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Deutsche Flaggen auf den Tischen. Deutsche Musik von der bayerischen Kapelle im Speisesaal. Deutscher Wein, deutsches Bier und deutsches Essen von deutschen Kellnern, die mit deutschen Passagieren deutsch sprachen. Das alles geriet ungemein, na ja, germanisch, dachte Doyle. Und die Dekoration: Preußische Banner, doppelköpfige Adler, Wappenschilde an den Wänden. Das einzige, was fehlt, ist Kaiser Wilhelm. Wenigstens waren die rechtschaffenen Bürger aus Frankfurt und München nicht eingeschnappt, als wir in unserer gutmütigen Art Vergeltung übten: Innes pflanzte einen selbstgemachten Union Jack auf den Tisch, und ich beschlagnahmte die Tuba der Kapelle und spielte meine Polka-Version von ›God Save the Queen‹.
Innes schlug mir sogar auf die Schulter, nachdem ich die Tuba entführt hatte. Schien beinahe stolz auf seinen alten Bruder zu sein. Herzerwärmend. Wenn ich es recht bedenke, war Innes eigentlich den ganzen Nachmittag über durchaus brav und erfüllte seine Aufgaben als Sekretär flott und zuverlässig. Und der Name Pinkus/Pingle wurde seit dem Abendessen nicht mehr erwähnt. Ich sollte den Jungen noch nicht ganz verloren geben. Aber wo steckt Pinkus? Er vartet ab; diese Sorte gibt nicht auf, wenn der Fuchs einmal gewittert ist. Glaubt, er hat ein Trojanisches Pferd in meinen Mauern. Das werden wir sehen; die Schlacht um Arthur Conan Doyles Privatsphäre ist eben erst eröffnet.
Der patriotische Gegenangriff der beiden Brüder erfreute das Herz der wenigen Engländer an Bord, und Doyle erkannte, daß er grundlos befürchtet hatte, die Deutschen könnten beleidigt sein. Er hatte sie immer als munteres, leutseliges Volk empfunden – wenngleich er gelegentlich den Verdacht hatte, daß einer von ihnen, wäre er auf einer einsamen Insel gestrandet, irgendwann anfangen würde, mit schlenkernden Armen hin und her zu marschieren und eine Keule zu schwingen. Aber ihr Beifall nach seiner Darbietung war ehrlich genug gewesen – ein Lächeln hatte sogar in Kapitän Hoffners Granitgesicht ein paar Risse entstehen lassen. Doyle hatte diesen Verfall der Hemmungen schon oft auf früheren Reisen bemerkt; je weiter die Menschen sich aufs Meer hinauswagten, desto weniger belastet waren sie von ihrer binnenländischen Identität.
Aber was hatte dieser unangenehme Zwischenfall vor dem Dinner zu bedeuten gehabt? Eine halb geflüsterte Konfrontation draußen vor der Brücke: Kapitän Hoffner und zwei beunruhigte junge Männer mit amerikanischem Akzent, Juden, einer von ihnen mit einem Davidstern um den Hals. Besorgnis über die Sicherheit an Bord, geäußert in hitzigem Tonfall – und wo denn ein bestimmter Gegenstand aufbewahrt werde? Ein Buch …
Der jüngere der beiden Männer – schütterer Kinnbart und aschblonder Schnäuzer – sah verwirrt aus und schien ehrlich Angst zu haben. Hoffner klang höflich, aber angespannt; er war offenkundig verärgert. Das Gespräch verstummte augenblicklich, als Doyle um die Ecke kam. Ein vieldeutiger Blick vom zweiten der Männer, dem Älteren in dieser Partnerschaft, worin sie auch immer bestehen mochte: Erkennen, aufkeimende Erwartung, Erleichterung. Hoffner nickte Doyle zu und wartete, daß er vorüberging, bevor er das Gespräch mit den beiden wieder aufnahm, ungeduldig und in dem Wunsch, dieses Problem möge verschwinden.
Doyle hielt Ausschau nach ihnen, aber die beiden Männer waren zum Essen nicht erschienen – doch, halt, da war der eine, der Ältere von beiden; er stand im Gang vor der Tür des Speisesaals auf den Zehenspitzen und schien in der sich zerstreuenden Gesellschaft nach jemandem zu suchen.
Wahrscheinlich nach mir, dachte Doyle. Aber er hatte jetzt keine Zeit, sich um den Mann zu kümmern; er kam ohnehin schon zu spät zur Abendunterhaltung.
Sophie Hills hatte das einfache, vernünftige Gesicht und die nüchtern-sachliche Art einer geliebten Kinderfrau oder einer Gemüsehändlersgattin aus der Nachbarschaft. Kurzes, ergrauendes Haar. Keinerlei Zugeständnisse an die Mode. Der Blick klar und wach, der Händedruck fest wie der eines Admirals. In der korsettlosen Kleidung einer Suffragette zeigte sie nichts von der wolkigen Affektiertheit, wie sie unter den wandelnden Toten im Gewerbe der Geisterbeschwörer so verbreitet war. Nachdem sie Doyle vorgestellt worden war, eröffnete sie die Seance händeklatschend, als handele es sich um die Sitzung des Kleingärtnervereins von Wimbledon, und nahm zielstrebig ihren Platz vor den fünf Stuhlreihen ein, die man in die Schiffsbibliothek gezwängt hatte. Das Publikum kam rasch zur Ruhe.
Kein runder Tisch, kein Händehalten, kein Kerzenlicht Miß Hills kam unmittelbar zur Sache. Neben ihr war ein Stuhl für Mrs. Saint-John reserviert, damit sie ihr zur Hand gehen konnte. Doyle setzte sich links von ihnen in die erste Reihe, umgeben von seinen Gefährten vom Kapitänstisch Weder Innes noch der amerikanische Reporter waren zu sehen; er hatte seinem Bruder nichts von der Veranstaltung erzählt, und offenbar hatte sich die Kunde davon auch auf keinem anderen Wege zu Pinkus herumgesprochen. Doyle bemerkte, daß der rothaarige irische Priester sich rechts hinter ihm niederließ. Er hatte den Mann seit ihrer ersten Begegnung auf dem Topdeck nicht mehr gesehen. Sie begrüßten einander mit höflichem Kopfnicken.
Mrs. Saint-John begann mit den üblichen vorbeugender Anmerkungen, die eine Seance einzuleiten pflegten Manchmal folgten die Geister ihren eigenen Bedürfnissen, sie zeichneten sich durch nichts so sehr aus wie durch Unberechenbarkeit, und was ihre Aussagen angehe, so gebe es keinerlei Garantie für vollständige Authentizität …
»Manchmal führen sich die Geister genauso bockig und lächerlich auf wie jeder lebende Mensch. Zumal unsere engsten Verwandten«, sagte Sophie.
Herzhaftes Gelächter. Das Eis war gebrochen. Raffiniert Bemerkenswert entspannte Atmosphäre, dachte Doyle. Absolut frei von allem Firlefanz und Hokuspokus. Bis jetzt. Doyle sah sich um – Da war der junge Mann von der Brücke; er schob sich von hinten in den Raum. Ihr Blicke trafen sich kurz, und er zwängte sich auf einen der wenigen freien Sitze. Was will er nur? fragte sich Doyle. Na, ich werde es wohl bald erfahren -
Halt: Zwei weitere Gestalten drängten herein.
Innes und Pinkus mit seinem albernen Hut.
Verflixt.
»Wenn ich jetzt um absolute Ruhe bitten dürfte«, sagte Mrs. Saint-John.
Sophie Hills lächelte, winkte – wie ein Kind: bye-bye –, dann schloß sie die Augen und begann einige Male tief durchzuatmen. Ihr Körper erschlaffte zusehends und erstarrte dann jäh in einer ungelenken Haltung, die ganz anders war als die, welche sie vor dem Einsetzen der Trance eingenommen hatte. Sie hatte die Finger verschränkt und die Hände ineinandergelegt, als seien sie von den weiten Ärmeln eines Hausmantels umhüllt, so daß die Ellbogen steif zur Seite abstanden. Der Kopf, der auf dem langgestreckten Hals saß, wackelte sacht hin und her, als balanciere er auf einer Spindel. Ein breites, rätselhaftes Lächeln. Die Augen offen, aber waagerecht geschlitzt …
Man kann es nicht anders sagen, dachte Doyle, sie sieht aus wie ein Chinese.
Ein goldenes, perlendes Lachen sprudelte aus Sophie Hills Mund.
»Sieh nur all die freundlichen Gesichter hier«, sagte sie -es war eine Männerstimme, hochtönend und ganz anders als ihre eigene –, und tatsächlich, der Akzent klang nach Mandarin. Sie lachte wieder.
Das Publikum kicherte, eine unwillkürliche Reaktion.
»Alle glücklich auf einem Schiff; alle lassen ihre Sorgen daheim!« sagte sie und lachte wieder. Ihre Gutmütigkeit war nicht zu unterdrücken; sie erfüllte den Raum, und die Luft schien leichter und so kräftigend wie frisches Quellwasser.
Ja, ich selbst fühle mich gleichfalls besser, dachte Doyle glucksend: Was ist das für ein Trick? Ansteckende Fröhlichkeit? Mir neu.
»Niemand seekrank?« fragte sie.
Kollektives Aufstöhnen und neuerliches Gelächter. Eine Frau in der mittleren Reihe hob die Hand.
»Oh, wie unangenehm für Sie, Lady; setzen dort hinten hin, okay?« Ein paar Leute hielten sich die Seiten und krümmten sich vor Lachen. »Wie sein das Essen auf diesem Schiff? Ganz gut?«
Ja, das Essen sei gut, antwortete das Publikum.
»Lady, Sie verpassen etwas«, sagte sie zu der seekranken Frau. »Wir vermissen das Essen wirklich. Hier drüben nichts zu essen.«
Wir fressen dir heute abend jedenfalls aus der Hand, dachte Doyle. Seancen förderten zumeist sture, düstere Geisterpersönlichkeiten zutage, die vermuten ließen, daß bei ihrem Hinscheiden Selbstmord eine Rolle gespielt hatte; dies war ohne Frage die fröhlichste Seele, die Doyle je von einem Medium manifestiert gesehen hatte. Kein Wunder, daß Sophie so beliebt beim Publikum war.
»Mein Name ist Mr. Li«, sagte Sophie. »Aber nennen Sie mich ruhig … Mr. Li.«
Sogar seine dümmsten Witze klangen noch komisch. Vielleicht war Mr. Li zu Lebzeiten Hofnarr gewesen.
»Wir haben alle möglichen Leute hier drüben. Leute über Leute. Alle glücklich, alle fröhlich, wenn nicht gleich, dann wenn treffen Mr. Li. Und Sie auch. Mr. Li sagen: Das Leben soll glücklich machen. Warum so ernst? Ist nicht so schlimm. Sehen Sie sich an: Auf Schiff. Gutes Essen. Nicht seekrank. Nur eine Lady. Nicht so nah bei ihr sitzen!« Wieder lachte sie, und das Publikum lachte mit.
Ein außerordentliches Talent zur Mimikry, dachte Doyle. Ich bin fest davon überzeugt, einen munteren alten Chinesen vor mir zu sehen, und nicht eine von diesen kernigen Engländerinnen mittleren Alters, die man sonntags nachmittags beim Spazierengehen im Hyde Park trifft. Aber vorläufig ist da nicht unbedingt etwas Übernatürliches am Werk.
»Alle möglichen Leute hier heute abend. Jemand dort will sprechen mit jemandem hier drüben, Sie sagen Mr. Li.
Wenn sind hier drüben, Mr. Li geht suchen, okay? Mr. Li wie, äh, Telefon-Vermittlung.«
Ein durchaus übliches Verfahren, eine Vorstellung in Gang zu bringen. Jetzt wollen wir mal sehen, was ›Mr. Li‹ zu bieten hat, dachte Doyle und beobachtete jede ihrer Bewegungen.
»Wenn Sie bitte die Hände heben könnten«, sagte Mrs. Saint-John. »Wir werden versuchen, jeden zu Wort kommen zu lassen, sofern die Zeit es erlaubt.«
Die Leute im Publikum begannen Sophie Fragen zu stellen, Fragen nach verstorbenen Onkeln und Cousinen und Ehegatten, und sie gab ohne Umschweife detaillierte Antworten, die anscheinend mehr als zufriedenstellend waren. Obgleich Doyle sein ganzes beobachterisches Geschick aufwandte, konnte er keinen der üblichen Makel in ihrer Darbietung entdecken – möglicherweise die Bestätigung seiner Theorie, dachte er, daß es Medien irgendwie gelingt, die Gedanken des Fragestellers anzuzapfen und dort die gewünschten Informationen zu finden, eine Erklärung, die leichter zu schlucken war als ein Meer von körperlosen Geistern, die eine interdimensionale Telefonvermittlung umschwebten.
Aber Doyle hatte immer noch eine Trumpfkarte auszuspielen. Er zog seinen Stift hervor und schrieb einen Namen auf eine Cocktailserviette.
Jack Sparks.
Als Mrs. Saint-John auf ihn zeigte, reichte er ihr die Serviette.
»Dies ist der Verstorbene, mit dem Sie sprechen möchten?« fragte Mrs. Saint-John.
Ja, antwortete Doyle. Das sei der Mann. Den gleichen Test hatte er mit jedem Medium durchgeführt, das er in den letzten zehn Jahren, seit Jack gestorben war, begutachtet hatte. Diesen Test hatten sie alle nicht bestanden.
Mrs. Saint-John beugte sich zu Sophie hinüber und flüsterte ihr den Namen zu. Nach einer Pause legte »Mr. Li« die Stirn in Falten; er verdrehte den Hals und schloß die Augen. Schließlich schüttelte er den Kopf.
»Dieser Mann nicht hier drüben«, sagte er.
»Das heißt, Sie sind außerstande, Kontakt mit ihm aufzu nehmen?« fragte Doyle. Sonderbar – normalerweise band man ihm einen Packen Lügen auf; diese Antwort hatte er noch nie bekommen.
»Nein. Er nicht hier. So sorry.«
»Verzeihung, aber ich verstehe nicht …«
»Was verstehen Sie nicht, Mistah? Sie ziemlich schlauer Bursche, nicht? Ich glaube. Hören auf Mr. Li: Mann nicht hier. Mann nicht tot.«
»Nicht tot? Das ist unmöglich.«
»Oh, jetzt glauben Sie, Mr. Li ist Lügner, hm? Na, wissen Sie, Mr. Li hat schon schlimmere Namen bekommen –«
Doyle kam sich absurd vor: Da saß er nun und stritt sich mit einer Engländerin, die tat, als sei sie ein Chinese, vor einer Gruppe deutscher Touristen – und einem amerikanischen Reporter – um den Tod eines Mannes, der in einem Kampf auf Leben und Tod mit seinem Bruder eng umschlungen an einem Wasserfall in die Tiefe gestürzt war wie es Larry, sein vertrauter Sekretär, bezeugt und ihm berichtet hatte. Ein feines Benehmen für einen prominenten Autor.
Andererseits, alles, was die anderen Medien, die er nach Jack gefragt hatte, ihm je aufgetischt hatten, waren offensichtlich erfundene Platitüden gewesen, die in keinerlei Beziehung zu dem wirklichen Manne gestanden hatten …
Peng!
Doyles erster Gedanke: Ein Schuß. Nein, eine Glühbirne war geplatzt, in einer der Deckenlampen über ihren Köpfen. Ein Funkenregen ging sanft über dem Publikum nieder.
»Schauen Sie, was passiert, Mistah, sehen Sie? Jetzt machen Sie Geister böse!«
Mr. Li lachte wieder, allein diesmal. Das Publikum war verwirrt: Dieser Mr. Li nun war weniger freundlich; seine Stimme klang ferner, jenseitiger, metallisch und kalt. Die Temperatur im Zimmer sank, als seine Wärme schwand und man fühlte sich mulmig und unbehaglich. Manche fröstelte, und ein paar Damen zogen sich ihre Schals fester um die Schultern. Eine Frau stöhnte unabsichtlich.
Die Luft um Sophie Hills wurde dicht und hell, und sie war plötzlich nicht mehr so gut zu erkennen. Mr. Lis Gelächter brach jäh ab; Sophie rang nach Luft, und der Atem blieb ihr im Halse stecken. Sie riß die Augen weit auf und schien von Panik erfaßt. ›Mr. Li‹ war nicht mehr da. Mrs. Saint-John blieb starr vor Schrecken sitzen.
Das gehört nicht zum Programm, dachte Doyle und erhob sich von seinem Stuhl. Niemand sonst im Raum rührte sich. Pinkus klebte an der Wand. Ur-Angst. Er sah, wie Innes einen Schritt auf die beiden Frauen zu machte -
Peng!
Noch eine Glühbirne zerbarst. Schreckensschreie. Leute retteten sich hastig zur Seite, um den Funken zu entgehen.
Doyle fühlte eine Hand auf der Schulter: der Priester.
Sophie fiel auf die Knie. Ihr Körper zitterte haltlos, aber ihre Augen blickten klar und flehentlich; sie rang mit etwas Unsichtbarem, Turbulentem – mit einer Macht, die in sie eindringen wollte?
Der Priester sprang rasch zu ihr nach vorn.
»Jemand in diesem Raum!« rief Sophie, und ihre Stimme war von Entsetzen verzerrt. »Jemand ist nicht, was er zu sein scheint! Hier ist ein Lügner!«
Innes hatte sie als erster erreicht. Er packte sie beim Arm. In diesem Augenblick verlor Sophie Hills die Schlacht, die sie da schlug, was immer es sein mochte: Ihre Augen schlossen sich, und ihr Körper wurde starr wie ein Klotz Eichenholz. Dann wandte sie sich Innes zu und öffnete wieder die Augen – sie schüttelte den Arm, und Innes flog zur Seite, als habe ihn ein durchgegangenes Pferd über den Haufen gerannt, und landete krachend in der ersten Stuhlreihe.
Doyle schob eine Schulter nach vorn und warf sich mit seinem ganzen, beträchtlichen Gewicht gegen die Frau. Sie gab kaum einen Zollbreit nach, es war, als sei er gegen eine Wand gerannt. Er schlüpfte um sie herum, umschlang Sophie Hills von hinten wie ein Bär, preßte ihr die Arme an den Körper und hielt sie fest. Der Priester streckte ihr ein Kruzifix entgegen. Sie hörte auf zu zappeln, und ihr Blick richtete sich starr auf das Kreuz. Innes rappelte sich elastisch auf, kam zurück und schloß seine Arme um die Schultern der Frau. Sie leistete keinen Widerstand, aber eine wilde Energie flutete durch ihren Körper; die beiden Brüder äußerten später übereinstimmend, es habe sich angefühlt, als hätten sie einen bengalischen Tiger in den Armen.
Der Priester wankte nicht.
»Im Namen all dessen, was heilig ist, befehle ich dir, Unreiner Geist, diesen Leib zu verlassen!«
Die Frau sah ihn an. Friedfertig, heiter. Lächelte engelhaft.
»Erinnerst du dich an deinen Traum?« fragte sie den Priester. Es war wieder eine Frauenstimme: dunkel, intim, melodisch. Aber nicht die Sophies.
Der Priester starrte sie erstaunt an.
»Es gibt sechs. Du bist einer. Höre auf den Traum.«
Was zum Teufel hatte das zu bedeuten?
»Du mußt die anderen finden. Es sind fünf. Du wirst sie erkennen. Scheiterst du, so stirbt die Hoffnung mit dir. Dies ist das Wort des Erzengels.«
Die Stimme war so leise, daß niemand sonst sie hörte – nur Doyle, Innes und der Priester. Ihr Lächeln schwand, und die Frau erschlaffte in ihren Armen. Doyle legte Sophie behutsam auf den Boden. Langsame, flache Atmung. Ohnmacht.
Die Luft im Raum war wieder klar. Die Zeit, die scheinbar stehengeblieben war, ging weiter. Mrs. Saint-John brach zusammen; Innes fing sie auf, ehe sie auf dem Boden aufzuschlagen drohte.
Kapitän Hoffner erschien neben Doyle. Seine glatte Fassade war ruiniert. »Mein Gott. Mein Gott.«
»Bringen Sie sie ins Bett«, sagte Doyle.
Hoffner nickte. Besatzungsmitglieder fanden sich ein. Sophie Hills wurde vorsichtig hinausgetragen, Innes erweckte die benommene Mrs. Saint-John fächelnd zum Leben. Eine ernüchternde Erleichterung, wie sie den Überlebenden eines Unfalls eigentümlich ist, durchströmte die Zuschauer; einige blieben wie vom Donner gerührt auf ihren Stühlen sitzen, andere gingen langsam hinaus und hielten sich aneinander fest.
Der junge Mann aus dem Speisesaal, so eifrig wie zuvor, fing noch einmal Doyles Blick auf. Ein respektvoller, drängender Appell – jetzt, Sir? Doyle nickte ihm zu: Ja, in meiner Kabine, in einer halben Stunde.
Er wollte vorher mit dem Priester sprechen – wo war er? Doyle drehte sich um: keine Spur von ihm.
Da in der Ecke stand Pinkus. Kotzte in seinen Hut.
Also war der Abend doch nicht ganz verdorben.
Innes kam in Doyles Kabine gestürzt.
»Miß Hills ruht jetzt bequem –«
»Und der Priester?« fragte Doyle und blickte von dem Buch auf, das er in der Hand hielt.
»Nirgendwo an Deck. Ich habe versucht, vom Büro des Stewards aus seine Kabine anzurufen, aber anscheinend weiß niemand, in welcher er wohnt. Die Kellner im Speisesaal sagen, er heißt Devine, Father Devine aus Kilarney –«
Es klopfte leise. Doyle nickte. Innes ließ den nervösen jungen Mann herein: Mitte Zwanzig, mittelgroß, hohe Stirn, große Eulenaugen, schütteres braunes Lockenhaar, eine leicht gebeugte Haltung – die vergebungheischende Erscheinung eines Mannes, der unablässige Selbstverleugnung ausstrahlt. Die dunklen Ringe unter den Augen bildeten die einzige Farbschattierung in seiner gespenstischen Blässe.
»Mr. Conan Doyle, ich danke Ihnen, Sir, vielen Dank, daß Sie mich empfangen. Ich bedaure zutiefst, daß ich Ihnen Ungelegenheiten …« Amerikanischer Akzent. New York? Der Mann warf Innes einen Blick zu; er war nicht sicher, ob er fortfahren sollte.
»Mein Bruder wird Ihr Vertrauen nicht mißbrauchen, Sir. Wer sind Sie, und wie kann ich Ihnen helfen?«
»Mein Name ist Lionel Stern. Ich bin zusammen mit den Gentlemen an Bord gekommen. Reise mit einem Geschäftspartner. Ich wollte Sie sprechen, Sir, weil wir Grund zu der Annahme haben, daß jemand auf diesem Schiff uns ermorden will, bevor wir New York erreichen.«
»Das haben Sie dem Kapitän vorgetragen.« Das Gespräch, das er bei der Brücke belauscht hatte.
»Recht ausführlich. Er behauptet, sein Schiff sei sicher, und alle vernünftigen Vorsichtsmaßnahmen seien getroffen, er sei jedoch außerstande, uns zusätzliche Garantien zu geben.«
»Womit konnten Sie denn untermauern, daß Ihr Leben tatsächlich bedroht wird?«
Stern machte ein verblüfftes Gesicht. »Man ist uns auf dem ganzen Weg von London bis Southampton gefolgt –«
»Und, so nehmen Sie an, auch an Bord des Schiffes.«
»Ja.«
»Hat man irgend etwas direkt gegen Sie unternommen?«
»Bisher nicht, aber –«
»Haben Sie die Person oder die Personen, von denen Sie annehmen, daß sie Sie ermorden wollen, gesehen? Oder haben Sie Kontakt mit ihnen gehabt?«
»Nein.« Der Mann schaute die beiden Brüder betreten an; sein Vorrat an untrüglichen Beweisen war anscheinend erschöpft. Keine Rede von dem ›Buch‹, von dem Doyle bei ihrer Unterredung mit dem Kapitän gehört hatte. Er warf Innes einen Blick zu – du mußt mich jetzt unterstützen –, dann ging er zur Tür, öffnete sie und winkte Lionel Stern mit entschlossener Gebärde hinaus.
»Ich muß Sie bitten, meine Kabine zu verlassen, Sir.«
Sterns Unterkiefer klappte herunter. Er wurde weiß. »Das ist nicht Ihr Ernst.«
»Sie können nicht erwarten, daß ich Ihnen helfe, und ich würde diese unwillkommene Störung einem jeden verübeln, der nicht bereit ist, mir die Wahrheit zu sagen. Sie werden bitte auf der Stelle gehen.«
Alle Willenskraft, die Stern noch zusammengehalten hatte, löste sich in Luft auf. Seine reizlosen Gesichtszüge erschlafften. Er sank in einen Sessel und stützte den Kopf in beide Hände. »Entschuldigen Sie. Sie wissen nicht, wie groß diese Anspannung ist. Sie können sich nicht vorstellen …«
Doyle schloß die Tür, kam zurück und musterte Stern einen Augenblick lang. »Sie sind in der Lower East Side von New York geboren und aufgewachsen, als ältester Sohn russischer Einwanderer. Sie sind weltlicher Jude, von Grund auf und aus freien Stücken der amerikanischen Kultur assimiliert. Daß Sie die religiösen Überzeugungen Ihres Vaters verworfen haben, war Gegenstand eines nicht unbedeutenden Streits zwischen Ihnen beiden. Vor etwa sechs Wochen sind Sie aus Spanien – aus Sevilla, nehme ich an -nach London gereist, wo Sie mindestens einen Monat lang gemeinsam mit dem Mann, der Sie an Bord der Elbe begleitet hat, eine komplizierte Transaktion ausgehandelt haben, bei der es um die Nutzung oder den Erwerb eines äußerst seltenen und wertvollen Buches ging, das Sie jetzt nach Amerika transportieren. Dieses Buch ist der Anlaß für die wohlbegründete Sorge um Ihre Sicherheit, Mr. Stern. Und ich genieße von nun an entweder Ihre rückhaltlose Offenheit, oder diese Angelegenheit wird keine Fortsetzung finden.«
Stern – und Innes – starrten ihn fassungslos und mit weit offenen Mündern an.
»Habe ich irgend etwas ausgelassen?« fragte Doyle. Stern schüttelte langsam den Kopf. »Woher um alles in der Welt …«, begann Innes. »Sie tragen einen Davidstern an dieser Kette um den Hals.«
Stern zog das beschriebene Medaillon unter dem Hemd hervor.
»Aber woher wußtest du, daß er Russe ist?« fragte Innes. »Stern ist eine ziemlich verbreitete Abkürzung – die Amerikanisierung, wenn du so willst – einer ganzen Untergruppe von russischen Familiennamen. Sie zeigen keines der offensichtlichen äußeren Merkmale eines frommen, orthodoxen Juden – es ist wahrscheinlich, daß Ihr Vater, der zweifellos mit der ersten großen Einwanderungswelle vor einer Generation aus Rußland nach New York kam, die Religion mit sehr viel größerer Inbrunst praktiziert –, aber trotzdem tragen Sie ein religiöses Symbol verborgen am Hals, was auf eine gewisse Gespaltenheit in Ihrem Status hindeutet. Ein Konflikt, der zwischen Vater und ältestem Sohn nicht ungewöhnlich ist.
Das Obermaterial Ihrer Schuhe – die fehlende Abnutzung an den Sohlenrändern weist darauf hin, daß sie relativ neu sein müssen – ist unverkennbar spanisches Leder, wie man es vor allem in Sevilla findet. Ihr Aufenthalt in dieser Stadt muß daher also hinreichend lang gewesen sein, um dieses Paar Schuhe auf Bestellung anfertigen zu lassen -was in der Regel drei bis vier Wochen dauert –, und das läßt den Schluß zu, daß Sie vermutlich geschäftlich dort waren. Und heute nachmittag habe ich zufällig einen Teil Ihrer Unterredung mit dem Kapitän mitangehört, bei dem es um die sichere Aufbewahrung eines Buches ging.«
Stern gab zu, daß Doyles Schlußfolgerungen allesamt zutreffend waren – bis auf zwei: Die Schuhe stammten von einem Schuhmacher in der Jermyn Street in London, wo er seine jüngsten Geschäfte getätigt habe. In Spanien sei er noch nie gewesen, aber – jawohl – das Leder sei ihm als Erzeugnis aus Sevilla verkauft worden, und das fragliche Buch sei in der Tat spanischer Herkunft.
Innes war gleichermaßen erstaunt, ohne sich dies indessen anmerken zu lassen; er war nicht bereit, ungebührliche Bewunderung wie auch mangelnde Solidarität mit seinem Bruder zu zeigen. Er wußte, daß Arthur sich hin und wieder mit der Polizei beraten hatte, und natürlich hatte er diese Detektivgeschichten geschrieben; aber er hatte nicht geahnt, daß dieser es mit seinen deduktiven Fähigkeiten zu einer solchen Meisterschaft gebracht hatte.
»So, Mr. Stern«, fuhr Doyle fort; er baute sich vor dem Mann auf und faltete die Hände hinter dem Rücken wie ein Lehrer. »Jetzt erzählen Sie uns doch von diesem Buch, an dem Ihre angeblichen Verfolger ein solches Interesse haben, und sagen Sie uns auch, wie es in Ihren Besitz gekommen ist.«
Stern nickte und fuhr sich mit den blassen, schmalen Fingern durch das widerspenstige Haar. »Es heißt Sefer ha-So-har, das Buch Sohar, und das bedeutet ›Buch des Glanzes‹.
Es ist eine Sammlung von Schriften des zwölften Jahrhunderts, deren Ursprung in Spanien liegt. Sie bilden die Basis dessen, was im Judaismus als Kabbala bekannt ist.«
»Die Tradition des jüdischen Mystizismus«, sagte Doyle. Eine Überprüfung seines Gedächtnisses ergab, daß handfeste Kenntnisse zu diesem Thema frustrierend spärlich waren.
»Ganz recht. Das Sohar war jahrhundertelang ein geheimes Dokument, das nur von einem exzentrischen Zweig rabbinischer Gelehrter studiert wurde.«
»Ja, aber was ist es denn?« fragte Innes ratlos wie ein verirrtes Kalb.
»Die Kabbala? Eigentlich schwer zu beschreiben. Ein Flickenteppich aus mittelalterlicher Philosophie und Folklore, aus Schriftauslegungen, Schöpfungslegenden, mystischer Theologie, Kosmogonie, Anthropologie, Seelenwanderung.«
»Oh«, sagte Innes und bereute seine Frage.
»Das meiste ist verfaßt in Form eines Dialogs zwischen einem legendären, vielleicht fiktiven Lehrer namens Rabbi Simeon bar Yochai und seinem Sohn und Schüler Eleazar. Die beiden hielten sich angeblich dreizehn Jahre lang in einer Höhle verborgen, um der Verfolgung durch den römischen Kaiser zu entgehen. Als der Kaiser starb und der Rabbi aus der Abgeschiedenheit hervorkam, war er so verstört ob des Mangels an Spiritualität, den er in seinem Volke gewahrte, daß er sich gleich wieder in die Höhle zurückzog und dort meditierte, um Anleitung zu finden. Nach einem Jahr hörte er eine Stimme, die ihm befahl, das gewöhnliche Volk seiner Wege ziehen zu lassen und nur diejenigen zu lehren, die dafür bereit seien. Das Sohar ist die Aufzeichnung dieser Lehren, aufgeschrieben von seinen Jüngern.«
»Ganz wie die sokratischen Dialoge Piatons, oder wie dieser … äh, wie heißt er gleich?« sagte Innes, um nicht völlig ignorant zu erscheinen; dennoch hatte er noch immer nur äußerst nebulöse Vorstellungen von dem, was der Bursche da redete.
»Aristoteles«, sagten Stern und Doyle gleichzeitig.
»Genau.«
»Sind diese Originalmanuskripte erhalten geblieben?« fragte Doyle.
»Vielleicht. Das Sohar wurde auf Aramäisch verfaßt; die Sprache, die im zweiten Jahrhundert in Palästina gesprochen wurde. Die Autorenschaft des Originaltextes ist nach wie vor umstritten, aber überwiegend schreibt man es einem obskuren Rabbi aus dem dreizehnten Jahrhundert zu, der in Spanien lebte: Moses de Leon. Man hat nur zwei erhaltene Manuskripte von de Leons Originalschriften gefunden; das eine heißt Tikkunei Sohar und ist ein kurzer Nachtrag, der einige Jahre später als das eigentliche Buch geschrieben wurde. Das Tikkunei wurde im vergangenen Jahr in Oxford von der Universität Chicago erworben und von einer Gruppe jüdisch-amerikanischer Gelehrter studiert – unter denen mein Vater, Rabbi Jacob Stern, wie Sie ganz richtig vermuteten, Mr. Doyle, zu den bedeutendsten zählt.
Nach langen Verhandlungen ist es meinem Partner und mir soeben gelungen, das älteste vollständige handschriftliche Manuskript des Buches Sohar als befristete Leihgabe zu beschaffen, das ›Gerona Sohar‹. Es datiert aus dem frühen vierzehnten Jahrhundert und wurde vor Jahren auf dem Gelände eines antiken Tempels in der Nähe von Gerona in Spanien entdeckt. Die Authentizität des Gerona Sohar ist Gegenstand einer ungeheuren Kontroverse unter Fachleuten; mein Vater und seine Kollegen hoffen, diese Fragen ein für allemal zu klären, wenn sie beide Bücher in ihren Besitz bekommen und sie Seite an Seite miteinander vergleichen können.«
»Gut, und was ist so Besonderes an diesem alten Bologna Sohar?« fragte Innes und unterdrückte ein Gähnen.
»Gerona. Um ehrlich zu sein, ich habe mich nie selbst damit beschäftigt. Ich bin Geschäftsmann; seltene Bücher sind mein Gewerbe, nicht meine Leidenschaft. Ich habe für derartige akademische Unternehmungen weder die nötige Ausbildung noch das Interesse. Aber mein Vater, der die Kabbala seit fast dreißig Jahren studiert, würde Ihnen erklären, er glaube, daß dieses Buch dem Menschen, sofern er es erfolgreich entschlüsselt, die Antwort auf das Mysterium der Schöpfung eröffnen wird, der Identität unseres Schöpfers und der exakten Natur der Beziehung zwischen uns.«
»Hmmph. Ganz ordentlicher Anspruch, das«, meinte In-nes und demonstrierte damit seine natürliche Begabung zum Understatement.
»Aber es ist noch niemandem gelungen, nicht wahr?« stellte Doyle fest.
»Für mich sind das böhmische Dörfer«, sagte Stern. »Ich würde das Mysterium der Schöpfung nicht erkennen, wenn es mich anspränge und mir den Hut vom Kopfe stähle. Ich höre nur, daß das Buch Sohar unter den Männern, mit denen mein Vater eines Sinnes ist, in dem Ruf steht, den verborgenen Schlüssel zu enthalten, der die geheimen Bedeutungen der Thora eröffnen wird –«
»Also der ersten fünf Bücher des Alten Testaments«, ergänzte Doyle.
»Genesis, Exodus, Leviticus, Numeri und Deuteronomium«, sagte Innes, wobei er zur Gedächtnisstütze die Namen – hinter dem Rücken – an den Fingern abzählte, wie er es in der Sonntagsschule gelernt hatte.
»– und die Thora sei mutmaßlich eine unmittelbare Niederschrift der Lehren, die Moses auf dem Berg Sinai angeblich von Gott empfangen habe –«
»Mutmaßlich, angeblich.«
»Wie Sie ebenfalls ganz zutreffend beobachtet haben, Mr. Doyle, bin ich, was Temperament und Neigung angeht, nicht im mindesten religiös. Wenn es einen allmächtigen, allwissenden Gott gibt, und wenn es in seiner Absicht liegt, daß der Mensch das Rätsel seiner eigenen Schöpfung löse, dann bezweifle ich doch ernsthaft, daß er sich die Mühe gemacht hat, die Antwort auf den Seiten eines muffigen alten Buches zu verstecken.«
»Eines Buches immerhin, von dem Sie jetzt überzeugt sind, daß jemand bereit sei, Sie um seinetwillen zu ermorden.«
»Ich habe ja nicht gesagt, das Buch sei ohne irdischen Wert. Bevor wir es in Besitz nahmen, mußten wir das Gerona Sohar bei Lloyds in London auf einen Betrag von zweihundertfünfzigtausend Dollar versichern.«
»Lachhaft!« schnaubte Innes. »Wer würde denn so viel für ein Buch bezahlen?«
»Es gibt Privatsammler überall auf der Welt, die es als eine unbezahlbare Ergänzung ihrer Bibliothek betrachten würden«, sagte Doyle. »Leute, für die Geld keine Rolle spielt und die mehr als bereitwillig den Diebstahl eines solchen Objekts in Auftrag geben würden.«
»Einen Diebstahl in Auftrag geben? Pah – bei wem denn?«
»Nun, bei Dieben natürlich.« Gott, war der Junge manchmal begriffsstutzig.
»Damit sind Sie exakt an der Wurzel meiner Befürchtungen angelangt, Mr. Doyle«, sagte Stern. »Wie ich schon sagte, weder mein Partner noch ich selbst – sein Name übrigens ist Rupert Selig; er führt die Konten in Europa und arbeitet in unserem Londoner Büro – können einen unmittelbaren Beweis dafür vorlegen, daß uns jemand auf den Fersen ist. Aber seit wir mit dem Buch in London angekommen sind, haben wir beide das unheimliche Gefühl, daß wir beobachtet werden. Das Gefühl wurde immer stärker, als wir uns nach Southampton und an Bord der Elbe begaben. Ich weiß nicht, wie ich es sonst beschreiben soll: Es ist ein Gefühl, das mir kribbelnd in den Nacken heraufkriecht; leise Geräusche, die sofort außer Hörweite geraten, wenn man innehält, um zu lauschen; Schatten, die davonhuschen, wenn man sich umdreht …«
»Das Gefühl ist mir vertraut«, sagte Doyle.
»Verfluchte Spukerscheinungen bei einer Seance sind da auch nicht gerade hilfreich«, meinte Innes.
»Absolut nicht. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich fand diese Sache heute abend beängstigend«, sagte Stern. »Und ich kann Ihnen nicht sagen, warum, aber ich hatte das Gefühl, daß das, was wir heute abend erlebt haben, und das, was ich durchgemacht habe, in irgendeiner Weise miteinander zusammenhängt. Dabei betrachte ich mich als einen Mann der Logik, Mr. Doyle. Ich hoffe, Sie werden nicht erleben, daß ich je eine Äußerung von mir gebe, die noch weniger logisch ist als diese.«
Doyle spürte, daß sich seine Einstellung gegenüber Stern zu ändern begann; nachdem der Mann sich von der Bürde seines anfänglichen Zauderns befreit hatte, wirkten seine ehrliche Bescheidenheit und seine Intelligenz schon sehr viel ansprechender.
»Wenn ein solches Gefühl aus den tieferen Schichten der Intuition kommt, so rate ich jedem, es zu beachten«, sagte Doyle.
»Darum habe ich mich an Sie gewandt, als der Kapitän sagte, er könne uns nicht helfen. Ich habe Zeitungsberichte darüber gelesen, wie Sie der Polizei in etlichen geheimnisvollen Fällen behilflich gewesen sind. Auch erscheinen Sie mir wie ein Mann, der sich nicht scheut, für das, was er glaubt, auch einzustehen …«
Verlegen wedelte Doyle das Kompliment beiseite. »Wo befindet sich Ihr Exemplar des Gerona Sohar jetzt, Mr. Stern?«
»Unter Schloß und Riegel im Laderaum des Schiffes. Ich habe mich heute nachmittag noch davon überzeugt.« »Und Ihr Kollege, Mr. …«
»Mr. Selig. In unserer Kabine. Wie ich schon sagte, Ruperts Sorge um unsere Sicherheit ist noch größer als die meine. Seit wir auf See sind, lehnt er es ab, nach Einbruch der Dunkelheit noch hinaus an Deck zu gehen –«
Innes ließ ein verächtliches Schnauben vernehmen – getreu der Tradition der Royal Fusiliers –, erkannte jedoch im nächsten Augenblick, wie unangebracht diese Reaktion war, und tarnte sie als Beginn eines längeren Hustenanfalls. »Muß von den Gänsefedern in meinem Kopfkissen kommen«, erklärte er.
»Vielleicht sollten wir auch mit Mr. Selig ein Wörtchen reden«, meinte Doyle, ohne sich dazu herabzulassen, Innes’ Ausbruch auch nur eines bösen Blickes zu würdigen.
Lionel Stern klopfte leise an die Tür seiner Kabine: dreimal kurz und zweimal lang. Innes war entsetzt über den Mangel an Luxus in diesem Korridor der zweiten Klasse, kam aber gleich zu dem Schluß, daß man derartige Beobachtungen in gemischter Gesellschaft am besten für sich behielt.
»Rupert? Rupert, hier ist Lionel.«
Keine Antwort. Stern sah Doyle sorgenvoll an.
»Eingeschlafen?« fragte Doyle.
Stern schüttelte den Kopf und klopfte noch einmal. »Rupert!«
Immer noch keine Antwort. Doyle legte ein Ohr an die Tür und hörte drinnen eine knarrende Bewegung, gefolgt von einem leisen Klicken.
»Ihr Schlüssel?«
»In der Kabine«, sagte Stern. »Wir waren der Meinung, daß es besser ist, nicht damit auf dem Schiff herumzuspazieren.«
Innes verdrehte die Augen.
»Wir sollten nach dem Steward läuten«, sagte Doyle. »Innes?« Mit einer Kopfbewegung bedeutete er seinem Bruder, sich darum zu kümmern.
Innes seufzte und schlenderte den Korridor hinunter, um sich auf die Suche nach einem Steward zu machen, der, wie er vermutete, hier unten bei den Ungewaschenen ein doch eher seltener Anblick sein dürfte.
Stern rüttelte an der Türklinke. »Rupert, bitte mach auf!«
»Nicht so laut, Mr. Stern. Ich bin sicher, es gibt keinen Grund zur Beunruhigung.«
»Sie haben gesagt, ich soll meiner Intuition gehorchen, oder?« Er hämmerte mit der Faust an die Tür. »Rupert!«
Innes kam mit einem Steward zurück, der sich eine kurze Erklärung anhörte und dann die Kabinentür mit seinem Generalschlüssel aufschloß. Die Tür öffnete sich eine gute Handbreit und kam dann ruckartig zum Stillstand, gehalten von einer straffen Sicherheitskette.
Der Steward begann zu erläutern, daß diese Kette nur von innen abgenommen werden könne, als Doyle schon den Stiefel hob und der Tür einen machtvollen Tritt versetzte. Die Kette riß, die Tür flog auf.
Eine lange, schmale Kabine. Eine Doppelkoje, an die linke Wand genietet. Ein geschlossenes und verriegeltes Bullauge über einem Waschbecken am anderen Ende.
Rupert Selig lag auf dem kalten Stahlboden, die Beine ausgestreckt, die Arme bis in Schulterhöhe erhoben, die Fäuste geballt, Mund und Augen aufgerissen und erstarrt zu einem Ausdruck von unchristlichem Grauen, wie Doyle ihn vollkommener nie gesehen hatte.
»Bleiben Sie zurück«, sagte Doyle.
Der Steward rannte davon, um Hilfe zu holen. Stern sackte gegen die Wand; Innes hielt ihn mit einer Hand aufrecht. Doyle stieg vorsichtig durch das Schott und blieb stehen, um möglichst viele Einzelheiten des Raumes in sich aufzunehmen; in wenigen Minuten, so wußte er, würde hier ein Trubel herrschen, bei dem nichts mehr auszurichten wäre.
»Ist er tot?« flüsterte Stern.
»Fürchte ja«, sagte Innes.
Sterns Augen verdrehten sich in ihren Höhlen, und Innes ließ seine leblose Gestalt im Korridor vor der Kabine langsam auf den Boden gleiten.
Doyle kniete neben Seligs Leichnam nieder, um eine blasse Kritzelei an der Wand genauer zu betrachten. Sein Blick wanderte zu einem kleinen Erdklumpen auf den Fliesen bei der Tür. Spuren der gleichen Erde waren unter den Nägeln von Seligs rechter Hand zu sehen.
»Halte mir die anderen noch ein Weilchen aus der Kabine heraus, sei so gut, Innes«, sagte Doyle und zog ein Vergrößerungsglas aus der Tasche.
»Aber gewiß, Arthur.«
»Brav.«
ROSEBUD RESERVATION, ARIZONA Noch eine Nacht bis zum Vollmond. Der erste kalte Hauch des Winters reiste mit dem Wind. Die Blätter verfärbten sich bereits. Am Himmel Gänse, die nach Süden flogen, fort vom Mutterland. Sie schaute von der Anhöhe zurück zu den baufälligen Häusern und Hütten der Reservation und fragte sich, wie viele aus ihrem Volk dahingerafft werden würden, wenn der Schnee käme. Wie viele würden übrigbleiben, um den Frühling zu begrüßen?
Sie zog sich die Decke fest um die Schultern. Hoffentlich würde die Streife sie nicht hier außerhalb der Mauern finden und sie zurück in die Reservation schicken. So viel Leid: abscheuliches Essen, Whiskey, die Hustenkrankheit. Die Repetiergewehre der Blauröcke. Sitting Bull ermordet von einem der Seinen. Die Weißen mit ihren verlogenen Verträgen rissen den Bauch der heiligen Black Hills auf, um ihr Gold herauszuholen …
Und da wagte sie nicht zu schlafen aus Angst vor einem Traum, in dem die Welt unterging? Wie konnte das schlimmer sein als das, was sie sah, wenn ihre Augen offen waren?
Sie wußte, daß die Welt der Dakota, ihre Art, für immer dahin war. Eine Reise in ihre Stadt, Chicago, hatte ihr das gezeigt. Die Weißen hatten eine neue Welt gebaut – mit Maschinen, geraden Linien, rechten Winkeln –, und wenn es diese Welt war, deren Ende sie in dem Traum sah, wieso sollte sie sich dann um ihren Schlaf bringen lassen? Wenn die Welt der Dakota, der ersten Menschen, innerhalb von einer Generation vernichtet werden konnte, dann hatte keine Welt Bestand, und ganz sicher keine, die auf dem Blut und den Knochen ihres Volkes erbaut war.
Dieser Traum war kein Fluch, mit dem sie die Weißen verwünschte, wenngleich auch davon viele über ihre Lippen gekommen waren. Sie hatten ihre Mutter und ihren Vater ermordet; aber dies war keine Rachevision. Dieser Traum hatte sich ganz ungebeten in ihren schlafenden Verstand geschlichen, und in den drei Monaten seitdem war er zu einer nächtlichen Marter geworden, von der sie keine Erlösung finden konnte; er trieb sie heraus auf das Plateau jenseits der Reservation, wo sie stand und ihren Großvater um eine Antwort bat, die immer noch nicht gekommen war, nachdem sie nun sieben Nächte darauf gewartet hatte.
Es war stolze, starke Medizin in ihrer Familie, und sie wußte, wenn eine Traum-Suche kam, mußte sie ihr folgen, wo immer sie hinführte. Die Vision enthielt keine Medizin, die sie kannte – ein dunkler Turm erhob sich über lebloser Wüste in einen brennenden Himmel, unterirdische Tunnel, aus dem Fels gehauen, und sechs Gestalten, die sich die Hände reichten. Aus einem Loch in der Erde ritt der Schwarze Krähen-Mann auf einem Feuerrad. Die Bilder erinnerten sie an das, was die Christen ›Apokalypse‹ nannten, aber wenn es dazu käme, hätte sie keine Angst zu sterben: Wenn das Kämpfen begann, und wenn sie, wie in ihrem Traum, gerufen wurde, dann fürchtete sie nur eines, nämlich zu scheitern.
Dreißig Sommer. Viele Freier, nie ein Ehemann. Es war schwer, einen Mann zu akzeptieren, der nie auf die Jagd geritten war, einen Nicht-Kämpfer, einen Feder-Halter, der den Weg der Dakota verlassen hatte. Aber die Weißen hatten alle Starken getötet, und der Whiskey hatte den Rest erledigt. So hatte sie gelernt, zu reiten und zu schießen und Häute zu machen, und sie hatte sich zum Krieger gemacht, am Körper wie im Geist. Sie ging zur weißen Schule, wie das Gesetz es befahl; sie lernte ihre Worte zu lesen und zu verstehen, wie sie lebten. Sie tauften sie – eines ihrer vielen seltsamen Rituale, und dabei hielten sie ihr Volk für primitiv –, und sie nannten sie ›Mary Williams‹.
Wenn es ihr paßte, hörte sie auf diesen Namen und trug ihre Kleider – diese Röcke, diese unbequemen geschnürten Mieder – und malte sich hübsch an mit ihren Farben, aber einen Liebhaber nahm sie nur, wenn sie einen wollte, und selbst dann hielt sie Abstand. Schon als Kind hatte sie gewußt, daß sie sich auf ein Leben der Macht vorbereitete. Als die Träume anfingen, wußte sie, daß ihre Zeit endlich gekommen war. Schluß mit den Vorbereitungen.
Eine Eule umkreiste den aufgehenden Mond. Großvater hatte sie gelehrt, was es mit dem Geist der Eule auf sich hatte: Er hatte so starke Medizin besessen. Mehr als irgendeiner der Dickbäuche, die in den Familien der Hunkpapa oder der Oglala noch am Leben waren. Was würde er ihr wohl raten, wenn er jetzt bei ihr wäre?
Die Eule landete weich auf einem Kiefernast über ihr, legte ihre Flügel zusammen und spähte scharf zu ihr herunter. Und in den alterslosen Augen spürte sie die Gegenwart ihres Großvaters.
Geh wieder ins Bett und schlafe und warte auf den Traum. Der Traum ist die Frage und die Antwort. Der Traum wird dir sagen, was du tun sollst.
Die Eule zwinkerte zweimal und schwebte dann in die Nacht davon.
Sie erinnerte sich an noch etwas, das er ihr immer gesagt hatte. Überlege dir genau, was du von den Göttern erbittest.
Und Die Allein Geht kehrte in die Mauern der Reservation zurück. Der Schlaf würde schnell kommen, nach soviel Zeit.
THE NEW CITY, ARIZONA TERRITORY Cornelius Moncrief hatte Kingsize-Kopfschmerzen, und die Aussichten auf Besserung waren trübe; es gab keine Menschenseele im ganzen Westen, die er nicht dazu bringen könnte, die Dinge mit seinen Augen zu sehen – das war sein Job –, aber unversehens fragte er sich doch langsam, ob der Reverend A. Glorious Day noch einknicken würde. Scheiße. Noch nie hatte jemand einen Streit mit der Eisenbahn gewonnen, und wer war Cornelius Moncrief, wenn nicht die personifizierte Eisenbahn?
Der Himmel weiß, ich hab’s ihm sonnenklar gemacht -und höflich, beim ersten Mal wenigstens, wie immer, denn das ist Firmenpolitik –, aber dieser bibelschwenkende Bucklige in seinem schwarzen Gehrock mit den weiß aufgerissenen Augen, den gesträubten Zauselhaaren und der Höllenprediger-Attitüde scheint überhaupt nicht zu begreifen, welche Autorität ich habe. Was ist los mit diesem Clown? Ich bin hier, um die Bedingungen zu diktieren, und der flucht und wettert mich an, als wäre ich ein armer Sünder, der für die Erlösung zu haben ist.
Eins muß man ihm lassen: Der Kerl muß ein sagenhafter Prediger sein; ein Blick in das Kadavergesicht, und das Kleingeld in meiner Tasche würde schnurstracks in den Kollektenkorb wandern. Diese Visage gehört in einen Kasten mit zugenageltem Deckel. Irgendwelche Schrauben sind locker bei diesem Knaben, denn eins weiß ich: Mit Cornelius Moncrief ist alles in Ordnung.
Natürlich würde Cornelius sich von dem Seelenretter-Gequatsche des Reverend nicht den Appetit verderben lassen. Er hatte in den fünfzehn Jahren seines Einsatzes im Westen in einigen der riskantesten Winkel des Hinterlandes operiert. Mord, Vergewaltigung, beiläufige Gewalt – man konnte nicht erwarten, daß Grenzlandpioniere sich anders benahmen. Aber irgend jemand mußte den Willen der Eisenbahn durchsetzen, und Cornelius war der Troubleshooter Nummer eins für das Syndikat. Arbeitskämpfe, weggelaufene Kulis, rückständige Zahlungen – ihn setzten sie ein, um Ordnung zu schaffen, wenn alle anderen Möglichkeiten versagten. Cornelias trug ein Sharps-Büffelgewehr in einem Spezialkoffer bei sich, und in seinem Gürtel steckte ein 45er Colt mit Buntline-Lauf und Perlmuttgriff. Mit seinen eins neunzig und seinen zweihundertundachtzig Pfund, mit dem Sharps und dem schinkengroßen Colt war ihm bisher noch nichts über den Weg gelaufen, womit er nicht fertig geworden wäre.
Aber Cornelius war kribblig wie von schlechter Geigenmusik, seit er in diesem Provinznest vom Pferd gesprungen war.
The New City. Wieso nennt ihr dieses Kaff ›Die Neue Stadt‹? wollte er den Reverend fragen. Gab’s denn ’ne ›Alte‹? Und wieso das ›Die‹? Und was soll das besäuselte Grinsen bei all diesen Halbaffen hier? Er hatte kein einziges Wort des Widerspruchs von den Bürgern hier gehört – Nigger, Indianer, Schlitzaugen, Mexikaner, Weiße, alles durcheinander, und alle so nett und freundlich zu ihm, daß man denken konnte, er wäre Gentleman Jim Corbett, der zu ’nein Meisterschaftskampf im Schwergewicht hergekommen war. Was hatten diese puddingköpfigen Matschbauern bloß, daß sie so aufgekratzt waren? In ihrem Rattennest von wackligen, fliegenverseuchten Bruchbuden fünfzig Meilen weit von Nirgendwo, mitten in der Wüste von Arizona? Die Straße führt geradewegs durchs Höllental und biegt dann ab nach Skull Canyon; sogar die gottverdammten Apachen hatten Verstand genug, ihre Wigwams nicht so weit draußen im Sand aufzustellen. Kein fließendes Wasser, keine Elektrizität. Du lieber Himmel, nicht mal ’nen vernünftigen Saloon hatten sie hier: The New City ist eine ›trockene Gemeinde‹, erzählen sie einem ganz glücklich und grinsen dabei, die Erbsenhirne.
Aber ein Opernhaus haben sie gebaut, mitten auf der Hauptstraße. Theaterkompanien kommen her und geben Vorstellungen; wenn sie hier draußen abkratzen, dann nicht aus Mangel an Unterhaltung. Aber abseits der Hauptstraße gibt’s in der ganzen Stadt kein einziges Gebäude mit mehr als vier Wänden und einem Holzboden, abgesehen von der großen schwarzen Kirche am Stadtrand.
Wie hatte der Reverend sie genannt? ›Die Kathedrale‹.
Nun war Cornelius in St. Louis gewesen, in New Orleans und in San Francisco, und dieses Ding sah nicht aus wie die Kathedralen, die er schon zu Gesicht bekommen hatte: Türme, Zacken, schwarze Steine, weit und breit kein einziges Kreuz, Treppen, die sich hierhin und dahin wanden. Sah eher aus wie eine Burg in diesen Kindermärchen. Aber immerhin groß genug, um in jede dieser anderen Städte zu passen. Und wuchs schnell weiter – ein ganzer Stock voller Arbeitsbienen …
Das war’s, woran ihn dieser Ort erinnerte: ein Bienenstock. Die Leute summten herum, als hätten sie zuviel zu tun und keine Zeit, es zu schaffen.
… und unter der Erde waren Sprengarbeiten im Gange; seit seiner Ankunft hörte er rund um die Uhr gedämpfte Explosionen. Mußte wohl ’ne Art Bergbau sein, in den hohen Felsen hinter dem Turm, Quarz, vielleicht auch Silber oder Gold. Irgendeine Art von frischem Geld finanzierte dieses verrückte Kaff.
Cornelius schmorte im eigenen Saft. Erst lassen sie ihn den halben Vormittag über im Wohnzimmer des Reverend warten, ohne ihm auch nur eine Limonade anzubieten, um den Staub runterzuspülen. Dann darf er in einem Zimmer mit dem Obergockel Platz nehmen, und er hat kaum hallo gesagt, als der Reverend auch schon mit einer donnernden Tirade gegen die Schlechtigkeit des Menschen loslegt, und wie es The New City vorherbestimmt sei, sich aus der Wüste zu erheben und eine Welt ohne Sünde zu schaffen – weshalb er nicht zulassen könne, daß die Eisenbahn den fauligen Makel der Zivilisation in ihren Garten Eden bringe.
Gleich von Anfang an will Cornelius ihn unterbrechen: Spar dir deinen Atem, Freundchen; ich bete nicht mal zu deinem Gott, auch wenn ich hin und wieder einen Chinamann zu Ihm schicke. Aber so sehr er sich auch bemüht, Cornelius findet keine Gelegenheit, seinen eigenen Sermon vorzutragen, wie doch niemand, der seine sieben Zwetschgen beieinander habe, die Eisenbahn in Frage stellen könne-
Wenn man’s sich überlegte …
Ein Trupp Kulis war vor drei Monaten von der Baustelle der Nebenstrecke Nord-Süd-Arizona desertiert; eine Tonne Material hatten sie auch gleich mitgehen lassen, Sprengstoff und dergleichen. Keine hundert Meilen von hier. Und er hatte mehr als eine Handvoll Chinesengesichter im Gedränge gesehen, als er hier angekommen war … könnte also sein, daß dieser kleine Ausflug doch noch der Mühe wert war.
Aber während ich hier sitze und dem Geseire dieses Pfaffen zuhöre – nicht, daß es mich auch nur halb interessiert, worüber er sich da den Mund fransig redet, aber es liegt doch etwas Eigentümliches in der Stimme des Reverends, das es mir schwer macht, meinen Spruch anzubringen: ein Summen im Zimmer, wie ein paar Pferdebremsen oder ein Bienenschwarm Was steht da auf dem Pult des Reverend?
Sieht aus wie eine … eine Schachtel mit Nadeln. Das ist es. Nadeln. Eine offene Nadelschachtel. Noch nie Nadeln gesehen, die so aussahen. Glänzend. Lang. Sehen neu aus. Müssen neu sein. Was ist da bloß dran? Sind sie neu?
»Ganz recht, Mr. Moncrief. Glänzende neue Nadeln.«
»Wie bitte?« sagte Cornelius, ohne den Blick von der Schachtel zu wenden. Nicht, daß er es wollte. Er fühlte sich wohl, ganz warm innerlich, so gut wie seit seiner Ankunft hier nicht mehr … wann war das gleich gewesen – gestern?
»Gehen Sie nur und schauen Sie sie an. Es ist kein Problem, die Nadeln anzuschauen, oder, Mr. Moncrief?«
Cornelius schüttelte langsam den Kopf. Wärme breitete sich in ihm aus, tief und schnell, wie Kentucky Bourbon aus einem kühlen Glas. Er konnte sich entspannen. Es war kein Problem, die Nadeln anzuschauen.
»Nehmen Sie sich soviel Zeit, wie Sie brauchen. Das ist in Ordnung.«
Reverend Day rührte sich nicht. Stand hinter dem Schreibtisch. Konnte ihn nicht anschauen. Augen wurden weich …
Die Nadeln regten sich in der Schachtel. Es war Leben darin. Ja, er wußte es. Sie verschoben sich, rieselten übereinander, und dann kamen die Nadeln schnell, eine nach der anderen, aus der Schachtel und blieben vor ihm in der Luft hängen. Glänzend wie Zierat, Weihnachtsflitter – nein, das Licht flackerte auf ihnen, Reflexe flogen hoch im Zimmer umher: wie Diamanten. Händevoll Diamanten.
»Schön«, flüsterte Cornelius. »So schön …«
Laute um ihn herum. Klare Glocken. Vogelgesang. Flüsternde Summen.
»Schau ihnen jetzt zu, Cornelius.«
Er nickte. So glücklich. Die Stimme des Reverends verschmolz süß mit diesem Glockenklang. Andere Stimmen wurden klarer: ein Kirchenchor.
Die Nadeln formten einen Vorhang, der schimmernd vor seinen Augen tanzte, an seiner Oberfläche erschienen immer wieder neue Bilder: silberne Felder mit hohem Gras, das im Wind schwankte. Sonnenblitze auf einer Schneedecke. Helles, klares Wasser, das durch eine Wiese mit gelben Blumen sprudelte …
Leben, soviel Leben. Fische in einem Bach, wilde Pferde, die einen grün bewachsenen Canyon hinuntergaloppierten. Ein Puma, der friedlich durch Herden von grasenden Antilopen und Hirschen streifte. Falken kreisten am wolkenlosen Saphirhimmel. Und dort, tief unten, dicht über dem Horizont, was war das? Welch absolute Vollkommenheit von Linie, Farbe und Form blendete da sein Auge?
Eine Stadt erblühte aus der Wüste wie eine Treibhaus-Orchidee. Eine Oase umgab ihre Türme, die tausend Fuß hoch dem Himmel entgegen ragten. Türme aus Glas oder Kristall, rot, blau und bernsteinfarben, funkelten im strahlenden Sonnenschein wie ein Baldachin aus Juwelen.
Tränen strömten Cornelins über die Wangen. Seine Lippen sprudelten von unaussprechlicher Freude. Er fühlte, wie sich tief in seiner Brust etwas löste, und sein Herz ging auf wie nächtlicher Jasmin.
Durch die transparenten Mauern der Stadt sah er ein noch größeres Strahlen, das ihr Inneres beleuchtete. Ein gewisperter Gedanke, und er glitt auf das Licht zu, schwebte durch die Mauern, als wären sie ein stoffloser Dunst. Dort unten waren Leute, eine große Zahl, friedlich versammelt auf einem von Bäumen gesäumten Rasen um eine erhöhte Plattform, von der das Licht ausging. Er schwebte jetzt über der Menge, und noch nie hatte er so friedliche, gastliche Gesichter gesehen; sie streckten ihm die Hände entgegen und leiteten ihn behutsam hinab in die warme Umhüllung ihrer Umarmung.
Liebe. Sie liebten ihn. Er spürte, wie es seine Sinne überflutete und jeden Winkel seines Herzens erfüllte. Die Liebe strömte von dieser Menge in ihn hinein; oh, welch machtvolle Gefühle empfand er dafür …
Er liebte sie alle so sehr.
Die Menge ringsumher wandte sich wie auf ein Kommando einer Lichtgestalt zu, die erhöht auf einem Sockel in der Mitte stand. Er hielt den Atem an: Das Licht kam aus dem Innern einer unirdischen Schönheit. Verschwommen die Gestalt, unklar die Züge – golden, glänzend –, und aus dem Innern strahlte ein Lichtkranz von perfekter Liebe und Großzügigkeit und Frieden.
Eine Titanengestalt. Schwingen breiteten sich aus, weiter, als das Auge reichte. Unmöglich, ihre Spannweite zu messen.
Ein Engel.
Augen fanden ihn: große, runde Himmelsscheiben. Sein Engel. Hier für ihn, und nur für ihn. Augen hielten ihn in der Umarmung ihres Blicks. Liebten ihn. Ein Lächeln, ein Segen. Der Engel sprach ohne Worte; er hatte die Worte im Herzen.
»Bist du glücklich hier, Cornelius?«
»O ja.«
»Wir haben auf dich gewartet.«
»Auf mich gewartet?«
»Endlos lange gewartet. Wir brauchen dich, Cornelius.«
»Wirklich?«
»Der Augenblick ist nahe. Es gibt so viel für dich zu tun.«
»Ich will euch helfen.«
»Du bist sehr schlecht behandelt worden von diesen Leuten, von diesen Leuten dort draußen.«
Tränen liefen ihm über das Gesicht. »Ja.«
»Sie verstehen dich nicht, oder? Nicht so wie wir.«
»Nein.«
Die Unermeßlichkeit des Engels füllte sein Gesichtsfeld aus, und seine Stimme hallte tief durch jede Faser seines Körpers.
»Möchtest du hierbleiben, bei uns, Cornelius?«
»Das möchte ich, ja. Das möchte ich so sehr.«
Der Engel lächelte. Wind zerzauste Cornelius’ Haar, und es klang wie tausend gedämpfte Trommeln. Hände falteten sich in stillem Gebet; der Engel schlug wieder mit den Flügeln und stieg von der Plattform auf zum Firmament. Alle Augen wandten sich himmelwärts und schauten ihm nach. Musik schwoll zu einem großartigen Crescendo und ertränkte das selige Gemurmel der Menge. Cornelius lächelte, denn jetzt teilte er ihr geheimes Wissen. Er war zu Hause.
4
Leblos die See um sie herum. Schwarzes, öliges Wasser in der Flaute: ein falscher Friede und die sichere Verheißung von Gewalt. Unbestimmte, böse Formen zuckten unter der Oberfläche dahin. Regenfronten verhängten den Horizont im Norden mit schwarzen Vorhängen. Tristes Licht von Westen, gelb und fettig auf dem schmierigen Schaum. Gleich würde hinter ihnen der Vollmond aufgehen, ein präzises Gegengewicht zur untergehenden Sonne Doyle stand achtern an der Steuerbordreling und bemühte sich, ungefähr ihre Position auf See zu berechnen: kurz vor dem 30. Längengrad, bei 50 Grad Nord. Das nächste Land waren die Azoren, tausend Meilen weit südlich. Er hörte das Heulen der Schrauben unter sich. Die Maschinen stampften. Innes würde jeden Augenblick kommen; hier am Ende des Schiffes würde niemand sie belauschen.
Doyle betrachtete seine Skizze von der Kritzelei an Seligs Kabinenwand und bemühte sich verzweifelt, einen Sinn hineinzubringen. Er hatte den ganzen Tag über an dem Problem gearbeitet und war quälend dicht davor, das Geheimnis zu entwirren, aber das letzte Stückchen, welches das Puzzle vollenden würde, blieb stets knapp außer Reichweite. Und noch immer keine Spur von diesem Geistlichen, Father Devine. Es widerstrebte ihm, zu Kapitän Hoffner zu gehen, solange er nicht mehr vorzuweisen hatte als seine derzeitigen Schlußfolgerungen, aber die Gefahr war unübersehbar: Wenn er es nicht täte, würde Lionel Stern die Nacht vielleicht nicht überleben.
Da kam Innes.
»Neben dem, was in ihrer Kabine verstaut ist, haben Rupert Selig und Lionel Stern vier Gepäckstücke bei sich«, sagte Innes und holte eine Liste hervor. »Einen Schiffskoffer, zwei Reisekoffer, eine Kiste. Habe alles selbst gesehen; stand im Laderaum, unberührt.«
Doyle zog erstaunt die Brauen hoch. »Hab diesem Knaben im Maschinenraum einen Fünfer zugesteckt.«
»Gut gemacht.«
»Die Kiste ist mit einer intakten Zollbanderole versiegelt. Ungefähr so groß wie eine große Hutschachtel. Schätze, das wird wohl das Buch Sohar sein, was?« Doyle sagte nichts. »Wo ist Stern jetzt?« fragte Innes.
»In der Kapitänskabine, für den Augenblick gut versorgt. Beim Tode eines Zivilisten auf See fällt ein unglaublicher Papierkram an.«
»Ist mir nie in den Sinn gekommen. Was machen sie mit dem Leichnam?«
»Gekühlte Kabinen. Eine Notwendigkeit auf jedem Kreuzfahrer mit älterer Klientel, darunter nicht wenige Übergewichtige, Apoplektiker, Sklerotiker …«
Innes erschauderte unwillkürlich. »Hoffentlich nicht allzu nah bei der Küche.«
»Separater Bereich. Näher beim Laderaum, wo sie auch die Särge verstauen, deren Verladung wir im Hafen mitangesehen haben.«
»Kann einem glatt den Appetit verderben.« »Hör zu. Der Schiffsarzt besteht darauf, Seligs Tod als natürlich zu registrieren«, sagte Doyle. »Nicht im Ernst.«
»Alle äußeren Anzeichen deuten darauf hin, daß Selig an einer akuten Koronarinsuffizienz gestorben ist. Auch ich kann das nicht bestreiten, und sicher wollen seine Mörder uns genau das glauben machen. Es gibt an Bord nicht die nötigen Einrichtungen, um eine ordentliche Autopsie durchzuführen, und wenn es sie gäbe, würden die Resultate dem Anschein nicht unbedingt widersprechen. Und das letzte, was der Kapitän an Bord seines Luxusliners gebrauchen kann, ist müßiges Gerede über die Ermordung eines Passagiers.«
»Aber natürlich ist dies genau das, was wir vermuten.« »Einen Mann zu Tode erschrecken? Eine Überdosis Adrenalin durch seinen Organismus schießen zu lassen, so daß sein Herz buchstäblich explodiert? Ja, das würde ich als Mord bezeichnen.«
»Was konnte der Auslöser gewesen sein?«
Doyle hob die Schultern.
« Vielleicht hatte er ja einen Blick auf den Schiffsgeist geworfen, der dort unter Deck herumspaziert«, meinte Innes.
»Gütiger Himmel.« Doyle starrte seinen Bruder mit großen Augen an, als habe er einen Hammerschlag abbekommen.
»Fehlt dir etwas, Arthur?«
»Ja, natürlich, das ist es. Gut gemacht, Innes.«
»Was denn?«
»Du hast die Nuß geknackt, mein Alter«, sagte Doyle und zog ihn hastig zur nächsten Luke.
»Ich?«
»Geh noch einmal zu deinem Maschinisten. Er soll eine Feueraxt holen, einen Hammer und ein Brecheisen. Es wird Zeit, daß wir uns mit Mr. Stern und Kapitän Hoffner unterhalten.«
Der Maschinist richtete den Strahl seiner Laterne in die dunkle Nische des Laderaums und löste mit dem Lichtschein eine versiegelte, rechteckige Versandkiste aus dem Gewirr der Ladung.
»Ist das Ihre Kiste, Mr. Stern?« fragte Doyle.
»Ja«
»Ich bin sicher, wir sind alle höchst interessiert, Mr. Doyle«, sagte Kapitän Hoffner mit strapazierter Höflichkeit, »aber ich fürchte, ich sehe den Sinn dieser Übung nicht ganz ein …«
Doyle hob die Axt, und mit einem schnellen, genau bemessenen Hieb hatte er den Deckel der Kiste in Stücke geschlagen. Stern schnappte nach Luft. Doyle streckte die Hand aus, langte zwischen den Splittern hindurch und forderte den Inhalt der Kiste zutage: ein großes, rechteckiges Bündel weißer Blätter.
»Genau abgewogen, damit es Ihrem Buch Sohar entspricht«, sagte Doyle zu Stern und balancierte den Papierstapel auf der flachen Hand.
»Das wußte ich nicht, ich schwöre es«, protestierte Stern. »Ich meine, ich habe ihnen doch zugesehen, ich war in London dabei, als das Buch in die Kiste gepackt wurde.«
»Wie es scheint, hatte Ihr verstorbener Partner Mr. Selig andere Pläne, was vielleicht seine Abneigung gegen das Verlassen Ihrer Kabine erklärt.«
»Was hat das alles zu bedeuten, bitte sehr?« fragte Hoffner.
»Ich muß Sie einen Augenblick um Geduld bitten, Captain; ich werde sofort darauf zurückkommen«, sagte Doyle; er warf das Papier hin und legte sich die Axt über die Schulter. »Wenn Sie jetzt so gut sein wollen, uns zu unserer nächsten Station zu begleiten … Innes?«
Innes winkte, und der kleine Maschinist – insgeheim entzückt über ein Schauspiel, bei dem sein steifer, disziplinbesessener Kapitän vor diesem verrückten Engländer dienerte – führte sie durch ein Labyrinth von Gängen und Luken in einen benachbarten Laderaum. Der eisige, unwirtliche Ort wurde beherrscht von einer Reihe viereckiger Stahlkammern mit hakenförmigen Türklinken. Nackte Glühbirnen hingen von der Decke; ihr fahles Licht versagte vor den Dünsten der Verwesung, die hier die Luft durchdrangen.
»Ist es gestattet zu fragen, was wir in der Leichenkammer zu suchen haben?« fragte Hoffner.
Innes hielt ihm die Laterne, während Doyle eine der Kühlkammern aufbrach und die verdeckte Metallwanne herausrollte. Man erkannte die starren, tuchverhüllten Umrisse eines Leichnams. Er schlug das Laken vom Gesicht, zog leidenschaftslos die unteren Augenlider des verstorbenen Rupert Selig herunter und entblößte blutverstopfte Spinnweben aus blauen und violetten Kapillargefäßen.
»Im Gegensatz zu der Ansicht Ihres Schiffsarztes, er sei für einen Mann seines Alters bei bester Gesundheit gewesen, litt Mr. Selig an einer Herzerkrankung und an schwerem Bluthochdruck, was, wie Sie erkennen werden, an diesen zahlreich geplatzten Blutgefäßen im weichen Gewebe unter den Augen zu erkennen ist – ein Zustand, den er sogar Ihnen verheimlicht hat, Mr. Stern. Sie wußten doch nichts davon, oder, Sir?«
Stern schüttelte den Kopf.
Doyle zeigte den Anwesenden ein kleines gläsernes Arzneifläschchen mit runden weißen Tabletten. »Mr. Selig trug dieses homöopathische Mittel – eine Mischung aus Kalium, Kalzium und Jodtinktur von großer Popularität, aber geringem erwiesenen Nutzen – in einer verborgenen, ins Futter seiner Jacke genähten Tasche bei sich.«
»Das ist alles gut und schön, Mr. Doyle, und es bestätigt die Schlußfolgerung meines Arztes, daß eine Herzattacke den Tod dieses Herrn herbeigeführt habe. Aber was hat das mit –«
Doyle hob die Hand und schnitt Hoffner noch einmal das Wort ab. »Eins nach dem andern, Captain. Hier waltet ein Plan, den ich, wenn Sie mir vertrauensvoll Gehör schenken, in der gebührenden Abfolge ans Licht bringen werde.« Doyle warf das Laken wieder über Seligs graues Gesicht und gab der Wanne einen Stoß, der sie mit metallischem Scheppern, das durch den düsteren Raum hallte, an ihren Platz zurückbeförderte.
»Innes, würdest du bitte …«, sagte Doyle. Innes nahm dem Maschinisten die Lampe ab und leuchtete in die hintere Ecke des Raumes. Dort stand eine geordnete Reihe von Särgen auf dem Boden.
»Sie haben diese fünf Särge in Southampton als Ladung an Bord genommen. Trifft das zu, Captain?« »Ja. Und?«
»Alle von demselben Spediteur, nehme ich an?« »So wäre es üblich.«
»Ich werde in Kürze die Ladepapiere in Augenschein nehmen wollen«, sagte Doyle und ließ sich von dem Maschinisten Hammer und Brecheisen aushändigen. »Es gab nur eine unüberwindliche Schwierigkeit in der Abfassung meiner Theorie. Wie wir bei der Einschiffung gesehen haben, waren die Sicherheitsmaßnahmen absolut luftdicht – was man über diesen Sarg hier nicht sagen kann.« Doyle trieb das Stemmeisen mit dem Hammer in einen Spalt unter dem Mahagonideckel des ersten Sarges.
»Mein Gott, Sir, bedenken Sie doch, was Sie da tun –« Hoffner machte Anstalten, Doyle an der Fortsetzung der Exhumierung zu hindern. Innes umfaßte seinen Arm mit starker Hand und hielt ihn zurück, während Doyle fortfuhr.
»Wenn eine Bande von Berufsmördern sich an Bord der Elbe geschlichen hat – und ich versichere Ihnen, Captain, daß wir es eben damit zu tun haben –, dann ist es ihnen nicht gelungen, indem sie vor aller Augen die Gangway hinaufschlenderten, sondern auf einem weniger konventionellen Wege –«
»Ich muß Ihnen befehlen, auf der Stelle damit aufzuhören –«
»Sie werden sich erinnern, daß einer ihrer Passagiere irgendwo im Laderaum die Schreie eines ›Geistes‹ gehört haben will, als wir gerade einen Tag auf See waren –« Doyle wuchtete das Stemmeisen hoch. Unter dem durchdringenden Protestgekreisch der Nägel löste sich der Sargdeckel von den Seitenwänden und hob sich einen Zollbreit. Das Kreischen hallte gespenstisch durch die stählernen Korridore, die sich ringsum verzweigten. Doyle packte die freigelegte Kante des Sargdeckels mit festem Griff und zog ihn vollends auf.
»Dies ist eine Schändung –« Kapitän Hoffner riß sich von Innes los und stürzte herbei, nur um zu entdecken, daß das dick gepolsterte, mit rosafarbenem Satin gefütterte Innere des Sarges leer war. Mit offenem Mund starrte er Doyle an.
»Auf die Schreie des ›Geistes‹ folgte kurz darauf ein lautes, rhythmisches Klopfen.«
Doyle ließ den Deckel zufallen und hämmerte die Nägel wieder hinein.
»Schauen Sie genau hin, und Sie werden die Kerben erkennen können, die sie beim neuerlichen Einschlagen der Nägel hinterlassen haben.« Doyle winkte Hoffner noch dichter an die Kiste heran. »Ihre Laderaumbesatzung hat mir zudem versichert, daß jeder Sarg das volle, bewegliche Gewicht eines Körpers enthalten habe, als sie an Bord getragen wurden. Wenn Sie sie jetzt auch hier unten aufmerksam untersuchen wollen, Captain, dann werden Sie sehen, daß winzige Löcher in die Ecken gebohrt wurden, um die Luftzirkulation zu gewährleisten.«
Hoffner strich mit dem Finger über die Bohrlöcher. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Mit einer Entschuldigung bei Mr. Stern wäre vielleicht eine kluger Anfang gemacht. Und wenn das nächste Mal einer Ihrer Passagiere zu Ihnen kommt, weil er für seine persönliche Sicherheit fürchtet, dann wäre zu hoffen, daß Sie ungeachtet seiner religiösen oder kulturellen Zugehörigkeit mit einem Entgegenkommen reagieren, das Ihrer Position besser geziemt.«
Hoffner wurde puterrot. Er riß Doyle den Hammer und das Brecheisen aus der Hand. Drei Minuten später waren vier weitere leere Särge geöffnet, und Hoffner, atemlos und zerknirscht, legte das Werkzeug aus der Hand.
»Mr. Stern«, sagte er hochaufgerichteten Hauptes, »bitte nehmen Sie meine tiefempfundene, aufrichtige Entschuldigung entgegen.«
Stern nickte und wich dem Blick des Kapitäns aus.
»Sie haben fünf blinde Passagiere an Bord, Captain. Auf einem Schiff dieser Größe gibt es Dutzende von Möglichkeiten, sich zu verstecken. Ich brauche Ihnen nicht vorzuschlagen, daß Sie alle entsprechenden Maßnahmen ergreifen sollten.«
»Nein. Ja, natürlich. Wir werden unverzüglich das ganze Schiff durchsuchen.« Hoffner wischte sich über die Stirn, und seine Gedanken überschlugen sich. Er betrachtete sich zuoberst als einen Mann der Vernunft und erst in zweiter Linie als einen Mann der Tat.
»Ein gemeinsamer Versuch, den irischen Priester Father Devine zu finden, wäre ebenfalls angebracht«, sagte Doyle.
»Wieso das?«
»Weil dieser Mann kein Priester ist. Er ist ihr Anführer.«
In diesem Augenblick gingen die Lichter aus.
SAN FRANCISCO, KALIFORNIEN
Wer diesen Ort ›Teufelsküche‹ nennt, wird ihm nicht gerecht, dachte Kanazuchi und beobachtete, wie eine Ratte eine Kakerlake jagte. Er lag auf einer verlausten Decke, die über eine hölzerne Pritsche gebreitet war, ein Lager, das er für die fürstliche Summe von zwei Pennies pro Nacht sein eigen nennen durfte. Die Pritschen von zwanzig weiteren Wanderarbeitern füllten eine Kammer von fünfzehn Fuß im Quadrat, eine von vier gleichermaßen verstopften Absteigen im dritten Stock eines vierstöckigen Mietshauses im Zentrum von Tangrenbu, jener zwölf mal zwölf Häuserblocks in dem Innenstadtbezirk von San Francisco, den die Weißen »Chinatown« nannten.
Im Keller befand sich eine Opiumhöhle, und unter den armen, ungebildeten Bauern hier – unter ihnen viele Landarbeiter, die jeden Herbst, wenn die Ernte im großen Tal eingebracht war, in die Stadt fluteten – kursierten Gerüchte, denen zufolge in der Nacht ein Dämon durch die Korridore streifte, auf der Jagd nach Seelen, die er verschlingen könnte. In letzter Zeit waren im Hof hinter dem Haus die Leichen von insgesamt drei Männern entdeckt worden, mit durchgeschnittener Kehle und herausgerissenem Herzen. Opfergaben, die sie auf Altären vor ihren Zimmertüren deponierten, die paar Münzen, die die Chinesen, mit vereinten Kräften zusammenkratzen konnten, schienen das Ungeheuer zu versöhnen. Jede Nacht hörten sie, wie es draußen herumstöberte, und jeden Morgen waren die Gaben verschwunden. Aber in der Woche, seit sie mit dem Opfern angefangen hatten, war niemand mehr ermordet worden.
Von den vierhundert Männern, die hier im Hause wohnten, hatte nur einer den Dämon gesehen und überlebt, um darüber zu berichten: der Obmann, ein pockennarbiger, dickhalsiger Rüpel, dem es oblag, die tägliche Miete und seit kurzem eben auch das Opfergeld einzusammeln. Er bezeugte, dieser Dämon habe den Kopf eines Drachens, tausend Augen und zehn gierige Mäuler, ein erstklassiger Dämon, einer von den zehntausend, die ihr komplexes Glaubenssystem bevölkerten. Er habe beobachtet, wie der Dämon mit seinen grausigen Klauen den Männern, die man im Hinterhof gefunden hatte, die Brust aufgerissen habe – so mühelos, wie man eine Orange schält.
Jetzt wurde jedes Zimmer abends vom Obmann abgeschlossen, aber selbst wenn es noch möglich gewesen wäre, hätte keiner dieser Männer sich nach Einbruch der Dunkelheit auf den Gang hinausgewagt, wodurch die persönliche Notdurft zu einem Anliegen wurde, dem sich an Ort und Stelle zu widmen war. Es gab Gelegenheiten, da Kanazuchi sich wünschte, seine Sinne wären nicht ebenso scharf wie die Klinge des Grasschneiders in seinem Bündel neben ihm; der reife Gestank dieser ungewaschenen Provinzler war eine solche Gelegenheit.
Dergestalt von Angst, Schmutz und Armut umgeben, wußte Kanazuchi, daß seit seiner Ankunft am Tag zuvor niemand Notiz von ihm genommen hatte; aber daß er sich des Nachts nicht frei bewegen sollte, war nicht hinzunehmen. Seufzen, gutturales Schnarchen, das Wimmern eines geplagten Träumenden, das alles untermalte die Dunkelheit ringsumher. Er wollte den Raum erst verlassen, wenn alle Bewohner fest schliefen, und der dünne Mann mit dem Fieber zwei Pritschen weiter wälzte sich immer noch hin und her.
Kanazuchi hatte in der vergangenen Nacht wieder seinen Traum gehabt, und ein Bild sprang mit handfester Klarheit daraus hervor, eine Spur, der nachzugehen sich lohnte:
Chinesische Gesichter bei der Arbeit in einem Tunnel.
Die ersten beiden Tage in Dai Fow – der Big City, dem Neuen Goldenen Berg, wie die Chinesen San Francisco nannten – hatten keinerlei Licht in dieses mysteriöse Bild gebracht. Niederes Volk wie diese unwissenden Slumbewohner war keine Hilfe. Er hatte erwogen, Bekanntschaft mit den Kaufleuten in der Umgebung zu pflegen, aber sie sprachen einen kultivierteren Dialekt als das gutturale Mandarin, mit dem er die Überfahrt gemeistert hatte; er würde noch eine Woche brauchen, ehe er ihn in all seinen Nuancen beherrschte, und sie waren notorisch verschlossen gegen jedermann, der nicht zu einer ihrer Bruderschaften,
den ›Tongs‹, gehörte. Die andere Möglichkeit war, aus dem Ghetto hinaus in die weißen Viertel der Stadt zu gehen, aber alle, mit denen er in Tangrenbu darüber gesprochen hatte, hatten ihn davor gewarnt. Eine Woge von antiasiatischer Wut hatte Amerika in den letzten Jahren erfaßt; die Verbrechen gegen asiatische Einwanderer in den Chinatowns überall an der Westküste waren stetig schlimmer geworden: Morde, Straßenschlachten, Lynchaktionen. Immer wenn die Weißen einen Sündenbock für ihr wirtschaftliches Mißgeschick brauchten, sprach die öffentliche Meinung mit Nachdruck von der ›gelben Gefahr‹, und unausweichlich folgten dann diese Akte rassistischer Barbarei. Was konnte man von einem so unzivilisierten Volk aber auch erwarten? Kanazuchi zögerte, die Weißenviertel zu betreten, da er befürchten mußte, angegriffen zu werden – jedoch nur, weil es unnötige Komplikationen nach sich ziehen würde, wenn er in der Öffentlichkeit einen Weißen umbrächte.
Eins nach dem andern also: Der direkte Weg zu den Erkenntnissen, die er suchte, lag vielleicht unmittelbar vor ihm.
Der Mann zwei Pritschen weiter war zur Ruhe gekommen; er atmete angestrengt, aber langsam und regelmäßig. Kanazuchi schulterte sein Bündel und stieg über die Schlafenden hinweg; dabei achtete er darauf, nicht auf eine der vier knarrenden Dielen zu treten. Am Bett des Obmanns neben der Tür blieb er stehen. Mit der Spitze seines wakizushi -des langen Messers – fischte er behutsam den Zimmerschlüssel unter der Pritsche hervor. Er war mit einem Wildlederstreifen an einem Brettchen befestigt; mit einer knappen Drehung des Handgelenks schnitt er ihn ab.
Einen Augenblick später stand er draußen im Gang; seine Augen hatten sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt. Die Luft war beißend vom Rauch der Räucherstäbchen auf den Altären, auf denen sich immer noch Früchte und Münzen türmten. Kanazuchi untersuchte den Staub auf dem Boden; hier war niemand entlanggegangen, seit die Türen um Mitternacht, zwei Stunden zuvor, verschlossen worden Waren. Er glitt in die Mitte des Korridors, in die Nähe der Treppe, verschmolz mit den Schatten, blieb stehen und lauschte.
Schlafende atmeten in den vier Zimmern auf dieser Etage, in den Zimmern darüber und darunter. Schaben raschelten in den Wänden. Er verlagerte die Wahrnehmung seiner ungewöhnlichen Sinne weiter nach außen, eine alte, vertraute Übung, in die er so mühelos einstieg, wie man ein oft getragenes Kleidungsstück anlegt.
Draußen warf eine Straßenkatze einen Mülleimer um. Ratten stöberten umher. Eine Kutsche ratterte vorüber. Betrunkene lachten. Schrille Verhandlungen einer Prostituierten. Pferde rumorten, stampften mit den Hufen, schnaubten in den Stallungen nebenan. Schritte. Sie näherten sich.
Er holte das Netz seiner Sinne ein und warf es im Erdgeschoß des Hauses aus.
Ein Mann trat ein. Schwer. Groß, nach der Länge der Schritte zu urteilen. Lederstiefel, wie man sie im Westen trug. Ein Sack schleifte hinter ihm über den Boden. Ein Rasseln, Zischen wie von einer Schlange. Ein sanftes Fegen, das Klimpern von Münzen, die zusammenfallen. Metallisches Schlagen, das Klirren von blechernen Becken.
Die Schlafenden erwachten in den unteren Stockwerken. Furchtsames Wispern. Ducken. Niemand, der sich von seiner Pritsche erhob.
Schritte kamen die Treppe herauf. Erster Stock. Trommelschlag, der Beckenklang lauter jetzt: Zischen und Rasseln. Noch mehr Münzen eingesammelt: näherkommend.
Entsetzen verbreitete sich im Haus. Gebetsgemurmel, panisch klappernde Perlenschnüre. Kanazuchi wandte seinen Geist ab von den schnatternden Bauern und auf die bleischweren Schritte, die da die Treppe heraufkamen.
Der Dämon hatte den Treppenabsatz erreicht. Eine klobige, einschüchternde Gestalt. Drachenkopf, gefiederte Glieder, Raubvogelklauen, die ein Tambourin umklammerten und damit gegen die Hüften schlugen. Ein großer Jutesack schleifte hinterher, polterte die Stufen herauf.
Als der Dämon im zweiten Stock angelangt war, fiel ihm eine Goldmünze vor die Füße. Er blieb stehen, schaute nach unten. Gold: Der Dämon griff danach. Ein Schatten bewegte sich. In der Sekunde vor dem Ende seines Bewußtseins registrierte der Verstand des Dämons Verwirrung und ein silbernes Blitzen, das sich auf ihn zu bewegte: Das Schwert schnitt so schnell, daß die Augen des Dämons immer noch Informationen an sein Gehirn sendeten – der Flur drehte sich unkontrollierbar, als der Kopf rückwärts die Treppe hinunterkullerte, weg von dem Körper, der noch dastand.
Kanazuchi hatte den Schnitt schräg nach oben ausgeführt, damit der Körper des Dämons seine Kleider nicht mit Blut bespritzte. Er schob den Grasschneider in die Scheide und griff noch rechtzeitig zu, um den Körper lautlos zu Boden gleiten zu lassen, als die Arterien ihr Blut hervorzupumpen begannen. Leichtfüßig sprang er auf den Treppenabsatz hinunter und zog den Kopf des Dämons aus der billigen Drachenmaske aus Papier – Augen und Mund vor Überraschung weit aufgerissen: das flache, dumme Gesicht eines gewöhnlichen Ganoven.
Kanazuchi zog die Flöte aus dem Gürtel der Leiche und lief zurück zu seinem Zimmer.
Als der Obmann hörte, wie der Dämon draußen stehenblieb, griff er nach seinem Schlüssel, und als er merkte, daß der Schlüssel fort war, nach seinem Messer. Das Messer war auch nicht mehr da. In diesem Moment schwang die Tür auf, und er hörte das hohle, schilfdünne Pfeifen eines unheilvollen Windes. Die Männer im Zimmer kauerten sich unter ihre Decken.
Der Drachenkopf aus buntem Papier spähte um die Ecke der offenen Tür. Ein Klauenfinger deutete auf den Obmann und winkte ihn heran.
Was zum Teufel hatte er vor? fragte sich der Obmann. So war die Sache nicht gedacht.
Verärgert trat er hinaus in den Korridor. Der Wind verstummte jäh; die Tür schloß sich hinter ihm. Eine schweflige Weiße Rauchwolke quoll vor ihm im Gang auf, und in aufblitzendem Licht sah er Kopf und Körper seines Komplizen Charlie Lee hingestreckt auf dem blutnassen Boden. Bevor seine Beine losrennen konnten, umschloß eine eiserne Schraubzwinge seine Kehle und hob ihn vom Boden hoch. Die eingeschlossene Luft ließ seinen Brustkorb anschwellen wie einen Ballon.
»Die Götter sind unzufrieden mit dir«, flüsterte eine rauhe Stimme am Ohr des Obmanns.
Was für eine entsetzliche Stimme! Er strampelte hilflos mit den Beinen und rang nach Luft. Nichts rührte sich in seiner Brust. Sicher würde er jetzt sterben -
»Sie haben mich beauftragt, dich mit dem Tod der tausend Qualen zu bestrafen.«
Der Himmel sollte ihn schützen – ein echter Dämon! »Vielleicht aber verdienst du solche Gnade nicht. Vielleicht sollte ich dich einfach Stück für Stück auffressen.« Der Dämon schüttelte ihn wie ein wehrloses Kätzchen. »Dein Glück nur, daß ich gute Laune habe. Gib das Geld zurück, das du diesen Männern gestohlen hast, und ich werde dich vielleicht leben lassen.«
Der Obmann versuchte, mit dem Kopf zu nicken: Alles, alles! Ein Rinnsal von Luft sickerte durch den Klauengriff des Dämons und hielt ihn am schmalen Rand des Bewußtseins fest.
»Sag mir: Stiehlst du dieses Geld für dich?« Der Obmann schüttelte panisch den Kopf: Nein! »Wirklich nicht? Wer hat dir gesagt, daß du es stehlen sollst?«
Der Griff lockerte sich so weit, daß er eine Antwort hervorkrächzen konnte: »Little Pete.«
»Little Pete? Ist das ein Name für einen zivilisierten Menschen?«
»Richtiger Name … Fung-Jing Toy Chinatown-Boß.«
»Welchen Tong führt er?« »Sue Yop Tong.« »Und wo finde ich Little Pete?«
»Im Haus der On-Leong-Gesellschaft«, krächzte der Obmann.
»In der Kammer des Ruhigen Bewußtseins?«
Der Obmann nickte wieder. Für einen chinesischen Dämon sprach dieser hier ziemlich gut Englisch, dachte er, bevor der Griff sich wie ein Eisenring um seinen Hals spannte. Wieder zuckte ein blendender Blitz durch die Luft. Der Obmann wurde ohnmächtig.
Als er zu sich kam, wimmelten Männer aus allen Zimmern des Hauses um die enthaupteten Überreste eines wohlbekannten Gangsters aus der Nachbarschaft: Charlie Lee. Der Obmann rappelte sich auf und stimmte in das allgemeine Frohlocken darüber ein, daß die Schreckensherrschaft ein so zufriedenstellendes Ende genommen hatte: Es war überhaupt kein Dämon gewesen! Er hob den Beutesack des Erpressers auf und machte sich daran, die Münzen an die Hausbewohner zu verteilen: Welch ein Glücksfall! Für sich selbst nahm er nichts: Ein Sinneswandel war über den Obmann gekommen, eine Anwandlung von Großzügigkeit, die leicht noch zwei Tage würde anhalten können. Der Dämon hatte ihn am Leben gelassen!
In seinem Überschwang nahm der Obmann keinerlei Notiz von denn schlanken, stillen Mann, der am Tag zuvor angekommen war; er war der letzte gewesen, der seine Pritsche verlassen hatte und zu den anderen in den Flur hinausgekommen war. Der Mann stand ein Stück abseits am äußeren Rand des Gedränges, das Bündel über der Schulter. Bereit, zu gehen.
Fung-Jing Toy saugte geräuschvoll das Mark zwischen den Häuten des eingelegten Entenfußes heraus. Entenfüße waren eine Delikatesse, die sich seine Familie als Angehörige einer niederen Kaste nie hatte leisten können; daß er sie sich jeden Nachmittag servieren ließ, war eine der kultivierteren Methoden für Little Pete, sich an den Wohlstand zu erinnern, den ihm zwanzig Jahre der Knochenarbeit und der Selbstaufopferung eingebracht hatten. Wiewohl seinem Spitznamen entsprechend von bescheidener Statur und äußerlich milder Disposition, war Little Pete im Grunde seines Wesens ein Mann mit gefräßigem Appetit, und selten gehorchte er dem Impuls, diesen im Zaum zu halten.
Er war der einzige Tong-Führer, mit dem »Blind Chris«
Buckley und das korrupte weiße Politiker-Establishment von San Francisco unbefangen verhandeln konnten; all die übrigen chinesischen Bosse benahmen sich für ihren Geschmack viel zu hochnäsig. Little Pete war der einzige, der über die Beleidigungen lachte, die sie ihm so beiläufig ins Gesicht schleuderten; er war ein Clown, der sie mit seinen Verneigungen und Kratzfüßen auf eine Weise hofierte, die seinen minderwertigen rassischen Status widerspiegelte.
Aber das Wichtigste war: Chris Buckley und seine Busenfreunde erkannten in Little Pete einen Mann, der sich mit wilder Entschlossenheit einem Ziel geweiht hatte, das auch ihnen von Herzen lieb und teuer war: der beständigen Gefangenhaltung, Unterwerfung und Versklavung der chinesischen Bevölkerung in der Stadt. Die Bewohner von Tangrenbu lebten in unablässiger Angst vor Pete und den bösartigen Schergen seines Sue Yop Tong. Zwar besaßen noch fünf andere Verbrecher-Tongs beträchtliche Anteile an Tangrenbu, aber Little Petes ›On-Leong-Gesellschaft‹ kontrollierte den Zustrom des Opiums im Viertel. Ihm gehörten zahlreiche Ausbeuterbetriebe, in denen Süchtige Sklavenarbeit leisteten und ein paar Pennies verdienten, die sie für ihre abendliche Schale Reis wieder ausgaben, und die meisten der ungezieferverseuchten Absteigen, in denen sie ihren Rausch ausschliefen, waren ebenfalls in seinem Besitz. Für ihre Zusammenarbeit mit dem politischen Apparat bekamen die sechs Tongs die alleinverantwortliche Zuständigkeit für Import und Überwachung sämtlicher Arbeiter aus China. Und durch Buckleys angenehme Verbindungen zu den Eisenbahnbaronen von San Francisco – Hopkins, Huntington, Crocker und Stanford – war Little Pete zum Hauptlieferanten der ›Coolie‹-Arbeitskräfte für den Ausbau der Bahnlinien im Westen geworden. Im Mandarin-Dialekt bedeutete kuli ›bittere Kraft‹.
Für das Privileg, sich in diesem Land der unbegrenzten Möglichkeiten niederzulassen, wurde das Leben eines Arbeiters aus den niederen Kasten, sobald er die Schuppen des Embarcadero hinter sich gelassen hatte, somit zu einer Ware, die Little Pete und den Sechs Gesellschaften gehörte und die sie nach Belieben ausbeuten konnten bis zum Grab. Dort angekommen, pflegte eine von Petes Bestattungsfirmen die Einäscherung vorzunehmen und noch einmal einen stattlichen Profit einzustreichen, indem sie die Asche – keineswegs unbedingt die eines bestimmten Arbeiters – nach China zur Familie des Verstorbenen überführte.
Bittere Kraft, fürwahr.
Little Pete war ein Gewohnheitstier. Eine etablierte Routine war es, zur werktäglichen Mittagsstunde auf dem Balkon im ersten Stock seines Stadthauses in der Kearney Street die Bittgesuche seiner Klienten entgegenzunehmen. Es gefiel ihm, sich herzhaft den Bauch vollzustopfen, während seine Arbeiter und Ladenpächter sich vor ihm demütigten. Gelegentlich, wenn eine Bitte hinreichend harmlos oder mit geringem Kostenaufwand erfüllbar war, pflegte er seine seltene und daher legendäre Großmütigkeit zu demonstrieren.
Aber jetzt war es halb eins, er saß bei seiner dritten Portion Entenfüße, und noch immer war niemand gekommen, um ihn mit seinen albernen Problemen zu beknien. Er schrie nach seinem Hausdiener, Yee Chin. Wieso war niemand da? Wenn man sie unten hatte warten lassen, würde jemand dafür bestraft werden!
Keine Antwort. Er warf die Knochen auf den Teller und verlangte nach mehr. Niemand kam. Jetzt wurde er böse. Die Küchenjungen hatten den Befehl, gleich hinter der Balkontür mit weiteren Portionen bereitzustehen und sie herauszubringen, sobald er rief, und sie alle hatten schon seinen Peitschenstiel auf dem Rücken zu spüren bekommen, wenn ein Gericht kalt auf seinen Tisch kam. Little Pete läutete die kleine Porzellanglocke neben seinem Teller und schrie noch einmal.
Nichts. Yee Chin würde für seine Inkompetenz ein Höllendonnerwetter erleben.
Little Pete zwängte seinen vorgewölbten Bauch hinter dem Tisch hervor, hob sein umfangreiches Hinterteil vom Seidenkissen seines handgeschnitzten Stuhls aus der T’ang-Dynastie, griff nach seiner Reitpeitsche und watschelte ins Wohnzimmer, während er sich kreative neue Methoden ausdachte, um diese nichtsnutzigen Domestiken zu bestrafen.
Eine Silberkuppel bedeckte die Mahlzeit, die drinnen neben der Tür auf dem Servierwagen bereitstand. Wenn dieser nächste Gang kalt geworden war, dann mochte der Himmel Yee Chin helfen. Er hob die Kuppel …
Little Pete fiel auf die Knie und erbrach unter heftigem Würgen sein Mittagessen. Sein Kopf war leer, seine Sinne gefühllos; er war blind, stumm und taub. Auf dem Teller lagen Füße. Menschenfüße.
Little Pete kroch hastig auf Händen und Knien davon. Sein Überlebensinstinkt drang wieder an die Oberfläche. Wo waren seine Leibwächter? Vier Mann waren rund um die Uhr im Dienst. Jemand war an ihnen vorbeigekommen. Der Überfall konnte aus jeder Richtung kommen, in jeder Sekunde. Er würde sich verteidigen müssen. Es hatte eine Zeit gegeben, da war er mit dem Messer jedem überlegen gewesen, aber seit zehn Jahren hatte er keinen nennenswerten Kampf mehr auszufechten gehabt.
Eine Pistole in der oberen Schublade des Tisches dort. Little Pete krabbelte hinüber und holte die Waffe mit wild zitternden Händen heraus; haltsuchend griff er nach der Tischkante. Mit dem Ärmel seiner Pistolenhand wischte er sich den Sabber vom Kinn und bemühte sich, seine Stimme so weit unter Kontrolle zu bekommen, daß er seine Leibwächter rufen könnte, aber die Worte erstarben ihm im Halse. Sein Herz schlug zu heftig, und seine Zunge war träge und wie aus Watte.
Langsam, immer langsam jetzt, Pete. Hier ist eine gute Stelle. Von hier aus kannst du jede Tür und jedes Fenster sehen. Halte die Pistole fest, mit beiden Händen. Warte, bis sie nahe genug herangekommen sind. Verschwende keine Patronen -
Mit ungeheurer Wucht wurde sein Kopf von hinten auf die Tischplatte geschlagen. Die dicke Glasabdeckung auf der Hartholzoberfläche zersprang, und sein Gesicht wurde unbeweglich daraufgepreßt. Little Pete fühlte, wie es ihm warm übers Gesicht lief, und er sah, wie sein eigenes Blut in reichem Strom zwischen die Splitter floß. Dann wurde sein Arm nach hinten gerenkt und ihm die Pistole aus der Hand genommen wie eine Babyrassel.
»Dir ist klar, wie leicht ich dich töten kann«, sagte eine ruhige Stimme.
»Ja«, krächzte Little Pete.
»Deine Leibwächter sind tot. Niemand wird dir zu Hilfe kommen. Beantworte mir meine Fragen, verschwende keine Zeit, und du wirst weiterleben.«
Die Stimme sprach makelloses, akzentfreies Mandarin. Er kannte diesen Mann nicht. Little Pete wollte zustimmend nicken, aber dabei rieb er sich das zersplitterte Glas nur noch tiefer ins Gesicht.
»Du verkaufst Arbeiter an die Eisenbahn«, sagte die Stimme.
»Ja.«
»Tunnelmänner. Chinesen. Die etwas von Sprengstoff verstehen.«
»Ja, ein paar –«
»Viele kann es davon nicht geben.«
»Nein. Nicht, wenn sie gut sind.«
»Du würdest sie also kennen, nicht wahr, wenn sie gut sind.«
Was um Himmels willen sollte denn das?
»Ja. Wenn sie beim Sprengen arbeiten. Die meisten waren früher Bergleute. Sie sind wegen des Goldrauschs hergekommen.«
»Du hast ein paar in die Wüste hinausgeschickt.«
Little Petes Gedanken überschlugen sich. Es gab nicht mehr viele chinesische Sprengarbeiter; die guten waren immer gesucht – es war schwer, jetzt klar zu denken …
»Antworte oder ich bringe dich um.«
Sie arbeiteten in Teams; seine Büros erledigten auch den Verkauf und Versand von Dynamit. Jetzt konnte er sich nicht erinnern; er würde in seinen Büchern nachschauen müssen – aber das würde Zeit brauchen. Würde dieser Mann ihn lange genug leben lassen?
Halt. Da fiel ihm etwas ein. Ja. »S. F., P and P.«
»Was ist das?«
»Santa Fe, Prescott and Phoenix Railroad. Ein Team.«
»Wann?«
»Vor sechs Monaten.«
»Wohin genau hast du sie geschickt?«
»Ins Arizona Territory. Zur Arbeit an der Linie westlich von Tucson. Aus Stockton, sie kamen aus Stockton in Kalifornien. Weiter erinnere ich mich an nichts; ich weiß ihre Namen nicht, aber die könnte ich für Sie herausfinden. Vier Männer –«
Der Mann umfaßte Little Petes Kopf mit der ganzen Hand und rammte ihn mit dem weichen Zentrum der Schläfe gegen die Tischkante. Little Pete sackte bewußtlos zu Boden.
Kanazuchi ging zum Balkon, kletterte behende an einem Spaliergitter zum Dach hinauf und verschwand. Niemand hatte ihn hereinkommen sehen, niemand sah ihn fortgehen.
Als Little Pete wieder zu sich gekommen war und der Aufruhr über die Morde in seinem Stadthaus sich wie ein Lauffeuer in Tangrenbu verbreitete – einem seiner Leibwächter waren die Füße abgeschnitten und Little Pete zum Mittagessen serviert worden, und man hatte ihn gezwungen, sie aufzuessen, wie es in extravaganteren Versionen behauptet wurde –, hatte Kanazuchi die Stadtgrenzen von San Francisco längst hinter sich gelassen.
Gespenstische Stille unter Deck. Die Maschinen waren zusammen mit den Lichtern abgeschaltet worden. Die Elbe lag tot im stillen Wasser. Im Laderaum war es finster und unwirtlich wie im Bauch eines Wals.
»Gott im Himmel –«
Doyle brachte Kapitän Hoffner zum Schweigen. Sie standen da und spitzten die Ohren …
Jemand kam den Gang zu dem vierzig Fuß unter der Wasserlinie gelegenen Frachtraum herunter, wo die fünf Männer neben den leeren Särgen standen.
Doyle nahm Kapitän Hoffner das Brecheisen aus der Hand, griff nach der Laterne, die Innes hielt, und schloß die Blenden, so daß sie jäh im Dunkeln standen.
»An die Wand stellen. Weg von der Tür«, flüsterte er den andern zu. »Und von keinem ein Wort.«
Sie warteten. Fünfzehn Schritt weiter hinten im Gang züngelte ein Flämmchen auf; jemand hatte ein Streichholz entzündet. Hüpfend kam es auf sie zu, erlosch und wurde durch ein neues ersetzt, und gleich ging es weiter. Doyle verfolgte das Herannahen der schlurfenden Schritte, und als die Gestalt die Luke zum Laderaum erreicht hatte, trat er herzu und klappte vor dem Gesicht des Mannes die Laterne auf, so daß sie ihn blendete. Der Mann schrie auf, ließ sein Streichholz fallen und bedeckte die Augen. »Herrgott noch mal, was soll das denn?« »Was machen Sie denn hier, Pinkus?« fragte Doyle. Ira Pinkus beugte sich nach vorn und versuchte, sich die tanzenden Flecken aus den Augen zu reiben; er war so durcheinander, daß er keine Lüge zustande brachte. »Ich bin Ihnen gefolgt«, gestand er. »Da haben Sie sich einen sehr unglücklichen Zeitpunkt ausgesucht – gehen Sie weg von der Tür, Pinkus; man könnte auf Sie schießen.« Doyle bugsierte den kleinen Mann vor ein Schott und schloß die Luke hinter ihm.
»Ich war halb die Treppe heruntergekommen, als alles schwarz wurde –«
»Und sprechen Sie leiser.«
»Okay«, flüsterte Pinkus. »Meine Güte, ich kann überhaupt nichts erkennen; alle sehen aus wie Glühbirnen – na, jedenfalls, was ist denn das für eine Geschichte mit Schädel und gekreuzten Knochen, Mr. Conan Doyle – oh, hallo, Innes, nett, Sie wiederzusehen.« »Hallo.«
»Und wie heißen Sie, mein Freund?« »Lionel Stern.«
»Angenehm. Ira Pinkus. Und das muß Captain Hoffner Sein – sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Sir; hab’ mich schon drauf gefreut. Sehr nettes Schiff haben Sie da. Ira Pinkus, New York Herold –«
»Wieso folgt dieser Mann Ihnen?« Hoffner wandte sich an Doyle.
»Ich schreibe eine Artikelserie über den transatlantischen Dampferverkehr, und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn ich Gelegenheit bekäme, Sie mit einem Interview –«
»Pinkus«, sagte Doyle drohend.
»Yeah?«
»Halten Sie den Mund, oder ich sehe mich genötigt, Sie zu erwürgen.«
»Oh. Klar. Okay.«
Das Schweigen, das nun folgte, wurde von metallischem Stöhnen und einer Serie von ruckartigen Stößen unterbrochen, die irgendwo achtern und oberhalb von ihnen das Schiff erschütterte.
»Der Notgenerator«, sagte der Maschinist.
»Versucht, die Schrauben wieder in Gang zu bringen«, sagte Doyle. Hoffner nickte. Sie lauschten.
»Aber es klappt nicht«, stellte Innes fest.
»Dieser Generator wurde vor dem Auslaufen in Southampton inspiziert und für voll funktionsfähig befunden«, erklärte Kapitän Hoffner.
»Aber das gilt auch für die Maschinen, nehme ich an«, sagte Doyle.
Hoffner starrte ihn an. »Wollen Sie andeuten …?«
»Sabotage?« flötete Pinkus beinahe genüßlich.
Das Wort hing in der Luft. Pinkus blickte zwischen Doyle und Hoffner hin und her wie ein Zuschauer beim Tennis.
»Was ist Ihr übliches Vorgehen in einer solchen Situation?«
»Die Besatzung verteilt Lampen und begleitet alle Passagiere, die an Deck sind, in ihre Quartiere.«
»Wie lange wird das dauern?«
»Zwanzig Minuten, vielleicht eine halbe Stunde.«
»Und dann erwartet man, daß die Passagiere in ihren Kabinen bleiben?«
»Ja, bis die Stromversorgung wiederhergestellt ist.«
»Captain … weiß noch irgend jemand, daß wir hier unten sind?« fragte Doyle.
»Mein Erster Offizier«, sagte Hoffner, »und wer sonst noch auf der Brücke ist.«
»Sind sie hinter mir her?« fragte Lionel Stern düster. Doyle wollte antworten, als er aus dem Augenwinkel bemerkte, daß Pinkus mit welpenhaftem Eifer zuhörte. »Mr. Pinkus, wären Sie wohl so gut, dort hinüberzugehen und eine Weile in der Ecke stehenzubleiben?« »Ach? Wozu?«
»Dies ist ein Privatgespräch«, sagte Doyle und beleuchtete ihm den Weg mit seiner Laterne.
Pinkus zuckte freundlich die Achseln und folgte Doyles Lichtstrahl in die hintere Ecke, wobei er einen unbehaglichen Blick auf die leeren Särge warf.
»Soll ich mich mit dem Gesicht zur Wand stellen?« »Wenn Sie so gut sein wollen.«
»Hey, überhaupt kein Problem.« Mit einem freundschaftlichen, plumpvertraulichen Winken wandte Pinkus sich ab.
Doyle versammelte die anderen in einem engen Kreis um sich herum; er schirmte die Laterne mit seiner Jacke ab, und fünf Gesichter schoben sich in den mattglänzenden Schein.
»Diese Leute sind fest entschlossen, Sie umzubringen, Mr. Stern«, sagte Doyle in kaum hörbarem Flüstern. »Wenn sie damit das Buch Sohar in ihren Besitz bringen können.«
»Wieso geben wir es ihnen nicht einfach?« fragte Hoffner.
»Aber wir haben doch keine Ahnung, wo es ist –«
»Es ist in meiner Kabine«, sagte Doyle.
Erstaunte Ausrufe.
»Gentlemen, bitte«, bat Doyle und richtete die Laterne auf Pinkus, während dieser blitzschnell den Kopf wieder zur Wand drehte. »Für Erklärungen ist noch Zeit, wenn wir in anderer Gesellschaft sind – es sei denn, Sie möchten das alles gern auf der Titelseite einer Zeitung lesen.«
»Ich stimme aus ganzem Herzen zu«, sagte Hoffner. »Da ihnen anscheinend durchaus bekannt war, daß das Buch Sohar nicht in seiner Kiste im Laderaum lag, nahmen unsere blinden Passagiere an, daß es sich immer noch in Ihrer Kabine befinde, Mr. Stern, wo man dann ja den Versuch unternahm, es Mr. Selig abzunehmen. Im Schutze dieser Dunkelheit gedenkt man wohl, Ihre Kabine daraufhin noch einmal zu untersuchen.«
»Aber warum denn jetzt? Hier draußen, mitten auf dem Ozean?« fragte Stern.
»Statt zu warten, bis wir nur noch einen Tag vom Land entfernt sind, wo die Chance, unentdeckt zu entkommen, so viel größer wäre?« fragte Doyle und schickte sich zu weiteren Ausführungen an.
»Weil ihnen klar ist, daß wir von ihrer Anwesenheit an Bord wissen, und weil sie es sich nicht leisten können, länger zu warten. Liegt auf der Hand«, sagte Innes. Ausgezeichnet, Innes, dachte Doyle. »Woher könnten sie das wissen?« fragte Hoffner. »Eine Sicherheitslücke«, sagte Doyle. »Auf der Brücke.« »Unmöglich.«
»Keiner von Ihren Leuten, Captain. Einer von ihnen.« »In Uniform?«
»Sie werden womöglich die bedauerliche Entdeckung machen, daß einer Ihrer Männer verschwunden ist.«
»Herrgott, dann werden wir das Schiff von den Toppen bis zur Bilge durchsuchen, und wir werden diese Leute finden –«
»Wir werden noch etwas Besseres tun, Captain, aber wir müssen unverzüglich handeln; wir haben weniger als dreißig Minuten Zeit.« Doyle wandte sich an den Maschinisten. »Haben Sie roten Phosphor an Bord?«
Der Maschinist wandte sich an Hoffner, und der übersetzte ihm die Frage.
»Ja, Sir«, sagte der Maschinist dann.
»Gut. Bringen Sie uns soviel, wie Sie beschaffen können,
hierher.«
Der stämmige kleine Maschinist, der die jüngsten Entwicklungen infolge seiner mangelhaften Englischkenntnisse in völliger Ratlosigkeit verfolgt hatte, zeigte sich äußerst erleichtert, als er nun eine so konkrete Aufgabe zu erfüllen hatte. Er salutierte zackig und marschierte aus dem Laderaum hinaus.
»Captain, können Sie uns ein paar Schußwaffen beschaffen –«
»Natürlich; sie befinden sich hinter Schloß und Riegel auf der Brücke –«
»– ohne daß Ihre Offiziere etwas davon merken?«
Hoffner zog den Saum seiner Uniformjacke stramm und ließ seinen teutonischen Stolz in vollem Glanz erstrahlen.
»Ich denke, das werde ich schon noch fertigbringen.«
»Was wollen wir tun, Arthur?« fragte Innes.
»Eine Falle stellen«, sagte Doyle.
»Wirklich? Ungeheuer! Kann ich helfen?« fragte Ira Pinkus.
Doyle richtete den Lichtstrahl auf ihn. Pinkus hatte sich bis auf zwei Schritte herangeschlichen und drückte sich schon Gott weiß wie lange dort herum.
»Zufälligerweise ja«, sagte Doyle Zwanzig Minuten später. Samtenes Mondlicht schien durch das Bullauge in die unirdische Stille in Sterns Kabine.
Ein erstes Geräusch: ein Dietrich glitt behutsam in das Schlüsselloch. Scharrend arbeitete er sich durch die einzelnen Stifte und hielt jeden an seinem Platz, bis das Schloß mit kaum hörbarem Klicken nachgab und die Klinke sich drehte. Langsam öffnete sich die Tür um Zollbruchteile, bis die neubefestigte Kette Widerstand bot. Eine Drahtzange schob sich durch den Türspalt und erfaßte die Kette; der Druck nahm stetig zu, bis das letzte Kettenglied durchschnitten war. Eine behandschuhte Hand fing die Kettenenden auf, bevor sie herunterfallen und gegen die Metalltür schlagen konnten, und ließ sie sanft hinuntergleiten.
Sodann öffnete sich die Tür gerade so weit, daß die erste schwarzgekleidete Gestalt hereinschlüpfen konnte, mit Kreppsohlen unter den Schuhen und einer Maske, die sich straff um den Kopf spannte. Die Gestalt schaute sich prüfend in der Kabine um und musterte auch die reglosen Umrisse in der unteren Koje. Dann hielt sie die Tür auf, um eine zweite, identisch gekleidete Gestalt hereinzulassen, die sich langsam und zielstrebig auf den Rand der Koje zu bewegte. Dünner, scharfer Stahl in ihrer Hand blitzte im Licht des Mondes auf, das zum Bullauge hereinflutete. Jetzt, dachte Doyle.
Als die Gestalt in Schwarz nach der Bettdecke griff, ertönte draußen im Gang ein gespenstischer Schrei, ein jämmerlich qualvolles Stöhnen, das immer schriller und lauter wurde.
Vorsicht, nicht übertreiben.
Die beiden Männer wandten sich zur Tür; eine dritte, identisch gekleidete Gestalt schob den Kopf in die Kabine und winkte sie zu sich. Die beiden huschten hinaus und spähten den Korridor hinunter, wo sich dem Trio ein höchst merkwürdiger Anblick bot.
Die glühenden Umrisse eines Schiffsoffiziers erhellten das hintere Ende des dunklen Korridors, die ätherisch leuchtende Silhouette eines Mannes in zerfetzter Uniform, mit Ketten behängt; die Augen waren schwarze Höhlen, tief in der grün-grauen Fläche seines beklagenswerten Gesichts. Die beunruhigende Erscheinung stöhnte erneut, rasselte mit den Ketten, hob bedrohlich die Arme und tat einen Schritt auf die drei schwarzgekleideten Männer zu. Die drei fuhren zurück, einen Moment lang abgelenkt. Doyle warf die Bettdecke von sich, richtete sich in der Koje auf und zielte mit einem Schrotgewehr auf die drei Männer im Türrahmen. »Keine Bewegung!«
Als seine Stimme ertönte, flog die Tür gegenüber auf, und Innes, eine Pistole in der Hand.
Eine der Gestalten warf sich zu Boden, rollte gegen Innes’ Knie und riß ihn um. Seine Pistole ging los, die Kugel prallte schwirrend von der Metalldecke ab und bohrte sich in den teppichbedeckten Boden. Als Doyle endlich abdrückte, waren die beiden Gestalten schon mit unglaublicher Schnelligkeit in verschiedenen Richtungen den Gang hinunter geflüchtet; der Schuß prasselte harmlos gegen die Schotten. Doyle sprang zur Tür. Einer der fliehenden Meuchelmörder rannte gegen den »Geist« der Elbe, riß ihn zu Boden – Doyle sah, wie die leuchtende Gestalt Hals über Kopf durch den Korridor purzelte – und verschwand dann um die Ecke. Der zweite Eindringling sprintete geradewegs auf die Luke zu, hinter der Kapitän Hoffner, Stern und der Maschinist auf der Lauer lagen.
Der dritte Angreifer kam aus der gegenüberliegenden Tür gesprungen und wollte den andern nachlaufen; Innes’ Hand schoß hervor und packte seinen Fußknöchel. Der Mann wirbelte herum und ließ den anderen Fuß mit aller Kraft auf Innes’ Handgelenk niederfahren. Mit einem Aufschrei ließ Innes los, doch im selben Augenblick holte Doyle mit dem Gewehrkolben aus und traf die Gestalt am Hinterkopf, so daß der Mann mit dem Gesicht voran hart gegen die gegenüberliegende Wand prallte. Er brach jedoch nicht zusammen, sondern rollte herum und versetzte Doyle einen Maultiertritt in den Bauch, so daß dieser durch die offene Tür zurück in die Kabine gefördert wurde, wo er unsanft mit dem unnachgiebigen Rahmen der Kojen zusammenstieß.
Während der Mann in Schwarz diesen Tritt ausführte, schlug Innes ihm das andere Bein weg. Der Angreifer flog durch die Luft und landete mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden. Innes ging in die Knie und versetzte ihm einen zerschmetternden Faustschlag gegen den Kopf. Doyle hastete hinaus auf den Gang, rammte dem am Boden Liegenden den Gewehrlauf in die Brust und ließ eine neue Patrone in die Kammer springen.
»Eine Bewegung, und ich schieße«, sagte er keuchend und nach Atem ringend.
Die Gestalt lag still. Doyle schnappte nach Luft; gottlob war Innes so geschickt mit seinen Fäusten. Und unter Druck bewahrte er einen kühlen Kopf. Die Royal Fusiliers waren eine gute Schule für ihn gewesen.
»Haben wir ihn?« erkundigte sich der Geist der Elbe und verharrte vorsichtig mit drei Schritt Abstand im Korridor.
In ihrer Verblüffung konnte keiner der beiden Brüder schnell genug reagieren, als die Gestalt in Schwarz plötzlich in einer einzigen Bewegung einen Derringer aus dem Ärmel zog, ihn an die eigene Schläfe führte und abdrückte. »O mein Gott. O mein Gott. Ist er tot?« fragte der Geist. »Natürlich ist er tot, Ira«, antwortete Innes zutiefst erbost. »Er hat sich eine Kugel in den Kopf geschossen.«
»Na, wie um alles in der Welt kommt einer auf die Idee, so was Verrücktes zu tun?« Pinkus lehnte sich an die Wand und wischte sich geistesabwesend die Phosphormischung von den Handschuhen.
»Sie sind doch der Reporter«, sagte Doyle nicht minder gereizt. »Wieso fragen Sie ihn nicht? Bleib hier, Innes; ich bin gleich wieder da.«
»Jeeeeesusmariaundjosef, hab’ ich einen Schrecken gekriegt, Innes. Und ich geb’s gern zu: Ich glaube, ich hab’ mich sogar vor mir selbst gegruselt«, sagte Pinkus und fächelte sich mit seinem leuchtenden Hut Luft zu. »Hey, wie hab’ ich mich gemacht? War ich okay?«
»Wenn alle Stricke reißen, könnten Sie immer noch als Schloßgespenst arbeiten.«
»Junge, das ist Spitze. Vielen Dank.« »Helfen Sie mir; wir sollten ihn aus dem Weg räumen, bevor die Touristen Wind bekommen.« »Na klar, Kumpel, alles, was Sie wollen.« Pinkus beugte sich herunter, und Innes konnte ihn endlich aus der Nähe betrachten. Die klumpigen Rinnsale von phosphoreszierendem Schweiß erweckten den Anschein, als schmelze sein Gesicht. »Wahrscheinlich eine gute Idee, wenn wir Sie auch gleich außer Sicht schaffen.«
Doyle fand Lionel Stern und den Maschinisten im Dunkeln hinter der Luke am Ende des Korridors; sie kümmerten sich um Kapitän Hoffner, der einen verletzten Arm umklammert hielt.
»Wir haben die Schüsse gehört«, sagte Hoffner. »Mein Gott, er war so schnell bei uns, daß ich überhaupt keine Zeit hatte –«
»Wie ein Schatten«, sagte der Maschinist.
»Er ist einfach durch uns hindurchgerannt«, berichtete Stern. »Alles ging so schnell, daß ich Ihnen nicht einmal sagen könnte, in welche Richtung er verschwunden ist.«
»Macht nichts«, sagte Doyle und bückte sich, um das Deck zu untersuchen. »Das wird er uns selbst verraten.«
Er deutete zum Aufgang und zu der dünnen Schicht Phosphor, die er dort ausgelegt hatte, nachdem sie Pinkus damit überzogen hatten. Er wies Stern an, bei Hoffner zu bleiben, und zusammen mit dem beherzten Maschinisten, der mit beiden Fäusten einen mächtigen Schraubenschlüssel umklammert hielt, folgte er der Spur der leuchtenden Fußabdrücke, die hinauf auf das weite offene Deck führte.
Der Mond verschwand hinter einer heranrückenden Wolkenbank, und in der Dunkelheit waren die leuchtenden Fußspuren noch leichter zu erkennen. Ohne Maschinenkraft und somit unfähig, in die schwere Dünung des nahenden Unwetters hineinzusteuern, schlingerte die Elbe mittschiffs schwer. Gischt sprühte über die verlassenen Decks, und straffe Taue vibrierten wie Harfensaiten im pfeifenden Wind; das Schiff wirkte insgesamt nun weniger wie ein Luxusliner als vielmehr wie die Dampferversion des Fliegenden Holländers.
»Dieser Mann«, flüsterte der Maschinist, als sie stehenblieben, ehe sie vorsichtig um eine Ecke bogen, »er ist der devil.«
»Der Teufel«, sagte Doyle. »Ja. Aber er ist zugleich nur ein Mensch.«
Als Doyle sich bückte, um einen weiteren Fußabdruck zu begutachten, hörte er ein leises, gleichmäßiges metallisches Klopfen, und dann sah er, daß der Schraubenschlüssel, den der Maschinist in den Händen hielt, zitterte und dabei immer wieder gegen die Reling schlug.
»Wie heißen Sie?«
»Dieter. Dieter Boch, Sir.«
»Es ist gut, daß ich Sie bei mir habe, Dieter.«
»Thank you, Sir.«
Sie folgten der Spur eine Treppe hinauf zum Achterdeck. In der tintenschwarzen Dunkelheit vor ihnen glaubte Doyle die Umrisse eines großen Mannes zu erkennen, der ganz am Ende an der Heckreling stand. Doyle griff nach seiner Pistole, aber das Schiff gierte heftig, als es jetzt in einen Wellentrog hinabstieß. Die beiden Männer taumelten und mußten sich festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und als Doyle wieder aufschaute, war die Gestalt an der Reling verschwunden. Er befragte seinen Begleiter, aber der Maschinist hatte nichts gesehen. Hastig liefen sie nach achtern. Die großen Abstände zwischen den Fußabdrücken ihres Wildes deuteten darauf hin, daß der Mann in Schwarz nicht aufgehört hatte, zu rennen. Die Spur führte bis zum Ende des Topdecks und endete dort unvermittelt.
»He is going über Bord?«
»Es sieht so aus«, sagte Doyle.
»In dieses Wasser?« Boch spähte in banger Sorge zu den turmhohen Wellenkämmen hinaus. Wie so mancher Seemann lebte er in beständiger Angst vor dem Meer. »Warum wird er so etwas tun?«.
Ja, warum? dachte Doyle. Warum nehmen sich gleich zwei Männer lieber das Leben, als sich gefangenzugeben?
Um ein Buch zu stehlen?
Sie nahmen das Gerona Sohar aus einem Geheimfach in Doyles Schiffskoffer, legten es in den Schiffstresor und sorgten dafür, daß es rund um die Uhr bewacht wurde. Mit dem verletzten Arm in der Schlinge kehrte Kapitän Hoffner auf die Kommandobrücke zurück; er rief seine Offiziere zusammen und veranlaßte eine Durchsuchung jeder einzelnen Kabine. Wie Doyle vorhergesagt hatte, war der Erste Offizier des Schiffes nicht aufzutreiben, obgleich viele schworen, sie hätten ihn – einen jungen, gutaussehenden Mann mit blonden Haaren – in Uniform auf dem Kommandodeck gesehen, nachdem das Unwetter begonnen hatte.
Schlosser schwärmten im Maschinenraum aus und konnten schließlich den Notfallgenerator dazu bewegen, seine Arbeit aufzunehmen; als die Positionslampen wieder leuchteten und die Schrauben wenigstens mit Viertelkraft liefen, steuerte der Kapitän die Elbe geradewegs in den Rachen des Unwetters, dessen Kiefer sich sogleich um das Schiff schlossen. Die Besatzung verdoppelte ihre Anstrengungen, den Hauptgenerator zu reparieren, und unterdessen hatten die Passagiere in ihren Kabinen zu bleiben; die Notvorschriften waren in Kraft, und alle erhielten die strikte Anweisung, ihre Türen verschlossen zu halten. Der Sturm und die durch den Stromausfall verursachten Komplikationen lieferten eine überzeugende Begründung für diese Auflagen. Von den Meuchelmördern, die man immer noch irgendwo auf freiem Fuße an Bord vermuten mußte, ließ niemand ein Wort verlauten.
Nachdem Wachen vor der Tür postiert waren und der Korridor in beiden Richtungen für Passagiere abgesperrt worden war, versammelten Doyle, Innes, Stern und Pinkus – den sie nun am Halse hatten, da es ihnen noch mehr widerstrebte, ihn aus den Augen zu lassen, als seine Gesellschaft zu ertragen – sich in Sterns Kabine mit einer Kerosinlampe um den Leichnam des schwarzgekleideten Attentäters.
Als sie ihm die Maske abnahmen, erblickten sie einen Mann von etwa dreißig Jahren mit kurzgeschnittenem glattem schwarzem Haar und einem braunen Gesicht mit breiter Stirn – ein Javanese, vielleicht ein Filippino, dachte Doyle. Eine kleine Schleiftätowierung verfärbte die Ellenbogenbeuge des Mannes: ein zerbrochener Kreis, von drei gezackten Linien durchzogen. Dieses Zeichen entsprach genau der Skizze in Doyles Tasche, die er nach dem Gekritzel an der Kabinenwand neben Seligs Leiche angefertigt hatte. Bei genauerer Betrachtung erkannte Doyle, daß das Mal überhaupt keine Tätowierung war, sondern eine beachtliche Brandnarbe – eine Art Brandzeichen, wie man sie bei Rindern finden mochte.
Die Kleidung des Mannes war aus schlichtem schwarzen Kattun gefertigt. Sechs Waffen trug er verborgen bei sich: in jedem Ärmel und jedem Hosenbein ein Messer in einer Scheide, den selbstmörderisch zum Einsatz gebrachten doppelläufigen Derringer und einen dünnen Draht, den er sich um den Leib geschlungen hatte, eine tödliche Garrotte. Seine knotigen Knöchel und die schwieligen Handflächen waren mit einem Netz von Narben überzogen – Messerwunden: ein erfahrener Kämpfer. Die blauen Flecken, die Doyle und In-nes nach ihrer kurzen Begegnung mit ihm davongetragen hatten, legten lebendiges Zeugnis für seine Meisterschaft im Nahkampf ab. Schlußfolgerung: Hier hatten sie eine kalte, effiziente Mordmaschine vor sich. Und es gab keinen zwingenden Grund zu der Annahme, daß seine überlebenden Komplizen weniger lebensgefährlich sein könnten.
Doyle warf ein Laken über den Leichnam. Die vier Männer mußten sich immer wieder gegen Schott oder Koje stützen, um dem mahlenden, schlingernden Auf und Ab des Schiffes im Sturm standzuhalten.
»Sie haben uns immer noch nicht erklärt, Mr. Doyle«, sagte Stern, »wie das Sohar in Ihre Kabine gekommen ist.«
»Bei den Tabletten im Futter von Mr. Seligs Jacke habe ich auch diesen Schlüssel gefunden«, sagte Doyle und hielt ihn hoch, damit alle ihn sehen konnten. »Offensichtlich nicht der Schlüssel zu Ihrer oder sonst einer Passagierkabine, obwohl er den Prägestempel der Elbe trägt – hier …« Er deutete auf ein winziges Schiffswappen.
»Wozu gehört er?« fragte Pinkus ungeduldig.
»Ich habe den Schlüssel an jedem Schloß ausprobiert, das ich in der näheren Umgebung dieser Kabine finden konnte. Es gibt eine wenig benutzte Lagerkammer hinter dem Turnsaal – man würde sie gar nicht sehen, wenn man nicht danach suchte; sie wird morgens und abends verdeckt durch Stapel von Liegestühlen und Sitzkissen. Mit diesem Schlüssel ließ sich die Tür öffnen. Im Innern der kleinen Kammer fand ich eine in die Auskleidung eingelassene Tafel, einen vernachlässigten und nicht mehr benutzten Sicherungskasten. Mr. Selig hatte das Sohar gestern abend aus seinem ursprünglichen Versteck hier in der Kabine entfernt – es handelte sich dabei übrigens nur um ein einfaches Loch, das er in die Matratze geschnitten hatte; kein Wunder also, daß er den Raum nicht verlassen wollte – und an jenen anderen Ort gebracht, nachdem der Captain Ihre Bitte, den Schiffstresor zu benutzen, abschlägig beschieden hatte, eine Unterredung, die ich mitangehört habe.«
»Ich hatte keine Ahnung …«, sagte Stern. »Nein. Er muß den Wechsel vorgenommen haben, während Sie versuchten, vor der Seance gestern abend Kontakt mit mir aufzunehmen, ungefähr eine Stunde vor dem Mord.«
»Und wie haben diese Leute den Mord begehen können, ohne Hand an ihn zu legen?«
Doyle nahm zwei kleine Papiertüten aus der Tasche und öffnete sie, um den andern den Inhalt zu zeigen. »Als wir gestern abend Mr. Seligs Leichnam entdeckten, da fand ich in der Tür einen kleinen Klumpen Tonerde. Die zweite, identische Probe habe ich aus einem der Särge im Laderaum; es war eine ordentliche Menge davon vorhanden, über ein Pfund, aber nur in einem Sarg.«
»Okay, prima, Doc, aber wieso ist ein bißchen Erde unser Bier?« fragte Pinkus mit dem ganzen unvoreingenommenen Taktgefühl des erfahrenen Journalisten.
»Mr. Selig war frommer als Sie – wäre das eine angemessene Feststellung, Mr. Stern?« fragte Doyle. »Ja.«
»Gehe ich überdies recht in der Annahme, daß ihm als praktizierendem Juden auch Aspekte der jüdischen Geschichte und Mythologie vertraut gewesen sein dürften?«
»Unbedingt. Rupert hat diese Dinge viele Jahre lang studiert.«
»Könnte man sagen, daß Mr. Selig sich das, was dieses Studium ihm vielleicht gegeben hat, sehr zu Herzen genommen hat – man könnte fast sagen, wie ein Evangelium?« »Ohne Frage – aber worauf wollen Sie hinaus?« Doyle senkte die Stimme und beugte sich über die Laterne; der Lichtschein von unten verlieh seinen Zügen ein dramatisches, unheimliches Aussehen. »Sind Sie, Mr. Stern, in irgendeiner Weise vertraut mit der Legende vom Golem?«
»Der Golem? Ja, natürlich – ich meine, flüchtig; als ich klein war, hat mein Vater mir die Geschichte oft erzählt.«
»Der Golem? Was ’n das?« fragte Pinkus, der immer noch ein mattes, kränklich-grünes Leuchten absonderte, obwohl er sich eine Stunde lang mit einer harten Drahtbürste abgeschrubbt hatte.
»Das Wort ›Golem‹ kommt vom hebräischen Wort für Fötus oder ungeformtes Leben«, erklärte Doyle. »Es heißt, es sei der Name, den Jahwe dem Adam gab, als er der Gestalt, die er aus dem gewöhnlichen Lehm des Gartens Eden geformt hatte, Leben einhauchte.«
»Jahwe?« Pinkus ließ eine Kaugummiblase platzen. »Ja, wer soll denn das sein?«
»Jahwe ist der hebräische Name für Gott«, sagte Stern, erstaunt über diesen Abgrund von Unwissenheit.
»Aber die Golem-Sage, die für dieses Gespräch von größerer Bedeutung ist«, sagte Doyle und wandte sich wieder Stern zu, »beginnt im Prager Judenghetto gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts. Mit blutigen Pogromen zog man gegen die Juden von Prag zu Felde. Ähnliches war in ganz Osteuropa geschehen, aber die Attacken in Prag wurden besonders bösartig und blutrünstig geführt. Einer der Tempelältesten dort war ein Gelehrter namens Rabbi Löw Juda Ben BezaleL eine sanfte, beinahe heiligmäßige Gestalt. Rabbi Löw suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, die Juden im Ghetto vor der mörderischen Verfolgung zu schützen. Jahrelang suchte er in den alten Tempelbibliotheken nach einer Lösung. Und eines Tages, so geht die Sage, entdeckte er tief vergraben im Keller der Großen Synagoge ein uraltes Buch von großer, mystischer Macht –«
»Doch nicht zufällig das Buch Sohar«, warf Innes ein. »Der Titel des Buches wird nicht genannt, aber in den Prager Synagogen dürfte es gewiß ein Exemplar des Sohar gegeben haben, und ein Mann von Rabbi Löws Gelehrsamkeit wird es sicher gekannt haben. Wie dem auch sei – als er nun dieses Buch las, stolperte der Rabbi angeblich über einen Abschnitt, der eine geheime, verschlüsselte Formel enthielt, die er in seiner unglaublichen Gelehrsamkeit entziffern konnte –«
»Übrigens ist angeblich das ganze Sohar auf diese Weise verfaßt«, warf Stern ein. »In jedem Satz verbirgt sich ein metaphysisches Geheimnis.«
»Worum geht’s denn dann hier – Blei in Gold verwandeln? ’ne Nummer von der Art?« fragte Pinkus mit großen Augen.
»Der Abschnitt offenbarte dem Rabbi Löw nichts Geringeres als die Formel, mit der man gewöhnlichem Lehm menschliches Leben einhaucht und die Jahwe bei der Erschaffung Adams, des ersten Menschen, verwandte.«
»Das soll wohl ’n Witz sein«, sagte Pinkus.
»Es ist … eine Legende, Pinkus«, sagte Doyle.
»Wie soll er das denn getan haben?« fragte Innes.
»Aus reinem Wasser und Lehm aus einer Grube in geweihtem Boden formte der Rabbi Glieder, Kopf und Körper einer riesigen Gestalt, die grobe Ähnlichkeit mit einem Menschen hatte. Unter Befolgung des vorgeschriebenen Rituals fugte er die einzelnen Teile dann zusammen, schrieb ein heiliges hebräisches Wort auf ein Stück Papier und legte es der Figur unter die Zunge –«
»Welches Wort war das?« fragte Innes.
»Danach müßtest du Lionels Vater fragen, fürchte ich«, sagte Doyle.
»Und – ist der Golem lebendig geworden?« fragte Pinkus besorgt.
»Ehe der Rabbi sich versah, richtete der Golem, wie er ihn nannte, sich auf und setzte sich in Bewegung. Als er ihn ansprach, tat der Golem genau, was er ihm befahl, und Rabbi Löw erkannte, daß er einen Diener geschaffen hatte, der seine Anweisungen buchstabengetreu ausführen würde. Er war acht Fuß groß und hatte starke Arme und Beine, kleine Steine anstelle der Augen und einen roh geformten Mund. Rabbi Löw benutzte den Golem als Hausdiener, bis er genug Vertrauen in seinen Gehorsam hatte; dann fing er an, ihn nachts hinauszuschicken, damit der Golem jeden, der ins Ghetto kam, um den Juden etwas anzutun, erschreckte und verjagte. Jeden Abend schob er ihm das Papier unter die Zunge und gab seinem Geschöpf Leben. Nach getaner Arbeit kehrte der Golem im Morgengrauen nach Hause zurück, der Rabbi nahm ihm das Papier aus dem Mund, und der Golem lag wie eine Statue im Keller des Rabbi. Tatsächlich hatten die Leute solche Angst vor dem entsetzlichen Wesen, das dort nachts durch die Straßen streifte, daß die Gewalttaten gegen die Juden im Ghetto ein Ende nahmen.«
»Nicht übel, die Story«, meinte Pinkus und klammerte sich aus Leibeskräften an die Koje. »’n bißchen wie dieser Dingsda, dieser Frankenstein-Knabe.«
»Man hat angemerkt, daß Mary Shelley einen großen Teil ihres berühmten Buches von der Golem-Legende hergeleitet habe«, sagte Doyle.
»Ach was«, sagte Pinkus, der nicht den leisesten Schimmer hatte, wer Mary Shelley sein könnte.
»Es kommt noch mehr«, sagte Doyle. »Eines Morgens am Sabbat, wenn die Juden ihren religiösen Pflichten nachgehen müssen und bis Sonnenuntergang keinerlei körperliche Arbeit verrichten dürfen, vergaß Rabbi Löw, dem Golem das Papier aus dem Mund zu nehmen.«
»Oha«, sagte Pinkus. »Das riecht nach Trouble.«
»Da dürften Sie recht haben, Mr. Pinkus. Rabbi Löw hatte den Golem nicht mehr in seiner Gewalt, und das Ungeheuer ging auf einen schrecklichen Verwüstungszug. Straße um Straße hinterließ es aufgebrochene und zertrümmerte Läden und Häuser, und viele unschuldige Menschen, hauptsächlich Juden diesmal, kamen ums Leben, zermalmt und zertrampelt in sinnloser Raserei. Nichts konnte den Golem aufhalten, bis Rabbi Löw ihn schließlich aufspürte und ihm das Papier aus dem Mund nahm. So bewahrte er den Rest des Ghettos vor dem sicheren Untergang.«
Die andern hingen ihm stumm an den Lippen.
»Der Mythos vom Golem ist mir immer wie eine vollkommene Metapher für die apokalyptische Macht ungezügelter menschlicher Wut erschienen, aber auch als wunderbare Parabel auf die lebensbejahende Einfühlsamkeit jüdischer Tradition«, sagte Doyle.
Innes und Pinkus warfen einander einen Seitenblick zu wie verdutzte Schuljungen; beide hatten kein Wort begriffen.
»Mannomann«, sagte Pinkus.
»Und was wurde aus dem Golem?« fragte Innes. »Der Golem wurde von Löw und seinen Freunden in den Keller der Großen Synagoge von Prag getragen, und dort liegt er angeblich noch heute und wartet darauf, daß man ihm neues Leben eingibt.«
Doyle hatte Mühe, sein Gleichgewicht zu halten, als das Schiff eine besonders unangenehme Volte schlug. Er zog ein weiteres Blatt Papier hervor. »Gentlemen, ich habe hier die Abschrift der Frachtpapiere für die fünf Särge im Laderaum. Möchten Sie es riskieren, eine Vermutung hinsichtlich ihres Herkunftsortes zu äußern?« »Nicht Prag«, sagte Innes. »Doch«, sagte Doyle.
»Sie wollen mich auf den Arm nehmen«, sagte Pinkus. »Ich bitte Sie, Mr. Doyle; Sie wollen doch nicht ernsthaft andeuten, daß der Golem aus Prag in einem dieser Särge gewesen sein könnte«, sagte Stern.
»Oder daß irgendwo an Bord dieses Schiffes ein acht Fuß hohes Ungeheuer aus Lehm sein Unwesen treibt«, ergänzte Innes.
»Ich will folgendes andeuten«, sagte Doyle. »Wenn man an Bord eines Schiffes auf hoher See von einem Mann etwas bekommen möchte, ohne dabei ungebührliche Aufmerksamkeit auf sich zu lenken –«
»Da ist ein acht Fuß großes Lehmmonster eine erstklassige Idee«, bemerkte Pinkus schlau.
»– und wenn man weiß, daß der Mann, von dem man das Gewünschte bekommen will, erstens herzkrank ist und zweitens die Legende von einem acht Fuß großen Lehmmonster kennt, welches womöglich in einem Zusammenhang mit dem Gegenstand steht, der gestohlen werden soll, und wenn überdies klar ist, daß man diesen Mann wird töten müssen, um diesen Gegenstand zu kriegen, die Umstände jedoch gebieten, daß sein Tod nicht auf den ersten Blick als Mord erkennbar ist –«
»Dann erschreckt man ihn zu Tode«, vollendete Innes, der endlich begriffen hatte.
»Man schmuggelt vier Männer und einen Sarg mit irgendeiner in Tonerde gepackten Apparatur an Bord. Man zeichnet die Särge so aus, als kämen sie aus Prag, um den Aberglauben zu stärken. Nicht zu vergessen: Der Passagier, der den ›Geist‹ schreien hörte, hat auch eine große graue Gestalt gesehen, die im Laderaum umherstreifte, und diese Kabinen der Zweiten Klasse sind nur zwei Treppen weit entfernt; als es gestern abend an Mr. Seligs Kabinentür klopfte und er die Tür so weit öffnete, wie die Kette es erlaubte … Ich glaube, es war der Anblick dieses ›Golem‹, was seinen tödlichen Herzanfall so unvermittelt herbeiführte.«
»Was sagt man dazu?« meinte Pinkus. »Aber wenn es so war, was hat sie dann daran gehindert, sofort einzudringen und das Buch zu stehlen?« fragte Stern. »Die Kette war ja nicht einmal zerrissen.«
»Unser plötzliches Auftauchen vermutlich«, sagte Doyle. »Was schadet das auch? Sie werden einfach auf eine neue Gelegenheit warten. Wer sollte auch auf die Idee kommen, daß es sich mit Seligs Tod anders verhielt, als es den Anschein hatte? Nur, daß Mr. Selig in den letzten Augenblicken seines Lebens tapfer noch einmal alle seine Kräfte aufbot: Er brach eine Handvoll Lehm aus dem Ungeheuer – ein kleiner Rest davon blieb unter seinen Fingernägeln – und zeichnete damit die Tätowierung an die Wand, die er am Unterarm eines seiner Angreifer gesehen hatte.«
»Was sagt man dazu?« meinte Pinkus und griff neuerlich auf das zurück, was er immer zu sagen pflegte, wenn er nichts zu sagen hatte.
»Ich schätze, das alles ist irgendwie plausibel. Aber woher konnten die wissen, daß Rupert ein Herzleiden hatte?« fragte Stern. »Nicht einmal ich habe davon gewußt.«
»Mr. Selig hat in London gewohnt; vermutlich haben sie die Information von seinem Hausarzt«, meinte Doyle. »Er hat Ihnen gesagt, daß er verfolgt wurde, als Sie da waren; wie schwierig könnte es gewesen sein?«
Stern wog die Möglichkeiten gegeneinander ab. Nach allem, was er in letzter Zeit erlebt hatte, war es schwer, den Gedanken ohne weiteres von der Hand zu weisen.
»Scheint mir aber immer noch eine schrecklich umständliche Methode, um lediglich ein altes Buch in die Finger zu bekommen«, bemerkte Innes; er schmollte ein wenig, weil sein Bruder es unterlassen hatte, ihm diese Schlußfolgerungen schon eher und unter vier Augen anzuvertrauen.
»Wie Mr. Stern uns erklärt hat, ist das Sohar unbezahlbar, und wer immer diese Leute beauftragt hat, ist offenbar zu allem bereit, um es in seinen Besitz zu bringen.«
»Ich habe immer gedacht, es handelt sich um nichts weiter als um eine Sammlung von abergläubischem Unsinn«, sagte Stern. »Aber wenn das Buch Sohar nun tatsächlich eine Geheimformel zur Erschaffung des Lebens enthält? Oder zu seinem Sinn …?«
»Dann ist ›unbezahlbar‹ noch sehr zurückhaltend ausgedrückt«, sagte Doyle.
»Yeah, und außerdem«, sagte Pinkus, kniff die Augen zusammen und ließ eine mächtige Kaugummiblase zerknallen, während er im Geiste eine ungeheuer obskure Argumentationskette zu Boden rang, »wenn sie das Buch noch nicht mal geklaut haben, wie haben sie es dann geschafft, das Monster von allein rumlaufen zu lassen?«
So sehr sie sich auch bemühten, auf eine Bemerkung, die aus derart unergründlichen Tiefen der Dämlichkeit heraufhallte, wußte niemand eine Antwort.
Doyle überließ es Innes und Pinkus, für die Beseitigung des toten Meuchelmörders zu sorgen, gab Stern in die Obhut der Offiziere auf der Brücke und wanderte allein im matten Licht einer Öllampe zu seiner Kabine zurück. Während er sich mit festem Griff an die Handläufe klammerte, um gegen das Schlingern und Rollen der Decks anzukämpfen, erkannte Doyle, daß ein Sturm mitten auf dem Atlantik an sich für die meisten strapaziös genug sein würde, wenngleich er selbst schon manche gefährlichere Nacht auf kleineren Schiffen auf hoher See überlebt hatte. Größere Unruhe bereitete ihm indessen der unüberwindliche Rest von Ungewißheit, von dem er seinen Gefährten nichts gesagt hatte, Einzelheiten, die niemand bemerkt und weiter erörtert hatte:
Wenn einer der Särge eine große Lehmfigur enthalten hatte, blieb in den anderen Platz für vier Männer, die sich an Bord stehlen konnten. Einer von ihnen war von eigener Hand gestorben, ein zweiter über Bord gegangen; das dritte Mitglied der Mörderbande war im Korridor der Zweiten Klasse an Pinkus vorbei entkommen. Der vierte hatte höchstwahrscheinlich den jungen Offizier ermordet und seinen Platz auf der Brücke eingenommen. Das hieß, daß zwei von ihnen noch an Bord der Elbe waren, ohne daß man wußte, wo sie sich aufhielten. Dazu kam ihr Anführer, der Mann, der sich als Father Devine ausgab.
Fünf Männer. Vier Särge.
Die Frage war: Wie war dieser Father Devine an Bord gekommen? Auf der Passagierliste stand er nicht, und die Besatzung konnte keine Spur von ihm finden. Doyle hatte ihn am ersten Tag auf Deck aus der Nähe gesehen, und dann noch einmal bei der Seance. Nach Alter und Körperumfang zu urteilen hatte er nicht zu den Männern in Schwarz gehört, und der unglückliche Schiffsoffizier war erst dreiundzwanzig Jahre alt gewesen; Devine hätte niemals überzeugend seinen Platz auf der Brücke einnehmen können. Und Doyle war dem Mann nicht einmal eine Stunde nach dem Auslaufen begegnet; er hätte also nicht annähernd genug Zeit gehabt, sich aus einem Sarg im Laderaum zu befreien. Das Hämmern unter Deck hatte man auch erst am Abend gehört.
Nachdenken, Doyle. Ein Priester, der sich auf einem auslaufenden Schiff in das Getümmel der Abreisenden mischte, würde bei niemandem hochgezogene Augenbrauen hervorrufen; angenommen, er spazierte mit einer Gruppe von Leuten die Gangway hinauf, als wolle er sich von ihnen verabschieden, und machte sich dann einfach unsichtbar, bis das Schiff den Hafen verlassen hatte. Ja, das klang plausibel.
Da war auch noch die Sache mit dem Zeichen, das in den Arm des Toten eingebrannt gewesen war. Doyle war fast sicher, daß es irgendeine geheime Bedeutung hatte, aber so sehr er sich auch den Kopf zerbrach, er konnte diese Nuß nicht knacken …
Laß dein Unterbewußtsein daran arbeiten, riet er sich. Anstrengung wird nichts helfen; vielleicht blubbert die Antwort gerade dann an die Oberfläche, wenn ich am wenigsten damit rechne.
Während das Schiff sich durch Wellenschluchten hinauf und hinunter kämpfte, schloß Doyle mit einiger Mühe seine Kabinentür auf und öffnete sie. Drinnen war es dunkel; die Tür schwang mit den Schaukelbewegungen des Schiffes hin und her.
Jemand war da.
Doyle zog langsam die Pistole aus dem Gürtel.
Der Lichtstrahl der Laterne drang in den Raum. Ein Messer steckte vor dem Bett im Boden und hatte einen Zettel festgenagelt, auf dem in großen roten Blockbuchstaben stand:
NÄCHSTES MAL TÖTEN WIR DICH. »Machen Sie die Tür zu«, sagte die Stimme. Father Devine stand reglos mit verschränkten Armen im schützenden Schatten in einer Ecke der Kabine. Das Schiff rollte nach Steuerbord, und die Fugen der Wände ächzten unter der Spannung. Doyle schloß die Tür, spannte den Hahn seiner Pistole, hielt Devine in Schach und hob die Laterne höher.
Eine Gestalt lag grotesk verrenkt am Fußende der Koje, ein Mann in Schwarz, der noch die Maske trug. Einer der Mörder. Erwürgt mit seiner eigenen Garrotte. Drei tot, einer noch am Leben.
»Was wollen Sie?« fragte Doyle.
Father Devine tat einen Schritt nach vorn, ohne seine Augen vor dem Licht zu beschirmen, und Doyle sah ihn deutlich und von vorn, zum ersten Mal, seit sie an Bord waren; er sah die gezackte, elfenbeinweiße Narbe, die sich an seinem Unterkiefer entlangzog, sah das Licht in den Augen des Mannes, das er bisher noch nicht wahrgenommen hatte, und es verschlug ihm den Atem.
Der Priester lächelte schmal und schaute auf die Gestalt am Boden.
»Der hier hat Sie erwartet«, sagte er, und alles Irische war aus seinem Tonfall verschwunden. »Er war tot, bevor ich etwas Nützliches erfahren konnte.«
Es war nicht möglich.
Gütiger Gott. Gütiger Gott, ja, er war es. Er war es.
Jack Sparks.