EPILOG
»Geburt und Paarung und Tod.
Das ist alles, was besteht, wenn’s ums Ganze geht:
Geburt und Paarung und Tod.
Ich bin geboren worden, und einmal genügt.«
- T. S. Eliot, 1888-1965
 
 
»Che gelida manina!« »Wie eiskalt ist dies Händchen!«
- Giacosa und Illica, La Bohème

Kapitel fünfzig

Richard machte sich eine Tasse Kaffee und nahm sie mit in Cathys Zimmer. Sieben Monate waren seit dem Angriff auf sie vergangen, und obwohl sie inzwischen nicht mehr auf das Beatmungsgerät angewiesen war, hatte sie immer noch nicht ihr Bewusstsein wiedererlangt.
Während er seinen Kaffee trank, schaute er hinaus über das Gelände des Pflegeheims in Sussex. Zwei Monate zuvor war sie hierher verlegt worden. Die Heimleitung hatte sich einverstanden erklärt, dass er das Zimmer gemeinsam mit ihr bewohnte.
Richard schlief nachts auf einem kleinen Klappbett und erledigte tagsüber so gut wie alles für Cathy. Er wusch sie und wechselte ihre Kleidung. Er bürstete ihr Haar, massierte ihr Arme und Beine und saß bei ihr am Bett, hielt ihre winzige Hand in seiner Pranke.
Cathy sah schrecklich aus. Die Narben in ihrem Gesicht und an ihrem Körper waren grauenvoll, noch immer wundrot und aufgeworfen. Niemand, der Cathy sah, hätte geglaubt, dass sie einmal eine wunderschöne Frau gewesen war.
Es gab keine Fotos, damit sie für den Fall, dass sie plötzlich aufwachen sollte, sich nicht sah und sich erinnerte. Dass es in ihrem Zimmer keinen Spiegel gab, dafür hatte Richard ebenfalls gesorgt.
Während die Schwestern ihrer Arbeit nachgingen, hörten sie, wie er mit leiser Stimme unablässig zu ihr sprach. Er beteuerte, dass er sie liebte, schilderte, wie gut sich ihre Tochter machte, versprach ihr, dass sie ein schönes Leben haben würden, wenn sie wieder genesen war.
Es rührte die Schwestern zu Tränen.
Der große kahlköpfige Mann mit dem dicken Bauch und den traurigen blauen Augen war aus dem Heim nicht mehr wegzudenken. Sie alle hatten ihn kennengelernt, und alle mochten ihn. Sogar die eher abgebrühten Mitglieder des Pflegepersonals fragten sich insgeheim, wie es wohl sein mochte, jemanden zu haben, der so lieben konnte. Man hatte genügend Komapatienten erlebt, die monatelang keinen Besuch bekamen, nachdem Freunde und Familie den ersten Schock überwunden hatten. Nicht so Cathy Pasquale.
Sie war inzwischen abgemagert und nur noch Haut und Knochen. Die Ärzte hatten sie an einen Glukosetropf gehängt, damit sie zunahm. Sie befand sich in einem Zwischenzustand, war weder tot noch richtig lebendig.
Möglicherweise konnte es ewig so bleiben. Die Ärzte hatten ein Wachkoma diagnostiziert. Aber bei Hirnverletzungen konnten Überraschungen auftreten, und Richard Gates wurde nicht müde, darauf hinzuweisen, dass es Menschen gegeben hatte, die noch nach Jahren aus dem Koma erwacht waren. Man wusste, dass er niemals dulden würde, diese Patientin »in der Wahrung ihrer eigenen besten Interessen« sterben zu lassen, und es würde auch kein Gericht angerufen werden, die Erlaubnis zu erteilen, Cathy verhungern zu lassen.
Richard trank seinen Kaffee und sprach zu ihr. »Kitty kommt später her, zusammen mit Desrae. Sie waren auf Lanzarote. Desrae hat da Freunde. Erinnerst du dich an Joanie? Der soll da unten eine tolle Bar haben. Sobald es dir besser geht, besuchen wir ihn, okay?«
Ihre winzige Hand war kalt, und er drückte sie fester. Während er mit ihr sprach, sah er zum Fenster hinaus und versuchte, die Tränen zu ignorieren, die alles verschwimmen ließen.
»Ich dachte, wir gönnen uns mal was zum Abendessen, und hab Pasta besorgt. Ich darf hier die Küche benutzen, wie ich dir ja schon erzählt habe, und koche für uns alle, für mich und die Schwestern. Ich hoffe, sie werden’s überleben.« Er lachte leise.
»Die Mädels aus dem Club wünschen dir alles Gute, und Susan P. kommt auch noch heute Nachmittag vorbei. Sie bringt dir ein paar neue Nachthemden mit. Die Wäscherei hier lässt viel zu wünschen übrig, und irgendwie finde ich es nicht gut, wenn deine schönen Sachen im alten Wäschewagen weggefahren werden, mit deinen Namensschildchen, als wärst du noch ein Schulmädchen.«
Er stellte seine Tasse auf den Nachttisch und nahm ihre Haarbürste zur Hand. Als er Cathy ansah, blieb ihm fast das Herz stehen.
Sie hatte die Augen geöffnet und sah ihn an.
Diese blauen Augen, von denen er so viele Jahre geträumt hatte, sahen ihn tatsächlich an. Wie durch ein Wunder war neues Leben in ihr von Narben entstelltes Gesicht zurückgekehrt.
Er hielt den Atem an. Im Zimmer war es so still, dass er den Deckenventilator draußen auf dem Flur hören konnte und das Scheppern von Tassen, denn die Teefrau machte ihre Runden. Draußen fuhr ein Auto vor. Er hörte, wie Leute sich unterhielten, und ihre Stimme klangen so normal, so alltäglich, dass ihm nach Weinen zumute wurde.
Cathy hielt die Augen immer noch offen. Sie sah ihn immer noch an und blinzelte kurz, bevor sie sie wieder schloss, als sei die Anstrengung zu viel für sie.
Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, die Beine versagten ihm den Dienst, und er musste sich setzen. Er nahm wieder ihre Hand. Sie war immer noch kalt.
»Ich weiß, dass du mich hören kannst. Ich habe es immer gewusst. Bitte, komm zurück zu mir, Cathy. Ich flehe dich an. Komm zurück zu uns allen. Kitty braucht dich, ich brauche dich, Desrae braucht dich. Du fehlst uns so sehr. Bitte, Cathy, wenn du mich hören kannst, zeig es mir. Drück mir die Hand, öffne die Augen, irgendwas.«
Er blickte wie hypnotisiert in ihr Gesicht und sah die furchtbaren Narben nicht. Für ihn würde sie immer die wunderschöne Cathy bleiben. Sie war seine Cathy. Das hatte ihm der Blick ihrer erwachten Augen bewiesen. Er kämpfte gegen die Tränen und blickte hinaus in den Himmel, ergriffen, wie nur ein Mann sein kann, der sich inständig etwas gewünscht hatte und erlebte, dass dieser Wunsch erfüllt worden war.
Man hatte gesagt, dass es geschehen konnte.
Man hatte ihn darauf vorbereitet.
Trotzdem rang er um Fassung.
Es war Oktober und das Wetter herrlich. Altweibersommer, aber er gab nichts darauf, welche Jahreszeit sie hatten, wenn nur seine Cathy sie mit ihm erleben konnte.
Er ließ den Tränen freien Lauf, denn schließlich war da niemand, der es sah.
»Hör auf zu weinen, Richard, bitte.«
Er betrachtete sie, wusste nicht, ob sie wirklich gesprochen hatte oder ob es Einbildung gewesen war.
Ihre Augen waren noch geschlossen.
»Cathy? Sprich mit mir, bitte.«
Durch einen Tränenvorhang starrte er sie an.
»Ich bin durstig. Wann bekomm ich endlich was zu trinken?« Sie hatte die Augen wieder aufgeschlagen, und ihm wurde klar, dass sie bei vollem Bewusstsein war. Sie wusste genau, was sie sagte. Sie war wieder bei ihm.
Er schloss sie in die Arme und drückte sie an sich. »Ich liebe dich, mein Mädchen, ich liebe dich über alles.«
Sie lächelte sanft. Die Haut spannte sich in einem Gesicht, das sie nicht kannte. »Das weiß ich doch, Richard, aber ich möchte trotzdem etwas zu trinken.«
Er küsste sie auf die Stirn. »Ich hole es dir, Liebling, ich hole dir, was immer du möchtest. Du musst es mir nur sagen.«
»Ich weiß, Richard, ich weiß.«
Jetzt wusste er, dass sie ihn immer gehört hatte, dass sie jedes Wort der Liebe verstanden hatte, das in den letzten Monaten über seine Lippen gekommen war. Diese Gewissheit machte ihn über alle Maßen glücklich.
Cathy hatte einen langen Weg vor sich, aber mit seiner Hilfe, mit Kittys und Desraes und Susans Hilfe würde sie ihn bewältigen.
Sie hatte ein Leben hinter sich, wie es die meisten Menschen nicht durchgestanden hätten. Ihre Jugend war hart gewesen, sie hatte einige falsche Entscheidungen getroffen, aber sie war sich immer treu geblieben und hatte stets das getan, was sie für richtig hielt.
Sie hatte zu sehr geliebt, und das wäre ihr beinahe zum Verhängnis geworden.
Jetzt würde er dafür Sorge tragen, dass sie glücklich wurde. Er würde sie behandeln, wie ein Mann seine Frau behandeln sollte: Er würde sie beschützen, sie lieben und ehren.
Sie lächelten einander an, als hätte Cathy seine Gedanken gelesen und stumm geantwortet.
Er hoffte inständig, dass es so war. Nichts auf der Welt wünschte er sich so sehr.
Die Aufsteigerin
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