäuscht haben. Wie sollen Fremde in unser Tal und gar herauf auf die Plattform kommen!“
„Das kann ich mir auch nicht erklären.“
„Der Eingang ist doch von unseren Kriegern besetzt.“
„Sie sind aber dennoch da!“
„Ich glaube es nicht. Steigen wir also weiter, und sehen wir einmal nach! Du wirst finden, daß kein Mensch vorhanden ist.“
„Ja, sehen wir nach!“
Wir hörten, daß sie aufstanden und nach der Stelle gingen, an welcher wir vorhin die Leiter angelegt hatten.
„Sie kommen herab!“ flüsterte Winnetou. „Eilen wir nach der anderen Seite!“
Wir huschten schleunigst nach dem linken Ende der Terrasse, während die beiden Roten an der rechten Seite derselben herabgestiegen kamen. Dort legten wir uns nieder und drückten uns eng an die Lehmmauer.
„Wir glaubten, daß nur Frauen und Kinder da oben in den Wohnungen seien, haben uns aber geirrt“, flüsterte Winnetou. „Hoffentlich sehen uns die beiden nicht!“
„Und wenn sie uns aber sehen, was tun wir da?“ fragte ich.
„Wir fassen sie.“
„Sie dürfen aber nicht laut werden!“
„Nein. Wir nehmen sie mit der linken Hand bei der Gurgel und stoßen ihnen mit der rechten das Messer ins Herz.“
„Nein, töten wollen wir die armen Teufel nicht.“
„Dann ist es fraglich, ob es uns gelingen wird, sie so zu überwältigen, daß sie nicht schreien können.“
„Oh, wir haben den Griff nach dem Hals schon so oft geübt!“
„Er kann auch einmal mißlingen.“
Er hatte ganz recht; aber das Mißlingen war auch beim Gebrauch der Messer möglich, und so war es jedenfalls besser, das Leben der beiden zu schonen.
Da sie aufrecht gingen und also vom Licht des Feuers getroffen wurden, konnten wir sie sehen. Sie waren die Leiter herabgestiegen und kamen nun langsam und das Terrain vorsichtig prüfend von der rechten Seite der Plattform nach der linken gegangen. Aus der Sorgfalt, mit der sie dabei verfuhren, schlossen wir, daß sie ganz gewiß bis zu unserem Winkel kommen würden.
Und so geschah es auch; sie kamen näher und näher. Sie befanden sich noch zehn, acht, sechs, vier Schritte von uns. Ich hoffte, daß sie noch weiter herankommen würden; dann wären wir rasch aufgesprungen, um sie zu packen. Sie blieben aber stehen und starrten mit vorgebeugten Körpern zu uns her.
„Was liegt dort?“ fragte der eine.
„Das ist ein Mensch“, antwortete der andere.
„Nein, es sind zwei. Wer seid ihr?“
Diese Frage richtete er in lautem Ton an uns. Wir antworteten nicht, weil wir dachten, daß sie dann näher herankommen würden.
„Was wollt ihr hier?“
Ich sah, daß er ein Messer zog, und der andere folgte dem Beispiel. Jetzt durften wir nicht zögern, obgleich die Partie nicht so gut für uns stand, wie wir erwartet und gewünscht hatten; ihre Messer konnten uns gefährlich werden. Wir sprangen also auf und warfen uns auf sie. Ich gab demjenigen, auf den ich meinen Angriff richtete, einen Schlag auf den Arm, daß er das Messer fallen ließ, und wollte ihn dann beim Hals nehmen; aber er trat schnell einen Schritt zurück und streckte die beiden Hände vor, um mich abzuhalten. Dadurch gingen einige Augenblicke verloren. Der Schein des Feuers fiel gerade auf mein Gesicht; er erkannte mich und rief, so laut er konnte:
„Zu Hilfe, zu Hilfe! Hier oben ist Old Shatterhand!“
Da schlug ich ihm die Faust auf den Kopf, daß er niederstürzte, bückte mich schnell nieder, legte ihm das eine Knie auf den Leib und die Hände um den Hals. Er brachte kein Wort mehr heraus, aber hinter mir hörte ich den anderen brüllen:
„Auch Winnetou ist hier! Kommt schnell herauf! Zu Hilfe, Hilfe, Hil –!“
Der dritte Hilferuf erstickte in einem ersterbenden Stöhnen. Mein Yuma war überwältigt; er bewegte sich nicht, und als ich mich nun nach Winnetou umsah, lag dieser auf seinem Gegner und bearbeitete den Kopf desselben mit der Faust.
„Was tun wir mit ihnen?“ fragte er mich. „Sie zu fesseln, haben wir keine Zeit.“
„Wir werfen sie über den Rand auf die erste Terrasse hinab. Schnell, schnell!“
In der nächsten Sekunde flogen die beiden Körper hinunter; da konnten sie uns nicht schaden. Wir aber eilten hin zu dem Loch. Ein Kopf war in demselben erschienen, der Kopf Jonathan Meltons, welcher auf der Leiter stand und aus dem Loch sah, um nach der Ursache der Hilferufe zu forschen. Er sah uns kommen und rief im Ton des größten Schreckes:
„Winnetou und Old Shatterhand! Alle tausend Teufel! Die sind –“
Weiter hörten wir nichts, denn er verschwand, und als wir das Loch erreichten, war es zu spät, ihn zu fassen. Er war bereits unten angekommen, und man zog soeben die Leiter unten weg, so daß wir nicht hinuntersteigen konnten. Die Überrumpelung des jungen Melton war uns also nicht gelungen. Das brauchte uns aber nicht zu ärgern, denn er konnte nicht zum Tal hinaus und war uns also sicher.
Die Hilferufe hatten das ganze Pueblo alarmiert. Über uns kamen die Weiber und Kinder aus den Löchern, und schrien zu ihren Männern und Vätern hinab. Diese waren unten an ihrem Feuer aufgesprungen. Einige standen dort, ganz bewegungslos vor Staunen; andere kamen herbeigerannt, um die Terrassen zu ersteigen und uns anzugreifen. Da erhob Winnetou seine weithin schallende Stimme und rief:
„Ja, hier stehen Old Shatterhand und Winnetou. Die Krieger der Yumas mögen sich nicht heraufwagen, denn sowie ihre Köpfe auf der ersten Leiter erscheinen, schießen wir unsere Kugeln hindurch! Auch mögen sie nicht versuchen, durch die Felsenenge zu fliehen, denn auch draußen am Ausgang erwartet sie der sichere Tod. Und die Squaws da oben mögen mit ihren Kindern schnell wieder in ihre Löcher kriechen und sich dort still verhalten, sonst werden sie erschossen!“
Auf diese Worte trat tiefe Stille ein. Was über uns, in den höhern Etagen vorging, konnten wir nicht sehen, aber die dort eingetretene Ruhe ließ vermuten, daß die Weiber dem Befehl des Apachen gehorcht hatten. Und auf die Männer war er von derselben Wirkung gewesen, denn es wagte keiner, die zur ersten Etage führende Leiter zu ersteigen. Denen, die das beabsichtigt hatten, rief Winnetou zu:
„Kehrt augenblicklich zum Feuer zurück! Wer nicht sogleich gehorcht, bekommt eine Kugel!“
Die Yumas kannten den Apachen; sie hatten einen solchen Respekt vor ihm und seiner Silberbüchse, daß sie eiligst nach dem Feuer liefen. Als sie alle wieder dort standen, warf ich ihnen die Frage zu:
„Wer ist euer Anführer? Er mag einige Schritte vortreten, denn Old Shatterhand möchte mit ihm reden!“
Es dauerte eine kleine Weile, ehe ein Roter einige zögernde Schritte machte und uns zurief:
„Einen Häuptling gibt es hier nicht mehr; es gilt der eine soviel wie der andere, doch will ich hören, was Old Shatterhand uns zu sagen hat.“
„Höre und siehe erst etwas anderes! Blicke nach dem Holzast, welcher dort rechts aus dem Feuer ragt; er wird sofort verschwinden.“
Ich legte den Bärentöter an und zielte; es war bei der flackernden, unsicheren Beleuchtung ein schlechter Schuß, doch drückte ich getrost ab, und der Ast wurde von der Kugel getroffen und so zerschnitten, daß die aus dem Feuer ragende Spitze desselben gegen den Felsen flog.
„Uff, uff!“ erklangen die Stimmen der erstaunten Roten.
„Habt ihr gesehen, wie sicher unsere Kugeln gehen?“ rief ich ihnen dann zu. „Ebenso sicher werden wir auch eure Herzen oder Köpfe treffen, wenn ihr nicht tut, was wir von euch verlangen!“
„Was fordert mein weißer Bruder von uns?“ fragte der Yuma.
„Sehr wenig. Wir sind nicht als eure Feinde gekommen. Wir wollen euch weder töten oder verwunden, noch uns an dem vergreifen, was euer Eigentum ist. Wir wollen nichts von euch haben als die beiden Bleichgesichter, welche sich hier bei euch versteckt haben.“
„Warum wollt ihr sie fangen?“
„Weil sie mehrere große Verbrechen begangen haben, welche Strafen finden müssen.“
„Das können wir nicht zugeben, weil wir ihnen versprochen haben, sie euch nicht auszuliefern.“
„Ich verlange nicht, daß rote Krieger ein Versprechen, welches sie gegeben haben, brechen sollen. Was habt ihr ihnen noch versprochen?“
„Nichts.“
„So sage ich euch, daß ihr euer Wort halten sollt, denn ihr werdet sie nicht ausliefern, sondern wir holen sie uns selbst. Oder seid ihr die Verpflichtung eingegangen, sie zu verteidigen, falls es uns gelingen sollte, hier heimlich einzudringen?“
„Von diesem Fall ist nichts erwähnt worden, weil wir ihn gar nicht für möglich gehalten haben, und wenn du – uff, uff, uff!“
Er unterbrach seine Rede mit diesem Ausruf des Schreckes, weil in diesem Augenblick etwas geschah, worüber man allerdings leicht erschrecken konnte. Nämlich Emery hatte meinen Schuß gehört; ich hatte ihn durch denselben eigentlich nicht herbeirufen wollen, denn wir brauchten seine Hilfe nicht; er war aber doch in die Felsenenge eingedrungen, kam aus derselben heraus und mit einem kühnen Sprung über das brennende Feuer geflogen, und zwar mitten unter die Roten hinein, welche ganz erstarrt über das so plötzliche Erscheinen des kühnen Englishman waren. Er sandte natürlich seinen Blick nach oben, sah uns stehen und rief zu uns herauf, indem er sein Gewehr schwang:
„Charley, was soll ich tun? Soll ich die Kerle ein wenig totschlagen?“
„Nein, das ist nicht nötig, denn wir werden uns in Güte einigen. Komm aber herauf zu uns!“
„Daß ich von ihnen hinterrücks erschossen werde, während ich die Leiter ersteige!“
„Es wird keiner schießen, denn wenn es einer nur wagen wollte, seine Flinte zu erheben, würde ihn sofort meine Kugel treffen. Also komm!“
Er kam der Aufforderung nach und wurde von den Roten nicht daran gehindert. Waren sie erst so erschrocken darüber gewesen, daß Winnetou und ich uns so plötzlich mitten im Pueblo befanden, so hatte das Erscheinen Emerys sie nun vollständig verblüfft. Sie dachten gar nicht daran, von ihren Gewehren Gebrauch zu machen, die übrigens so schlecht waren, daß wir sie jetzt, des Nachts, gar nicht zu fürchten brauchten. Als Emery unsere Terrasse erreicht hatte, sagte er:
„Ich sehe, daß ihr glücklich herabgekommen seid. Wo stecken die Meltons? Wißt ihr das?“
„Ja. Doch warte, ich muß erst mit den Roten da unten fertig werden“, antwortete ich ihm. Und mich an diese wendend, fuhr ich weiter zu ihnen fort:
„Meine roten Brüder haben gesehen, daß wir uns nicht vor ihnen fürchten, daß sie sich vielmehr ganz in unserer Gewalt befinden. Ebenso wissen sie, daß wir nur die beiden Bleichgesichter von ihnen fordern. Werden sie uns unbelästigt damit abziehen lassen?“
„Du verlangst also gar nichts von uns?“ fragte der Sprecher.
„Nichts!“
„Verlangst du etwa die weiße Squaw, welche hier wohnt?“
„Nein.“
„Sie war die Squaw unsers Häuptlings, die wir beschützen müßten!“
„Wir mögen sie nicht haben und werden euch das große Glück, sie beschützen zu dürfen, nicht rauben.“
„Und was ihr gehört, das laßt ihr ihr auch?“
„Ja. Was ihr rechtmäßiges Eigentum ist, werden wir nicht anrühren.“
„So sind wir bereit, mit euch Frieden zu schließen. Wo soll die Pfeife des Friedens geraucht werden?“
„Hier oben bei uns.“
„So sollen wir alle hinaufkommen?“
„Nein. Es genügt, daß du allein kommst; du hast für deine Brüder gesprochen und wirst auch für sie handeln. Also komm, und bring dein Kalumet mit!“
Es konnte mir nicht einfallen, alle Yumas heraufzulassen; das wäre eine große Unvorsichtigkeit gewesen. Er kam allein und nahm die alte schmierige Pfeife vom Hals, an welchem er sie mittelst eines Riemens hängen hatte. Tabak hatte er in einem Beutel, der in seinem Gürtel steckte. Wir setzten uns nieder und ließen die Pfeife in die Runde gehen. Obgleich wir dabei die sonst gebräuchlichen Zeremonien möglichst abkürzten, konnten wir dann, als die Pfeife leer geraucht war, doch überzeugt sein, daß die Yumas unser Übereinkommen respektieren würden. Das bekräftigte auch der Sprecher, der am Schluß aufstand und in beteuerndem Ton sagte:
„Es ist also Friede geschlossen zwischen uns und euch, und wir werden ihn halten. Ihr seid nur drei Krieger, und wir sind unser so viele; dennoch sind wir ganz in eure Hände gegeben, denn wir haben kein solches Zaubergewehr, wie Old Shatterhand besitzt. Werden meine Brüder wirklich ihr Wort halten und uns nichts tun und nichts nehmen?“
„Ja“, antwortete ich. „Wir haben noch nie unser Wort gebrochen.“
„So werde ich euch beweisen, daß auch wir es ehrlich meinen. Unsere Krieger sollen alle ihre Flinten und Messer heraufsenden und sie hier bei euch niederlegen. Dann seid ihr sicher, daß wir wirklich friedlich gesinnt sind.“
„Mein roter Bruder mag den Befehl dazu erteilen. Dann wünschen wir, daß ihr das Feuer bis zum Anbruch des Tages unterhaltet und daß keiner von euch sich davon entfernt. Willigst du ein?“
„Ja.“
„Und sodann wirst du uns sagen, wie wir den jungen Weißen, den wir haben wollen, am leichtesten in unsere Hand bekommen?“
„Nein, das werde ich nicht sagen, weil wir versprochen haben, ihn und seinen Vater nicht an euch auszuliefern; es würde aber soviel wie eine Auslieferung sein, wenn ich tun wollte, was du jetzt von mir verlangst.“
„Das gebe ich zu. Aber dafür wirst du mir etwas anderes sagen: Wo befinden sich unsere Pferde?“
„Sie weiden oder schlafen da drüben unter den Bäumen, wo es dunkel ist.“
„Man hat die Satteltaschen leer gemacht?“
„Ja.“
„Wer besitzt die Gegenstände, welche sich in denselben befanden?“
„Die beiden Weißen, welche ihr gefangennehmen wollt.“
„Ihr habt mit unseren Pferden ein junges Bleichgesicht ergriffen. Ist es verwundet?“
„Nein.“
„Wo befindet es sich?“
„Das junge Bleichgesicht ist hier im Pueblo eingesperrt worden.“
„Wo?“
„Das weiß ich nicht.“
„Soll ich das glauben? Du mußt es doch wissen!“
„Nein. Man hat es uns nicht gesagt. Wir haben nur gesehen, daß er zwei Leitern ersteigen mußte.“
„Also bis auf die Terrasse?“
„Ja, und dann mußte er hier durch das Loch hinuntersteigen in die Wohnung der weißen Squaw.“
„Gibt es dort Räume, welche sich zum Einsperren eines Gefangenen eignen?“
„Nein, denn die Räume sind lauter Wohnungen. Vielleicht hat man ihn eine Leiter tiefer geschafft.“
„Das müßtet ihr doch gesehen haben!“
„Nein, denn von diesem Stockwerk aus führt auch von innen ein Loch in das Erdgeschoß hinab.“
„Wo ist dieses Loch?“
„Ganz am Ende der rechten Seite, in dem hinteren Raum, wo die weiße Squaw ihre Küche hat.“
„Wo pflegt sie zu schlafen?“
„In dem vorletzten Gemach auf derselben Seite. Jetzt hast du alles erfahren, was ich sagen darf. Nun will ich die Waffen bringen lassen.“
Er entfernte sich, um den betreffenden Befehl zu erteilen. Die freiwillige Auslieferung der Gewehre und Messer wäre imstande gewesen, alles Mißtrauen, wenn wir ja noch welches gehegt hätten, zu zerstreuen. Es verstand sich ganz von selbst, daß wir dem Loch, welches den Eingang zu der Wohnung Judiths bildete, unsere unausgesetzte Aufmerksamkeit geschenkt hatten. Wir befanden uns ganz in der Nähe desselben, und es war doch immerhin die Möglichkeit vorhanden, daß Jonathan Melton zur Leiter heraufkommen und uns eine Kugel zusenden könne. Zu bemerken wäre noch, daß die beiden Indianer, welche wir auf die Plattform des Erdgeschosses hinabgeworfen hatten, schon längst eiligst von derselben hinabgestiegen waren und sich den ihrigen dort am Feuer beigesellt hatten. Sie waren ohne Schaden davongekommen.
Jetzt wurden die Waffen gebracht, die wir in unserer Nähe niederlegen ließen. Als sich die Träger entfernt hatten, befanden wir uns wieder allein und konnten nun darangehen, Vogel zu befreien und Jonathan Melton zu ergreifen.
Zunächst erzählte ich dem Englishman, daß wir mit Hilfe des Lassos glücklich von der Höhe auf das Pueblo gekommen waren und Melton, den Vater, schon in die Hände bekommen hatten.
„Das habt ihr gut gemacht!“ sagte er. „Hoffentlich ist es nicht schwerer, nun auch seinen sauberen Sohn festzunehmen.“
„Nicht schwerer? Ich meine, daß es ganz im Gegenteil gefährlich, und zwar sehr gefährlich ist, weil wir durch das Loch hinabsteigen müssen.“
„Allerdings. Was weiter!“
„Willst du uns etwa voransteigen?“
„Ja, sofort!“
Er schickte sich auch wirklich an, dies augenblicklich zu tun. Ich zog ihn aber schnell zurück und warnte:
„Halt doch! Kannst du dir nicht denken, daß Melton mit seinem Gewehr und seinen Revolvern unten steht, um uns gemütlich das Lebenslicht auszublasen?“
„Ah, Wetter, das ist wahr! Wir müssen eben hinunter, und da das Licht unten brennt, so ist das, was du Vorsicht nennst, ganz unmöglich.“
„Sie ist möglich. Du wirst schon sehen. Vorher aber müssen wir bestimmen, wer von uns hier oben zu bleiben hat.“
„Du meinst, es ist notwendig, daß einer hierbleibt?“
„Unbedingt. Es handelt sich um unsere Sicherheit. Was mich betrifft, so muß ich hinab. Und weil es da unten voraussichtlich Heimlichkeiten zu entdecken gibt, worin Winnetou Meister ist, so schlage ich vor, daß er mit mir geht.“
„Hm, ich muß mich fügen, obgleich ich auch große Lust besitze, mir das Innere des ‚Schlosses‘ einmal anzusehen.“
„Das kannst du später mit weit mehr Muße tun. Wir lassen dir unsere Gewehre hier.“
„Was? Die wollt ihr nicht mitnehmen?“
„Nein. Es wird da wahrscheinlich zu steigen und zu klettern geben, wobei sie uns nur hinderlich sein würden.“
„Aber wenn es zu einem Kampf mit Jonathan kommen sollte!“
„So brauchen wir die Gewehre sicher nicht. Wir sind zwei gegen einen und haben die Messer und Revolver. Also hier sind meine Gewehre, und nun will ich zunächst sehen, wie es da unten steht.“
Ich legte den Hut ab, steckte den Kopf in das Loch, hielt mich am Rand desselben fest und ließ mich leise und langsam, soweit die Arme reichten, tiefer sinken. Man hatte von innen die Leiter weggenommen. Winnetou und Emery hielten mich draußen fest, so daß ich nicht hinabstürzen konnte. So kam ich mit dem Kopf nach unten soweit, daß ich den Raum überblicken konnte. Ich sah die Bank, auf welcher Judith und Jonathan vorhin gesessen hatten, einen Tisch und zwei Stühle. Über dem Tisch hing ein Spiegel. Dieses unter anderen Verhältnissen höchst einfache Meublement war für das Pueblo fein zu nennen. Die beiden Türöffnungen, welche nach rechts und links führten, waren durch bunten Kattun verhängt. Also hinter dem Vorhang rechts wohnte Judith und links Jonathan. Da sah ich, daß sich der erstere bewegte; es erschien eine Frauenhand mit einem Revolver; ich zog schnell den Kopf zurück, da knallte auch schon der Schuß. Natürlich war ich im nächsten Augenblick außerhalb des Loches.
„Wetter, das war gefährlich! Wer hat geschossen?“ fragte Emery.
„Judith!“
„Da konntest du jetzt das schönste Loch im Kopf haben. Wo steht sie denn?“
„Hinter dem Vorhang in einem Nebengemach.“
„Und Jonathan?“
„Den habe ich nicht gesehen. Wahrscheinlich steht er auf der anderen Seite auf der Lauer.“
„Das ist eine fatale Lage. Wir können nicht hinab.“
„O doch! Ich springe hinab.“
„Da schießt man von beiden Seiten auf dich!“
„Das muß ich freilich riskieren; wahrscheinlich aber bin ich rascher, als die beiden Belagerten. Die Lampe, welche unten brennt, steht auf dem Tisch; wenn ich sie schnell ausblasen kann, bin ich ziemlich sicher, nicht getroffen zu werden. Holt dort die Leiter her! Wenn ich von unten rufe, steckt ihr sie in das Loch, und Winnetou kommt hinunter.“
„Aber bedenkst du auch, daß du außerdem den Hals brechen kannst, wenn du hinabspringst?“
„Da müßte es etwas tiefer sein. Also jetzt, es sei gewagt!“
Die Ausführung meines Vorsatzes, hinabzuspringen, war nur dadurch möglich, daß das Loch doppelt so weit war, als die anderen Eingänge, die wir gesehen hatten. Ich stellte mich gerade darüber, das eine Bein hüben und das andere drüben. Um gleich bewaffnet zu sein, zog ich den Revolver. Indem ich die Füße hüben und drüben von der Kante des Lochs abgleiten ließ, fiel ich in aufrechter Stellung hinunter und kam auf die Zehen zu stehen. Ein schneller Schritt zur Lampe, die ich ausblies, zwei ebenso rasche Schritte wieder zurück und nach der anderen Seite – da knallte auch schon der Revolver; die Jüdin hatte auf mich geschossen und sie hätte mich sicher getroffen, wenn ich nur einen Moment länger dort am Tisch bei der Lampe stehen geblieben wäre. Jetzt mußte ich zur List greifen. Ich warf mich nieder, und zwar so, daß man es hören mußte, und begann, zu stöhnen. Ich wollte dadurch Jonathan herbeilocken. Zunächst aber machte sich nur Judith bemerkbar!
„Himmel, ich habe ihn getroffen! Sind Sie verwundet?“
Ich antwortete mit einem weitern Stöhnen und Röcheln.
„Er stirbt, er stirbt! Ich habe ihn erschossen! Licht her, Licht!“
Das klang ja ganz so, als ob es gar nicht ihre Absicht gewesen sei, mich zu treffen. Ich glaubte, sie würde hereinkommen, um die ausgelöschte Lampe anzubrennen, hörte aber, daß sie sich nach innen entfernte. Da stand ich wieder auf und huschte in den zweiten Raum, in welchem sie gestanden hatte. Weiter hinten, mehrere Zimmer weiter, gab es einen Lichtschein, welcher durch die Vorhänge drang. Er kam näher und wurde heller und stärker. Der Kattun der nächsten Tür wurde auseinandergezogen, und da stand sie, die Jüdin, eine zweite Tonlampe in der Hand und mich mit weit aufgerissenen Augen anstarrend; sie ließ den Revolver, welchen sie in der anderen Hand trug, fallen.
„Guten Abend, Señora!“ grüßte ich. „Sie verzeihen doch, daß ich Sie in ihrer Häuslichkeit störe? Da Sie wahrscheinlich nicht hinaufgekommen wären und ich Sie doch sprechen mußte, war ich gezwungen, herunterzukommen.“
„Da – da – da stehen Sie ja!“ rief sie aus.
„Allerdings! Oder meinen Sie, daß ich mich setzen darf?“
„Sie – Sie – Sie lagen doch da draußen. Ich hörte Sie fallen!“
„Das habe ich auch gehört!“
„Ich glaubte Sie im Sterben, und nun – nun – stehen Sie hier vor mir! Sind Sie denn nicht verwundet?“
„Nein.“
„Aber warum röchelten Sie da so entsetzlich?“
„Ich habe die Angewohnheit, nur zu meiner Unterhaltung zu röcheln.“
„Und ich war so erschrocken darüber! Ich hatte Sie ja nur erschrecken wollen.“
„Sonderbar! Und das soll ich glauben?“
„Sie können es glauben! Sie sollten nicht herunterkommen.“
„Und als ich unten war, schossen Sie doch noch auf mich! Señora, darüber werden wir später sprechen. Jetzt bitte ich, mir zu sagen, wo Mr. Jonathan Melton sich befindet; ich habe mit ihm zu sprechen.“
„Er ist nicht hier!“
„Sie verleugnen ihn? So muß ich ihn mir suchen!“
„Suchen Sie!“
„Das werde ich freilich tun, und Sie haben die Güte, mir dazu zu leuchten!“
„Ich bin nicht Ihre Dienerin. Hier haben Sie die Lampe!“
Sie hielt mir das kleine, vasenartige Gefäß hin; ich schüttelte den Kopf und antwortete:
„Sie sind hier daheim, und ich bin unbekannt; ich muß Sie also bitten, mich zu führen!“
„Und ich tue es nicht.“
„Sie werden es tun!“
„So kommen Sie! Sie sind imstande, eine Dame zu malträtieren und vielleicht gar zu schlagen!“
„Das ist mir allerdings unter Umständen zuzutrauen! Also bitte, gehen Sie voran! Ich bleibe hart hinter Ihnen. Sollte es irgend jemanden hier geben, der einen Angriff auf mich beabsichtigt, so dienen Sie mir als Schild und müssen außerdem gewärtig sein, daß Ihnen mein Messer in den Rücken dringt. Sie haben zweimal auf mich geschossen; ich habe also gar keine Veranlassung, Sie zu schonen!“
„Es ist niemand hier. Kommen Sie!“
Sie sagte das in einem Ton, der mich irremachte. Das klang so glaubhaft, und doch mußte Melton sich hier befinden. Sie führte mich nach rechts, durch die Räume, welche sie selbst bewohnte. Die Ausstattung ließ, die Verhältnisse und die Örtlichkeit in Betracht gezogen, nichts zu wünschen übrig. Hinter jedem Türvorhang glaubte ich, auf Melton zu treffen; er war nicht da!
Dann kehrten wir um; sie führte mich auf die linke Seite, also in seine Wohnung hinüber. Dieser sah man es an, daß sie früher der Aufenthalt eines Indianerhäuptlings gewesen war. Der Gesuchte war auch hier nicht zu sehen!
„Nun, haben Sie ihn?“ fragte sie mich im Ton und mit einem Blick des Triumphes.
„Bis jetzt noch nicht. Er ist irgendwo hier versteckt, und ich werde nicht eher ruhen, als bis ich ihn gefunden habe.“
„So tut mir's um Ihre Ruhe leid, zu welcher Sie niemals kommen werden. Mr. Melton ist seit mehreren Stunden fort.“
„Wohin?“
„Weiß ich es? Er ist nicht mehr hier, nicht mehr im Pueblo und überhaupt nicht mehr in der Gegend desselben.“
„Und vor einer halben Stunde habe ich ihn noch gesehen!“
„Das ist nicht wahr!“
„Ich hörte ihn sogar mit Ihnen sprechen, vorn auf der Bank unter dem Eingang. Kehren wir jetzt dorthin zurück! Sie werden noch anderen Besuch bekommen.“
„Wen?“
„Winnetou.“
„Herrlich!“ meinte sie in spöttischem Ton. „Ich bin begierig, ob zwei so berühmte Westmänner die Spur finden werden!“
„Ich hab' sie schon, Señora! Da, wo die Leiter jetzt liegt, welche an Ihrem Eingang fehlt, nachdem ich sie kurz vorher noch dort gesehen habe.“
„Und wo liegt sie jetzt?“ fragte sie mich spöttisch.
„Ich werde sie Ihnen zeigen.“
„Da müßten Sie allwissend sein. Ich weiß, was für eine Spürnase Sie besitzen, aber so lang ist sie doch nicht, wie sie sein müßte, wenn Sie mit ihr an die Leiter stoßen wollten!“
„Werden sehen. Kommen Sie jetzt mit nach dem Eingang!“
Als wir dort anlangten, rief ich Winnetou. Die Leiter, natürlich eine andere, als die, von der wir jetzt gesprochen hatten, wurde herabgelassen, und dann kam der Apache herniedergestiegen. Er würdigte die Jüdin keines Blickes, blickte besorgt an mir hernieder und fragte:
„Jonathan Melton?“
„Nicht zu sehen.“
„Werden suchen.“
Jetzt nahm ich der Jüdin die Lampe aus der Hand und leuchtete. Sie ging neugierig hinter uns her. Wir begaben uns zunächst hinüber nach der linken Seite, der Männerwohnung. Die Beschreibung derselben hat kein Interesse. Es gab auch hier niemals ein Tageslicht, und wo die Außenluft Zutritt fand, das hätte ich auch nicht sagen können. Wir fanden nichts und begaben uns also nach der rechten Seite.
Was mir dort, ohne daß ich es erwähnte, aufgefallen war, das bemerkte der Apache sofort auch. Der Indianer hatte uns gesagt, daß die weiße Squaw im letzten Raum auf dieser Seite zu kochen und im vorletzten zu schlafen pflege. Es gab ganz hinten allerdings eine Küche. In der hintersten Ecke war eine Art Herd aus Lehm errichtet und darüber ein Loch durch die Decke gebrochen, durch welches der Rauch abziehen konnte. Auch Teller, Tassen, Schüsseln und anderes Geschirr gab es, dazu einen großen irdenen Wasserkrug.
In der anderen Ecke stand oder vielmehr lag das Bett, bestehend aus einer Art Matratze, mehreren Fellen und Decken. In dem vorletzten Raum hingen Kleidungsstücke; auf einem Tisch befanden sich mehrere Toilettengegenstände, und auf der Erde, dem Fußboden, lagen verschiedene andere Sachen. Man sah es, daß dieselben absichtlich so hingeworfen worden waren.
„Nun?“ fragte sie jetzt. „Der große und berühmte Häuptling der Apachen ist auch da. Was haben Sie gefunden? Nichts!“
„Allerdings nichts“, antwortete ich.
„Und Sie behaupteten doch, die Spur zu haben!“
„Die haben wir und das Finden wird sofort beginnen.“
Wir standen im vorletzten Raum. Winnetou brachte es doch nicht fertig, auch jetzt noch zu schweigen; er war zwar zu stolz, sich direkt an die Jüdin zu wenden, sagte aber, daß sie es hörte, zu mir:
„Wenn die Squaw ein Mann wäre, würde Winnetou ihr eine Antwort geben. Mein Bruder reiche mir die Lampe her!“
Ich gab sie ihm. Er bückte sich nieder und leuchtete auf den Boden, indem er mich fragte:
„Glaubt mein Bruder, daß die Sachen stets hier liegen?“
„Nein. Sie sind vor ganz kurzer Zeit hergeworfen worden.“
„Wozu?“
„Um den Raum zu füllen. Man soll nicht sehen, was hier eigentlich fehlt.“
„Mein Bruder hat sehr richtig gesprochen. Er blicke in diese Ecke. Was ist da zu bemerken?“
„Ein langes Viereck, welches von dem anderen Teil des Bodens absticht.“
„Wie lang und breit ist dieses Viereck?“
„Gerade so lang und breit wie das Bett, welches jetzt draußen in der Küche liegt.“
„Richtig! Das Bett hat also stets hier gelegen; die Squaw hat hier geschlafen. Warum hat sie ihr Bett so plötzlich hinüber neben den Herd geschafft?“
„Um damit etwas zu verdecken, was wir nicht sehen sollen.“
„So ist es. Old Shatterhand mag also mit in die Küche gehen.“
Als wir drüben standen und Winnetou nach den Decken griff, um sie wegzunehmen, rief Judith:
„Señores, was soll das heißen! Hoffentlich ist Ihnen die Ruhestätte einer Dame heilig!“
„Allerdings“, antwortete ich. „Darum wollen wir sie wieder dorthin schaffen, wo sie sich stets befunden hat. Hier in der Küche haben Sie nie geschlafen.“
„Stets!“
„Auf der Leiter?“
„Auf der Leiter! Was meinen Sie?“
„Ich meine natürlich die Leiter, welche wir suchen. Übrigens habe ich Ihnen eine sehr wichtige Frage noch nicht vorgelegt. Wo steckt der junge Señor, welcher hier gefangen ist?“
„Ich weiß es nicht. Um Männerangelegenheiten habe ich mich nicht gekümmert.“
„Er hat aber in Ihre Wohnung herabsteigen müssen!“
„Davon weiß ich nichts.“
„Wenn Sie es wirklich nicht wissen, werden wir es Ihnen sagen; er steckt unter Ihrem Bett.“
Da legte sie sich plötzlich auf die Decken nieder und rief:
„Hieran darf sich kein Mensch vergreifen! Es ist eine Roheit, eine Gemeinheit, welche Sie begehen wollen!“
„Stehen Sie auf, Señora!“
„Nein! Ich werde nur der Gewalt weichen. Sie haben mich ja schon prügeln wollen. Tun Sie es doch jetzt!“
Es widerstrebte mir, Gewalt anzuwenden, aber was wollte man mit dem obstinaten Frauenzimmer anders tun? Da kam mir Winnetou zu Hilfe, welcher trotz seines ernsten Charakters doch zuweilen den Schalk im Nacken hatte; er sagte:
„Wer nicht freiwillig fortgeht, wird weggeschwemmt!“
Er nahm das große, tönerne Wassergefäß vom Boden auf, welches so schwer war, daß er es kaum zu tragen vermochte, und näherte sich damit dem Bett.
„Himmel! Er will das Wasser auf mich schütten!“ rief Judith und sprang auf.
Winnetou hatte das Gefäß noch nicht wieder an seinen Ort gestellt, so hatte ich schon alles, was zu dem Bett gehörte, auf die Seite gerissen. Da sahen wir denn, was wir erwartet hatten. Ein Loch führte von hier in das Erdgeschoß hinab; es war zugedeckt, und die Decke bestand aus Rundhölzern, welche aus starken Ästen zugeschnitten und mit Riemen zusammengebunden waren.
„Nun, Señora, meinen Sie nicht, daß die gesuchte Leiter gleich zum Vorschein kommen wird?“ fragte ich.
Sie antwortete nicht.
Wir hoben die Decke weg und leuchteten in das Loch hinab. Da lehnte die Leiter.
„Hier ist sie. Sie sehen also, Señora, daß ich vorhin gar wohl wußte, wo die Spur zu suchen sei. Wollen Sie die Güte haben, uns voranzusteigen!“
„Fällt mir nicht ein! Gehen Sie nur immer allein!“
„Ich muß darauf bestehen, daß Sie mitgehen! Sie könnten, wenn wir Sie allein hier oben ließen, uns irgendeinen Streich spielen. Man weiß nicht, wie die Tiefe da unten beschaffen ist, und ob wir dann wieder heraufkönnten.“
„Ich gehe nicht mit!“
„Da zwingen Sie mich wirklich, Sie wieder beim Arm zu nehmen, denn hinunterschwemmen können wir Sie doch unmöglich.“
Ich streckte den Arm nach ihr aus; da schritt sie auf das Loch zu und sagte wütend:
„Rühren Sie mich nicht wieder an! Mich schmerzt der Arm noch jetzt, den Sie mir am Tag so übel zugerichtet haben. Sie sind ein entsetzlicher Mensch. Ich steige ja hinab!“
Und sie stieg hinab. Ich folgte ihr mit der Lampe, und Winnetou kam hinter mir. Als wir die letzte Sprosse hinter uns hatten, umfing uns eine feuchte, moderige Luft. Wir befanden uns in einem langen, schmalen Gang, und zwar am Ende desselben.
„Wohin führt der Gang, Señora?“ erkundigte ich mich.
„Sehen Sie selbst nach!“ antwortete sie kurz.
„Gibt es vielleicht rechts oder links Zimmer?“
„Suchen Sie!“
Die beiden Wände des Ganges bestanden aus Lehm; es gab keine einzige Öffnung in denselben. Als wir ihn halb durchschritten hatten, kamen wir an eine Stelle, wo der Boden nicht aus Erde, sondern aus starken, dicken Hölzern bestand, welche nebeneinander lagen, ungefähr in der Weise, wie man Senk- oder andere Gruben zu bedecken pflegt. Ich kniete nieder und entfernte zwei oder drei von diesen Hölzern. Ein tiefer liegender Wasserspiegel schimmerte von da unten herauf. Ich nahm eins der Hölzer und hielt es in das Wasser hinab, um dasselbe zu sondieren. Es war nicht ganz zwei Ellen tief, und der über dem Wasser bis zum Fußboden liegende Raum mochte eine Elle betragen.
„Uff!“ sagte der Apache im Siouxdialekt. „Mein Bruder hat die Zisterne gesehen, welche sich draußen vor dem Pueblo befindet, gerade in der Mitte desselben?“
„Ja.“
„Wir stehen gerade in der Mitte des Ganges, welcher die Breite des Pueblo einnimmt. Sollte das Wasser mit der Zisterne in Verbindung stehen?“
„Wahrscheinlich.“
„Dann kommt es aus dem Fluß, und wenn man in dies Loch steigt und in dem unterirdischen Wasser weitergeht, kann man in den Flujo blanco hinausgelangen.“
„So ist es; so ist es! Und der junge Melton ist uns auf diesem Wege entwischt.“
„Das wäre außerordentlich zu beklagen. Wir müssen die Squaw zwingen, es uns zu sagen!“
„Ob sie sich zwingen läßt?“
„Sie muß, und wenn – horch! Hat mein Bruder nicht einen Seufzer gehört?“
„Nein.“
„Es war da hinten im Gang. Wir wollen einstweilen weitergehen.“
Ich brachte die Hölzer wieder an ihre Stelle, und dann setzten wir unsere Nachforschung fort. Ja, jetzt hörte auch ich einen Seufzer oder vielmehr ein röchelndes Stöhnen. Wir beschleunigten unsere Schritte und kamen an das Ende des Ganges, ohne darauf zu achten, daß die Jüdin zurückblieb. Ich mußte an Vogel denken, den wir suchten; darum die Eile und darum auch die erwähnte Achtlosigkeit. Und richtig, da lag er, mit Riemen gefesselt und an einen in den Boden getriebenen Pfahl gebunden. Man hatte ihm ein altes Tuch mehrfach über Mund und Nase befestigt, so daß er nicht schreien und rufen, sondern nur stöhnen und kaum atmen konnte. Der Knebel wurde natürlich zuerst entfernt. Da tat er einen tiefen Atemzug und rief:
„Dem Himmel sei Dank! Ich sah Sie da hinten im Gang erscheinen und hatte Angst, daß Sie nicht ganz bis hierher kommen, sondern wieder umkehren würden. Bitte, machen Sie die Riemen los!“
Sie wurden durchschnitten; er konnte also aufstehen. Indem er sich reckte und streckte, fragte ich ihn:
„Haben Sie viel Angst ausgestanden?“
„Natürlich!“
„Sie konnten sich doch sagen, daß wir kommen würden!“
„Oh, daß Sie in das Pueblo dringen würden, das traute ich Ihnen schon zu, aber daß Sie diesen Ort finden würden, das konnte ich kaum glauben. Ich habe um mein Leben gebangt!“
„So ist es, wenn man Pferde bewachen soll und dabei einschläft!“
„Ich konnte nicht dafür. Ich war eigentlich gar nicht müde, sondern nur die Langeweile war es, welche mich eingeschläfert hat. Als ich plötzlich aufgeweckt wurde, war ich auch schon gefesselt. Ich wurde durch den Cañon und die Felsenenge nach dem Pueblo geschafft und da verhört.“
„Von wem?“
„Von den beiden Meltons und der Jüdin. Sie haben das Weib bisher nur für leichtsinnig gehalten; sie ist aber schlecht, ebenso schlecht wie die Meltons, denn sie weiß, daß der Reichtum, den Jonathan besitzt, die Frucht des Betruges, des Verbrechens ist. Ich geriet in Wut, und die machte mich unvorsichtig.“
„Sie sagten, daß Sie der rechtmäßige Erbe sind?“
„Ja. Sie können sich das Staunen und die darauffolgende Freude denken! Man sagte mir, daß ich sterben müsse, und schaffte mich hierher.“
„Es war nicht so schlimm gemeint. Man wollte Ihnen angst machen, um Sie mürbe werden zu lassen. Es ist uns ja ein Angebot gemacht worden, welches ich abgeschlagen habe. Später mehr davon. Sagen Sie uns jetzt, ob man Sie nach unseren Absichten ausgefragt hat!“
„Natürlich hat man dies getan! Die Meltons wollten wissen, welchen Plan Sie verfolgten, um zum Ziel zu gelangen; ich habe aber nichts gesagt.“
„Das war gut. Doch wollen wir nicht länger hier verweilen. Wir können oben besser miteinander reden. Kommen Sie. Wie ich sehe, ist die Jüdin schon voraus.“
Wir kehrten durch den Gang zurück. Als wir an das Ende gelangten und die Leiter emporsteigen wollten, war sie fort. Wir sahen einander an.
„Was sagt mein Bruder dazu?“ fragte Winnetou, indem ein halb lustiges Lächeln um seine Lippen spielte.
„Dummköpfe sind wir gewesen!“
„Wir können nicht hinauf!“ klagte Vogel. „Wir sind also gefangen!“
„Nein“, antwortete Winnetou. „Und wenn wir gefangen wären, dann aber nur für kurze Zeit. Wir müssen zunächst sehen, ob wir oben den Deckel öffnen können.“
„Wir können ja nicht hinauf; es ist keine Leiter da!“
„Es ist eine da“, antwortete ich. „Wir selbst sind die Leiter. Können Sie ein wenig klettern? Sind Sie Turner?“
„Ja.“
„Stellen Sie sich auf Winnetous Schultern; ich knie nieder und Winnetou tritt auf die meinigen. Dann reichen Sie bis oben an die Decke und können versuchen, ob der Deckel sich heben läßt.“
Die Probe wurde gemacht, doch ohne guten Erfolg. Judith war emporgestiegen, hatte die Leiter nachgezogen und den Deckel auf das Loch gelegt. Auf welche Weise sie ihn so fest oder schwer gemacht hatte, daß Vogel ihn nicht heben konnte, das wußten wir nicht.
„Was ist da zu tun?“ fragte der letztere. „Ich bin kaum frei und schon wieder ein Gefangener.“
„Sir Emery wartet oben. Wenn wir nicht kommen, so holt er uns.“
„Aber wenn auch er überlistet wird!“
„So haben wir den Weg durch das Wasser.“
„Welches Wasser?“
„Wissen Sie nicht, daß sich in der Mitte des Ganges Wasser unter dem Boden befindet?“
„Nein.“
„Das Wasser scheint mit dem Fluß draußen in Verbindung zu stehen. Wir vermuten sogar, daß Jonathan Melton uns vorhin auf diesem Wege entkommen ist.“
„Was? Wie? Wann dürfte das wohl gewesen sein?“
„Vor wenig über einer Stunde.“
„Ah, um die Zeit ungefähr sah ich hier ein Licht herabkommen und hörte leise sprechen. Verstehen konnte ich die Worte nicht; ebensowenig vermochte ich die Personen zu erkennen; es schienen mir zwei zu sein. Sie kamen bis in die Mitte des Ganges, wo das Licht eine Zeitlang stehenblieb, bis es sich wieder entfernte.“
„Das ist die Jüdin mit Jonathan Melton gewesen; er ist uns entkommen! So fatal das ist, so bildet es doch auch ein Glück für uns, weil wir nun einen Ausweg wissen. Wir werden gar nicht warten, bis Sir Emery uns vermißt, sondern den Wasserweg sofort antreten. Jetzt haben wir noch Öl genug hier in der Lampe, denselben zu erleuchten; später müßten wir ihn im Finstern zurücklegen, was weit schwieriger ist, da wir ihn nicht kennen. Stimmt mir mein Bruder Winnetou bei?“
Der Apache war ganz meiner Meinung, und der Violinvirtuose hatte uns gegenüber keinen Willen. Winnetou und ich machten uns nicht das mindeste daraus, wenn wir ein wenig naß wurden, und Vogel mußte sich notgedrungen in das kleine Übel ergeben. Wir gingen also in die Mitte des Ganges zurück und nahmen die Hölzer weg. Nachdem wir uns das Schuhwerk ausgezogen und die Revolver und sonstigen Sachen, welche nicht feucht werden durften, verwahrt hatten, stiegen wir in das Wasser, welches mir nicht einmal bis an die Brust reichte.
Ich mußte dabei lebhaft an einige frühere Ereignisse denken, welche dem jetzigen zwar ähnlich, aber viel gefährlicher gewesen waren. Um ein geraubtes Mädchen aus dem Harem zu retten, war ich einst in Ägypten in einen Kanal gedrungen, welcher aus dem Nil unterirdisch in den Hof des betreffenden Hauses führte. Der Kanal war nur durch Zertrümmerung eines starken Holzgitters und nach Lossprengung eines sehr festen Blechsiebes zu passieren gewesen, und während der Arbeit hatte ich mich, auch mit dem Kopf, ganz unter Wasser befunden. Ich war auf eine halbe Sekunde dem Tod des Erstickens, des Ertrinkens nahe gewesen. Ein ganz ähnliches Ereignis hatte ich im Norden der Vereinigten Staaten erlebt, wobei der Ort von allen Seiten von feindlichen Indianern umgeben gewesen war. Wie ungefährlich war dagegen unsere heutige Lage!
Ich ging mit der Lampe voran. Wir mußten uns bücken, um nicht oben anzustoßen. Vor wieviel hundert Jahren war der Kanal wohl gebaut worden! Er bestand aus einer Art von Ziegeln, welche sich sehr gut erhalten hatten. Die Luft war schlecht, doch nicht so sehr, daß wir belästigt worden wären. Wenn mich meine Berechnung nicht trog, ging der Kanal durch die Felsenenge hinaus nach dem Fluß. Wir mußten also unter dem Weg hinaus, auf dem Emery vorhin in den Talkessel und nach dem Pueblo gekommen war.
Der Weg war keineswegs kurz. Endlich bemerkten wir, daß die Luft mit jedem Schritt besser wurde, und dann fiel der Schein unserer Lampe auf dichte Zweige, welche vor mir niederhingen. Ich löschte das Licht aus, schob die Zweige auseinander, ging noch zwei Schritte vorwärts und stand – im Fluß, dessen Wasser gerade so tief wie dasjenige im Kanal war. Die Zweige gehörten einem Schlinggewächs an, welches die Mündung des Kanals vollständig verdeckte und verbarg.
Winnetou und Vogel traten hinter mir auch ins Freie; dann erstiegen wir das Ufer und befanden uns im Cañon des Flujo blanco neben der Felsenenge.
„Hier ist Melton auch herausgekommen“, sagte Winnetou leise. „Meint mein Bruder, daß er sich vielleicht noch in der Nähe befindet?“
„Nein. Er ist jedenfalls fort. Er hat sich wohl keinen Augenblick aufgehalten.“
„Unser Bruder Emery muß nicht aufgepaßt haben, sonst hätte er ihn sehen oder hören müssen!“
„Ich glaube vielmehr, als Melton hier aus dem Kanal kam, ist Emery schon bei uns drin auf dem Pueblo gewesen.“
Das Feuer, welches bei dem Englishman hier gebrannt hatte, war ausgegangen. Wir schritten über die Asche desselben in die Felsenenge hinein. Am jenseitigen Ende derselben brannte das Feuer der Yuma-Indianer, über welches Emery hinweggesprungen war. Es blieb uns nichts übrig als denselben Sprung zu tun. Ich voltigierte als der vorderste über die Flammen hinweg und riß zwei oder drei von den Yumas, welche jenseits saßen, über den Haufen. Die Roten sprangen erschrocken auf und starrten mich an. Da kam auch Winnetou geflogen. Das war ihnen denn doch zu rätselhaft! Sie wußten uns droben im Pueblo, und jetzt kamen wir wie von einer Sehne geschnellt, über das Feuer herein in den Talkessel geflogen. Sie rissen die Augen und die Mäuler auf und brachten vor Erstaunen nicht einmal einen Ausruf hervor.
Jetzt kam auch Vogel gesprungen. Das war für sie noch wunderbarer. Das junge Bleichgesicht steckte ja als Gefangener hinter den starken Mauern des Terrassenbaues, und jetzt war er nicht nur frei, sondern er kam aus dem Freien herein zu ihnen!
„Uff, uff, uff!“ erklang es endlich doch rundum, und derjenige, mit welchem wir die Friedenspfeife geraucht hatten, fügte hinzu:
„Tut der große Winnetou heute ein Wunder? Oder besitzen unsere Brüder zwei Leiber, daß sie dort im Pueblo und auch jetzt hier bei uns sein können?“
„Das mag sich unser roter Bruder einmal überlegen“, antwortete ich. „Wenn er keine Erklärung des Wunders findet, wird sie ihm vielleicht einmal im Traum kommen.“
Wir gingen zu der Leiter, welche am Erdgeschoß des Pueblo lag, und stiegen diese und auch die nächste empor. Es läßt sich denken, mit welchem Erstaunen uns Emery kommen sah! Er stand oben am Eingang zu der Wohnung der Jüdin Wache. Er erwartete uns natürlich aus diesem Loch zurück, und nun kamen wir aus dem Tal herauf. Er kam uns bis an die Leiter entgegen und rief mit lauter, verwunderter Stimme:
„Ihr hier! Und Master Vogel auch, von dem ich denke, daß er –“
„Still!“ unterbrach ich ihn. „Schrei nicht so! Die Jüdin soll nichts hören. Hast du sie gesehen, seit wir von dir fort sind?“
„Ja, unten in ihrer Wohnung. Ich blickte zuweilen hinunter und habe sie da hin und her gehen sehen.“
„Ist dir nichts dabei aufgefallen?“
„Nein. Sie hat die Lampe wieder angesteckt, welche du vorhin ausgelöscht hast.“
„Und ist dir denn unser Ausbleiben nicht als zu lang vorgekommen?“
„Ein wenig wohl; aber ihr konntet ja zu tun haben. Was ist denn geschehen? Es muß einen heimlichen Weg aus dem Tal geben, den ihr entdeckt habt!“
„So ist es. Die schöne Judith hatte es bös mit uns vor; sie glaubt uns in der Falle, und es sollte mich wundern, wenn sie nicht versuchte, nun auch dich zu überlisten.“
Ich erzählte ihm, was wir erlebt hatten, und fügte dann hinzu:
„Wir werden uns nicht sehen lassen. Ich bin überzeugt, sie hat etwas gegen dich vor und wird bald heraufkommen, um es auszuführen. Bin neugierig, wie sie es anfangen wird, auch dich in ihre Gewalt zu bringen.“
Hierauf ging ich mit Winnetou und Vogel nach der Stelle, an welcher die Gewehre der Yumas lagen. Wir stellten sie zu Pyramiden zusammen und setzten uns dahinter, so daß wir von dem Loch aus nicht gesehen werden konnten.
Wie gedacht, so geschehen. Nach einiger Zeit kam Judith die Leiter heraufgestiegen und sah sich nach Emery um. Er stand in einiger Entfernung von ihr.
„Señor!“ rief sie. „Der Anführer der Yumas soll mit noch drei Indianern herauf und in meine Wohnung kommen.“
„Wer hat das befohlen?“
„Señor Shatterhand. Er ist unten bei Señor Melton.“
„Warum schickt Old Shatterhand Sie? Er konnte es mir doch selbst sagen!“
„Er hat keine Zeit. Die Señores haben sehr wichtige Dinge zu besprechen. Sie reden, glaube ich, von der Erbschaft.“
„Was sollen die Roten dabei?“
„Ich weiß es nicht. Shatterhand läßt sagen, Sie sollen sich beeilen!“
„Gut! Sagen Sie ihm, daß die Roten bald kommen werden!“
Sie stieg wieder hinab. Emery kam zu uns und fragte:
„Was mag sie im Schilde führen?“
„Das ist doch sehr leicht zu erraten. Sie glaubt, uns fest zu haben, und will sich nun auch deiner bemächtigen. Sie läßt also die Roten kommen, um sie zu überreden, dich festzunehmen.“
„Aber welchen Zweck verfolgt sie dabei? Was kann es ihr denn nützen, wenn sie uns fest hat?“
„Viel, sehr viel! Sie sendet ihrem Jonathan einen Boten nach, der ihn zurückbringen soll. Stecken wir dann fest, so ist sein Spiel gewonnen.“
„So müßte sie doch wissen, wohin er ist!“
„Natürlich weiß sie das.“
„Ah, wenn wir es erfahren könnten!“
„Wir erfahren es durch List.“
„Wie?“
„Indem ich mich für Melton senior ausgebe.“
„Sie kennt dich ja! Sie wird dich doch nicht etwa mit ihm verwechseln!“
„Sie wird mich für ihn halten. Sie weiß noch nicht, daß er gefangen ist; sie wird ihn unter allen Umständen benachrichtigen wollen, wohin sein Sohn ist. Bei dieser Gelegenheit erfahre ich es.“
„Und doch begreife ich nicht, wie du das anfangen willst!“
„Komm mit herunter zu ihr! Bin neugierig, was sie für ein Gesicht machen wird, wenn sie mich sieht. Sag zunächst zu ihr, daß du mich sprechen willst!“
Wir stiegen die Leiter hinab und horchten. Sie schien in dem Zimmer zu sein, in dem die Kleider hingen. Emery ging voran, und ich folgte ihm bis zum letzten Vorhang. Er schob denselben auseinander und trat zu ihr ein.
„Sie sind es, Señor?“ hörte ich sie sagen. „Ich erwartete die Indianer. Wann kommen sie?“
„Ich habe ihnen noch nichts gesagt.“
„Warum nicht? Señor Shatterhand hat es sehr eilig.“
„Ich möchte vorher mit ihm sprechen. Wo befindet er sich?“
„Drüben auf der anderen Seite. Aber warum tun Sie nicht sofort, was er haben will? Warum wollen Sie erst mit ihm reden?“
„Weil mir die Sache verdächtig vorkommt. Wozu braucht er Indianer? Er hat ja mich und Winnetou, der sich bei ihm befindet!“
„Ja, ich weiß es nicht.“
„Aber ich will es wissen! Führen Sie mich zu ihm!“
„Das darf ich nicht. Er hat jede Störung verboten.“
„Störung? Pshaw! Ich, sein Freund, störe ihn nie; die Indianer aber würden ihn stören! Also, wo ist er?“
„Drüben auf der anderen Seite, wie ich schon sagte.“
„Und Sie wollen mich nicht zu ihm hinüberbringen?“
„Nein, denn es ist mir verboten worden.“
„So gehe ich allein!“
„Sie werden ihn nicht finden!“
„Sofort finde ich ihn, sofort. Soll ich es Ihnen beweisen?“
„Ja.“
„Gut, Señora! Hier haben Sie ihn!“
Er schob den Vorhang auseinander, nahm meine Hand und zog mich hinein. Als sie mich erblickte, stand sie vor Schreck sprachlos.
„Sie sehen, Señora“, sagte ich, „ich werde nicht nur schnell gefunden, sondern ich finde mich auch selbst schnell zurecht. Kaum unter uns in der Unterwelt eingesperrt, sehen Sie mich wieder hier oben, ohne daß Sie die Güte gehabt haben, mir die Leiter hinabzulassen. Sie freuen sich doch jedenfalls darüber, mich so wohl wiederzusehen?“
„Ja, ja, ich freue mich; ganz, ganz außerordentlich freue ich mich!“ rief sie aus, indem sie die Fäuste ballte und die Zähne zusammenbiß.
„So will ich Ihre Freude durch die Mitteilung verdoppeln, daß auch Winnetou und Señor Vogel sich an der Oberwelt befinden. Der unterirdische Kanal hat nicht nur Ihren Verlobten, sondern auch uns an die Freiheit geführt.“
Da fuhr sie mich wie eine Katze an:
„Sie haben tausendmal mehr Glück, als Sie Verstand besitzen! Aber freuen Sie sich nur nicht zu sehr! Den schönsten, den gelungensten Streich habe doch ich Ihnen gespielt!“
„Welchen denn?“
„Eben den, daß ich Melton fortgeholfen habe. Er ahnte von dem Kanal nichts. Kein Mensch wußte, daß man durch das Wasser aus dem Pueblo gelangen kann; ich wußte es allein. Mein Mann, der Häuptling, hat mir das Geheimnis für etwaige Notfälle mitgeteilt.“
„Und ein solcher Notfall war heute eingetreten!“
„Ja. Ich zeigte ihm erst heute den Rettungsweg, und kaum eine halbe Stunde später hörten wir Ihre Namen rufen. Sie waren da. Jonathan aber beeilte sich, Ihnen zu entkommen, und er – er ist Ihnen auch entkommen!“
„Mag er! An seiner Person liegt mir gar nichts. Das Geld hat er doch dagelassen.“
„Meinen Sie? Meinen Sie das wirklich? Wie klug Sie sind! Und für wie dumm sie ihn halten! Sie denken, hier nur zuzugreifen zu brauchen! Aber da irren Sie sich gewaltig. Er hat das Geld mitgenommen.“
„Nur einen Teil desselben!“
„Nein, das ganze, das ganze! Es war eine ganze Ledertasche voller Staats- und Wertpapiere!“
„Alle Wetter! Das ist freilich Pech! Und sein Alter ist auch fort!“
Ich sagte das in möglichst zornigem Ton.
„Auch?“ fragte sie, indem ihre Augen vor Vergnügen funkelten. „Woher wissen Sie das?“
„Sein Nest ist leer.“
„Haben Sie denn sein Nest gekannt?“
„Es liegt eine Etage über Ihnen. Wir sind nicht durch die Felsenenge gekommen, sondern an mehreren zusammengeknüpften Lassos in das Tal heruntergeklettert, und gerade als man uns bemerkte und um Hilfe rief, ist der alte Melton unten am Feuer bei den Wächtern gewesen und zur Felsenenge hinaus entwischt.“
„Herrlich, herrlich!“ jubelte sie. „Gleich darauf ist sein Sohn durch den Kanal geflohen, und sie haben sich jedenfalls getroffen und sind miteinander fort.“
„Wohin?“
„Wohin? Ja, ja, das fragen Sie! Das möchten Sie wohl gar zu gern wissen?“
„Natürlich. Ich bin in diesem Fall ebenso neugierig wie Sie. Sie möchten doch wohl auch gern wissen, wohin Ihr Geliebter Ihnen entwischt ist?“
„Mir entwischt, mir, hahaha!“ lachte sie.
„Lachen Sie nur! Sie täuschen mich doch nicht. Er ist auch Ihnen entwischt. Sie werden ihn und sein Geld niemals wiedersehen.“
„Niemals? Señor, ich sage Ihnen, daß ich ihn wiedersehen werde, sobald ich nur will!“
„Unsinn! Sie wissen nicht, wohin er sich gewendet hat.“
„Ich weiß nicht nur das, sondern ich weiß sogar auch, wo er auf mich warten wird.“
„Und Sie wissen das allein? Ich weiß es auch!“
„Sie? Ich glaube, Sie phantasieren! Den Ort kennen nur zwei, nämlich er und ich.“
„Drei! Rechnen Sie mich auch dazu. Ehe ich das Pueblo verlasse, werde ich Ihnen den Namen sagen.“
„Nichts werden Sie, gar nichts! Ich höre wohl, was Sie wollen. Sie wollen es machen, wie die Kinder, wenn sie gern etwas erfahren wollen, und Sie meinen, ich sei so dumm, mich von Ihnen soweit bringen zu lassen, daß ich im Ärger herausplatze. Da verrechnen Sie sich aber ungeheuer! Es ist heute überhaupt ein Tag des falschen Rechnens für Sie. Jonathan ist Ihnen mit seinem Geld entkommen, und sein Vater ist auch fort mit dem Geld, welches er bei sich hat. Ja, wenn Sie wenigstens den erwischt hätten! Dem brauchten Sie nur die Stiefel auszuziehen. Er hat seinen Anteil zwischen den Doppelschäften stecken.“
„Donnerwetter!“ stieß ich, der ich niemals fluche, jetzt absichtlich hervor. „Zwischen den Doppelschäften! Und den konnte ich schon mehrere Male erwischen! Das ist doch ein Pech, ein riesenhaftes Pech!“
„Ja, das ist freilich Pech, und Sie glauben gar nicht, wie sehr ich mich darüber freue! Ich hasse Sie mit jeder Ader, in jeder Fingerspitze; darum freut es mich unendlich, daß Sie wie der Fuchs vor dem leeren Hühnerstall stehen. Und das Beste dabei ist, daß Sie die Meltons niemals wiedersehen werden.“
„Oho! Ich hefte mich an ihre Fersen, bis ich sie habe!“
„Nie, nie wird das geschehen; dafür ist gesorgt! Der Hühnerstall ist leer, für immer leer, Señor!“
„O nein. Sie befinden sich ja noch darin!“
„Ich? Was haben Sie an mir! Ich bin arm; ich besitze fast gar nichts mehr. Dazu kommt, daß Sie überhaupt die Hand von mir lassen müssen.“
„Ich muß nicht, sondern es kommt nur auf meinen Willen an.“
„Auf Ihren Willen! In Beziehung auf mich haben Sie gar keinen Willen und gar keine Macht. Was habe ich denn getan, was Ihnen das Recht gibt, sich an mir zu vergreifen? Haben Sie überhaupt das Recht jemals besessen, jemand Gewalt anzutun? Ich glaube vielmehr, Sie haben sich stets nur mit fremden Angelegenheiten beschäftigt und in fremden Gewässern gefischt. Hoffentlich haben Sie da für sich soviel zusammengeangelt, daß Sie nun endlich einmal aufhören können! Das nennen Sie aber wohl, sich ihrer hilfsbedürftigen Mitmenschen annehmen, Sie Unikum von einem Menschenfreund Sie!“
„Ja, ich habe schon viel geangelt und werde auch noch mehr angeln. Zunächst werden Sie an meinem Haken hängenbleiben. Ich werde mich Ihrer Person versichern.“
„Aus welchem Grund, mit welchem Recht?“
„Nur mit dem Recht des Stärkeren. Ich könnte sagen, Sie sind Mitschuldige der beiden Meltons. Aber das fällt mir nicht ein. Ich halte Sie fest und lasse Sie bewachen, bis ich hier fertig bin. Dann können Sie meinetwegen laufen, wohin Sie wollen, sogar hinter Ihrem Jonathan her. Neugierig bin ich jetzt nur, wie Sie in Ihrer Küche das Loch so fest verbarrikadiert haben, daß wir nicht heraus konnten.“
Ich nahm die Lampe und leuchtete in die Küche. Das Bett lag wieder auf dem Loch, und auf dem Bett stand die Leiter, so fest gegen die Decke gestemmt, daß wir den Deckel allerdings unmöglich hätten heben können.
„Das haben Sie gut gemacht!“ sagte ich. „Wenn der Kanal nicht gewesen wäre, hätten wir bis zum jüngsten Tag da unten stecken können. Wir werden Sie von jetzt an streng bewachen, damit Sie, solange wir hierbleiben, nicht wieder auf solche Anschläge kommen können. Emery, du bleibst jetzt hier, bis du abgelöst werden wirst, und behältst diese schöne Señora gut im Auge.“
Er blickte mich einigermaßen verwundert an; ich gab ihm aber einen von ihr unbemerkten Wink, welcher ihm sagte, daß ich eine ganz bestimmte Absicht verfolgte. Sie rief mir, als ich ging, nach:
„Ich danke Ihnen, Señor, daß Sie mir den Herrn hierlassen. Befänden Sie sich an seiner Stelle, vermöchte ich es nicht auszuhalten. Erfüllen Sie nun aber auch das Versprechen, das Sie mir gegeben haben!“
„Welches?“ fragte ich mit Absicht, indem ich stehenblieb.
„Sie wollten mir sagen, wohin Jonathan entwichen ist, und wo ich mit ihm zusammentreffen werde.“
„Gut, ich halte Wort!“
Ich stieg hinauf auf die Plattform und bat Winnetou, nun endlich mit zu dem alten Melton zu gehen. Wir mußten also eine Terrasse höher, nahmen die Leiter, mit deren Hilfe wir hinauf gelangten, mit an das Loch, stellten sie hinein und stiegen hinab. Ich wußte, wohin ich die Lampe gestellt hatte, und steckte sie an. Noch ehe aber der Docht Licht faßte, hörten wir, daß Melton voller Leben war. Der Tisch bewegte sich, an den wir ihn gebunden hatten.
Als wir Licht hatten, gaben wir ihm zunächst den Mund frei. Er stieß einen wüsten Fluch aus und rief:
„Also habe ich doch richtig gehört! Old Shatterhand und Winnetou, diese Namen wurden gerufen!“
„Ja, Ihr habt Euch nicht getäuscht, Master Melton“, antwortete ich. „Wir sind ja nur aus dem Grund, Euch dies zu beweisen, hierher gekommen.“
„Wäret Ihr doch beim Teufel geblieben!“
„Hätten wir das getan, so säßen wir da draußen im Steingeröll bei Euerm Bruder, den Ihr ermordet habt. Er war ein Teufel, ein Satan im wahrsten Sinne des Wortes, Ihr habt ihm seinen Lohn gegeben und werdet auch den Eurigen erhalten.“
„Haltet Euer Lästermaul! In solcher Lage kann vom Mord keine Rede sein. Wenn es auf Tod und Leben geht, ist ein jeder sich selbst der Nächste.“
„Und da schlägt und sticht man seinen eigenen Bruder nieder? Wißt Ihr, wie er Euch genannt hat?“
„Wie?“
„Judas Ischariot. Und diesen Namen hat Euch auch Krüger-Bei und haben Euch noch andere gegeben. Eure Seligkeit scheint zu sein, Eure Wohltäter zu verraten und mit Undank zu belohnen. Wo steckt das Geld, welches Ihr Eurem Bruder abgenommen habt?“
„Ich habe keines.“
„Ihr habt es ihm genommen! Wir sahen es, und er sagte es dann auch.“
„Hat er denn noch gesprochen?“
„Ja. Sein letztes Wort war ein Fluch für Euch. Also, wo habt Ihr das Geld?“
„Das geht Euch nichts an!“
„Es geht uns sogar viel an, denn es gehört dem rechtmäßigen Erben des alten Hunter.“
„Bringt mir doch diesen Erben!“
„Das könnte man wohl tun!“
„Ja, man könnte, aber man kann doch nicht“, lachte er schadenfroh.
„Man kann! Master Vogel ist frei! Wir haben ihn aus dem Gang, an dessen Ende er an den Pfahl gebunden war, geholt.“
„Was? Habt Ihr! Wirklich?“ rief er aus, indem er an den Fesseln zerrte. „Wer hat Euch den Ort verraten?“
„Niemand. Haben ihn selbst gefunden.“
„Das ist nicht wahr. Jemand muß es Euch gesagt haben!“
„Wir brauchen keinen Verräter Eures Gelichters. Unsere Gedanken reichen allein für so was aus.“
„Ihr habt doch nur durch Judiths Wohnung hinunter gekonnt! Wie steht es mit der Jüdin?“
„Sehr wohl.“
„Und mit Jonathan, meinem Sohn?“
„Auch so gut. Die beiden haben sich so unendlich lieb, daß man sie nächstens am Galgen trauen wird.“
„Wie? Ist Jonathan etwa gefangen?“
„Verlangt Ihr, daß er es besser haben soll, als Ihr?“
„Gefangen, gefangen!“ stöhnte er. Und dann fuhr er knirschend fort:
„Ihr wart aber doch nur vier Personen!“
„Sogar nur drei, denn einen hattet Ihr gefangen.“
„Die Hölle hat Euch geholfen! Aber das Geld werdet Ihr doch nicht bekommen! Es ist so gut versteckt, daß Ihr es selbst mit dem Teufel nicht zu finden vermöchtet.“
„Wir werden es schon noch bekommen!“
„Nie, nie! Außer Ihr seid klug und mäßigt Euch in Euern Absichten und Forderungen. Nehmt das an, was wir Euch durch Judith anbieten ließen, sonst bekommt Ihr gar nichts! Mein Sohn hat das Geld so gut verborgen, daß Ihr es unmöglich finden könnt. Und niemand weiß den Ort, als nur er.“
„Und Ihr!“
„Ja, ich!“
„Und Judith!“
„Ich glaube nicht, daß er ihr es gesagt hat. So etwas ist nichts für Weiber.“
„Oh, die Liebe ist mitteilsam!“
„Das ist Nebensache. Die Hauptsache ist, daß Ihr nichts finden werdet. Was habt Ihr davon, wenn Ihr uns fangt und der Polizei ausliefert und doch nichts bekommt.“
„Das wäre freilich nicht sehr tröstlich.“
„Also! Habt Verstand! Laßt uns los, und nehmt Geld an! Ihr habt die Wahl. Entweder habt Ihr uns, aber kein Geld, oder Ihr gebt uns frei und bekommt Geld.“
„Wieviel?“
„Ich biete Euch das Doppelte von dem, was wir Euch durch Judith bieten ließen.“
„Dann bekommt der Erbe nur einen Pappenstiel, und Ihr habt immer noch Millionen und die Freiheit dazu. Das ist denn doch ein schlechter Handel. Und meint Ihr etwa, daß ich Euch der Polizei übergebe? Ich werde mich hüten, Euch so lange und so weit mit mir herumzuschleppen!“
„Was wollt Ihr denn tun!“
„Euch einfach eine Kugel geben.“
„Sir, das wäre Mord!“
„Nein, sondern nur gerechte Strafe. Ihr habt noch mehr verdient. Denkt an Eure Taten! In Fort Uintah habt Ihr einen Offizier und zwei Soldaten ermordet, in Fort Edward den Schließer, drüben in Tunis den echten Small Hunter. Wie oft habt Ihr dann mir nach dem Leben getrachtet! Ich habe das volle Recht, Euch den Garaus zu machen. Und Euer Sohn hat nichts Besseres verdient. Dabei habe ich den Brudermord noch ganz vergessen. Ihr seid ein Scheusal, und der Mensch, der Euch vernichtet wie ein wildes Tier, verdient einen Gotteslohn.“
„Was hilft Euch der Lohn, wenn er nicht in Geld besteht!“
„Es gibt noch andere, bessere Reichtümer als Geld; nur habt Ihr keine Ahnung davon. Ihr seid mir so oft zum Schaden anderer Menschen entkommen; jetzt habe ich Euch fest, und Ihr werdet die Freiheit nicht wiedersehen. Wir werden über Euch beraten. Sehr wahrscheinlich wird mit dem kommenden Morgen Euer letzter Tag anbrechen.“
„Das werdet Ihr unterbleiben lassen, denn Ihr seid nicht meine Richter!“
„Wir sind es. Wir befinden uns im Wilden Westen und handeln nach den Gesetzen desselben. Selbst wenn wir früheres gar nicht erwähnen wollen, so habt Ihr uns in letzter Nacht überfallen und uns dann am Tag einen Hinterhalt gestellt. Das ging uns ans Leben. Leben gegen Leben, so heißt das Gesetz der Prärie!“
„Nehmt doch Verstand an, Sir! Wir wollen teilen.“
„Nein. Wir wollen alles!“
„Das bekommt Ihr nicht. Ich habe mein letztes Gebot getan. Ihr bekommt entweder die Hälfte oder nichts!“
„Wir bekommen mehr!“
„Nichts bekommt Ihr, gar nichts!“ schrie er wütend. „Ermordet uns; tötet uns; es ist mir nun egal! Ich werde mit dem frohen Gedanken sterben, daß Ihr dann arme Teufel seid und bleibt, denn das Geld werdet Ihr niemals, niemals, niemals finden.“
Das dreifache Niemals brüllte er förmlich heraus. Ich antwortete um so ruhiger:
„Ereifert Euch nicht! In Beziehung auf das Geld irrt Ihr Euch. Ich weiß, was ich weiß. Die Ledertasche, in welcher Euer Sohn das seinige stecken hat, kenn eich.“
„Leder –?“ fragte er atemlos. „Habt Ihr sie gesehen?“
Er sah mich dabei an, als ob sein Leben von meiner Antwort abhängig sei. „Gesehen? Pshaw! Was nützt es mir, wenn ich sie nur gesehen hätte!“
„Sir, Master, Mensch, Ihr habt sie vielleicht schon?!“
„Hm! Das ist die Tasche Eures Sohnes; die geht Euch nichts an. Aber Ihr habt auch Geld, Euern Anteil und den Eures Bruders, den Ihr ihm abgenommen habt.“
„Ja, das habe ich, das habe ich!“ brüllt er außer sich. „Aber das werdet Ihr nicht bekommen. Wenn Euch der Teufel Jonathans Geld in die Hand gespielt hat, so sagt eben dem Teufel Euren Dank dafür; mein Geld aber, meins, das meinige, davon werdet Ihr Eure Hände lassen!“
„Oh, ich brauche sie nur danach auszustrecken!“
Ich legte bei dem Wort meine beiden Zeigefinger auf seine Füße. Er zuckte zusammen und fragte, indem ihm die Augen aus den Höhlen treten zu wollen schienen:
„Hierher? Meint Ihr, daß ich so dumm gewesen bin, es in den Strümpfen zu verstecken und mir dadurch eine Schar von Hühneraugen zu holen?“
„In die Strümpfe nicht, aber in die Stiefel.“
Er schluckte und brachte dann mühsam hervor:
„In die Stiefel? Zieht sie mir doch einmal aus, und schaut hinein! Ihr könnt sie solange ausschütten und ausschütteln, wie Euch beliebt; es fällt kein elender Cent heraus!“
„Das hat seinen guten Grund, weil das Geld nicht in den Stiefeln, sondern zwischen den Doppelschäften steckt.“
Da fiel sein Kopf weit nach hinten; er schloß die Augen und wiederholte mit ersterbender Stimme:
„Zwischen – den – – Doppel – – Schäften –!“
Dann aber bäumte er sich unter seinen Fesseln zwischen den Tischbeinen empor und brüllte, indem sein Gesicht sich blaurot färbte:
„Wage es, meine Füße anzurühren, elender Hund, wage es! Ich zersprenge meine Banden und reiße euch, dich und deinen roten Halunken von Winnetou, in tausend Stücke!“
„Elender Wurm! Deine Drohung ist verrückt! Wir werden dir das Geld noch lassen, natürlich nur so lange, wie es uns beliebt. Jetzt binden wir dich los; du wirst mit uns gehen.“
„Wohin?“ fragte er bedeutend ruhiger, da wir ihm die Stiefel nicht auszogen.
„Das wirst du sehen. Aber sei gehorsam, und verhalte dich ruhig, sonst hast du auch nicht die allergeringste Schonung von uns zu erwarten!“
Wir banden ihn vom Tisch los und gaben ihm die Füße frei. Er mußte mit aus dem Loch klettern, dann auf die nächste Terrasse hinunter und in die Wohnung der Jüdin steigen. Dort banden wir ihm die Beine und Füße wieder fest zusammen und legten ihn in den Raum, welcher an denjenigen stieß, der unter dem Loch lag. Es war finster in demselben. Judith befand sich, von Emery bewacht, drei Räume davon entfernt.
Ich ging zu ihr. Sie saß auf einem Stuhl, drehte Emery den Rücken zu und tat, als ob sie mein Kommen gar nicht bemerke.
„Soll ich dich bald ablösen lassen?“ fragte ich den Englishman, indem ich die Augen schloß, den Kopf auf die Seite neigte und die Hand an denselben legte.
Das war die Pantomime des Schlafens. Emery verstand mich sofort und antwortete:
„Ich bin freilich müde; ich muß ein wenig schlafen.“
„Ja, wer soll dich ablösen? Ich habe zu tun; Winnetou ist ebenso beschäftigt, und Vogel möchte ich einen so wichtigen Posten nicht anvertrauen.“
„Wichtig? Er wird doch wohl auf ein Frauenzimmer aufpassen können!“
„Das könnte er; aber ich habe noch einen anderen Gefangenen gebracht, den älteren Melton.“
Da fuhr Judith mit einem schnellen Ruck herum und sagte:
„Ich denke, der ist Ihnen entkommen? Sie sagten es doch vorhin!“
„Er ist uns doch noch in die Hände gefallen.“
„Sie sind ein Teufel, wirklich ein Teufel! Was werden Sie mit ihm tun?“
„Zunächst nehmen wir ihm die Stiefel, um einmal in die Doppelschäfte zu blicken. Sie sehen, Señora, daß Ihre Freude vorhin eine sehr verfrühte und Ihr Hohn ein sehr schlecht angebrachter war!“
„Hätte ich doch geschwiegen! Hätte ich doch nichts gesagt! Nun ist das viele Geld verloren, und ich habe sogar geplaudert, ohne dazu veranlaßt oder aufgefordert worden zu sein!“
„Sie irren sich. Sie sind von mir veranlaßt worden.“
„Ich wüßte nicht!“
„O doch! Ich will aufrichtig sein und Ihnen sagen, daß der alte Melton sogleich, als wir kamen, in unsere Hände fiel, noch ehe Sie wußten, daß wir hier waren. Wir überrumpelten ihn in seiner Wohnung und fesselten ihn. Geld hatte er, das war sicher. Wir hätten nun gar zu gern gewußt, wo es steckte, und das konnten wir am leichtesten von Ihnen erfahren.“
Da stand sie vom Stuhl auf, kam einen Schritt näher und fragte erregt:
„So haben Sie mich getäuscht?“
„Allerdings. Ich sagte Ihnen, daß er uns entkommen sei, und machte dazu ein möglichst enttäuschtes Gesicht. Sie gerieten, wie ich erwartet hatte, in helles Entzücken; ich schob mit noch einigen Redensarten nach; Sie fühlten sich erhaben über uns und platzten voller Hohn mit seinen Stiefelschäften heraus. Ich hatte meine Absicht also auf die glanzvollste Weise erreicht.“
Sie stand einige Sekunden wie in tiefster Verlegenheit; dann fuhr sie plötzlich auf mich los, krallte mir mit den zehn gekrümmten Fingern vor dem Gesicht herum und schrie in giftigem Ton:
„Lügner, Schwindler, Ungeheuer! So also betrügen Sie die Menschen! Sie verbergen unter dem ehrlichsten Gesicht, welches man sich denken kann, eine Hinterlist, eine Heimtücke, die gar nicht zu beschreiben ist! Ich möchte Ihnen das Gesicht zerkratzen.“
Sie machte die Hände abwechselnd auf und zu, und zeigte dabei ein verzücktes Gesicht, um anzudeuten, welche außerordentliche Wonne es ihr gewähren würde, wenn es ihr möglich wäre, ihre Drohung mit dem Zerkratzen in die Wirklichkeit zu übersetzen. Ich lächelte ihr ruhig entgegen und antwortete:
„Ich brauche nur zu wollen, so begehen Sie eine noch viel größere Dummheit als die war, von welcher wir sprachen.“
„Nein, nie, niemals!“ beteuerte sie zornig. „Die Freude, von Ihnen überlistet worden zu sein, mache ich Ihnen gewiß nicht wieder! So durchtrieben wie Sie bin ich auch! Denken Sie denn, ich wisse nicht, was Sie wieder vorhaben? Sie wollen wieder irgend etwas aus mir herauslocken, und haben mir zu diesem Zweck eine großartige Lüge gesagt!“
„Eine Lüge? Darf ich erfahren, welche Lüge?“
„Die, daß Sie den alten Melton gefangen haben!“
Die Antwort war gerade diejenige, welche ich haben wollte. Sie ahnte nicht, daß sie jetzt von mir auf ein Eis geführt wurde, welches gar nicht glatter und gefährlicher sein konnte. Sie befand sich auf dem besten Weg, die zweite und noch größere Dummheit, welche ich ihr vorhergesagt hatte, zu machen.
„Das soll eine Lüge sein?“ meinte ich. „Ich möchte wissen, welchen Zweck ich mit dieser Unwahrheit verfolgen könnte!“
„Sie wissen es, und ich weiß es auch. Oder können Sie mir beweisen, daß Sie mir die Wahrheit gesagt haben?“
„Ja.“
„Wo befindet sich Melton? Zeigen Sie mir ihn doch!“
„Ich kann ihn nicht bringen; er ist gefesselt.“
„Leere Ausrede! Ich kann doch zu ihm gehen. Das werden Sie mir aber natürlich nicht erlauben!“
„Warum nicht? Von Herzen gern!“
„So kommen Sie!“
„Ja, kommen Sie!“
Ich nahm die Lampe und ging mit ihr hinaus, nach der Stube, in welcher er lag. Als sie ihn erblickte, rief sie erschrocken aus:
„Es ist wahr, wirklich wahr! Señor, Señor, wie konnten Sie sich fangen lassen!“
„Sind Sie denn nicht auch gefangen?“ fragte er zornig.
„Das ist etwas anderes! Sie sind ein Mann; Sie hatten Ihre Waffen; ich aber bin –“
„Still!“ unterbrach ich sie. „Ich habe Ihren Wunsch erfüllt und Ihnen den Gefangenen gezeigt; aber ich kann nicht dulden, daß Sie mit ihm sprechen. Er bleibt bis früh hier liegen. Wenn es hell geworden ist, werden wir uns den Spaß machen, seine Stiefel einer kleinen Besichtigung zu unterwerfen. Kommen Sie jetzt!“
Ich drehte mich um und ging mit aller Absicht ihr voran. Ich gab mir dabei den Anschein der größten Unbefangenheit, bemerkte aber doch, daß sie ihm hinter mir ein Zeichen gab. Dieses Zeichen konnte natürlich nichts anderes bedeuten, als daß sie, wenn es möglich zu machen sei, zu ihm kommen wolle. Sie dazu zu verführen, war eben meine Absicht. Ich wollte von ihr erfahren, wohin Jonathan geflohen war, und das sagte sie dem Alten ganz gewiß, wenn sie zu ihm gelangen konnte.
„Nun, halten Sie mich noch immer für einen Lügner?“ fragte ich sie, als wir wieder in dem Zimmer angekommen waren.
„Diesmal haben Sie die Wahrheit gesagt, aber ich werde mich dennoch doppelt in acht nehmen. Mir stellen Sie keine Falle wieder!“
„Warten Sie nur! Und dich, Emery, bitte ich, ja recht aufmerksam zu sein; die beiden Gefangenen dürfen nicht zusammen kommen. Die Señora wäre wohl gar imstande, dem Alten zur Flucht zu verhelfen. Nach zwei Stunden komme ich, um dich abzulösen; eher ist es mir nicht möglich.“
„Well, werde meine Pflicht tun, obgleich ich verteufelt müde bin.“
Ich gab ihm einen Wink und ging; infolgedessen begleitete er mich hinaus bis zum Eingang. Dort fragte er leise:
„Was ist's mit dem Schlafen? Weshalb soll ich müde sein?“
„Ich will haben, daß sie zu dem Alten geht. Sprich jetzt vielleicht zehn Minuten möglichst laut mit ihr, damit sie nicht hört, was hier vorn vorgeht; dann schläfst du scheinbar ein, und wachst nicht eher auf, als bis ich wiederkomme!“
„Und wenn sie fortgeht?“
„So hinderst du sie nicht.“
„Aber sie macht den Alten dann vielleicht wirklich los?“
„Nein; ich schaffe ihn fort und lege mich an seiner Stelle hin.“
„Uff, würde Winnetou sagen! Famoser Gedanke! Bin außerordentlich neugierig, wie der Streich enden wird.“
Er kehrte zu der Jüdin zurück, und ich holte Winnetou, welcher sich inzwischen nach oben entfernt hatte, wieder herab. Wir verbanden dem alten Melton wieder den Mund und die Nase, und schafften ihn hinüber in die linke Abteilung der Etage; dann mußte Winnetou mich genauso binden, wie Melton gefesselt war und mich an dessen Stelle legen. Er hatte mir den Gürtel abgenommen, und auch in Beziehung auf den Anzug und sonst hatten wir die möglichste Ähnlichkeit hergestellt.
Als der Apache darauf wieder nach oben gestiegen war, wartete ich mit großer Spannung auf das Ergebnis dieser Veranstaltung. Von ihrem Kommen war ich vollständig überzeugt; ob sie mir aber das sagen würde, was ich wissen wollte, das war höchst ungewiß.
Ich hörte sie mit Emery sprechen; nach einiger Zeit verstummte das Gespräch. Nun verging eine Viertelstunde und noch eine, sogar noch eine dritte; dann fühlte ich ein leises Wehen wie von Frauenkleidern; sie kam. Eine Hand tastete nach mir und traf mich an das Bein. Ich zuckte mit demselben wie einer, welcher erschrickt; da hörte ich eine leise Stimme warnend sagen:
„Still, ganz still, Señor Melton! Ich bin es!“
„Wer?“ flüsterte ich ebenso leise. Im Flüstern klingen tausend Stimmen gleich.
„Ich, Judith! Wollen Sie fort?“
„Wetter! Wenn ich könnte!“
„Sie können, denn ich helfe Ihnen. Haben Sie vorhin meinen Wink bemerkt?“
„Ja.“
„Shatterhand ist ein alberner Wicht, dem ich mit wahrer Freude diesen Streich spiele. Ich habe mir vorhin Ihre Fesseln angesehen. Heben Sie die Hände auf; ich habe ein Messer mit.“
Ich folgte der Aufforderung; sie durchschnitt die Armfessel und dann auch die an den Füßen; ich richtete mich in sitzende Stellung auf, und verursachte dabei mit Absicht einiges Geräusch. Sie sollte mich zur Vorsicht mahnen, damit ihr dann meine kurzen Antworten nicht auffallen könnten. Viele Worte durfte ich nicht machen, weil sie mich sonst wohl gar erkennen konnte.
„Leise, leise!“ warnte sie. „Sonst wacht mein Wächter auf!“
„Wächter?“ fragte ich.
„Ja. Er ist eingeschlafen, ein Glück für Sie, denn morgen will man Ihnen Ihr Geld nehmen, und mit Ihrer Freiheit und Ihrem Leben steht es ebenso schlimm. Sie müssen fort zu Jonathan.“
„Wo ist er?“
„Auch entflohen. Ich habe ihm fortgeholfen. Er geht hinauf zu den Mogollon-Indianern, deren Häuptling Bitsil-Iltscheh (‚Starker Wind‘) heißt. Er war ein Freund meines Mannes und wird Jonathan gern bei sich aufnehmen und ihm allen Schutz gewähren. Wenn Sie nachfolgen und dem Häuptling sagen, daß ich Sie schicke, werden Sie dieselbe Aufnahme finden. Ich komme später nach.“
„Wann?“
„Wenn die vier Menschen fort sind, welche sich hier wie die Herren der ganzen Welt gebärden. Ich muß bleiben, um zu erfahren, was sie dann tun, und wohin sie sich wenden. Dann komme ich nach und werde Jonathan am Klekie-Tse (‚Weißer Felsen‘) treffen, wo er mich erwartet. Nun machen Sie sich fort, doch hüten Sie sich, daß Sie nicht erwischt werden. Hier ist das Messer, nur ein Tischmesser, aber Sie haben ja keine andere Waffe!“
Sie entfernte sich. Ich wartete noch eine Weile und stand dann auf, um auf die Terrasse zu steigen. Dort saß Winnetou. Ich fragte ihn:
„Kennt mein Bruder Bitsil-Iltscheh, den Häuptling der Mogollon Indianer.“
„Ja“, antwortete er. „Er ist ein tapferer Krieger und hat noch nie sein Wort gebrochen.“
„Gibt es in seinem Gebiet einen Ort, welcher Klekie-Tse genannt wird?“
„Ja; ich kenne ihn. Warum fragt mein Bruder nach dem Häuptling und nach diesem Ort?“
„Weil Jonathan Melton dorthin ist.“
„Uff! Woher weiß das Old Shatterhand?“
Ich erzählte es ihm. Da meinte er, leise vor sich hinlachend:
„Mein Bruder ist nicht nur klug wie ein Fuchs, sondern sogar klüger wie eine Squaw, was Winnetou nicht von sich sagen kann. Wir werden nach dem ‚Weißen Felsen‘ reiten.“
Als die gegen Emery erwähnten zwei Stunden vergangen waren, stieg ich hinab, scheinbar, um ihn abzulösen. Er saß auf einem Stuhl, hielt den Kopf gesenkt und stellte sich schlafend. Judith saß auf einem zweiten Stuhl; ihr Blick traf herausfordernd und triumphierend den meinigen.
„Ah, was ist denn das!“ rief ich aus. „Ich glaube gar, du schläfst!“
Er tat, als ob er erwache, zog eine verlegene Miene und antwortete:
„Ah, wirklich! Ich war doch eingeschlafen, aber das kann nur einige Minuten gewesen sein.“
„Einige Minuten?“ lachte Judith. „Señor, Sie haben fast zwei Stunden lang in einem Atem geschlafen.“
„Was haben Sie denn getan, während Sir Emery schlief?“ fragte ich.
„Verschiedenes. Ich bin sogar ein wenig durch die Räume gegangen.“
„Waren Sie etwa auch bei Melton?“
„Natürlich! Ich kann Ihnen sogar sagen, daß Sie sein Gefängnis leer finden werden.“
„Leer? Sind Sie bei Sinnen?“
„Sogar sehr. Er ist seinem Sohn nach.“
„Da muß ich doch gleich – –“
Ich stellte mich höchst aufgeregt, nahm die Lampe und rannte hinaus; sie kam rasch hinterher, um sich an meinem Ärger zu weiden; Emery aber folgte überaus gemächlich nach. Ich war natürlich wütend, als ich die zerschnittenen Fesseln sah.
„Es hat ihm jemand geholfen!“ rief ich aus. „Er selbst konnte sich unmöglich selbst die Fesseln zerschneiden. Wüßte ich, wer – ah, Señora, ich glaube, Sie wissen am besten, wer es gewesen ist!“
„Meinen Sie?“ fragte sie mit lächelnder Überlegenheit. „Nun, ich will aufrichtig sein und nicht leugnen. Ja, ich war es, Señor.“
„Sie, Sie haben ihn befreit! Sie haben das gewagt?“
„Ja, ich, kein anderer Mensch! Jetzt sehen Sie wohl, wer Dummheiten macht, ich oder Sie! Wo ist nun die zweite, noch größere Dummheit, welche Sie so zuversichtlich von mir erwarteten? Erfüllen Sie mir doch Ihr Versprechen, mir zu sagen, wo Jonathan Melton zu finden ist! Ja, ja –“ und dabei lachte sie aus vollem Hals – „so ein Gesicht wie das Ihrige, ist das Ideal der Albernheit. Gehen Sie hin, und bessern Sie sich, Señor!“
„Hm, ja, ich will hingehen; aber bitte, gehen Sie mit, Señora, damit Sie sehen, wie ich mich bessere!“
„Das sei Ihnen gewährt. Schreiten Sie gefälligst voran!“
Es war kein Zweifel, sie fühlte sich als Siegerin, als mir weit überlegen. Ich führte sie hinüber nach der Stube, in welche wir Melton geschafft hatten. Emery kam hinter uns her, einen ganz unbeschreiblichen Ausdruck im Gesicht. Als wir beim Vorhang angekommen waren, sagte sie:
„Also hier wollen Sie mir Ihre Besserung zeigen? Na, so öffnen Sie!“
„Ja, Señora, meine Besserung, und zu gleicher Zeit aber auch die zweite Dummheit, welche ich Ihnen prophezeit habe. Da sehen Sie sie liegen!“
Ich schob die Vorhänge auseinander. Sie trat ein, warf einen Blick in den Raum, fuhr zurück und schrie:
„Melton! Da liegt ja Melton!“
Ihr Auge irrte ratlos zwischen ihm und mir hin und her.
„Ja, Melton“, antwortete ich. „Ganz natürlich! Wen haben Sie denn zu sehen erwartet?“
„Melton, Melton!“ wiederholte sie. „Das ist doch unmöglich! Das ist Zauberei! Darf ich mit ihm sprechen, Señor?“
„Nein. Folgen Sie mir wieder in Ihre Wohnung hinüber.“
Drüben angekommen, warf sie sich auf einen Stuhl und sah mich fragend an. Das überlegene Gesicht von vorhin war verschwunden.
„Ich pflege Wort zu halten, Señora“, begann ich. „Ich wollte Ihnen sagen, wohin Jonathan Melton geflohen ist. Er befindet sich unterwegs zu dem ‚Starken Wind‘, dem Häuptling der Mogollon-Indianer. Später wollen Sie ihm folgen, um ihn am ‚Weißen Felsen‘ zu treffen. Ist es so richtig oder nicht?“
Da sprang sie von dem Stuhl auf und fragte:
„Wer hat das verraten? Wer hat Ihnen das gesagt?“
„Sie selbst sind es, die es mir gesagt hat.“
„Ich – ich –?“
„Ja. Erinnern Sie sich gefälligst Ihrer Worte: ‚Dieser Shatterhand ist ein alberner Wicht, dem ich mit wahrer Freude diesen Streich spiele!‘ Mir ist es außerordentlich lieb, daß Sie sich eine solche Freude bereitet und mir einen solchen Streich gespielt haben. Ich wünsche, mir würden stets so schlimme Streiche gespielt!“
Sie sah mich ganz fassungslos an und stotterte schließlich:
„Ich – ich – ich verstehe Sie nicht!“
„So muß ich Ihnen zu Hilfe kommen. Wissen Sie, wem Sie die Fesseln zerschnitten haben?“
„Doch Melton?“
„Nein. Sie haben ihn ja soeben gefesselt drüben liegen sehen. Sie sind so gütig gewesen, mich, verstehen Sie wohl, mich aus der Gefangenschaft zu befreien.“
„Sie – Sie –?“
„Ja. Und nun kommt die Dummheit, die Sie nie wieder begehen wollten. Jonathan Melton ist fort, der Haupttäter, mit dem ganzen Geld. Sie wissen, wohin er ist, und ich mußte es erfahren. Ich brachte Ihnen also seinen Vater, schaffte ihn aber gleich wieder fort, ließ mich binden und legte mich an seine Stelle. Daß Sie kommen würden, wußte ich, denn ich hatte gesehen, daß Sie ihm einen Wink gaben. Sir Emery mußte sich schlafend stellen. Sie schlichen sich fort, kamen zu mir, schnitten meine Fesseln entzwei und hatten die zarte Aufmerksamkeit für mich, mir alles zu sagen, was ich wissen wollte. Jetzt wissen Sie hoffentlich, warum vorhin mein Gesicht immer dümmer geworden ist. Sie tun mir leid, und es ist keineswegs angenehm, einer Dame solche Dinge sagen zu müssen. Wir wollen also davon abbrechen, und ich schließe nur die Bemerkung daran, daß ich Sie binden lassen muß, weil Ihnen sonst wohl gar der Gedanke kommen könnte, den wirklichen Melton wirklich zu befreien.“
„Binden, mich binden? Das dulde ich auf keinen Fall!“ rief sie aus. „Wollen Sie sich der ungeheueren Roheit schuldig machen, sich an einer Dame zu vergreifen und ihr Fesseln anzulegen? Zuzutrauen ist es Ihnen freilich!“
„Regen Sie sich nicht auf. Ihr Verhältnis zu Jonathan verstößt gegen die Strafgesetze. Sie wissen, daß er ein Gauner, ein Mörder ist, und leisten ihm doch Vorschub; Sie wollen an dem Genuß seiner Beute teilnehmen; das macht Sie zu seiner Mitschuldigen. Ich habe es also gar nicht mit einer Dame, sondern mit einer Gaunerin zu tun, und wenn ich diese verhindere, uns noch weiteren Schaden zu tun, so ist das kein Akt der Roheit, sondern eine wohlberechtigte Maßregel, die ich nicht umgehen kann, und welche Sie sich selbst zuzuschreiben haben.“
„Aber ich kann Ihnen doch nicht mehr schaden!“
„O doch! Ich könnte sie allerdings unschädlich machen, ohne daß ich Sie fessele, und ich bin auch bereit dazu, aber nur unter der Bedingung, daß Sie mir einige Fragen der Wahrheit gemäß beantworten.“
„Gut; fragen Sie!“
„Vorher mache ich Sie darauf aufmerksam, daß es Ihnen nicht gelingen wird, mich zu täuschen. Ich werde es bemerken, wenn Sie lügen, und dann, das sage ich Ihnen, haben Sie doppelte Strenge zu erwarten.“
„Ich werde aufrichtig sein.“
„Das hoffe ich um Ihretwillen. Also sagen Sie, ob Melton ein Pferd hat!“
„Er hat eines aus dem Haus, wo Sie eine Nacht zugebracht haben.“
„Ist Melton bewaffnet?“
„Er hat Gewehr, Messer und Revolver mitgenommen.“
„Aber er ist, soviel ich weiß, noch nie in dieser Gegend gewesen. Wird er den Weg zu den Mogollon-Indianern finden?“
„Ja. Er braucht nur dem Flujo blanco aufwärts zu folgen und sich dann nach der Sierra Bianca zu wenden, deren Berge er vor sich liegen sieht; da trifft er ganz gewiß auf sie.“
„Und wo liegt der ‚Weiße Felsen‘, an welchem Sie mit Jonathan Melton zusammentreffen wollen?“
„Auch in der Sierra Bianca.“
„Wie ist Melton denn eigentlich auf den Gedanken gekommen, zu den Mogollons zu fliehen?“
„Ich habe es ihm gesagt und ihm auch den Felsen als Stelldichein vorgeschlagen. Aufrichtiger könnte ich gar nicht sein!“
„O doch!“
„Wieso? Ich weiß, daß Sie ihn verfolgen werden und habe Ihnen dennoch gesagt, wohin er geht und wo er auf mich wartet. Ich bringe ihn also in die Gefahr, von Ihnen festgenommen zu werden. Können Sie von mir mehr verlangen?“
„Ja. Ich habe bereits mehr von Ihnen verlangt. Ich habe die Wahrheit verlangt und Sie haben mich belogen.“
„Das ist nicht wahr! Es ist wahr, daß er zu den Mogollons ist und am ‚Weißen Felsen‘ auf mich warten wird!“
„Ja, das ist wahr. Das konnten Sie weder leugnen noch verschweigen, weil Sie es mir schon gesagt haben, als Sie meine Fesseln zerschnitten und mich für den alten Melton hielten. Daß Sie diese Aussage notgedrungen wiederholt haben, dürfen Sie sich nicht als Verdienst anrechnen. Aber Ihre Angaben, wo die Mogollons wohnen und wo der ‚Weiße Felsen‘ zu suchen ist, waren falsch.“
„Nein; sie sind richtig!“
„Pah! Sie täuschen mich nicht! Sie haben mir sagen müssen, wohin Melton geht, mir aber eine falsche Richtung, gerade die entgegengesetzte, angegeben, damit wir Zeit verlieren sollen und er welche gewinne, um uns zu entkommen. Auf und an der Sierra Bianca wohnen die Nijora-Apachen, zu denen wir kommen würden, wenn wir den von Ihnen eingeschlagenen Weg einschlügen, uns also vom Flujo blanco aus ostwärts wendeten. Wir müssen im Gegenteil westlich gehen, dann kommen wir an die Mogollonberge, von welchen die Indianer, zu denen Melton will, ihren Namen haben. Sie sehen, daß ich mich nicht täuschen lasse.“
„Wenn Sie recht haben, Señor, dann bin ich selbst falsch unterrichtet!“
„Lügen Sie nicht weiter! Sie wollen uns irreführen, haben also meine Warnung nicht beachtet und werden nun gefesselt.“
„Das werden Sie nicht tun!“ schrie sie auf. „Ich dulde es nicht!“
Da sagte Emery:
„Was machst du nur so viele Worte mit ihr! Dort hängen Riemen. Komm, binde sie!“
Er trat mit einem raschen Schritt hinter sie, ergriff ihre Arme und drückte ihr die Ellbogen auf dem Rücken zusammen. Sie war über diese schnelle Handlungsweise so verblüfft, daß es ihr gar nicht beikam, sich zu wehren. Ich schlang ihr einen Riemen um die Vorderarme und einen zweiten um die Fußgelenke; dann legten wir sie auf den Boden nieder. Nun war es ihr unmöglich, den alten Melton aufzusuchen und ihm irgendwelchen Beistand zu leisten, und es brauchte sich von uns niemand zu ihr zu setzen, um sie zu bewachen. Ich stieg mit Emery hinauf zu Winnetou, welcher oben saß und mir auf mein Befragen sagte, daß der ‚Weiße Felsen‘ nicht in der Sierra Bianca, sondern in den Mogollonbergen liege. Wir hatten der Jüdin also nicht unrecht getan.
Auf der Plattform warteten wir, bis der Morgen anbrach. Die Yumas ließen ihre Feuer ausgehen, kamen aber nicht herauf zu uns, sondern blieben unten sitzen. Sie betrachteten uns als Herren des Pueblo. Nun wurde der alte Melton zu uns heraufgeholt. Es verstand sich ganz von selbst, daß er kein Wort davon erfahren durfte, daß uns sein Sohn entkommen war und wohin er sich gewendet hatte. Wir wollten ihm die Stiefel ausziehen; er brüllte vor Wut darüber und stieß mit den gefesselten Beinen so um sich, daß wir ihm die Möglichkeit, diese zu bewegen, nehmen mußten. Wir legten eine Leiter auf die Terrasse und banden ihn auf derselben fest; die Oberschenkel wurden bis zu den Knien hüben und drüben festgeschnürt. Auch jetzt noch wälzte er sich mitsamt der Leiter schreiend hin und her, so daß Winnetou und Emery auf ihm knien mußten, um ihn festzuhalten; erst dann brachte ich die Stiefel herab.
Sie waren mit dünnem Leder gefüttert, und ich fühlte gleich beim ersten Antasten, daß etwas zwischen den Schäften und dem Futter steckte. Die Naht, welche das letztere an dem Oberleder festhielt, war neu; das Geld war also wohl erst vor kurzem in den Stiefeln versteckt worden. Wahrscheinlich war die Jüdin beim Nähen behilflich gewesen, und so kam es, daß sie wußte, wo Melton seinen Raub verborgen hielt.
Ich trennte mit dem Messer das Futter los. Melton schrie nicht mehr; er hatte sich darein gefunden, aber seine Augen waren mit haßglühenden Blicken auf meine Hände gerichtet. Der eine Stiefel enthielt ein dünnes Papierpaket, wie ein Kuvert geformt, der andere aber deren zwei. Ich öffnete die letzteren. Der Inhalt bestand je aus zehntausend Pfund Sterling (200.000 Mk.) in Noten der Bank von England. Dem dritten Umschlag entnahm ich fünfzehntausend Dollars (60.000 Mk.) in guten Bankpapieren.
„Master Melton, wollt Ihr uns wohl sagen, wie Ihr zu dem Geld kommt!“ forderte ich ihn auf.
„Hole Euch der Teufel!“ brüllte er mich an. „Von mir erfahrt ihr nichts.“
„Denkt das nicht! Es gibt Mittel, Euch zum Sprechen zu bringen, und da wir unbedingt wissen müssen, welcher Herkunft die Summen sind, werden wir sie in Anwendung bringen, wenn Ihr uns die Auskunft verweigert.“
„Versucht es doch!“
„Das werden wir. Ich mache Euch aber vorher darauf aufmerksam, daß es für einen früheren tunesischen Offizier gar keine Ehre ist, Prügel zu bekommen.“
„Prügel? Ihr wollt mich prügeln?“
„Ja. Also wollt Ihr uns Auskunft erteilen?“
„Nein, und wenn ihr mich totschlagt, ihr Halunken!“
„Laßt Euch doch nicht auslachen! Eigentlich brauchen wir gar keine Auskunft. Wir sind klug genug, sie uns selbst zu geben; aber die Bestätigung wollen wir von Euch hören, und wenn Ihr sie uns verweigert, so werden wir Euch die Zunge lösen.“
„Nun, wenn ihr so klug seid, so sagt es doch einmal!“
„Ihr und Euer Bruder habt je fünfzigtausend Dollars als Anteil von der ergaunerten Erbschaft bekommen; sie sind Euch von Jonathan in englischem Geld ausgezahlt worden.“
„Fünfzigtausend Dollars! Lumperei, wenn es sich um Millionen handelt! Meint Ihr, daß wir damit zufrieden gewesen wären?“
„Nein, das meine ich nicht. Ihr sollt jedenfalls noch mehr bekommen und habt, da Ihr fliehen und Euch dabei von Jonathan trennen mußtet, diese Summe einstweilen auf Abschlag erhalten.“
„Seht doch einmal, wie gescheit Ihr seid, Master Shatterhand! Wo kommen dann aber die übrigen fünfzehntausend Dollars her?“
„Die gehörten Euerm Bruder. Er hat stets Geld besessen, natürlich nur unrechtlich erworbenes. Ihr habt ihm die Fünfzehntausend mit dem anderen Geld abgenommen.“
„Da seid Ihr auf dem Holzweg. Das Geld ist mein; es hat nicht ihm gehört.“