Kapitel 28
Nach fast zwanzig Minuten – in denen wir schweigend vor- und zurückschaukeln und aufs Meer hinausstarren – wird mir langsam unbehaglich zumute. Diese drei kleinen Worte stehen zwischen uns. Er wartet wohl immer noch darauf, dass ich sein Geständnis erwidere.
Als ich die Spannung zwischen uns kaum mehr aushalte, ergreift Erik das Wort. »Sienna hat gestern Abend die Port Street erwähnt. Ich dachte, wir könnten dort heute einen Spaziergang machen. Klingt doch ganz lustig.«
Ich nicke und bin erleichtert, dass er einfach so tut, als wäre nichts geschehen.
Die Port Street ist die Strandpromenade, ganz in der Nähe hat auch der Rummel neulich gastiert. Auf dieser Touristenmeile reihen sich Salzwasser-Toffee-Stände, Antiquitätengeschäfte und Souvenirläden aneinander. Dort kann man getrocknete Seesterne, Fläschchen mit gefärbtem Sand, Miniatursegelboote aus Holz und Drachenfiguren kaufen.
In zwanzig Minuten sind wir dort, wieder nah am Meer. Ich verstehe, dass Erik ganz normale Dinge mit mir unternehmen will. Er weiß, dass das Meer eine Versuchung für mich ist, aber er glaubt, ich könnte es eines Tages lieben, wenn ich von meinem Fluch befreit bin.
Aber es ärgert mich, dass er gar nicht darüber nachdenkt, dass ich dort auch wieder jemanden töten könnte. Warum hat er nie gefragt, was in jener Nacht mit mir und Steven passiert ist? Warum hat er nie gefragt, was für ein Mensch ich war, bevor er herkam?
Aber ich habe Erik auch nie nach seinem alten Leben gefragt oder nach seiner alten Schule. War ich die ganze Zeit über von seinem Versprechen so geblendet, dass ich ihn nie wirklich gesehen habe?
Ich versuche diese Gedanken beiseitezuschieben. Erik strengt sich wirklich an. Er liebt mich oder glaubt zumindest, es zu tun.
Ich selbst bin mir allerdings immer noch nicht klar darüber, was ich für ihn empfinde. Die letzten Wochen waren ein Märchen. Aber warum sollten Märchen nicht Wirklichkeit werden? Ihren Zauber aber entfalten sie nur in Büchern. Denn wer blickt schon unter die glatte Oberfläche einer Märchenfigur? Was wissen wir schon über Aschenputtels Liebsten, außer dass er attraktiv und ein Prinz ist?
Das alles hat mir Eriks »Ich liebe dich« heute Morgen plötzlich vor Augen geführt: dass ich meinen »Prinzen« nicht wirklich kenne.
Ich schlucke und versuche mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Ich lebe schon so lange in dieser Stadt, und trotzdem ist es Jahre her, seit ich das letzte Mal an diesem Küstenabschnitt entlanggelaufen bin. Auf der linken Straßenseite sind die Geschäfte und Restaurants. Auf der rechten Seite befindet sich der Jachthafen. Zu dieser Jahreszeit ist es etwas ruhiger, die meisten Boote liegen träge im Hafenbecken und die Wellen klatschen rhythmisch dagegen.
Erik und ich gehen Hand in Hand. Heute fühlt es sich an, als hielte er mich fester. Ich trage ein langes Strandkleid mit kurzen Ärmeln, das mir bis zu den Knöcheln reicht. Weil es eigentlich schon etwas zu kühl für Sommerkleidung ist, habe ich eine Strickjacke darübergezogen. Erik trägt Doc Martens, dunkle Jeans und einen dunkelgrünen Pullover. Der kurze Reißverschluss ist offen, sodass der breite Kragen über seinen Schultern liegt. Wir sind ein schönes Paar. Er, ein Adonis, und ich, die bezaubernde Sirene. Jedes Mal wenn er mich so fröhlich anlächelt, halte ich den Atem an – seine Augen sind ein Spiegel meiner eigenen.
Er war so lieb, hat sich meiner Clique angeschlossen und mich so oft ausgeführt. Er hat alles getan, worum ich ihn gebeten habe und nie etwas für sich verlangt. Warum nur kann ich nichts für ihn empfinden?
Wir gehen in einen Souvenirladen und er steuert gleich die Salzwasser-Toffees an. Nickend fragt er um mein Einverständnis, nimmt dann eine der durchsichtigen Plastiktüten und füllt mit einer kleinen Metallschaufel Bonbons aller Geschmacksrichtungen hinein.
Ich hätte nie gedacht, dass er Bonbons mag. Nicht mal über seine Familie weiß ich etwas, z.B. ob er Geschwister hat, ob ihm schon mal – wie mir – ein großes Leid geschehen ist. Lieben seine Eltern einander noch immer? Liebt er seine Eltern?
Ich stöbere ein bisschen herum und stoße auf einen Sanddollar, eine Art Seeigel. Er fühlt sich glatt und makellos an. Ich lasse meinen Daumen über seine Oberfläche wandern und betrachte den Stern in seiner Mitte. In dieser toten Hülle war einmal Leben.
Ich lege den Sanddollar wieder zu den anderen toten Meeresgeschöpfen: Seesterne, Muscheln, getrocknete Kugelfische und Seepferdchen. Sie kommen mir alle so entstellt vor. Am liebsten würde ich sie auf den Müll werfen oder kaufen und zum Strand bringen, um sie der See zurückzugeben und so wieder zum Leben zu erwecken.
Wenn Sirenen klein wären und es so viele von ihnen gäbe wie Seesterne, hätte man mich vielleicht auch längst getrocknet und zu den leeren Muscheln gelegt.
Erik legt einen Arm um mich und hält mir die Tüte mit den Toffees hin. Ich nicke zustimmend. Die toten Meerestiere würdigt er keines Blickes.
Trotz allem, was Erik mir gegeben hat, fühle ich mich unzufrieden und ruhelos. Bei ihm kann ich die Eiskönigin spielen, denn er erkennt nicht wie Cole mein Innerstes. Er will gar nicht wissen, wovor ich Angst habe. Es geht ihm wahrscheinlich gar nicht darum, wer ich bin. Es geht ihm darum, was ich bin.
Erik nimmt mir die Toffee-Tüte wieder ab und wir gehen hinaus. Ich stoße mit meinen Ballerinas an die Bürgersteigkante und stolpere. Er zieht mich hoch, wie immer mit einem warmen Lächeln, das sich anfühlt, als würde ich nach Stunden an Land zum ersten Mal wieder ins Wasser waten.
Bei der Eisdiele hält er die Tür für mich auf. Die ganze Zeit redet er mit mir. Seine Lippen bewegen sich und er blickt mir direkt in Augen. Da wird mir auf einmal klar, dass ich kein Wort von dem gehört habe, was er in den letzten zehn Minuten gesagt hat. Und er hat es nicht mal gemerkt.