Wer hat keinen Verdacht, wer hat keinen Zweifel gehegt in Bezug auf seinen besten Freund, wer hat sich nicht verraten und verkauft gesehen in seiner Kindheit, in der Schule findet man bereits, was einen später in der begehrten Welt erwartet, die Hindernisse und die Treulosigkeiten, das Schweigen und die Falle, den Hinterhalt; es gibt auch irgendeinen Klassenkameraden, der sagt ›Ich bin es gewesen‹, die erste Form, Verantwortung zu übernehmen, das erste Mal im Leben, dass man sich gezwungen sieht zu sagen oder hört: ›I have done the deed‹, und später, in dem Maße, wie man wächst und die Welt weniger Welt wird, weil sie sich nicht außerhalb unserer Reichweite befindet, sagt und hört man das immer weniger, die Sprache der Kindheit gibt man auf, man zieht sie zurück, weil sie zu schematisch und simpel ist, aber diese ungeschminkten und absurden Sätze, die sich damals nach Heldentaten anhörten, verlassen uns nicht ganz, sondern leben weiter in den Blicken, in den Haltungen, in den Zeichen, in den Gebärden und in den Tönen (die Ausrufe, das Unartikulierte), die auch übersetzt werden können und müssen, weil sie oft deutlich sind und wirklich etwas sagen und sich wirklich auf die Tatsachen beziehen (der hemmungslose Hass und die unvermischte Liebe), ohne die Qual eines Vielleicht und eines Womöglich, ohne die Verpackung der Worte, die nicht so sehr dazu dienen, bekannt zu machen oder zu berichten oder mitzuteilen als dazu, zu verwirren und zu verbergen und von Verantwortung zu befreien, die Sprache ebnet Dinge ein, die als Handlungen unterscheidbar sind und nicht vermischt werden können. Jemanden küssen oder töten sind vielleicht gegensätzliche Dinge, aber den Kuss erzählen und den Tod erzählen macht beides einander gleich und verbindet es, es stellt eine Analogie her und stiftet ein Symbol. Im Erwachsenenleben, das von den Worten beherrscht wird, hört man kein Ja und Nein, niemand sagt ›Ich bin es gewesen‹ oder ›Ich bin es nicht gewesen‹, aber all das wird weiterhin gesehen, fast immer ›Ich bin es nicht gewesen‹, die Heldentaten haben sich auf die Seite der Irrtümer geschlagen.

Wer hat keinen Verdacht gehegt, und bei einem Verdacht lassen sich zwei Maßnahmen ergreifen, die beide nutzlos sind, fragen und schweigen. Wenn man fragt und zwingt, dann hört man vielleicht ›Ich bin es nicht gewesen‹, und man wird auf das achten müssen, was nicht gesagt wird, auf den Ton, auf die ausweichenden Augen, auf das Vibrieren der Stimme, auf die vielleicht vorgespielte Überraschung und Empörung; und man wird die Frage nicht noch einmal stellen können. Wenn man schweigt, wird diese Frage immer unversehrt und bereit sein, obwohl die Zeit sie zuweilen unpassend und fast unaussprechlich werden lässt, buchstäblich unzeitgemäß, so als würde alles am Ende verfallen und ein Lächeln bewirken, wenn es zur vergangenen Zeit gehört, die ganze Vergangenheit erscheint verzeihlich und harmlos. Wenn man schweigt, muss man den Verdacht zerstreuen und die Frage abschaffen oder aber Ersteren nähren und Letztere mit äußerster Sorgfalt vorbereiten, es ist unmöglich, den Verdacht zu bestätigen, niemand weiß etwas von dem, was er nicht selbst erlebt hat, nicht einmal den Geständnissen kann man Glauben schenken, in der Schule sagt man ›Ich bin es gewesen‹, wenn man es nicht gewesen ist, die Menschen lügen ebenso wie sie sterben, es scheint unglaublich, aber nie kann man irgendetwas wissen. Jedenfalls glaube ich das. Deshalb ist es bisweilen besser, nicht einmal den Anfang zu kennen noch die Stimmen zu hören, die erzählen und vor denen man so wehrlos ist, die Erzähler-Stimmen, die wir alle haben und die in die ferne oder nahe Vergangenheit zurückgreifen und Geheimnisse aufdecken, die nicht mehr wichtig sind und dennoch das Leben oder die künftigen Jahre, unser Wissen von der Welt und von den Menschen beeinflussen, man kann niemandem trauen, nachdem man sie gehört hat, alles ist möglich, die größte Ruchlosigkeit und die größte Gemeinheit bei den Menschen, die wir kennen, wie bei uns selbst. Und jeder ist damit beschäftigt, unaufhörlich zu erzählen und unaufhörlich zu verbergen, während er Ersteres tut, nur das, was man nicht sagt, wird weder erzählt noch verborgen. Deshalb verwandelt sich in Geheimnis, was man nicht erzählt, und bisweilen kommt der Tag, an dem es schließlich erzählt wird.

Ich sagte nichts, ich fragte nicht und habe noch immer nicht gefragt, je mehr Zeit vergeht, umso unwahrscheinlicher und schwieriger wird es, dass ich es tue. Man lässt einen Tag vorbeigehen, ohne zu sprechen, und zwei, und eine Woche, dann akkumulieren sich unmerklich die Monate, und die Äußerung des Verdachts wird aufgeschoben, wenn dieser nicht stärker wird, vielleicht wartet man, dass auch er sich in Vergangenheit verwandelt, in etwas Verzeihliches oder Harmloses, das uns vielleicht lächeln lässt. Etliche Tage lang schaute ich aus dem Fenster, bevor ich zu Bett ging, von meinem Arbeitszimmer aus, zur Ecke, nach unten; aber Custardoy erschien dort nicht wieder in den folgenden Nächten, und das nächste Mal sah ich ihn in meiner eigenen Wohnung, oben, einen Augenblick lang. Mein Vater war gegen halb neun gekommen, um mit mir und Luisa etwas zu trinken, bevor er zu ich weiß nicht was für einem Abendessen gehen würde, zu dem Custardoy ihn einlud, und deshalb kam der Jüngere ihn abholen, als es schon kurz vor zehn war. Er setzte sich ein paar Minuten hin, trank rasch ein Bier, und ich bemerkte nichts, eine minimale, noch junge Vertrautheit zwischen Custardoy und Luisa, aber vermittelt durch meinen Vater, sie hatten sich während meiner Abwesenheit über ihn kennengelernt, er war die zwei oder drei Male dabei gewesen, das war alles, oder so schien es mir. Sehr viel mehr Vertrautheit gab es zwischen Ranz und Luisa, sie hatten sich durchaus allein und oft gesehen, mein Vater hatte sie bei ihren Einkäufen für die künstliche Wohnung begleitet, er hatte sie zum Mittag- und zum Abendessen ausgeführt, er hatte sie beraten (ein Mann mit Geschmack, ein Experte in Kunst), es war offensichtlich, dass sie einander schätzten, jeder amüsierte sich mit dem anderen. Mein Vater erzählte von Kuba bei jenem Besuch, aber das war nichts Außergewöhnliches bei ihm, mehr noch, er sprach oft von diesem Land, seine Kontakte mit ihm waren nicht spärlich gewesen, angefangen bei seiner Ehe mit den beiden Töchtern einer Mutter aus Havanna bis hin zu einigen bemerkenswerten Transaktionen, über die ich Bescheid wusste. Er war im Dezember 1958 dort gewesen, Wochen vor Batistas Sturz: da er kommen sah, was geschehen würde (und da die Besitzer es kommen sahen), hatte er den Familien, die ihre Flucht vorbereiteten, zu eiligen Preisen etliche Schmuckstücke und wertvolle Gemälde abgekauft. Einige (wenige) hatte er behalten, andere waren an Baltimore, Boston oder Malibu verkauft oder in Europa versteigert worden (die Schmuckstücke hatten vielleicht Madrider Juweliere auseinandergenommen, und irgendeines war irgendein Geschenk). Das war etwas, dessen er sich rühmte, und er beklagte, dass er nicht noch einmal einen so guten Riecher für kommende Revolutionen und das aus ihnen folgende begüterte Exil gehabt hatte. »Wenn reiche Leute das Feld räumen, wollen sie ihren Feinden nichts zurücklassen«, sagte er mit dem ewig spöttischen Lächeln seiner weiblichen Lippen. »Bevor sie ihnen etwas in die Hände fallen lassen, verbrennen oder zerstören sie es lieber, aber die Reichen wissen, dass es immer ein bisschen besser ist, zu verkaufen.« Wenn er damals in Kuba gewesen war, dann hatte er vermutlich Kontakte und vielleicht Freunde dort und war schon vorher dort gewesen, aber seine Aufenthalte auf jenem Kontinent vermischten sich miteinander, die Reisen gerieten durcheinander bei seinen Erzählungen (er selbst brachte sie wahrscheinlich durcheinander), so viele Male war er dort gewesen, um seine ehrbaren nordamerikanischen Museen und seine betrügerischen südamerikanischen Banken zu beraten, von den möglichen Reisen nach Kuba war nur die vorrevolutionäre deutlich. (Den Kindern erzählt man außerdem ohne Reihenfolge, in dem Maße, wie sie heranwachsen und sich interessieren, nach und nach und sprunghaft, und für sie nimmt sich das gesamte vergangene Leben ihrer Erzeuger im besten Falle chaotisch aus.) Wie dem auch sei, seine Freundschaften auf der Insel dürfte er mit dem Ereignis des Jahres 59 und dem vielbesungenen Ende der Privilegien verloren haben, obwohl ich mich seltsamerweise nicht daran erinnere, dass er jemals Kontakt zu kubanischen Flüchtlingen in Spanien gehabt hätte. Oder aber sie kamen nicht nach Hause, und ich wurde ihnen nicht vorgestellt. Seitdem war er nicht wieder dort gewesen, weshalb Ranz, wenn er vom jetzigen Kuba redete, es ohne Sachkenntnis tat.

Aber bei jener Gelegenheit war seine Art zu sprechen wirklich ungewöhnlich und anders, als hätte Luisas Gegenwart bereits so großes Gewicht erlangt, dass der Ton und die Gefälligkeit, die er sicher ihr gegenüber an den Tag legte, wenn er allein mit ihr war, die Oberhand gewannen über den alten, so ironischen Ton, den er immer mir gegenüber benutzt hatte, in der Kindheit ebenso wie im Erwachsenenalter. Und als Luisa einen Moment lang aus dem Zimmer ging, um zu telefonieren, änderte sich die Art, in der mein Vater berichtete und erzählte, oder besser gesagt, sie wurde unterbrochen. Als begriffe er auf einmal, dass ich da war, begann er mir Fragen über New York zu stellen, die er mir schon gleich nach der Rückkehr gestellt hatte (drei Tage danach hatten wir zusammen im ›La Ancha‹ gegessen) und deren Antworten er schon kannte oder die ihn nicht interessierten. Obwohl ich dabei war, war es Luisa, an die er sich wandte, und sobald sie zurückkehrte, nahm er seine Erzählungen mit einer Lebhaftigkeit wieder auf, die ungewöhnlich war, obwohl Ranz sein ganzes Leben lebhaft gewesen war. Vielleicht war Luisas Lachen das passende, vielleicht lachte sie in den richtigen Augenblicken (das heißt, in den von ihm beabsichtigten), vielleicht hörte sie ihm in wünschenswerter Weise zu oder formulierte die angebrachten Einschübe und Fragen, oder sie war einfach jemand, dem er sich zu erkennen geben und alles erzählen wollte, jemand Neues, dem er seine Geschichte ohne Sprünge und der Reihe nach erzählen konnte, weil sie von Anfang an interessiert war und man nicht auf ihr Heranwachsen warten musste. Mein Vater erzählte uns verschiedene, mir unbekannte Anekdoten, darunter die eines venezianischen Fälschers kleiner romanischer, in Elfenbein geschnitzter Jungfrauenstatuen, die dieser, wenn er sie mit großer Könnerschaft beendet hatte, am Büstenhalter seiner Frau befestigte, einem gewaltigen Büstenhalter; die (reichlichen) Sekrete der Brust und die (starke) Transpiration der Achselhöhlen verliehen seinen kleinen Statuen eine perfekte Patina. Oder die des Direktors einer Bank in Buenos Aires, ein Kunstliebhaber, der sich hartnäckig weigerte, ihm zu glauben, und ihm ein Werk von Custardoy dem Älteren abkaufte, das Ranz im Auftrag einer wohlhabenden geizigen Familie mitgebracht hatte, die nur eine gute Kopie eines sehr bewunderten Ingres haben wollte; als der Direktor sie vor der Übergabe ohne Rahmen im Zimmer seines Hotels sah (welches das Plaza in Buenos Aires war), verliebte er sich so sehr in sie, dass er nicht einmal hören wollte, es handle sich um eine Imitation; mein Vater erklärte ihm tausendmal die Herkunft und die Bestimmung dieses Bildes und dass das Original sich in Montauban befinde, aber der Bankier war überzeugt, dass er ihn täuschen wollte und das Meisterwerk auf nicht ganz ehrlichem Wege für andere Kunden beschafft hatte, das in Montauban müsse falsch sein. »In diesem Fall«, sagte mein Vater, hätte er ihm gesagt, außerstande, ihn zu überzeugen, »wenn Sie es mir als echt abkaufen, werden Sie mir den echten Preis zahlen müssen.« Dieser abschreckende Satz verwandelte sich für den Bankier in den Beweis dafür, dass er recht hatte. »Nie hat Custardoy mit einem einzigen Stück so viel Geld verdient«, sagte mein Vater. »Schade für uns, dass es nicht noch mehr so verblendete Bank- oder Museumsdirektoren gab. Schade, dass sie mir gewöhnlich blind vertrauten und wir das nicht als Methode benutzen konnten.« Und er fügte entzückt hinzu, während er gemeinsam mit Luisa lachte: »Ich habe nichts mehr von ihm gehört, das war mir lieber so. Ich hoffe, dass niemand diesen Bankier der Unterschlagung angeklagt hat.« Mein Vater hatte seinen Spaß, und auch Luisa hatte ihren Spaß, aber er sehr viel mehr, ich dachte, dass sie von ihm bekommen könnte, was sie wollte, und das dachte ich nicht aufs Geratewohl, sondern auch im Gedanken an das, was sie von ihm erfahren wollte und ich nicht, wie ich glaube, obwohl ich auch nicht aufhörte, daran zu denken, das heißt, ich zerstreute nicht ganz, was man vielleicht auch einen Verdacht nennen konnte, ich vermute, man kann nicht mit mehreren zugleich leben, deshalb schaltet man zuweilen einige aus – die unwahrscheinlichsten, oder vielleicht sind es die wahrscheinlichsten; die, die noch nicht Vergangenheit sind, die, aufgrund derer wir uns gezwungen sehen könnten, noch zu handeln, und die uns Angst und Mühe machen und die konkrete Zukunft verändern würden – und nährt andere: Diejenigen, die, wenn sich die Tatsachen bestätigen, unwiderruflich scheinen und nur die Vergangenheit und die abstrakte Zukunft verändern. Ich glaube, dass ich jeden Verdacht in Bezug auf Luisa ausschaltete, hingegen musste ich den noch nicht formulierten in Bezug auf meinen Vater nähren, oder es war Luisa, die es an jenem Abend, kurz bevor Custardoy klingelte, auf sich nahm, mich mit lauter Stimme daran zu erinnern, denn inmitten des Lachens und des Lächelns und der Anekdoten, die ich zum ersten Mal hörte, sagte sie in bewunderndem Ton zu Ranz, wobei sie ihn mit ›Sie‹ ansprach, wie sie es immer vorgezogen hat:

»Es wundert mich wirklich nicht, dass Sie so oft geheiratet haben, Sie sind eine unerschöpfliche Quelle von kaum glaublichen Geschichten, die gerade deshalb so unterhaltsam sind.« Und sie fügte sogleich hinzu, als wollte sie ihm Gelegenheit geben, auf den zweiten Teil zu antworten und sich nicht auf den Ersten zu beziehen, wenn er nicht wollte, auf das, was sie bisher gesagt hatte (es war ein Zeichen von Respekt): »Viele Männer denken, dass Frauen das Bedürfnis haben, sich sehr geliebt und umworben, ja verwöhnt zu fühlen, dabei geht es uns vor allem darum, unterhalten und damit daran gehindert zu werden, zu sehr an uns selbst zu denken. Das ist einer der Gründe, weshalb wir gewöhnlich Kinder wollen. Sie müssen das sehr gut wissen, sonst hätte man Sie nicht so geliebt.«

Ich fühlte mich nicht angesprochen, im Gegenteil. Ich erzählte Luisa viele kaum glaubliche Geschichten, auch wenn ich bis zu jenem Augenblick die von ›Bill‹ und Berta verschwiegen hatte, die sie sehr unterhalten hätte; aber diese Geschichte war auch meine, und deshalb verschwieg ich sie vielleicht. Die von Guillermo und Miriam hatte ich verschwiegen, bis Luisa sie erwähnte und ich erfuhr, dass sie auch ihr gehörte, und an dem Tag, an dem wir uns kennenlernten, hatte ich beim Übersetzen einige der Dinge, die die Staatenlenker gesagt hatten (vor allem der unsere), verschwiegen oder verändert, die ich als schlechte Einfälle oder ungebührlich oder tadelnswert empfunden hatte. Bei jener Gelegenheit hatte meine Zensur jedoch nicht Luisa betroffen, die so viel wie ich oder mehr verstand, beide Sprachen, sie war die ›Ko‹. Schweigen und Sprechen sind Formen, in die Zukunft einzugreifen. Ich dachte, dass die Tugend, die Luisa meinem Vater zuschrieb, auch Custardoy dem Jüngeren eigen war: Er erzählte, wenn er wollte, völlig unglaubliche Geschichten, mit denen er gewiss meinen Vater unterhielt, mir selbst hatte er in der Kindheit und Jugendzeit unzählige erzählt, und kürzlich eine über Ranz und meine Tante Teresa und eine andere Frau, mit der ich nicht verwandt bin, in gewissem Sinne über mich selbst (vielleicht war auch diese Geschichte meine; vielleicht würde Luisa ihm gern zuhören, Custardoy dem Jüngeren).

Ranz erstarrte nicht mitten im Lachen, vielmehr lachte er zu lange weiter, künstlich, als wollte er Zeit gewinnen und entscheiden, auf welchen Teil der Worte Luisas er antworten sollte und wie (oder ob auf alles oder auf nichts). Er lachte, als es nicht mehr passte, selbst das Unübersetzbare und nicht Zensierbare hat seine Dauer, und darin kann seine Bedeutung liegen.

»Man hat mich nicht so geliebt«, sagte er schließlich in einem ganz anderen Ton, als er bei ihm üblich war, so als zögerte er noch. Hätte er mir geantwortet, dann hätte er keine Sekunde gezögert oder weitergelacht (beides war ein Zeichen von Respekt, Respekt für Luisa). »Und wenn, dann habe ich es nicht verdient«, fügte er hinzu, und dieser Satz schien nicht seiner Koketterie zu entstammen: Ich kannte sie zu gut, um nicht zu erkennen, was ihr geschuldet war.

Luisa hatte den Mut, zu insistieren, wobei sie ein wenig Respekt verlor (oder womöglich war es eine Form, mich wissen zu lassen, dass ihre Erkundung im Gang war und sie nicht mit ihr aufhören würde, was ich auch denken mochte: Die Geschichte konnte ihre sein, wenn ich sie nicht übernahm, Ranz hatte begonnen, es zu sein. Vielleicht war es ein weiteres Zeichen von Respekt, Respekt mir gegenüber, dass sie mit dem Ingangsetzen gewartet hatte, bis ich dabei war, als wäre es ihr lieber, klarzustellen: ›Ab jetzt werde ich in dieser Sache nicht auf dich hören.‹).

»Aber ich habe gehört, dass Sie außer mit der Frau, die meine Schwiegermutter gewesen wäre, mit ihrer Schwester verheiratet waren. Es ist bestimmt nicht leicht, von zwei Schwestern geliebt zu werden. Und wie viele andere Frauen mögen Sie noch geliebt haben, vorher.«

Der Ton Luisas war ein scherzhafter Ton, leicht, spöttisch, wie man ihn oft gegenüber alten Menschen benutzt, wenn man sie erheitern und aufmuntern möchte, ein liebevoll-ironischer Ton, den auch Ranz gegenüber anderen und gegenüber sich selbst gebrauchte, vielleicht um sich aufzumuntern. Aber der seiner Antwort war einen Moment lang ein anderer. Er schaute mich rasch mit seinem feurigen Blick an, wie zur Bestätigung, dass die von Luisa erhaltene Information von mir stammte und keine andere sein konnte als die, die ich besaß. So musste es sein, es war nicht verwunderlich: über die anderen erzählt man sich alles auf dem Kopfkissen. Aber ich machte ihm kein Zeichen. Dann sagte er:

»Glaub ja nicht, die jüngeren Schwestern fressen oft einen Narren an dem, was die älteren haben. Ich sage nicht, dass es so war, aber an sich ist die Sache nicht verdienstvoll, eher im Gegenteil.«

»Und vorher?«, insistierte Luisa abermals, und es war offensichtlich, dass sie nicht erwartete, er würde ihr in diesem Augenblick etwas erzählen, zumindest nichts Wesentliches, Ranz stand im Begriff, zu einem Abendessen zu gehen, es schien eher, als würde sie das Terrain vorbereiten und ihm etwas für die konkrete oder unmittelbare Zukunft ankündigen. Ich war überrascht, sowohl über ihre Beharrlichkeit als auch über die Reaktion meines Vaters. Ich musste an jenen Tag denken, an dem er mich fast aus einem Restaurant geworfen hatte, weil ich versucht hatte, ihn über die Vergangenheit zu befragen (›Ich will in Ruhe und heute, nicht an einem Tag vor vierzig Jahren essen‹), eine Vergangenheit, die weniger alt war als die, nach der Luisa ihn jetzt fragte. Ranz schaute mich abermals an, als zweifelte er jetzt an mir als Informationsquelle oder wüsste nicht, ob es sie wirklich gab. Ich machte ihm kein Zeichen. Er fand zu seinem gewöhnlichen Ton zurück und antwortete mit einer übertriebenen Gebärde seiner zigarettenbewehrten Hand:

»Vorher? Vorher ist so alt, dass ich mich nicht mehr erinnern kann.«

In diesem Augenblick klingelte es, und während Luisa aufstand, um öffnen zu gehen, während sie auf die Tür zuging, um Custardoy den Jüngeren zu empfangen (›Das wird Custardoy sein‹, sagte mein Vater, während sie sich auf dem Flur entfernte, schon unseren Blicken entzogen), hatte sie noch Zeit oder war sie noch in der Stimmung, um ihm zu sagen: »Dann versuchen Sie doch mal, sich zu erinnern, ich werde Sie ein andermal fragen, und dann erzählen Sie es mir, wenn wir allein sind.«

Custardoy trank sein Bier und war eher wortkarg die kurze Zeit, die er in der Wohnung blieb, vielleicht wie ich, vielleicht wie ein Verliebter. Seine Schuhe mit den halbmetallischen Sohlen machten fast kein Geräusch, wie die von ›Bill‹ wahrscheinlich, deren weibliches Geräusch ich auf dem Marmor des Postamtes, aber nicht auf dem Asphalt von Bertas Straße gehört hatte, als er herauskam und in sein Taxi stieg, als wären auch die Schuhe einverstanden, Geheimnisse zu bewahren.

Wie viele Dinge werden nicht gesagt im Laufe eines Lebens oder einer Geschichte oder einer Erzählung, manchmal ungewollt oder absichtslos. Ich hatte nicht nur verschwiegen, was ich bereits aufgezählt habe, sondern auch und vor allem das Unbehagen und das Vorgefühl der Katastrophe, die mich seit meiner Heirat vor schon fast einem Jahr begleiteten. Jetzt haben sie sich abgeschwächt, und vielleicht verschwinden sie irgendwann, eine Zeit lang. Ich hatte sie vor Luisa verschwiegen, auch vor Berta und vor meinem Vater, natürlich bei der Arbeit, von Custardoy gar nicht zu reden. Verliebte schweigen sehr oft, selbst Vernarrte. Es schweigt, wer schon etwas hat und es verlieren kann, nicht, wer es schon verloren hat oder kurz davor steht, es zu gewinnen. Berta hatte zum Beispiel unaufhörlich von ›Bill‹ geredet oder von ›Jack‹ und von ›Nick‹, während sie für sie weder Körperlichkeit noch Gesicht besaßen noch gewonnen waren (man spricht von den Verheißungen, nicht von der Gegenwart, wohl aber von der konkreten und abstrakten Zukunft; auch von den Verlusten, wenn sie frisch sind). Aber dann schwieg sie, nach meinen vier langen Stunden Herumgestreune und Einkaufen und Furcht und Warten fand ich sie noch auf und nicht in ihrem Zimmer, im Morgenmantel. Sie war wieder allein, aber noch immer unterdrückte sie das Hinken, wie ich gleich darauf sah, das heißt, sie ließ nicht zu, dass es sich wieder einfand mit der zurückgekehrten, gewohnten Einsamkeit oder mit der Vertrautheit, die sie mir gegenüber empfand, nicht so leicht, nicht so rasch. Ich machte das Licht nicht an, das sie vor ein paar Minuten gelöscht hatte, um mir Bescheid zu geben und mir zu sagen ›Komm rauf‹, denn es war nicht nötig: Sie saß, nach hinten gelehnt, auf dem Sofa, gegenüber dem Fernseher, dessen Licht ausreichte, uns zu erleuchten, mit dem kurzen Video von ›Bill‹, das abermals lief, jetzt, da sie das Bild mit ihrer soeben entstandenen Erinnerung an ihn vervollständigen konnte, jetzt, da sie endlich wusste, was dem Dreieck des blassblauen Bademantels entsprach, oben und unten. Als ich hereinkam und nicht das Licht anmachte, wiederholte die Stimme eines Predigers oder eines gebrechlichen Sängers, die Stimme wie eine Säge auf Englisch vom Bildschirm her: ›Für euch Frauen zählt das Gesicht. Die Augen. Das sagt ihr. Für die Männer das Gesicht mit Körper. Oder der Körper mit Gesicht. Das ist so.‹ Berta hielt das Video an, als sie mich sah. Sie stand auf und gab mir einen Kuss. »Es tut mir leid«, sagte sie, »du hast lange warten müssen.« – »Das macht nichts«, sagte ich. »Ich habe Milch mitgebracht, sie war alle, ich werde sie gleich in den Kühlschrank stellen.« Ich ging zum Kühlschrank, und dort stellte ich nicht nur die Milch ab, sondern nahm alle anderen Sachen aus der Plastiktüte, die ich gekauft hatte, das japanische Buch, die Zeitung, die Musik zu Das Privatleben von Sherlock Holmes, das tue ich immer, auch wenn ich von einer Reise komme, packe ich als Erstes den Koffer aus und stelle alles an seinen Platz und den Koffer in seinen Schrank, um das Vergessen zu beschleunigen, das Vergessen der Tatsache, dass ich gereist bin, der Reise, alles soll nach Ruhe aussehen. Ich warf die Tüte in den Abfall, um das Vergessen meines Einkaufs und meiner Spaziergänge zu beschleunigen. Ich kehrte mit meiner kleinen Beute in der Hand ins Wohnzimmer zurück, Berta war nicht da, der Fernseher lief noch immer, ein Programm mit Lachmaschine, das auf das Ausschalten des Videos gefolgt war. Ich hörte sie in ihrem Schlafzimmer, vermutlich lüftete sie es, machte das Bett oder wechselte die Laken, sie hatte keine Zeit dazu gehabt durch mein rasches Eintreffen. Aber das war es nicht, zumindest nicht das Letztere, denn als sie herauskam, hatte sie die Arme nicht voller Bettwäsche, sondern die Hände in den Taschen des Morgenmantels, eines seidenen, lachsfarbenen Morgenmantels, ich glaube, mit nichts darunter, vielleicht schlief sie lieber mit dem Geruch von ›Bill‹ in den Laken, wenn man Gerüche zurückbehalten möchte, scheinen sie immer zu rasch zu verfliegen. Sie roch nicht mehr nach Trussardi, sie roch nach Guerlain, als sie an mir vorbeiging, ich sah den Flacon (die offene Schachtel) auf dem Tisch, auf den wir die Post zu legen pflegten und auf den ich meine Zeitung, mein Buch, meine CD gelegt hatte: den Flacon, bei dessen Kauf ich dabei gewesen war. Er stellte die einzige materielle Spur von ›Bill‹ in der Wohnung dar. »Wie geht’s?«, fragte ich, ich konnte nicht länger damit warten, alles war mehr oder minder in Ordnung, obwohl man immer Dinge findet, die in der Wohnung zu tun sind. »Gut. Und du? Was hast du die ganze Zeit gemacht? Du musst halb tot sein vor Müdigkeit, du Armer.« Ich erzählte ihr flüchtig mein Herumgestreune, nicht meine Befürchtungen, ich zeigte ihr meine Einkäufe, ich sagte ihr nichts von meinem Warten. Ich wusste nicht, ob ich sie mehr fragen sollte, sie schien plötzlich die Scham zu haben, die sie in den vorangehenden Wochen nicht gehabt hatte, noch am selben Abend, als sie mich um Präservative gebeten hatte (ich hatte sie im Mülleimer gesehen, zwei, als ich die Tüte wegwarf, sie wurden von ihr zugedeckt, sie würden nicht mehr sichtbar sein beim nächsten Gang zum Eimer, die Beschleunigung des Vergessens, bisweilen braucht man es nicht zu beschleunigen, die einen Dinge decken die anderen zu, genau wie beim Abfall, die herankommenden Minuten ersetzen nicht nur, sondern negieren die vergangenen). Wie weit weg war mein Abendessen mit ihren Freunden und Freundinnen, mit Julia, sie erinnerte sich nicht, sie fragte mich nicht nach ihnen, ich fühlte mich nicht veranlasst, sie zurückzuholen für die kurze Unterhaltung, die man haben kann und gewöhnlich hat, bevor man zu Bett geht, egal, wie spät es ist. Es war sehr spät, obwohl Sonnabend war, besser, wir gingen zu Bett, schliefen, vergäßen im Schlaf oder Berta hielte die Erinnerung zurück. Aber ich wollte wenigstens ein bisschen wissen, das war auch meine Geschichte, und gleichzeitig war sie es nicht (also konnte ich wissen wollen und war gerettet). Ich war stundenlang unter einem Himmel umhergegangen, der unsichtbar in den Avenues und rötlich in den Straßen war, ich hatte dreimal im Stehen auf dem Marmor von Kenmore Station gewartet, ich war hinter seinen metallischen Schritten bis zum Hotel Plaza hergegangen, ich hatte mich sehen lassen, ich hatte ein Video gedreht, ich verdiente vielleicht, etwas zu wissen, ohne zu warten, dass die Zeit verginge. »Na, erzähl doch mal«, sagte ich. »Nein, es gibt nichts zu erzählen«, sagte sie. Sie war barfuß, und dennoch hinkte sie nicht, ihr Blick war leicht verträumt, oder sie war nur schläfrig. Sie wirkte ruhig, als dächte sie ohne Eile nach und ohne dass das Nachdenken sie anstrengte. Auf ihrem Gesicht lag ein gelassenes, einfältiges Lächeln, das Lächeln von jemandem, der sich vage und mit Wohlgefallen erinnert. »Er ist doch Spanier, nicht?«, sagte ich. »Ja, er ist Spanier«, antwortete sie, »das wussten wir schon.« – »Wie heißt er? Was macht er?« – »Er heißt Bill, dieser Name passt gut zu ihm, und er hat mir nicht gesagt, was er macht. Darüber haben wir nicht gesprochen.« – »Aber erzähl mir doch ein bisschen mehr, wie ist er? War er dir sympathisch? Hat er dich enttäuscht? Hat er dir Angst gemacht? Auf dem Video war er widerlich«, und ich wies auf das Programm mit der Lachmaschine, das mit leise gestelltem Ton noch immer zu hören war. »Das weiß ich noch nicht«, antwortete Berta, »das wird davon abhängen, was jetzt passiert.« – »Habt ihr verabredet, euch weiter zu sehen?« – »Ja, ich nehme an. Es gibt die Postfächer, und er kann mich anrufen, ich habe ihm die Telefonnummer gegeben.« Berta zeigte sich einsilbig wie eine Verliebte, die nicht teilt, die verbirgt und zurückhält; sie konnte es nicht sein, das war lächerlich, vielleicht vernarrt, oder vielleicht wollte sie gerade jetzt nicht reden, da er nach vier langen Stunden Gesellschaft gegangen war, in Wirklichkeit vier plus vier, sie hatten sich um halb neun getroffen. Vielleicht wollte sie allein an das denken, was geschehen war, die Erinnerung festhalten, die seit ›Bills‹ Hinausgehen durch die Tür den langsamen Prozess ihrer Verdämmerung begonnen haben dürfte, deshalb hatte sie bestimmt das Video laufen lassen, das ich unterbrochen hatte. ›Vielleicht morgen‹, dachte ich, ›vielleicht ist sie morgen eher bereit, zu reden und mir zu erzählen, nicht, dass es mir so wichtig wäre, das ist auch wieder wahr, in Wirklichkeit ist meine Aufgabe beendet, ich musste das ernst nehmen, was sie ernst nahm, ihr helfen, zu demjenigen zu kommen, zu dem sie kommen und den sie womöglich gewinnen wollte. Das ist alles. Mein Aufenthalt hier ist ebenfalls fast zu Ende, ich werde in einer Woche abreisen und wahrscheinlich erst in einem Jahr wiederkommen, und dann wird sie mir alles erzählen, wie etwas, das der Vergangenheit angehört, etwas Verzeihliches und Harmloses, das uns zum Lächeln bringen wird und von dem wir ein wenig das Gefühl haben werden, dass nicht wir es gewesen sind, die daran teilgenommen oder es getan haben, etwas, das man vielleicht ganz erzählen kann, von Anfang bis Ende, nicht wie jetzt, da es geschieht, und man nicht weiß.‹ Aber ich wusste, dass ich nicht zu Bett gehen konnte, ohne sie noch zwei Dinge zu fragen, wenigstens zwei. »Hatte er Präservative dabei?«, sagte ich. Im Halbdunkel schien mir, als errötete Berta, sie schaute mich mit der Röte an, die ihr gefehlt hatte, als sie sie von mir erbeten hatte, auch – glaube ich, ich sah nur durch die Kamera – als ich sie gefilmt hatte. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich habe ihm keine Zeit gelassen, bevor er sie rausholen konnte, habe ich meine rausgeholt, die du mir gegeben hast. Danke.« Und das ›danke‹ war zweifellos schamrot. »Und Miriam? Konntest du ihn nach Miriam fragen?« Berta interessierte das nicht mehr, sie hatte es vergessen, sie machte eine Geste, als wollte sie sagen: ›Das ist so viele Jahre her‹, der Name Miriam war ihr vermutlich zu Beginn des Abends entfallen, bestimmt brachte sie keine Nachricht mit. »Ja«, antwortete sie, »ich habe diesen Namen erwähnt, als gehörte er einer Freundin aus Spanien. Aber es sah nicht so aus, als würde er etwas bedeuten, und ich habe nicht insistiert, du hast mir gesagt, ich sollte nicht insistieren.« Jetzt fragte sie mich nicht mehr, worum es sich handelte oder was ich vermutete oder wüsste (sie sagte nicht zu mir ›Schieß los‹ oder ›Raus damit‹ oder ›Erzähl‹), zu viele Stunden waren vergangen, die meine Einbildung oder Vorstellung ausgelöscht hatten. Sie hatte sich wieder auf dem Sofa zurückgelehnt, sie musste müde sein von der langen Nacht des Kennenlernens und davon, das Hinken barfuß zu unterdrücken. Ich sah ihre auf das Sofa hochgezogenen Füße, lange Zehen, hübsche Füße, sauber für ›Bill‹ – sie hatten den Asphalt nicht betreten –, sie machten Lust, sie zu berühren. Ich hatte sie vor sehr langer Zeit berührt (hätte ich sie daran erinnert, sie hätte die gleiche Geste gemacht: ›Das ist so lange her‹), es waren noch immer dieselben Füße, auch nach dem Unfall, wie viele Schritte mochten sie getan haben, wie viele Male mochten sie in fünfzehn Jahren berührt worden sein. Vielleicht hatte ›Bill‹ sie eben erst berührt, vielleicht nur zerstreut, während sie miteinander sprachen, nachdem sie mich auf die Straße gesetzt hatten, über was, sie hatten nicht über die sichtbare Arena gesprochen, worüber denn, vielleicht über mich, vielleicht hatte Berta ihm meine ganze Geschichte erzählt, um über etwas zu reden, auf dem Kopfkissen verrät und verkauft man die anderen, ihre größten Geheimnisse werden offenbart, und man äußert nur die Meinung, die dem Zuhörer schmeichelt und die Geringschätzung alles Übrigen beinhaltet: alles, was nicht zu diesem Territorium gehört, wird entbehrlich und zweitrangig, wenn nicht verachtenswert, es ist der Ort, an dem man am meisten den Freunden und den vergangenen und auch den gegenwärtigen Lieben abschwört, so wie Luisa mich verleugnet und herabgesetzt hätte, wenn sie mit Custardoy das Kissen geteilt hätte, ich war weit weg, in einem anderen Land jenseits des Ozeans, die Erinnerung an mich verdämmert, mein Kopf abwesend, ohne eine Spur zu lassen acht Wochen lang, sie hatte sich gewiss daran gewöhnt, diagonal zu schlafen, quer auf dem Bett, dort war niemand seit geraumer Zeit, und es ist nicht schwer, jemanden nicht wichtig zu nehmen, der nicht da ist, zumindest sprachlich, in der Erzählung, so wie es für Guillermo nicht schwer war, so lieblos von seiner kranken Frau auf einem anderen Kontinent zu sprechen, wenn man glaubt, dass niemand zuhört, im Zimmer eines Hotels in Havanna, unter dem fleischigen Mond und mit angelehnter Balkontür, davon zu sprechen, sie umzubringen oder zumindest sterben zu lassen: ›Ich lasse sie sterben‹, hatte er gesagt. ›Ich tue nichts, um ihr zu helfen. Ich treibe sie dem Tod in die Arme.‹ Und etwas später: ›Ich nehme ihr das bisschen Lebenslust, das ihr noch bleibt. Findest du das nicht genug?‹ Aber Miriam schien das nicht genug, sie wartete zu lange, und Warten ist, was am meisten zur Verzweiflung bringt und irre reden lässt und zermürbt und sagen lässt: ›Hab ich dich jetzt‹ oder ›Du gehörst mir‹ oder ›Mit mir in die Hölle‹ oder ›Ich bring dich um‹, es ist wie ein riesiges Gewebe ohne Naht noch Verzierung noch Falte, wie ein unsichtbarer oder rötlicher Himmel ohne Winkel, die ihn verdecken, ein undifferenziertes, regloses Ganzes, in dem sich keine Fäden erkennen lassen und es nur Wiederholung gibt, aber nicht die Wiederholung nach Ablauf der Zeit, die nicht nur erträglich, sondern angenehm ist, nicht nur erträglich, sondern notwendig (man kann nicht akzeptieren, dass gewisse Dinge sich nicht wiederholen werden), sondern ständige und pausenlose Wiederholung, ein endloses Rauschen oder ständiges Einebnen dessen, was kommt. Nichts ist genug, wenn darauf gewartet wird, etwas muss aufgeschlitzt werden mit der geschliffenen Klinge, oder etwas muss verbrannt werden mit der Glut oder der Flamme, nichts ist genug nach der Geringschätzung und dem Abschwören und der Verachtung, danach kann man nur den folgenden und folgerichtigen Schritt gelten lassen, die Beseitigung, die Auslöschung, den Tod dessen, der aus dem Territorium vertrieben wurde, dessen Grenzen das Kissen zieht. Der fleischige Mond, die angelehnte Balkontür, der drückende Büstenhalter, das nasse Handtuch, das heimliche Weinen im Badezimmer, das Haar oder die Falte auf der Stirn, die schlafende Frau und die Frau kurz vor dem Einschlafen, der Singsang derjenigen, die weiter wartet: ›Du musst sie umbringen‹, hatte Miriam gesagt. Und Guillermo hatte geantwortet, seiner kranken Frau jenseits des Ozeans abschwörend, überdrüssig wie eine Mutter, die irgendetwas antwortet, ohne zu überlegen, es ist leicht, mit der Sprache zu verurteilen, es macht nichts, jeder weiß, dass er nicht verantwortlich ist für das, was er sagt, obwohl das Gesetz ihn manchmal bestraft, die Zunge am Ohr, die Zunge tötet nicht, sie vollzieht die Handlung nicht, sie kann nicht: ›Ist gut, ist gut, ich werde es tun, aber jetzt streichel mich weiter.‹ Und sie hatte später insistiert, in neutralem, wenn nicht mattem Ton: ›Wenn du sie nicht umbringst, bring ich mich um. Du wirst eine Tote haben, sie oder mich.‹

»Du wirst ihm doch nicht erzählt haben, dass ich ihm gefolgt bin, oder?«, fragte ich Berta noch. »Nein, das nicht, vielleicht später, wenn es dir nichts ausmacht. Aber ich habe ihm von dir erzählt, von unseren Spekulationen und Vermutungen.« – »Und was hat er gesagt?« – »Nichts, er hat gelacht.« – »Ihr habt also über mich gesprochen.« – »Na ja, ich habe ihm ein bisschen erzählt, schließlich hatten wir dich auf die Straße gesetzt, damit er raufkommen konnte, es war logisch, dass er Neugier empfand für die Person, der er Unannehmlichkeiten bereitete.« Bertas Antwort kam mir leicht rechtfertigend vor, wo es doch keinen Grund dazu gab. Es sei denn, meine Frage hätte leicht anklagend geklungen aufgrund jenes ›also‹, das ich eingeschoben und mit dem ich sie in eine Bestätigung verwandelt hatte. Berta wollte nicht reden, sie antwortete weiter lustlos, um nicht unhöflich zu sein, oder um mich ein wenig für meine nächtlichen Wanderungen zu entschädigen. Ihr Morgenmantel hatte sich ein wenig geöffnet, ich sah ihre Brüste zur Hälfte in der Öffnung und ganz durch die Seide, dieselben Brüste, die ich nicht anschauen wollte, als ich sie filmte, sah ich jetzt mit Wohlgefallen, ein unzeitgemäßes Begehren. Sie war provokant gekleidet. Sie war eine Freundin. Ich insistierte nicht.

»Na gut, ich gehe ins Bett, es ist sehr spät«, sagte ich.

»Ja, ich gehe auch gleich«, antwortete sie. »Ich will noch ein bisschen aufräumen.«

Sie log, so wie ich später Luisa jenseits des Ozeans belügen würde, als ich noch nicht ins Bett gehen wollte, um Custardoy vom Fenster aus zu beobachten. Es war nichts aufzuräumen, es sei denn, den Flacon Eau de Guerlain auf dem Tisch, die offene Schachtel. Ich griff nach meinem Buch, meiner CD, der Zeitung, um sie in mein Zimmer mitzunehmen. Ich trug noch immer den Mantel.

»Gute Nacht«, sagte ich. »Bis morgen.«

»Bis morgen«, antwortete Berta.

Sie blieb, wo sie war, zurückgelehnt auf dem Sofa vor der Lachmaschine, müde, die Füße hochgezogen und mit offenem Morgenmantel, vielleicht mit ihren Gedanken bei der neuen konkreten Zukunft, die sie in dieser Nacht noch nicht enttäuschen konnte. Oder vielleicht dachte sie nicht. Ich ging einen Moment ins Badezimmer, und während ich mir die Zähne putzte und das Wasser aus dem Hahn die übrigen Geräusche dämpfte, schien mir, als summte sie ein wenig vor sich hin, zerstreut, mit den typischen Unterbrechungen desjenigen, der summt, ohne sich dessen gewahr zu werden, während er sich sorgfältig wäscht oder jemanden an seiner Seite streichelt, obwohl Berta sich nicht wusch (sie wollte vielleicht einen Geruch zurückhalten) und an ihrer Seite niemand mehr war. Und was sie vor sich hin summte, war in Englisch, es war: ›In dreams I walk with you. In dreams I talk to you‹, der Beginn eines bekannten, vielleicht fünfzehn Jahre alten Schlagers. Ich ging in jener Nacht nicht noch einmal durch das Wohnzimmer, ich ging direkt aus dem Badezimmer in mein Schlafzimmer. Ich zog mich aus, ich legte mich ins Bett ohne jeden Geruch, ich wusste, dass ich erst nach sehr langer Zeit würde einschlafen können, ich bereitete mich auf die Schlaflosigkeit vor. Ich hatte die Tür angelehnt gelassen, wie immer, damit Luft hereinkommen konnte (das Fenster gezwungenermaßen geschlossen in New York in den Straßen, in den niederen Stockwerken). Und dann, als ich wacher war als in jedem anderen Augenblick der ganzen Nacht und kein Laut mehr zu vernehmen war, hörte ich abermals sehr leise, wie durch die Wand hindurch, die Stimme von ›Bill‹ oder die Stimme von Guillermo, die vibrierende Stimme des Gondelsängers, die Stimme wie eine Säge, die ihre schneidenden Sätze in Englisch vom Bildschirm her wiederholte. Die Wirkung war düster. ›Das ist so. Wenn deine Titten und deine Möse und dein Bein mich überzeugen, dass es sich lohnt, das Risiko einzugehen. Wenn es dich noch interessiert. Vielleicht willst du nicht weitermachen. Du wirst denken, dass ich sehr direkt bin. Brutal. Grausam. Ich bin nicht grausam. Ich kann nicht viel Zeit verlieren. Ich kann nicht viel Zeit verlieren.‹