»Wo habt ihr den Rebreather gelassen? An dem Tag, als ihr mich ins Krankenhaus gebracht habt?«

»Ist im Lagerschuppen.«

Clay lief schnurstracks zu dem Bungalow, in dem sie Tauch-und Bootsausrüstung aufbewahrten. Er winkte Kona, ihm zu folgen. »Komm.«

»Was?«

»Habt ihr Jungs Sauerstoff und Nottanks nachgefüllt?«

»Wir haben nur alles abgespült und in den Kasten gelegt.«

Clay zog den großen, wasserdichten Kasten von einem Stapel Sauerstofftanks, und öffnete die Verschlüsse. Der Rebreather lag warm und trocken in seiner Schaumstoffpolsterung. Clay riss ihn heraus, legte ihn auf den Boden, und stellte den integrierten Computer an. Er drückte auf mehrere Knöpfe und sah, wie das graue LCD-Display die Ziffern durchging. Der letzte Tauchgang: Die Tauchzeit hatte fünfundsiebzig Minuten und dreiund-vierzig Sekunden betragen. Der Sauerstofftank war fast voll. Die Notreserve auch. Randvoll. Sie war nicht mal angerührt worden.

Irgendwie war Amy ohne Sauerstoffversorgung eine Stunde unter Wasser geblieben.

Clay wandte sich dem Surfer zu. »Kannst du dich erinnern?

Hat Nate dir irgendwas gezeigt, woran er gearbeitet hat? Ich brauche Einzelheiten – so ungefähr weiß ich selbst Bescheid.«

Clay war nicht sicher, wonach er suchte, aber das Ganze musste etwas zu bedeuten haben, und er konnte nur auf das zurückgreifen, woran Nate gerade geforscht hatte.

Der Surfer kratzte die dreadlose Seite an seinem Kopf. »Irgendwas davon, dass die Wale binär singen.«

»Komm, zeig es mir.« Clay stürmte zur Tür hinaus, zurück in sein Büro.

205

»Was suchst du?«

»Ich weiß es nicht. Hinweise. Geheimnisse. Sinn.«

»Du bist doch lolo, oder?«

206

22

Bernard rührt den Kaffee um

Etwa zu dem Zeitpunkt, als es Nathan Quinn gelang, seiner Übelkeit wegen der unaufhörlichen Bewegung des Walschiffes Herr zu werden, ergriff eine andere Macht von ihm Besitz. Er spürte eine Beklommenheit, die in Wogen über ihn kam, und etwa zwanzig Sekunden lang fühlte er sich dann, als müsste er aus der Haut fahren. Dann ging es vorbei, und ein paar Sekunden lang fühlte er sich wie taub, bis es wieder von vorn anfing.

Poynter und Poe rannten in der kleinen Kajüte herum und sahen sich biolumineszierende Hubbel und Knubbel an, als hätten sie was zu bedeuten, aber so sehr er sich auch bemühte, Nate konnte nicht erkennen, was sie überwachten. Es hätte geholfen, wenn er hätte aufstehen können, um es sich genauer anzusehen, aber Poynter hatte die Anweisung gegeben, ihn zu sichern, nachdem er sich das erste Mal auf das Spundloch gestürzt hatte. Fast hätte er es sogar geschafft. Er hatte sich darauf gestürzt, wie es die Walbengel machten, aber leider hatte nur ein Arm hindurchgepasst, und am Ende steckte er in der Walrosette, mit dem Gesicht am Gummiboden und einer Hand draußen im kalten Ozean.

»Nun, das war phänomenal dumm«, tadelte Poynter.

»Ich glaub, ich hab mir die Schulter ausgerenkt«, sagte Nate.

»Ich sollte Sie da liegen lassen. Vielleicht saugt sich ein Remora an Ihrer Hand fest und erteilt Ihnen eine Lektion.«

»Oder ein Plätzchenstecherhai«, sagte Poe. »Üble Biester.«

Die Walbengel drehten sich auf ihren Sitzen um und kicherten, nickten mit den Köpfen und schnaubten abfällig, was einiges an Feuchtigkeit von ihrer zehn Zentimeter breiten Zunge mit sich 207

brachte. Offenbar war Quinn für die Zetazeen der Brüller. Das hatte er schon immer befürchtet.

Poynter ging auf alle viere und sah Nate ins Gesicht. »Solange Sie da unten sind, möchte ich gern, dass Sie darüber nachdenken, was geschehen wäre, wenn Sie sich erfolgreich durch diese Öffnung gezwängt hätten. Erstens befinden wir uns in einer Tiefe von – Skippy, wie tief?«

Skippy zwitscherte und klickte ein paar Mal.

»Fünfzig Metern. Abgesehen von der Tatsache, dass Ihnen wahrscheinlich auf der Stelle die Trommelfelle platzen würden, sollten Sie darüber nachdenken, wie Sie ohne einmal Luft zu holen an die Wasseroberfläche gelangen wollen. Und wenn Sie es bis nach oben geschafft hätten, was wollten Sie dann tun?

Wir sind fünfhundert Seemeilen vom nächsten Ufer entfernt.«

»Ich hatte den Plan nicht zu Ende gedacht.«

»Also könnte ich es im Grunde als Erfolg verbuchen? Sie wollten nur die Wassertemperatur prüfen?«

»Genau«, sagte Nate, weil er es für das Klügste hielt, ihm Recht zu geben.

»Spüren Sie Ihre Hand?«

»Es ist etwas kühl, aber: ja.«

»Oh, gut.«

Und dann ließ man ihn ein paar Stunden dort am Boden liegen, mit etwa fünfzehn Zentimetern seines Armes draußen im Meer, während der Wal vor sich hin schwamm, und als sie ihn schließlich herauszogen, fixierten sie ihn auf seinem Sitz und ließen ihn nur zum Essen frei, und wenn er zur Toilette musste.

Er hatte versucht, sich zu entspannen und zu beobachten – so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen –, doch nun spülten seit ein paar Minuten diese Wogen der Beklommenheit über ihn hinweg.

»Er hat Sonarsausen«, sagte Poe.

208

Poynter wandte sich von Skippys Pult ab. »Es liegt an den Infraschallwellen, Doc. Sie spüren sie, ohne sie hören zu können. Wir kommunizieren schon seit etwa zehn Minuten mit dem Blauen.«

»Sie hätten ruhig was sagen können.«

»Hab ich doch gerade.«

»In zwei Stunden sitzen Sie im Blauen, Doc. Da können Sie auch wieder aufstehen und rumlaufen. Und etwas für sich sein.«

»Sie kommunizieren mit ihm also im Infraschallbereich?«

»Jep. Genau wie Sie es sich gedacht haben, Doc. Der Ruf hatte etwas zu bedeuten.«

»Ja, aber ich hatte mir nicht vorgestellt, dass da Menschen und menschenähnliche Wesen in den Walen sitzen. Wie zum Teufel kann das sein? Wieso wusste ich nichts davon?«

»Dann geben Sie Ihre ›Ich bin tot‹-Strategie also auf?«, fragte Poe.

»Worum geht’s? Außerirdische?«

Poynter knöpfte sein Hemd auf und zeigte seine Brustbehaa-rung. »Seh ich aus wie ein Alien?«

»Na ja, nein, aber die da.« Nate nickte zu den Walbengels hinüber. Sie sahen einander an und kicherten, wobei eine Art keuchendes Prusten aus ihren Blaslöchern drang; dann waren sie kurz still, sahen sich noch einmal zu Nate um und kicherten erneut.

»Vielleicht hat sich intelligentes Leben auf ihrem Planeten eher von Walen als von den Affen aus entwickelt«, fuhr Quinn fort. »Ich kann mir gut vorstellen, wie sie hier gelandet sind. Sie haben diese Walschiffe losgeschickt und sind vom Radar der Menschen unentdeckt geblieben. So konnten sie sich unbehelligt umsehen. Ich meine, der Mensch ist ja offensichtlich nicht das friedlichste aller Lebewesen.«

»Das glauben Sie, Doc?«

209

»Auf ihrem Planeten haben sie eine Technologie entwickelt, deren Basis organisch ist und nicht wie unsere auf Verbrennung und Verarbeitung von Bodenschätzen beruht.«

»Oh, das ist wirklich gut«, erklärte Poe.

»Er hat eine Glückssträhne«, sagte Poynter. »Auf dem besten Weg, das Geheimnis zu lüften.«

Skippy und Scooter nickten einander zu und grinsten.

»Das ist es also? Dieses Schiff ist außerirdisch?« Quinn spürte den kleinen Siegesrausch, den man erlebt, wenn man seine Hypothese bestätigt findet – selbst wenn sie so abwegig ist, dass darin Aliens in Walschiffen herumfuhren.

»Natürlich«, sagte Poe, »das könnte ich glauben. Und Sie, Käpt’n?«

»Ja, Marsmännchen, das seid ihr!«, sagte Poynter zu den Walbengels.

»Miep«, sagte Scooter.

Und mit hoher, quäkender Kleinmädchenstimme krächzte Skippy: »Nach Hause telefonieren.«

Die Walbengel klatschten die Hände gegeneinander und brachen vor hysterischem Quieken fast zusammen.

»Was hat er gesagt?« Nate verdrehte schmerzhaft seinen Hals, als er sich trotz der Haltegurte umzudrehen versuchte. »Die können sprechen?«

»Na, ja, ich denke schon, wenn man es denn Sprechen nennen will«, erwiderte Poe. Die Walbengel unterbrachen ihren Lachan-fall und fuhren mit dem Walschiff drei Rollen seitwärts, was die ungesicherten Poe und Poynter wie zwei Lumpenpuppen durch die weiche Kajüte warf.

Poynter stand mit blutender Lippe auf, die er sich mit dem eigenen Knie zugefügt hatte. Poe hatte sich beim Herumfliegen das Schienbein am Kopf eines der beiden Walbengel angeschlagen. Angeschnallt, wie er war, konzentrierte sich Nate darauf, 210

keine Wiederaufführung seines Mittagessens aus rohem Thunfisch zu erleben.

»Fischköpfe!«, sagte Poe.

»Hätten Sie das von Ihrer Rasse superintelligenter, weltraum-reisender Außerirdischer gedacht, Nate?« Poynter wischte Blut von seiner Unterlippe und schnippte es in Scooters Richtung.

Dem schwedischen Arzt Carl von Linné, der sich im 18.

Jahrhundert auf die Behandlung der Syphilis spezialisierte, wird die Erfindung jenes Systems zugeschrieben, welches noch heute zur Klassifizierung von Pflanzen und Tieren Anwendung findet.

Linné ist dafür verantwortlich, dass der Buckelwal auf den Namen Megaptera novaeanglia oder »Großer Flügel von Neuengland« getauft wurde. Später dann taufte er den Blauwal auf den Namen Balaenoptera musculus oder »Kleine Maus«, und das bei fast vierzig Metern Länge und über hundert Tonnen Gewicht, ein Tier, dessen Zunge allein größer ist als ein ausgewachsener afrikanischer Elefant. »Kleine Maus«? Mancher hat spekuliert, diese unglaublich unzutreffende Bezeichnung sei allein dazu eingeführt worden, um Linnés Assistenten zu verwir-ren, etwa: Geh und fang mir draußen eine » kleine Maus« , Sven.

Andere meinen, die Syphilis sei ihm zu Kopf gestiegen.

Quinn kauerte über dem Spundloch, Skippy und Scooter hielten ihn bei den Armen, Poynter und Poe hockten salutierend vor ihm. Er fühlte die Struktur der Öffnung unter seinen nackten Füßen wie ein nasses Reifenprofil.

»War mir ein Vergnügen, Doc«, sagte Poynter. »Gute Reise.«

»Wir sehen uns in der Basis«, sagte Poe. »Und jetzt entspannen Sie sich. Sie werden kaum mit dem Wasser in Berührung kommen. Halten Sie sich die Nase zu, und blasen Sie.«

Das tat Quinn.

211

Poynter zählte: »Eins, zwei …«

»Miep.«

Nate wurde durch die Öffnung gesogen, spürte kurz Kälte und einen leichten Druck auf den Ohren, dann fand er sich in einem Raum wieder, der nur wenig höher war als der in dem Buckelwal, in Gesellschaft einer ziemlich amüsierten Frau.

»Sie können jetzt aufhören mit dem Blasen«, sagte sie.

»Und wieder ein Satz, von dem ich nicht geglaubt hätte, dass ich ihn jemals hören würde«, sagte Nate. Er ließ seine Nasenflü-

gel los und atmete tief ein. Die Luft schien frischer zu sein als im Buckelwal.

»Willkommen in meinem Blauen, Dr. Quinn. Ich bin Cielle Nuñez. Wie fühlen Sie sich?«

»Wie ausgeschissen.« Quinn grinste. Sie war etwa in seinem Alter. Eine Latina mit kurzem, dunklem, grau meliertem Haar und großen, braunen Augen, in denen sich die Biolumineszenz von den Wänden widerspiegelte, was aussah, als lachte sie. Sie war barfüßig und trug Khakis wie Poynter und Poe. Er reichte ihr die Hand.

»Putzig«, sagte sie. »Kommen Sie, Doktor. Es ist bestimmt schon eine Weile her, dass Sie aufrecht stehen konnten.« Sie führte ihn einen Korridor entlang, der Nate daran erinnerte, wie er mit seinen Kumpels, als sie noch Kinder waren, die Kanalisa-tion von Vancouver erkundet hatte. Die Decke war hoch genug, dass man einigermaßen aufrecht gehen, aber nicht so hoch, dass man bequem stehen konnte.

»Im Grunde bin ich kein richtiger Doktor, Cielle. Ich habe zwar einen Titel, aber das mit dem ›Kommen Sie, Doktor‹ –«

»Ich verstehe. Ich bin der Kapitän auf diesem Boot, aber wenn Sie mich ›Käpt’n‹ nennen, werde ich Sie ignorieren.«

»Ich wollte doch den Buckelwal singen hören, bevor ich los muss. Sie wissen schon, von innen.«

212

»Das werden Sie. Sie haben Zeit genug.«

Der Korridor wurde immer breiter, je weiter sie kamen, und Nate konnte tatsächlich normal gehen, zumindest so normal, wie man barfüßig auf Walhaut gehen kann. Die Haut sah gesprenkelt aus, während sie im Buckelwal fast durchgehend grau gewesen war. Ihm fiel auf, dass auf diesem Schiff breite, biolumineszierende Adern am Boden verliefen und gelbliches Licht abgaben, so dass alles gespenstisch grün erglühte. Nuñez blieb vor etwas stehen, bei dem es sich um Durchgänge auf beiden Seiten zu handeln schien.

»Diese Stelle ist so gut wie jede andere«, sagte sie. »Jetzt drehen Sie sich seitwärts, und nehmen Sie meine Hand.«

Quinn tat, was man von ihm verlangte. Ihre Hand fühlte sich warm an, aber trocken. Sie war klein, aber kräftig, und er spürte die Stärke in ihrem Griff. »Wir gehen einfach los, wenn sich das Schiff dreht. Bleiben Sie erst stehen, wenn ich es sage, sonst sitzen Sie gleich auf Ihrem Allerwertesten.«

»Was?«

»Okay, Scooter, Rolle seitwärts.«

»Scooter?«

»Alle Piloten heißen Scooter oder Skippy. Das haben die Ihnen nicht erzählt?«

»Man war nicht gerade freigiebig mit Informationen.«

»Buckelwal-Mannschaften sind üble Schlitzohren.« Nuñez lächelte. »Sie kennen die Sorte, wie Navy-Kampfpiloten an Deck? Nur Ego und Testosteron.«

»Wohl eher Halunken als Schlitzohren«, entgegnete Nate.

»Bei dem speziellen Haufen, ja.«

Der ganze Korridor begann sich zu bewegen.

213

»Los geht’s: Schritt, Schritt, Schritt, so ist es gut.« Sie liefen an der Wand entlang, während das Schiff seitwärts rollte. Als sie an der Decke standen, hörte die Bewegung auf. »Schön, Scooter«, sagte Nuñez, die offenbar über eine unsichtbare Sprechanlage mit ihm kommunizierte. Dann zu Nate: »Er ist so gut.«

»Wir lagen beim Transfer auf dem Rücken?«

»Exakt. Sie sind ein helles Köpfchen. Sehen Sie hier, das sind Kabinen.« Sie berührte einen leuchtenden Knoten an der Wand, und ein Vorhang aus Haut faltete sich zurück. Nate dachte unwillkürlich an das Blasloch eines Zahnwals, aber es war so groß, mehr als einen Meter zwanzig breit, es war einfach …

unnatürlich. Pulsierend flammten Lichtstreifen jenseits der Tür auf und boten einen Blick in die kleine Kabine, ein Bett –

offenbar aus derselben Haut gearbeitet wie alles im Raum –, aber auch ein Tisch und ein Stuhl. Nate konnte nicht erkennen, aus welchem Material sie wohl gemacht sein mochten, aber es sah aus wie Plastik.

»Knochen«, sagte Nuñez, als sie sah, was er sah. »Sie sind ebenso Teil des Schiffes wie die Wände. Alles lebendes Gewebe. Hinter den Schotten, die jetzt geschlossen sind, gibt es Regale und Fächer für Ihre Sachen. Selbstverständlich muss alles verstaut sein für kleine Manöver wie gerade eben. Die Schwimmbewegung ist nicht so schlimm wie bei den Buckelwalen. Sie werden feststellen, dass man sich daran gewöhnt, und dann läuft man wie an Land.«

»Sie haben Recht. Ich hab gar nicht gemerkt, dass wir unterwegs sind.«

»Das dürfte daran liegen, dass wir es auch nicht sind«, sagte Nuñez.

Das Kichern eines Walbengels hallte ihnen durch den Korridor entgegen.

214

»Ihr Lümmel sollt arbeiten«, rief Nuñez. »Macht euch bereit.«

Sie drehte sich zu Quinn um. »Kann ich Ihnen was Warmes spendieren? Und vielleicht ein paar Fragen beantworten?«

»Sie bieten mir was an?« Quinns Herz hüpfte vor Freude.

Informationen ohne Poynters und Poes entnervendes Katz-und-Maus-Spiel? Er war begeistert. »Das wäre phantastisch.«

»Machen Sie sich nicht gleich in die Hose, Quinn. Es geht nur um Kaffee.«

Der Korridor führte auf eine große Brücke. Der Kopf des Blauen war riesig, verglichen mit dem Buckelwal. Auf beiden Seiten des Eingangs stand ein Walbengel und grinste sie an, als sie vorbeikamen. Beide waren größer als Quinn, und im Gegensatz zu Scooter und Skippy vom Buckelwal war ihre Haut gesprenkelt und von hellerer Farbe.

Nate blieb stehen und grinste zurück. »Lasst mich raten –

Skippy und Scooter?«

»Eigentlich Bernard und Emily 7«, sagte Nuñez.

»Sie haben doch gesagt, alle wären –«

»Ich habe gesagt, alle Piloten heißen Skippy und Scooter.«

Sie deutete auf den vorderen Teil der Brücke, wo sich zwei Walbengel, die dort an den Kontrollpulten saßen, grinsend auf ihren Sitzen umdrehten. Vielleicht, dachte Nate, schien es nur so, als grinsten sie andauernd – wie Delfine. Er hatte einen echten Amateurfehler begangen und angenommen, dass ihr Ge-sichtsausdruck der menschlichen Mimik entsprach. Das machten die Menschen oft so bei Delfinen, obwohl die Tiere keinerlei Gesichtsmuskulatur besaßen, mit der sich Mimik herstellen ließe. Selbst traurige Delfine schienen zu lächeln.

»Was grinst ihr zwei?«, fragte Nuñez. »Machen wir uns auf den Weg.«

215

Die Piloten runzelten die Stirn und wandten sich wieder ihren Pulten zu.

»Tja, Scheiße«, sagte Nate.

»Was?«

»Nichts, nur mal wieder eine Theorie im Arsch.«

»Ja, diese Operation hat’s in sich, oder?«

Nate spürte etwas an seiner hinteren Hosentasche, fuhr herum und sah einen dünnen, dreißig Zentimeter langen, rosafarbenen Penis, der aus Bernards Genitalschlitz ragte. Das Ding winkte ihm zu.

»Heilige Scheiße!«

»Bernard!«, fuhr Nuñez ihn an. »Steck ihn weg. Das tut man nicht.«

Bernards Gerät ließ merklich den Kopf hängen, als er getadelt wurde. Er sah es an und zirpte zerknirscht.

»Aus!«, bellte Nuñez.

Bernards Bester zuckte in seinen Genitalschlitz zurück. »Tut mir Leid«, sagte Nuñez zu Nate. »Daran werde ich mich nie gewöhnen. Es ist wirklich beunruhigend, wenn man mit einem von ihnen arbeitet und ihn bittet, mal eben den Schraubenzieher rüberzureichen, und er hat schon alle Hände voll zu tun.

Kaffee?«

Sie führte ihn an einen kleinen, weißen Tisch, um den herum vier Knochenstühle aus dem Boden ragten – ohne Rückenleh-nen, aber mit organischen Rundungen und dem feuchten Glanz lebender Knochen – eher Antonio Gaudí als Fred Feuerstein.

Quinn setzte sich, während Nuñez einen Knoten an der Wand berührte, der sich zu einer meterbreiten Nische öffnete, mit einer Spüle, mehreren Kanistern und etwas, das wie eine Kaffeemaschine aussah. Nate wunderte sich, woher wohl der elektrische Strom kommen mochte, zwang sich aber zu warten, bevor er fragte.

216

Während Nuñez den Kaffee zubereitete, sah sich Quinn um.

Die Brücke war ohne weiteres viermal so groß wie der gesamte Innenraum des Buckelwals. Statt im Minivan zu reisen, war es, als säße man in einem geräumigen Wohnmobil – ein eher rundliches, schlecht beleuchtetes Wohnmobil, aber ungefähr dieselbe Größe. Blaues Licht drang durch die Augen herein, schien in die Gesichter der Piloten, die schimmerten wie Lackleder. Langsam wurde Nate bewusst, dass zwar alles organisch – lebendig – sein mochte, auf dem Walschiff aber die gleiche Effizienz herrschte wie auf allen Schiffen: Jeder Raum wurde genutzt, alles war gut verstaut, alles funktional.

»Wenn Sie zum Abtritt müssen, gehen Sie den Korridor wieder zurück, vierte Luke auf der rechten Seite.«

Emily 7 klickte und quiekte, und Nuñez lachte. Sie hatte ein warmes, ungezwungenes Lachen. Es kam einfach aus ihr heraus, sanft und leicht. »Emily sagt, eigentlich wäre es logischer, wenn der Abtritt hinten beim Austritt wäre, aber … na, ja, so viel zur Logik.«

»Das mit der Logik habe ich schon vor ein paar Tagen aufgegeben.«

»Sie müssen nichts aufgeben, nur neu anpassen. Der Abtritt ist wie alles andere auf dem Schiff lebendig, aber ich denke, Sie werden schnell merken, wie es geht. Es ist erheblich unkomplizierter als eine Flugzeugtoilette.«

Scooter zwitscherte, und das große Schiff setzte sich in Bewegung, mit einem heftigen Wogen, das bald zu einem sanften Rollen wurde. Es war wie auf einem großen Segelschiff bei mittelschwerer See.

»Hey, wenn du vielleicht kurz vorher was sagen könntest, Scooter, hm?«, tadelte Nuñez. »Fast hätte ich Nathans Kaffee verschüttet. Ist es okay, wenn ich Sie Nathan nenne?«

»Lieber Nate.«

217

Nuñez passte sich dem Rollen des Schiffes an, bahnte sich einen Weg zum Tisch und stellte zwei dampfende Kaffeebecher ab. Dann ging sie Zuckerschale, Löffel und eine Dose Kon-densmilch holen. Nate nahm die Dose und betrachtete sie.

»Das ist hier drinnen das Erste, was ich auch von draußen kenne.«

»Tja, ein Sonderwunsch. Walmilch will man nicht im Kaffee haben. Ist wie Sprühkäse mit Krillgeschmack.«

»Urks.«

»Meine Rede.«

»Cielle, ich hoffe, es macht Ihnen nichts, wenn ich sage, dass Sie mir nicht sehr militärisch vorkommen.«

»Ich? Nein, war ich auch nie. Mein Mann und ich hatten ein großes, schönes Segelboot. Wir sind vor Costa Rica in einen Hurrikan geraten und gesunken. Da haben sie mich geholt. Mein Mann hat nicht überlebt.«

»Das tut mir Leid.«

»Ist okay. Es liegt schon lange zurück. Aber, nein, ich war nie beim Militär.«

»Aber so, wie Sie hier Kommandos geben –«

»Zuallererst müssen wir ein Missverständnis aufklären, dem Sie offensichtlich unterliegen, Nate. Ich … wir, die Menschen auf diesen Schiffen, haben keineswegs das Kommando. Wir sind nur … ich weiß nicht, wie Botschafter oder so was. Wir klingen wie Befehlshaber, weil diese Typen den ganzen Tag nur rumhängen würden, aber wir besitzen keine echte Autorität. Der Colonel gibt die Befehle, und die Walbengel schmeißen den Laden.«

Scooter und Skippy kicherten wie ihre Pendants im Buckelwal, und Bernard und Emily 7 stimmten mit ein, wobei Bernard seinen Greifpimmel ausfuhr wie eine Papiertröte auf dem Kindergeburtstag.

218

»Und die Walmädchen?« Nate nickte zu Emily 7 hinüber, die grinste – es war ein sehr breites, äußerst zahnreiches Lächeln, ein wenig kokett, wie man es – sagen wir – von einem naiven Püppchen erwarten würde, dessen Biss einem aber den Arm abtrennen konnte.

»Einfach nur Walbengel. Es ist wie mit dem Begriff ›Mannschaft‹. Der weibliche Teil wird fallen gelassen. Hier ist es genau das Gleiche. Alte Männer haben ihnen diesen Namen gegeben.«

»Wer ist der Colonel?«

»Er hat das Sagen. Wir kriegen ihn nie zu sehen.«

»Aber menschlich?«

»Soweit ich weiß.«

»Sie sagen, Sie sind schon lange hier. Wie lange?«

»Lassen Sie mich Ihnen noch einen Kaffee holen, und dann erzähle ich Ihnen, was ich weiß.« Sie drehte sich um. »Bernard, würdest du dieses Ding bitte aus der Kaffeekanne nehmen?«

219

23

Clair rührt einen Neuronensturm

Bei aller Bewunderung für die Biologen, mit denen er über die Jahre zusammengearbeitet hatte, bewahrte sich Clay doch ein leises Gefühl der Überlegenheit: Wenn alles getan war, hatten sie nur die Oberfläche dessen, was sie erreichen wollten, angekratzt, aber wenn Clay seine Bilder im Kasten hatte, ging er damit zufrieden nach Hause. Selbst Nathan Quinn gegenüber hatte er sich eine gewisse, schändliche Selbstherrlichkeit zuge-legt und den Freund mit dessen anhaltender Frustration aufgezogen. Für Clay hieß es: Besorg die Bilder und dann: Was gibt’s zum Abendessen? Bis jetzt. Nun musste er sich einigen Myste-rien stellen, und unwillkürlich dachte er, dass die Macht der Ironie ihre Muskeln spielen ließ, um ihm heimzuzahlen, dass er so lange sorglos gelebt hatte.

Kona dagegen zollte seiner Furcht vor der Ironie des Schick-sals schon lange Tribut, indem er – wie viele Surfer – kein Hai-fleisch aß. »Ich esse sie nicht, sie fressen mich nicht. So läuft das.« Doch nun spürte auch er den scharfen Sägezahn im Biss der Ironie. Nachdem er seit dem dreizehnten Lebensjahr seiner geistigen Klarheit durch den Gebrauch der monumentalsten Rauchwaren, die Jah ihm bieten konnte (Dank sei IHM), die Schärfe genommen hatte, blieb ihm nun nichts anderes übrig, als mit schmerzhafter Unerbittlichkeit nachzudenken.

»Denk nach!«, sagte Clair und klopfte dem Surfer mit einem Löffel an die Stirn, mit dem sie Sekunden zuvor Honig in einen Becher Kräutertee gerührt hatte.

»Autsch«, sagte Kona.

»Hey, das ist nicht nett«, sagte Clay und kam Kona zu Hilfe.

Loyalität bedeutete ihm was.

220

»Halt den Mund. Gleich kommst du dran.«

»Okay.«

Sie hatten sich um Clays großen Monitor versammelt. Das Spektrogramm eines Walgesangs von Quinns Computer breitete sich auf dem Bildschirm aus, und nach den Informationen, die sie ihm entnahmen, hätte es sich auch um die Auswirkungen eines Gotcha-Krieges handeln können, denn danach sah es aus.

»Was haben die beiden gemacht, Kona?«, fragte Clair und hielt dabei den Löffel schlagbereit – dampfend vor kräuternder Gelassenheit. Als Lehrerin von Viertklässlern einer öffentlichen Grundschule, in der körperliche Züchtigung verboten war, hatte sie ihre Wut jahrelang aufgestaut und genoss es in gewisser Weise, diese nun an Kona auszulassen, in dem sie ein Parade-beispiel für das Versagen der Öffentlichen Erziehung sah. »Nate und Amy sind das alles hier mit dir durchgegangen. Jetzt erinner dich daran, was sie gesagt haben!«

»Es sind nicht diese Dinger, es ist das Oszilloskop«, sagte Kona. »Nate hat nur dieses Unterwasser-Zeug genommen und eine Skala angelegt.«

»Es ist alles Unterwasser«, sagte Clay. »Du meinst Unter-schall.«

»Ja, genau. Er hat gesagt, da ist was. Ich hab gesagt, so was wie Computersprache. Einsen und Nullen.«

»Das hilft uns nicht weiter.«

»Er hat sie per Hand markiert«, erklärte Kona. »Indem er die grüne Linie eingefroren und dann die Ausschläge gemessen hat.

Er hat gesagt, so könnte das Signal erheblich mehr Informationen transportieren, aber die Wale bräuchten dafür Oszilloskope und Computer.«

Staunend sahen Clay und Clair den Surfer an.

»Aber die haben sie nicht«, sagte Kona. »Tja.«

221

Es war, als sei eine Woge der Erkenntnis über ihn gekommen.

Sie starrten ihn nur an.

Kona zuckte mit den Schultern. »Hauptsache, du schlägst mich nicht wieder mit dem Löffel.«

Clay schob seinen Stuhl zurück, um den Surfer an die Tastatur zu lassen. »Zeig es mir.«

Bis spät in die Nacht arbeiteten alle drei, markierten die Ausdrucke und notierten Einsen und Nullen auf ihren gelben Notizblöcken. Clair ging um zwei Uhr früh ins Bett. Um drei hatten sie fünfzig Seiten voll mit Einsen und Nullen. In einer anderen Situation wäre es Clay vielleicht so vorgekommen, als hätten sie gute Arbeit geleistet. Schon früher hatte er an Bord bei der Da-tenauswertung geholfen. Man schlug Zeit tot und schmeichelte sich bei dem jeweiligen Projektleiter ein, für den man fotografierte, aber er hatte die Arbeit immer an jemanden weiterreichen können, der sie dann für ihn beenden musste. Langsam dämmerte es ihm: Wissenschaftliche Arbeit konnte ätzend sein.

»Das ist ätzend«, sagte Kona.

»Nein, ist es nicht. Sieh dir an, was wir hier haben«, sagte Clay und deutete auf das, was sie hatten.

»Was ist es denn?«

»Eine ganze Menge, das ist es. Sieh’s dir an.«

»Was bedeutet es?«

»Keine Ahnung.«

»Was hat das mit Nate und dem Sahneschnittchen zu tun?«

»Sieh dir das alles doch mal an«, sagte Clay und sah sich das alles an.

Kona stand von seinem Stuhl auf und rollte mit den Schultern.

»Mann, Bwana Clay, Jah hat dir ein großes Herz gegeben. Ich geh ins Bett.«

»Was willst du mir damit sagen?«, fragte Clay.

222

»Herz haben wir genug, Bruder. Jetzt brauchen wir Hirn.«

»Bitte?«

Und so hatte Clay am Morgen zwar ein kolossales Stück Information zum Tausch anzubieten (das Torpedo-Testgebiet), aber keinen echten Hinweis darauf, was er eigentlich wissen musste (alles andere), als er Libby Quinn dazu überredete, nach Papa Lani zu kommen.

»Also, damit ich dich auch richtig verstehe …«, sagte Libby Quinn, während sie von Clays Computer in die Küche und zurück lief. Kona und Clay standen etwas abseits, folgten ihrem Hin und Her wie Hunde einem Frikadellen-Tennis. »Ihr habt eine alte Frau, die behauptet, ein Wal habe sie angerufen und gesagt, Nate solle ein Pastrami-Sandwich mitbringen?«

»Mit dunklem Brot, Schweizer Käse und scharfem Senf«, ergänzte Kona, um zu verhindern, dass ihr relevante, wissenschaftliche Details entgingen.

»Und ihr habt eine Tonaufnahme von Stimmen, unter Wasser, vermutlich militärisch, die fragen, ob jemand ein Sandwich dabei hat.«

»Korrekt«, sagte Kona. »Ohne nähere Angaben zu Brot, Fleisch oder Käse.«

Libby warf ihm einen bösen Blick zu. »Und ihr sagt, die Navy simuliert Detonationen, weil sie ein Torpedo-Testgebiet mitten in der Buckelwal-Schutzzone einrichten will.« Sie legte eine bedeutungsvolle Pause ein und drehte sich nachdenklich um –

wie Hercule Poirot in Badelatschen. »Ihr habt ein Video von Amy, auf dem es scheint, als würde sie eine Stunde lang die Luft anhalten, ohne Nebenwirkungen.«

»Barbusig«, fügte Kona hinzu. Wissenschaft.

»Ihr sagt, Amy hätte behauptet, Nate sei von einem Wal verschlungen worden, was – wie wir alle wissen – unmöglich ist, wenn man den Durchmesser der Kehle eines Buckelwals 223

bedenkt – falls ihn überhaupt einer fressen wollte, was kaum der Fall sein dürfte.« (Was das anging, war sie nur ein Fährtenleser, ein denkender Kürbis, ein Sherlock Holmes ohne Koks in den Taschen.) »Dann fährt Amy ohne ersichtlichen Grund mit einem Kajak raus und verschwindet, ertrinkt vermutlich. Und ihr sagt, Nate hätte daran gearbeitet, ein Binärsystem in den tiefen Frequenzen des Walgesangs zu finden. Und ihr glaubt, das hätte irgendwie was zu bedeuten? Hab ich euch da richtig verstanden?«

»Ja«, sagte Clay. »Aber da ist auch noch der Einbruch in unser Büro, bei dem die Tonaufnahmen verschwunden sind, und außerdem die Sache mit meinem Boot, das jemand versenkt hat.

Okay, ich gebe zu, als wir gestern Nacht darüber gesprochen haben, klang der Zusammenhang nahe liegender.«

Libby Quinn blieb stehen, drehte sich um und musterte die beiden. Sie trug Cargo-Shorts, Hightech-Sandalen und einen Jogging-BH, und es schien, als sei sie bereit, jeden Augenblick loszurennen, um draußen etwas Anstrengendes zu tun. Sie blickten beide zu Boden, überwältigt, als wären sie nach wie vor der Bedrohung von Clairs tödlichem Löffel ausgesetzt. Insge-heim hatte Clay schon immer ein Auge auf Libby geworfen, sogar schon, als sie noch mit Quinn verheiratet gewesen war, und erst im Lauf des letzten Jahres hatte er überhaupt Blickkontakt mit ihr aufnehmen können. Kona dagegen hatte sich Dutzende Videos über lesbisches Leben angesehen, besonders solche, bei denen mitten in einem intimen Augenblick ein Dritter auftauchte (gewöhnlich mit einer Pizza), so dass er Libby schon lange scharf fand, trotz des Umstands, dass sie doppelt so alt war wie er.

»Hilf uns«, sagte Kona, versuchte, Mitleid erregend zu klingen, und starrte zu Boden.

»Das ist alles, was ihr habt, und ihr glaubt, weil ich ein bisschen was von Biologie verstehe, könnte ich mir einen Reim darauf machen?«

224

»Und auf das hier«, sagte Clay und deutete auf die mittlerweile geordneten Seiten voller Einsen und Nullen auf seinem Schreibtisch.

Libby ging hinüber und blätterte darin herum. »Clay, das ist nichts. Damit kann ich nichts anfangen. Selbst wenn Nate wirklich was gefunden haben sollte, was glaubt ihr denn? Dass es für uns irgendeinen Sinn ergeben könnte, wenn wir darin ein Muster erkennen? Hör mal, Clay, ich habe Nate auch geliebt, das weißt du, aber –«

»Sag uns nur, wo wir anfangen sollen«, unterbrach Kona sie.

»Und sag mir, ob du hier irgendwas erkennst.« Clay ging zum Computer und drückte eine Taste. Ein Standbild von der schmalen Seite des Walschwanzes, das er bei seinem Rebreather-Tauchgang aufgenommen hatte, war auf dem Bildschirm zu sehen. »Nate sagte, er hätte eine Zeichnung an einem Walschwanz gesehen, Libby. Schriftzeichen. Nun, ich dachte, an diesem Wal wäre auch so was, bevor er mich k.o. geschlagen hat. Aber das hier ist die beste Aufnahme von dem Schwanz, die wir haben.

Es könnte was bedeuten.«

»Was zum Beispiel?« Ihre Stimme klang liebenswürdig.

»Ich weiß nicht was, Libby. Wenn ich es wüsste, hätte ich dich nicht angerufen. Aber es passieren so viele merkwürdige Dinge, die beinahe zusammenpassen, und wir wissen nicht mehr, was wir tun sollen.«

Libby betrachtete das Standbild. »Da ist irgendwas. Ein besseres Bild hast du nicht?«

»Nein, das weiß ich genau. Ein besseres hab ich nicht.«

»Weißt du, Margaret und ich haben mal in Texas einem Typen geholfen, der dabei war, ein Software-Programm zu entwickeln, mit dem sich die Perspektive von Walaufnahmen verschieben ließ, damit sich Bilder aus ungünstigen Blickwinkeln bearbeiten und zu brauchbaren Erkennungsfotos extrapolieren ließen. Du 225

weißt, wie viele wegen der falschen Perspektive weggeworfen werden.«

»Hast du dieses Programm?«

»Ja, es steckt noch im zweiten Testdurchlauf, aber es funktioniert. Ich glaube, wir können diese Aufnahme drehen, und falls es etwas zu sehen gibt, werden wir es sehen.«

»Cooles Ding«, sagte Kona.

»Was diese Sache mit dem Binärcode betrifft, ist das wohl eher ein Schuss ins Blaue, aber falls es etwas zu bedeuten haben sollte, werden wir den Computer mit euren Einsen und Nullen füttern müssen. Kona, kannst du tippen?«

»Einsen und Nullen? Ist meine Spezialität, Mann.«

»Okay. Ich richte dir eine einfache Textdatei ein – nur Einsen und Nullen –, und danach überlegen wir, ob wir was damit anfangen können. Keine Fehler, ja?«

Kona nickte.

Schließlich sah Clay auf und lächelte. »Danke, Libby.«

»Ich sage nicht, dass was dran ist, Clay, aber ich war nicht gerade fair Nate gegenüber, als er noch da war. Vielleicht bin ich ihm was schuldig, jetzt, wo er nicht mehr unter uns ist.

Außerdem ist es windig. Draußen zu arbeiten, wäre heute nichts.

Ich werde Margaret anrufen und sie bitten, uns das Programm zu bringen. Ich helfe dir, wenn du versprichst, dass du deinen ganzen Einfluss geltend machst, dieses Torpedo-Testgebiet zu verhindern, und Maui Whale mit unter die Petition gegen das Aktive Niederfrequenz-Sonar setzt. Habt ihr damit ein Problem?«

Sie sah Clay und Kona mit ihrem »Todeslöffel«-Blick an, so dass es den beiden schien, als sei es etwas, das allen Frauen angeboren war, nicht nur Clair, und dass sie davor große, große Angst haben sollten.

»Nie im Leben«, sagte Kona.

226

»Klingt gut. Ich setz Kaffee auf«, sagte Clay.

»Margaret wird ausrasten, wenn sie das von den Torpedos hört«, sagte Libby Quinn, während sie nach Clays Telefon griff.

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24

Blau ist die Hoffnung

Über seinem Kopf ereignete sich eine kleine Explosion, und Nate tauchte unter den Tisch. Als er aufblickte, beugte sich Emily 7 über ihn und starrte ihn mit ihren wässrigen Walaugen und einem milden Ausdruck der Sorge an. Nuñez hockte lächelnd am anderen Ende des Tisches.

»Das war das Ausblasen, Nate«, erklärte Nuñez. »Etwas heftiger als beim Buckel, was? Vergessen Sie nicht: Diese Schiffe verhalten sich wie echte Wale. Das Blasloch befindet sich direkt über unseren Köpfen. Wissen Sie, etwa alle zwanzig Minuten geht es los. Sie werden sich daran gewöhnen.«

»Klar wusste ich das«, sagte Nate und kroch unter dem Tisch hervor. Er war schon vor Santa Cruz draußen gewesen, auf der Suche nach den Blauen. Normalerweise fand man sie durch ihr Prusten beim Ausblasen, das man bis auf zweieinhalb Kilometer Entfernung hören konnte. Er blickte auf, erwartete, durchs Blasloch den Himmel zu sehen, sah jedoch stattdessen nur noch mehr glatte Walhaut.

»Sie verhalten sich wie Wale, aber die Physiologie ist wegen der Unterkünfte eine völlig andere. Ich verstehe es nicht wirklich, aber das Blasloch beispielsweise ist mit ein paar Hilfs-lungen verbunden, die den Sauerstoffaustausch mit dem Blut regeln. Ich habe überhaupt keine Ahnung, wie sie uns Elektrizität beschaffen. Ich meine, ich habe gesagt, ich wollte eine Kaffeemaschine, und sie haben eine Steckdose eingebaut. Überall auf der Brücke gibt es Stromkreise für unsere Geräte. Die anderen Körperfunktionen scheinen von kleineren Versionen der Leber, Nieren und so weiter an der Außenseite der Kabinen gesteuert zu werden. Die Hauptwirbelsäule läuft oben am Schiff entlang.

Es gibt keinen Verdauungstrakt. Das Verdauungssystem dieses 228

Schiffes befindet sich in der Basis. Es wird angeschlossen und pumpt nährstoffreiches Blut ins Schiff, das genügend Energie im Blubber speichert, um sechs Monate über die Meere fahren zu können … oder mindestens einmal um die Erde. Wir können zwanzig Knoten machen, solange keiner zusieht.«

»Was meinen Sie damit: ›solange keiner zusieht‹?«

»Ich meine Leute wie Sie: Biologen. Wenn einer von Ihnen uns beobachtet, müssen wir nach ein paar Stunden langsamer machen. Besonders wenn wir markiert sind.«

»Dieses Schiff hat einen Satellitensender bekommen? Was machen Sie damit?«

»Wir halten uns eine Weile bedeckt. Dann tauchen wir ab, und einer von den Walbengeln geht raus und entfernt den Sender.

Zweimal sind wir schon von diesem Bruce Mate von der Oregon State-Uni markiert worden. Der Typ ist eine Nervensäge. Wahrscheinlich hat er sogar seiner Frau einen Sender angehängt, damit er weiß, wann sie auf den Topf geht. Wenn man mich gefragt hätte, würde der jetzt mit uns fahren.«

»Sie wissen, wer er ist?« Nate war sprachlos. Als Wissenschaftler kämpfte man immer damit, sich nicht von seiner Unwissenheit überwältigen zu lassen, aber das schiere Ausmaß dieser Operation – es war einfach zu viel.

»Selbstverständlich. Seit der kommerzielle Walfang zurückge-gangen ist, haben wir unseren Nachrichtendienst auf die Ceto-logen konzentriert. Was glauben Sie, weshalb Sie hier sind?«

»Okay, weshalb bin ich hier?«

»Ich kenne nicht die ganze Geschichte, aber es hat irgendwas mit dem Gesang zu tun. Offenbar waren Sie etwas zu nah daran, unser Signal im Gesang zu entdecken, also hat man Sie sich gegriffen.«

»Die Außerirdischen haben sich dafür interessiert, was ich tue?«

229

»Welche Außerirdischen?«

»Diese Außerirdischen«, sagte Nate und nickte zu den Piloten und Bernard und Emily 7 hinüber, die zu einem Tisch auf der anderen Seite des Korridors gegangen waren.

»Die Walbengel sind keine Außerirdischen. Wer hat Ihnen das denn erzählt?«

»Nun ja, Poynter und Poe haben es angedeutet.«

»Diese Penner. Nein, es sind keine Außerirdischen. Sie sind etwas seltsam, aber nicht so seltsam, dass sie von einem anderen Planeten kommen könnten.«

Bernard blickte von etwas auf, das eine Art Seekarte zu sein schien, und gab sein typisches, beiläufiges Schnauben von sich.

»Das machen sie ziemlich oft«, sagte Nate.

»Wenn Sie eine zehn Zentimeter breite Zunge hätten, würden Sie es auch oft machen. Es ist eine Art Imponiergehabe, wie Bernards Penisschwenken.«

»Wie männliche Killerwale.«

»Bingo. Sehen Sie, für jemanden mit Ihrem Hintergrund ist es einfach zu erklären. Ich habe anfangs kein Wort verstanden.«

»Es tut mir Leid, aber ich kann nicht glauben, dass dieses Schiff hier, die Walbengel, die ganze Perfektion in dem, wie sie arbeiten, ein Werk der natürlichen Auslese sein soll. Da muss doch ein Plan dahinter stecken. Irgendwer hat das alles erschaffen.«

Cielle nickte lächelnd. »Ich bin in meinem Leben vielen Wissenschaftlern begegnet, Nate, aber Sie sind sicher der erste, der für einen großen Schöpfer votiert. Wie nennt man es, das

›Uhrmacher-Argument‹?«

Da hatte sie natürlich Recht. Es galt als akzeptierte Prämisse, dass ein intelligentes Konstrukt nicht notwendigerweise das Ergebnis von Intelligenz sein musste, sondern nur der

Mechanismus einer natürlichen Auslese von Überlebenseigen-230

schaften und wirklich langen, langen Zeiträumen, in denen sich die Auslese abspielen konnte. Nates Lebenswerk fußte auf dieser Annahme, aber jetzt stieß er Darwin über Bord, weil sein

– Nates – Verstand zu klein war, die Vorstellung dieses Schiffes zu umreißen. Ja, verdammt! Scheiß auf Darwin! Das Ganze war einfach zu abgefahren.

»Tut mir Leid. Ich hab nur Probleme, das alles in meinen Schädel zu kriegen. Ich weiß nicht, wie Sie damit fertig werden, hier gefangen zu sein, aber es ist mir auch egal. Außerdem konnte ich im Buckelwal kaum schlafen, weil er alle paar Minuten ausgeblasen hat, und seit gut fünf Tagen habe ich nichts als rohen Fisch und Wasser zu mir genommen. Ich müsste ja einen Sprung in der Schüssel haben, wenn es mir nicht unwirklich vorkäme.«

Bernard gab einen wimmernden Laut von sich, und Skippy und Scooter schlossen sich ihm einen Moment später an, bis sie wie ein Korb voll hungriger Welpen klangen, und dann brachen sie allesamt in pfeifendes Kichern aus. Emily 7 sah stirnrun-zelnd herüber.

»Natürlich, ich verstehe, Nate«, sagte Nuñez. »Vielleicht sollten Sie Ihren Kaffee austrinken und sich in Ihre Unterkunft zu-rückziehen. Ich habe etliche Energiedrinks in meiner Kajüte, die Ihr Gehirn mit ein paar Kohlehydraten versorgen, und ich kann Ihnen was bringen, das beim Einschlafen hilft – unsere Schiffs-

ärztin ist voll ausgerüstet, was Medikamente angeht.«

Mütterlich tätschelte sie seine Hand. Nate schämte sich ein wenig dafür, dass er gejammert hatte.

»Dann sind Sie nicht der einzige Mensch auf diesem Schiff?«

»Nein, wir haben vier Menschen und sechs Walbengel an Bord. Die anderen sind in ihren Quartieren. Aber alle sind sehr gespannt darauf, Sie kennen zu lernen. Seit Wochen wird davon gesprochen.«

231

»Sie wussten schon seit Wochen, dass Sie mich holen würden?«

»Mehr oder weniger. Wir standen Gewehr bei Fuß. Der Auftrag kam erst einen Tag, bevor wir Sie eingesammelt haben.«

»Und Sie und der Rest der Mannschaft, Sie sind auch Gefangene?«

»Nate, alle Leute auf diesem Schiff – auf allen Walschiffen –

wurden aus sinkenden oder gesunkenen Schiffen, über dem Meer abgestürzten Flugzeugen oder sonst welchen Katastrophen gerettet, bei denen sie andernfalls umgekommen wären. Es ist geschenkte Zeit, und – offen gesagt – wenn Sie erst akzeptiert haben, wo Sie sind und was Sie tun, werde ich Sie fragen, wo Sie lieber wären. Okay?«

Nate suchte in ihrem Gesicht nach Spuren von Sarkasmus oder Bosheit. Aber er fand nur ein sanftes Lächeln.

»Gehen Sie in Ihre Unterkunft. Ich schicke Ihnen die Medikamente gleich rüber. Bernard, würdest du Dr. Quinn sein Quartier zeigen?«

»Ich bin eigentlich gar kein richtiger Doktor«, flüsterte Nate.

»Verschaffen Sie sich bei denen jeden Respekt, den Sie bekommen können, Nate.«

Bernard wartete am Eingang zum Korridor, rieb sich den glatten, schimmernden Bauch und grinste. Ein weißer Kaffeebecher ragte vor Bernards Unterleib auf, im festen Griff seines Geschlechts.

»Das wollte ich schon immer mal versuchen«, sagte Nate. Er war entschlossen, dem Walbengel nicht die Genugtuung zu lassen, dass er sich einschüchtern ließ. »Wäre echt praktisch beim Autofahren.« Nate verbeugte sich in Richtung Korridor. »Nach Ihnen, Bernard.«

Bernard schmollte den Flur entlang, mit einer Pose, die als Voll-Schnute durchgegangen wäre, wenn er denn Lippen gehabt 232

hätte, mit denen er die Schnute hätte ziehen können. Auf dem Weg ließ er eine Kaffeespur hinter sich zurück.

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25

Intime Bekenntnisse zetazeeischer

Schlampen

Nate machte sich gerade mit der Vorstellung einer organischen Koje vertraut, in der er schlafen würde, bevor er sich tatsächlich auf dem Bett niederließ. Er war kein Gottesmensch, aber er stellte fest, dass er dennoch jemandem für das frische Bettzeug und das Federkissen dankte. Ganz bestimmt wollte er nicht mit dem Gesicht auf Walhaut schlafen. Draußen vor dem Schott war ein leiser Pfiff zu hören, und der große Hautlappen zog sich zurück, um den Weg zum Korridor frei zu machen. Emily 7

stand dort mit einem Tablett, auf dem sich zwei Dosen Protein Shake, ein Glas Wasser und eine einzelne, kleine Pille befanden.

Sie grinste, versuchte aber nicht, einzutreten. Nate hatte sich ziemlich bücken müssen, als er durch das kleine Schott herein-geklettert war, und daher vermutete er, dass sie das Tablett bei dem Versuch wohl fallen lassen würde. Andererseits wollte sie vielleicht nur höflich sein. Sie wartete, während Nate die Sachen vom Tablett auf den flachen Tisch stellte.

Emily 7 pfiff und warf ihm einen Seitenblick zu, wobei sich ihr rechtes Auge hervorwölbte, wie er es bei Buckelwalen gesehen hatte, wenn sie ein Boot auf dem Wasser betrachteten. Sie bedeutete ihm, dass er die Pille nehmen sollte.

»Du gehst erst, wenn du siehst, dass ich meine Medizin ein-nehme?«

Emily 7 nickte.

»Na, wenn ihr mich loswerden wolltet, wäre es erheblich einfacher gewesen, mich umzubringen, ohne mich extra hierher zu schaffen, um mich zu vergiften.« Nate nahm die Pille, spülte 234

sie mit dem Wasser hinunter und machte den Mund auf, um zu zeigen, dass die Pille weg war. »Okay, Schwester?«

Emily pfiff und nickte, dann nahm sie Nate das leere Glas aus der Hand. Sie streckte sich und drückte auf den Knoten, und das Schott schloss sich zwischen ihnen. Nate hörte, wie sie die ersten Takte eines Wiegenliedes flötete. Die ist niedlich, dachte er, ein bisschen wie eine große, bösartige Gummipuppe.

Fast eine Woche lang hatte Nate nur dann Schlaf gefunden, wenn er auf dem Sitz im Buckelwal festgeschnallt war, und selbst dann schlief er unruhig, da das Schiff alle paar Minuten ausblies und die Walbengel pfeifend kommunizierten. Nun sank er trotz des laut blasenden Blauwalschiffes in tiefen Schlaf. Er träumte von sich und Amy, ihre nackten Leiber eng verschlungen, feucht vor Schweiß im sanften Kerzenschein. Seltsamerweise kam ihm noch im Traum der halbwegs klare Gedanke, dass er sich erinnerte, früher – wenn er Schlaftabletten genommen hatte – nie Träume gehabt zu haben. Doch dieser Gedanke wich dem Gefühl von Amys weicher Haut, als seine Finger sanft über ihre muskulösen Beine strichen, ihre vier langen Finger mit den Schwimmhäuten schlossen sich liebevoll um seinen –

»Hey!« Nate schlug die Augen auf. Ein weich beleuchteter Zaun aus spitzen Zähnen lächelte über ihm, und dampfender Fisch-atem wehte ihm entgegen.

»Oh-oh«, sagte Emily 7 mit hoher, krächzender Stimme, fast wie eine Ente.

Nate sprang aus dem Bett und prallte gegen die Wand auf der anderen Seite der Kajüte.

Emily 7 zog die Decke über ihren Kopf und drückte sich an die Wand, vergrub ihre Melone unter dem Kissen. Dann lag sie still.

Nate stand da und schnappte nach Luft. Sobald er den Boden berührt hatte, war die Biobeleuchtung heller geworden. Er stieß sich von der weichen Wand ab, dann wurde er plötzlich verlegen 235

und nahm sein T-Shirt von der Stuhllehne, um seine Erektion zu verbergen, auch wenn diese rapide ihren Lebensmut verlor.

Emily 7 lag nur da.

»Hallo? Ich kann dich sehen.«

Eingerollt. Rührte sich nicht. Da unter der Decke. Alles walig.

»Damit kannst du keinem was vormachen. Du bist größer als ich. Man kann dich sehen.«

Nur das leise Geräusch ihres Blaslochs, das sich öffnete und schloss.

»Komm schon, wir gehören unterschiedlichen Spezies an. Das ist echt gruselig.«

Dann ein kleines Quieken, eher wie ein Wimmern, gefolgt von einem winzigen »Oh-oh«, wie eine kleine Elfe, die von einem schweren Buch unter der Decke zermalmt worden war und mit

»Oh-oh« ihren letzten, kläglichen Seufzer von sich gegeben hatte.

»Also, hier kannst du nicht bleiben.«

Er erinnerte sich daran, wie ihm zumute gewesen war, als Libby ihn verlassen und zur näheren Erklärung gesagt hatte:

»Nate, ich weiß nicht, ich habe nicht mal mehr das Gefühl, als würden wir derselben Spezies angehören.« Damals hatte er sich gefühlt, als würde ihm der Magen umgekrempelt. Über ein Jahr lang hatte es ihn zwischenmenschlich zum Krüppel gemacht.

Länger noch, wenn er das Fiasko seiner Faszination für Amy mitrechnete.

Er trat an die Koje. Emily 7 drückte sich in die Ecke zwischen Wand und Bett. Nate zupfte am Rand der Decke und schob vorsichtig ein Bein darunter. Der Klumpen, der Emily 7s Kopf war, bewegte sich, als würde sie lauschen.

»Aber du bleibst auf deiner Seite, okay?«

236

»Okay«, quiekte Emily 7 mit dieser Stimme einer zermalmten Elfe.

Nate wachte zum Frohlocken von Killerwalen auf – hohen Jagdlauten. Die Herde schien fröhlich eine Jagd zu feiern oder zumindest eine andere Herde zu rufen, die kommen und helfen sollte. Es kam ihm in den Sinn, dass er sich auf einem Schiff befand, das als Futter für die Orcas dienen konnte und Gefahr lief, angegriffen zu werden. Er würde Nuñez danach fragen müssen. Er schwang seine Beine aus der Koje, und das Licht ging an. Er merkte, dass er allein war, und seufzte erleichtert.

Frische Khakis hingen über dem Stuhl, und auf dem Tisch stand eine Flasche Wasser. Es gab ein kleines Waschbecken an der Wand gegenüber der Koje, kaum größer als eine Müslischa-le und aus derselben Haut wie das gesamte Schiff. Es war ihm vorher gar nicht aufgefallen. Über dem Becken befanden sich drei dieser beleuchteten Knötchen, mit denen man auch die Türen aktivierte, aber Nate sah nicht, wo das Wasser heraus-kommen sollte. Er drückte auf einen der Knoten, und das Becken füllte sich aus einem Schließmuskel am Boden. Er drückte einen anderen, und das Wasser wurde durch dieselbe Öffnung herausgesogen. Er gab sich Mühe, eine gewisse wissenschaftliche Distanz an den Tag zu legen, scheiterte jedoch kläglich: Es lief ihm eiskalt über den Rücken. Nate musste dringend duschen und sich rasieren, aber er wollte gar nicht erst versuchen, seine Einsfünfundachtzig in einem Zwanzig-Zentimeter-Becken zu waschen, das ein … na ja, ein Arschloch am Boden hatte. Er hatte mehr als genug von fortgeschrittener Furzkanal-Technologie, danke der Nachfrage. Er spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht und zog die Khakis an, wobei er überlegte, ob sich das Walschiff wohl auch einen Spiegel wachsen lassen würde, damit er sich rasieren konnte.

Die gesamte Mannschaft schien wach zu sein und sich auf der Brücke herumzutreiben, als Nate eintrat. Vier Walbengel saßen 237

am Tisch mit den Karten rechts der Luke, die beiden Piloten an ihren Pulten. Nuñez stand am Tisch links der Luke, an dem eine blonde Frau von Mitte dreißig und zwei Männer saßen, einer dunkel, vielleicht Anfang zwanzig, und einer kahl und graubärtig, um die fünfzig. Kein sonderlich militärisch wirkender Haufen. Alle drehten sich um, als Nate eintrat. Sämtliche Gespräche

– Worte und Pfiffe – erstarben abrupt. Das Echo der Killerwale hallte in der Brücke nach. Emily 7 wandte sich von Nates Blick ab. Nuñez lehnte an der Wand neben der Nische, in der die Kaffeemaschine untergebracht war, und gab sich alle Mühe, ihn nicht anzusehen.

»Hi«, sagte Nate, als er den Blick des Kahlköpfigen auffing, der ihn anlächelte.

»Nehmen Sie Platz«, sagte der Kahle und deutete auf den leeren Stuhl am Tisch. »Wir besorgen Ihnen was zu essen. Ich bin Cal Burdick.« Er schüttelte Nate die Hand. »Das sind Jane Palovsky und Tim Milam.«

»Jane, Tim«, sagte Nate und gab beiden die Hand. Nuñez lächelte ihn an, dann wandte sie sich eilig ab, als müsste sie sich dringend um die Kaffeemaschine kümmern oder laut loslachen –

oder beides.

Alle am Tisch nickten, starrten vor sich hin, als wollten sie sagen: Da sitzen wir nun also in einem riesigen Blauwalschiff, tief unten im Meer, von Killerwalen umzingelt, und Nate hat ein Alien gefickt, also …

»Ist nichts passiert«, verkündete Nate allen auf der Brücke.

»Was?«, sagte Jane.

»Das Quartier ist also zu Ihrer Zufriedenheit?«, fragte Tim mit hoch gezogenen Augenbrauen.

»Ist nichts passiert«, wiederholte Nate, und obwohl nichts passiert war, hätte er es sich dem Klang seiner Stimme nach zu urteilen selbst nicht geglaubt. »Ehrlich.«

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»Natürlich«, sagte Tim.

Alle Walbengel kicherten, nur Emily 7 nicht. Als er sich umsah, schwenkten alle Männchen ihre Pimmel rhythmisch hin und her, als wiegten sie sich zu einem pornografischen Weih-nachtslied. Emily 7 legte ihren großen Walkopf auf den Tisch und versteckte sich unter ihren Armen.

»Es ist nichts passiert!«, schrie Nate. Es wurde still auf der Brücke, bis auf das Echo der Killerwale. »Sind wir in Gefahr?«, fragte Nate Nuñez in dem verzweifelten Versuch, das Thema zu wechseln. »Greifen die Tiere das Schiff an? Es sind doch Futterrufe, oder?« Wenn Orcas einen Wal fanden, der zu groß war, als dass er von einer einzelnen Herde überwältigt werden konnte, oder sie auf einen besonders großen Fischschwarm stießen, riefen sie andere Schulen zu Hilfe. Nate kannte die Rufe von Forschungen, die er gemeinsam mit einem befreundeten Biologen in Vancouver angestellt hatte.

»Nein, die sind hier aus der Gegend«, sagte Nuñez. »Sie freuen sich nur über den Schwarm, den sie gefunden haben.

Wahrscheinlich Sardinen.« Sesshafte Killerwale fraßen nur Fisch, wandernde fraßen Säugetiere wie Wale und Seehunde. In den letzten Jahren neigten Wissenschaftler dazu, sie als völlig unterschiedliche Spezies zu betrachten, obwohl sie für den Laien absolut gleich aussahen.

»Sie erkennen sie an ihrem Ruf?«

»Mehr noch«, sagte Cal. »Wir verstehen, was sie sagen. Die Walbengel können übersetzen.«

»Alle Killerwale heißen Kevin. Das wussten Sie, oder?«, sagte Jane. Sie hatte einen leicht osteuropäischen Akzent, russisch vielleicht. Sie wirkte amüsiert, die Hauen Augen dunkel im gelben Licht der Biolumineszenz, aber sie schien nicht zu scherzen.

Sie klopfte auf den Platz neben sich, bedeutete Nate, dass er sich setzen sollte.

»So wie alle Piloten Scooter und Skippy heißen?«, sagte Nate.

239

»Eigentlich haben sie Zahlen wie Emily, die sie sich im Übrigen selbst aussuchen, aber da sich nie mehr als ein Paar davon auf einem Schiff befindet, sparen wir uns diese Zahlen.«

Plötzlich fiel Nate auf, dass die Piloten während seiner ganzen Zeit auf beiden Schiffen – abgesehen von den paar Malen, wenn einer von ihnen ausgestiegen war, um Fisch zu fangen –

durchgehend an den Kontrollpulten gesessen hatten. »Schlafen sie denn nie?«

»Doch«, sagte Jane. »Wir sind ziemlich sicher, dass eine Hirnhälfte zur Zeit schläft, wie bei den Walen, so dass man bei zwei an Bord immer einen ganzen Piloten hat. Wenn nicht wenigstens einer am Pult sitzt, ist das Ganze hier im Grunde nur ein großer Klumpen Fleisch.«

»Sie sagen, Sie sind ziemlich sicher. Sie wissen es nicht?«

»Na ja, die wissen es nicht so genau«, erwiderte Jane. »Und sie sind auch nicht gerade begeistert, wenn wir Experimente mit ihnen anstellen. Nachdem Sie nun allerdings zu uns gestoßen sind, können Sie vielleicht herausfinden, was mit ihnen los ist.

Wir stellen eigentlich nur Vermutungen an. Die Walbengel und der Colonel schmeißen den Laden. Cielle, haben Sie ihm denn nicht alles erzählt?«

»Er war ziemlich fertig«, sagte Nuñez. »Ich wollte vor allem, dass er sich hier möglichst schnell einrichtet.«

Am liebsten hätte Nate gegen diese Bemerkung protestiert.

Schließlich war er ihr Gefangener, auch wenn sich diese Leute nicht wie Entführer benahmen. Ihn beeindruckte, dass hier die gleiche Dynamik herrschte, die er von Forschungsteams kannte, so eine »Wir sitzen alle im selben Boot, lasst uns das Beste daraus machen«-Haltung. Er wollte diese Leute nicht anschreien.

Dennoch beunruhigte es ihn ein wenig, dass sie so freigiebig mit Informationen waren. Wenn dir deine Entführer ihre Gesichter zeigen, teilen sie dir mit, dass du nicht wieder nach Hause kommst.

240

Nuñez stellte einen Teller vor ihm ab. Darauf waren ein gemischter Salat aus Seetang, Karotten und Pilzen, ein Stück gekochter Fisch, der nach Heilbutt aussah, und etwas, bei dem es sich um Reis zu handeln schien.

»Essen Sie«, sagte sie. »So ein paar Nährstoffdrinks bringen Sie nicht wieder voll in Gang. Wir essen viel rohen Fisch, auch hier auf dem Blauen, aber Sie brauchen ein paar Kohlehydrate, um sich an diese Ernährung zu gewöhnen. Da ist noch reichlich Reis, wenn Sie mehr wollen.«

»Danke.« Nate ließ es sich schmecken, während alle anderen –

bis auf Cal – sich entschuldigten, um in anderen Teilen des Schiffes ihrer Arbeit nachzugehen. Der ältere Mann hatte offenbar den Auftrag, Nates zweite Orientierungseinheit zu übernehmen.

Cal kratzte sich am Bart, sah sich nach den Piloten um, dann beugte er sich zu Nate vor und sprach mit leiser Stimme. »Die Bengel sind ausgesprochen promisk. Sie wissen doch, dass sich Delfinweibchen mit allen Bullen der Herde paaren, damit keiner sicher sein kann, wer der Vater ihres Kalbes ist? Die Kühe glauben, es hält die Bullen davon ab, ihr Kalb zu töten, wenn es auf die Welt kommt.«

»Das ist die Theorie«, sagte Nate.

»So sind sie, und drüben in der Basis kriegt man es mit einer riesigen Schule zu tun. Lässt man sich erst darauf ein … na ja, da hat man eine ganze Menge Walbengel zu beglücken.«

»Ich hab sie nicht beglückt«, zischte Nate und spuckte Reis über den Tisch. »Ich beglücke überhaupt keine Walbengel … äh

– mädchen –«

»Wie dem auch sei. Sehen Sie … sie stehen sich sehr nah. Hier auf dem Schiff haben sie keine getrennten Unterkünfte – sie teilen sich eine große Kabine. Sex ist für sie eine eher beiläufige Angelegenheit, aber sie begreifen, dass es uns etwas mehr bedeutet. Manche von ihnen scheinen auf die menschliche Scheu 241

anzusprechen. Wir lassen uns normalerweise sexuell nicht auf sie ein. Es ist nicht verboten, aber es ist … na ja, verpönt. Aber es ist wohl nur natürlich, wenn ein Mann neugierig –«

Nate legte seine Gabel weg. »Cal, ich hatte keinen Sex, mit niemandem … ich meine, auch nicht mit irgendetwas. «

»Genau. Und passen Sie auf, wenn Sie Männchen um sich haben. Besonders wenn Sie mit denen im Wasser sind. Die rammeln Sie, nur um zu sehen, wie Sie zucken.«

»Du meine Güte.«

»Ich meine es nur gut mit Ihnen.«

»Danke, aber ich werde nicht so lange hier sein, dass ich mir darum Sorgen machen müsste.«

Der ältere Mann lachte, schnaubte beinahe den Kaffee durch seine Nase aus. Als er sich wieder gefangen hatte, sagte er:

»Nun, ich hoffe, Sie meinen damit, dass Sie bald sterben wollen, denn hier kommt keiner weg.«

Nate beugte sich nah an Cals Gesicht. »Macht es Ihnen nichts aus, gefangen zu sein?«

»Keiner von uns wäre noch am Leben, wenn die Walbengel ihn nicht aufgegriffen hätten.«

»Ich wohl.«

»Besonders Sie nicht. Sie waren immer zwölf Stunden vom Tod entfernt, seit wir Sie im Auge haben. Sicher ist Ihnen schon mal in den Sinn gekommen, wie viel leichter es gewesen wäre, Sie einfach umzubringen.«

Nate starrte einen Moment nur vor sich hin. Es war ihm tatsächlich schon in den Sinn gekommen, und er begriff nicht, wieso man ihn am Leben hielt, wenn man doch nur seine Forschungen verhindern wollte. Er wagte nicht, dieses Argument in Worte fassen, aber dennoch …

242

»Denken Sie nicht zu viel darüber nach, Nate. Sollten Sie je daran gezweifelt haben, dass das Leben ein Abenteuer ist …

jetzt ist es ganz bestimmt eins.«

»Stimmt«, sagte Nate. »Aber bevor Sie mich fragen, wo ich lieber wäre, möchte ich Sie daran erinnern, dass sich am Boden meines Waschbeckens ein Schließmuskel befindet.«

»Dann haben Sie die Dusche noch nicht gesehen? Warten Sie es ab.«

Nachdem er gegessen hatte, lieh Cal ihm zum Lesen eine Ausgabe der Schatzinsel, aber als Nate wieder in seine Kabine kam, konnte er sich kaum auf das Buch konzentrieren. Bemerkenswert, was man in einem kurzen Gespräch alles über sich erfahren kann. Erstens, dass er sich lieber vorwerfen ließ, Sex mit einer anderen Spezies als mit einem anderen Mann (selbst von einer anderen Spezies) gehabt zu haben. Interessantes Vorurteil. Zweitens, dass er im Grunde dankbar war – nicht nur dafür, am Leben zu sein, sondern dafür, jeden Augenblick völlig neue Erfahrungen zu machen, sogar in Gefangenschaft. Drittens, dass Lernen nach wie vor das Größte war, aber er brannte darauf, es mit jemandem zu teilen. Und schließlich, dass er etwas eifersüchtig war, sich ein wenig unbedeutend fühlte, nachdem er nun wusste, dass Emily 7 mit sämtlichen Walbengeln an Bord Sex hatte. Die kleine Schlampe.

Er döste ein, mit Robert Louis Stevenson auf seiner Brust und den Rufen der Killerwale in der Ferne.

Draußen stießen die zwanzig Orcas der Schule – meist Söhne oder Töchter der Matriarchin – laute Rufe aus, während sie sich an dem riesigen Heringsschwarm zu schaffen machten. Seit langem schon stellten Biologen Spekulationen zum unfassbar komplexen Vokabular des Killerwals an, wobei spezifische linguistische Gruppen identifiziert worden waren, die sogar denselben »Dialekt« sprachen, aber sie hatten den Rufen noch nie eine Bedeutung zuordnen können, die etwas anderes aus-243

drückte als »Fressen«, »Gefahr« oder »Zusammengehörigkeit«.

Wäre ihnen jedoch die Gunst einer Übersetzung zuteil geworden, hätten sie Folgendes gehört:

»Hey, Kevin, Fische!«

»Fische! Ich liebe Fische!«

»Guck mal, Fische!«

»Mmmh, Fische.«

»Du, Kevin, schwimm mal durch die Lücke da, täusch links an, bieg rechts ab, rein in den Schwarm, alles voller Fische!«

»Hat da jemand ›Fische‹ gesagt?«

»Yeah, Fische. Hier drüben, Kevin.«

»Mmmmmh, Fische.«

Und immer so weiter. In Wahrheit sind Orcas nicht so komplex, wie Wissenschaftler es gern hätten. Die meisten Killerwale sind nur tonnenschwere Trantüten, als Streifenwagen verkleidet.

244

26

Finger weg von fremden Spinden

»Flossen weg!?«, sagte Libby Quinn, als sie gelesen hatte, was auf dem Schwanz stand.

Langsam drehte sich der Walschwanz im digitalen Raum, Pixel für Pixel, während der Computer den neuen Blickwinkel errechnete. Margaret Painborne saß vor dem Monitor, Clay und Libby standen hinter ihr. Kona arbeitete auf der anderen Seite an Quinns zusammengeschraubtem Rechner.

»›Flossen weg!‹?«, wiederholte Clay. »Das kann nicht stimmen.« Nate hatte ihm erzählt, er hätte genau so einen Schwanz gesehen. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken.

Margaret tippte auf die Tastatur ein, dann drehte sie sich auf Clays Stuhl um. »Soll das irgendwie ein Witz sein, Clay?«

»Nicht von mir, Margaret. Das war unbearbeitetes Material.«

So sehr sich Clay zu Libby hingezogen fühlte, so unheimlich war ihm Margaret. Vielleicht Letzteres wegen Ersterem. Es war komplex. »Die Aufnahme der Schwanzflosse – bevor du sie bearbeitet hast – zeigt genau das, was ich gesehen habe, als ich da unten war.«

»Ihr habt doch immer gesagt, dass ihre Kommunikationsfähigkeit hoch entwickelt ist«, sagte Kona in dem Versuch, wissenschaftlich zu klingen, brachte aber im Grunde nur alle gegen sich auf.

»Die Frage ist: Wie?«, sagte Libby. »Selbst wenn man es wollte – wie könnte man eine Walfluke anmalen?«

Margaret und Clay schüttelten nur die Köpfe.

245

»Rostschutzfarbe«, schlug Kona vor, und alle drehten sich um und sahen ihn böse an. »Guckt mich nicht so an. Es muss doch wasserfest sein, oder nicht?«

»Bist du fertig damit, diese Seiten einzugeben?«, sagte Clay.

»Ja, Mann.«

»Na, dann Speicher sie ab, und geh irgendwo was harken oder mähen oder irgendwas.«

»Speicher es als Binärdatei«, fügte Margaret eilig hinzu, aber Kona hatte die Datei bereits gespeichert, und der Bildschirm war leer.

Margaret rollte auf ihrem Stuhl durch das Büro, so dass sie mit ihrem flatternden grauen Haar aussah wie die Böse Hexe von den Büroinseln. Sie stieß Kona zur Seite. »Scheiße«, sagte sie.

»Was?«, fragte Clay.

»Was?«, fragte Libby.

»Du hast gesagt, ich soll es speichern«, sagte Kona.

»Du hast es als ASCII-Datei, als Textdatei, gespeichert, nicht als Binärdatei. Scheiße! Ich will sehen, ob es okay ist.« Sie öffnete die Datei, und auf dem Bildschirm erschien Text. Ihre Hand fuhr zum Mund, und sie lehnte sich langsam auf Clays Stuhl zurück. »O mein Gott.«

»Was?«, riefen alle im Chor.

»Bist du sicher, dass du alles fehlerfrei eingegeben hast?«, fragte sie Kona, ohne ihn anzusehen.

»So wahr mir Jah helfe«, erwiderte Kona.

»Wieso?«, sagten Libby und Clay.

»Es muss irgendwie ein Scherz sein«, murmelte Margaret.

Clay und Libby eilten herbei, um sich den Bildschirm anzusehen. »Was denn?«

»Es ist Englisch«, erklärte Margaret. »Wie ist das möglich?«

246

»Das ist nicht möglich«, sagte Libby. »Kona, was hast du gemacht?«

»Was? Ich hab nur Einsen und Nullen getippt!«

Margaret schnappte sich eines der Notizblätter mit den Einsen und Nullen und begann, die Ziffern in eine neue Datei einzugeben. Als sie drei Zeilen hatte, speicherte sie diese, dann öffnete sie die Datei als Text. Dort stand: WERDE DAS

ZWEITE BOOT VERSENKEN, UM …

»Das kann nicht sein.«

»Scheinbar doch.« Clay sprang auf Margarets Schoß und begann, den Text von Konas Abschrift durchzusehen. »Seht euch das an: Es geht eine ganze Weile so weiter, dann ist es nur noch Kauderwelsch, dann geht es wieder los.«

Margaret sah sich nach Libby um, mit Rette mich in ihrem Blick. »Unmöglich kann der Gesang eine Nachricht in englischer Sprache übertragen. Die Binärdatei war ein Versuch, aber ich weigere mich zu glauben, dass Buckelwale für ihre Kommunikation den ASCII-Code und Englisch verwenden.«

Libby sah zu Kona hinüber. »Du hast das hier von Nates Bändern übernommen, genau so, wie du es mir gezeigt hast?«

Kona nickte.

»Kinder, seht euch das an«, sagte Clay. »Das hier sind Ar-beitsprotokolle. Längen- und Breitengrade, Uhrzeiten, Daten.

Da steht die Anweisung, mein Boot zu versenken. Die Schweine haben mein Boot versenkt.«

»Welche Schweine?«, sagte Margaret. »Ein Buckelwal, auf dessen Fluke ›Flossen weg!‹ steht?« Sie versuchte, um Clays breiten Rücken herumzuspähen. »Wenn das möglich wäre, würde die Navy es schon lange einsetzen.«

Clay sprang auf und sah Kona an. »Von welchem Band

stammt dieser letzte Teil?«

247

»Vom letzten, das Nate und Amy gemacht haben, an dem Tag, als Nate ertrunken ist. Wieso?«

Clay setzte sich wieder auf Margarets Schoß und deutete auf eine Textzeile am Bildschirm. Alle beugten sich vor und lasen: QUINN AN BORD – RENDEZVOUS MIT BLAU-6 –

VEREINBARTE KOORDINATEN – 1600 DIENSTAG –

KEIN PASTRAMI »Das Sandwich«, sagte Clay unheilschwanger.

In dem Moment betrat Clair, die gerade aus der Schule kam, das Büro und sah ein Knäuel aus Action-Freaks vor Quinns Computer sitzen. »Ihr Penner träumt immer nur von einem flotten Dreier mit zwei Frauen, und dabei ist eine allein schon zu viel für euch.«

»Nicht der Löffel!«, jaulte Kona, und seine Hand zuckte zu der dicken Beule an seiner Stirn.

Nathan wachte auf und fühlte sich, als müsste er sich häuten.

Hätte er das Gefühl nicht schon mal gehabt, hätte er wohl vermutet, dass er von hochgradigem Muffensausen befallen war (wissenschaftlich formuliert), aber er kannte es inzwischen und wusste, dass es von heftigen Infraschallwellen ausgelöst wurde.

Das Blauwalschiff stieß einen Ruf aus. Nur weil dieser fre-quenzmäßig unterhalb seines Hörvermögens lag, bedeutete das nicht, dass der Ruf nicht laut war. Blauwalrufe konnten sich über Zehntausende von Kilometern weit ausbreiten, und er vermutete, dass auch das Schiff ähnliche Laute von sich gab.

Nate stieg aus seiner Koje und fiel beinahe hin, als er nach seinem Hemd griff. Noch etwas, das er nicht gleich gemerkt hatte – das Schiff stand, aber er schwankte noch immer wie ein Seemann.

Eilig zog er sich an und lief den Korridor zur Brücke hinunter.

Zwischen den beiden Walbengeln stand eine große Konsole, die dort vorher nicht gewesen war. Im Gegensatz zum Rest des 248

Schiffes schien sie von Menschenhand gebaut, aus Plastik und Metall. Sonargeräte, Computer, Apparate, die Quinn noch nie gesehen hatte. Nuñez und die blonde Frau – Jane – standen an den Sonarbildschirmen und trugen Kopfhörer. Tim saß neben einem der Walbengel direkt vor der Konsole und zwei Monitoren.

Er trug Kopfhörer und tippte etwas ein. Der Walbengel schien ihn dabei zu beobachten.

Nuñez sah Nate hereinkommen, lächelte und bedeutete ihm, dass er näher kommen sollte. Diese Leute waren als Entführer völlig unfähig. Sie verbreiteten weder Angst noch Schrecken, zumindest die Menschen nicht. Wäre da nicht dieses Sonarsausen gewesen, hätte er sich wie zu Hause gefühlt.

»Wo kommt das denn her?«

Neben dem eleganten, organischen Design des Walschiffes und den Walbengeln – aber auch neben der menschlichen Mannschaft – sah das elektronische Gerät eher grobschlächtig aus.

Von Menschenhand gebaute Geräte mit biologischen Systemen zu vergleichen, war Nate früher nie ernstlich in den Sinn gekommen, weil er darauf konditioniert war, Tiere nicht als Konstrukt zu betrachten. Das Walschiff hatte seiner darwinistischen Vorstellung eine ordentliche Delle verpasst.

»Das ist unser Spielzeug«, erklärte Nuñez. »Die Konsole bleibt unter dem Boden, solange wir sie nicht brauchen. Für die Walbengel ist sie völlig nutzlos, weil sie direkt mit der Schnittstelle des Schiffes verbunden sind, aber uns vermittelt sie das Gefühl, als wüssten wir, was vor sich geht.«

»Außerdem tippen sie echt scheiße«, sagte Tim, knickte seine Daumen um und machte eine Geste, als hämmere er auf die Tasten ein. »Winzige Däumchen.«

Der Walbengel neben ihm trompetete ein feuchtes Schnauben über Tims Monitor, dann zirpte er zweimal, und Tim nickte und tippte etwas ein.

»Können sie denn lesen?«, fragte Nate.

249

»Lesen, ein bisschen schreiben, und die meisten verstehen mindestens zwei menschliche Sprachen, obwohl sie, wie Ihnen sicher aufgefallen sein dürfte, nicht sonderlich viel sprechen.«

»Keine Stimmbänder«, sagte Nuñez. »Sie haben Luftkammern im Kopf, mit denen sie ihre Laute produzieren, aber es fällt ihnen schwer, Worte zu bilden.«

»Aber sie können sprechen. Ich hab gehört, wie Em – ich meine … ähm.«

»Am besten lernen Sie einfach Wal-Slang. Im Grunde sprechen sie genau so, wie sie untereinander kommunizieren, nur dass sie ihre Laute in den Frequenzbereich verlegen, den unser Gehör wahrnehmen kann. Es ist leicht zu lernen, wenn man bereits andere klangintensive Sprachen wie Navaho oder Chine-sisch beherrscht.«

»Leider nicht«, sagte Nate. »Das Schiff sendet also einen Ruf aus?«

Tim setzte seinen Kopfhörer ab und reichte ihn an Nate weiter.

»Die Tonhöhe ist auf unsere Frequenz angehoben. Deshalb kann man es hören.«

Nate hielt eine Seite des Kopfhörers an sein Ohr. Da er das Signal nun hören konnte, spürte er auch genauer in seiner Brust, wie es begann und endete. Es linderte das Unbehagen, weil er es kommen hörte. »Ist das eine Nachricht?«

»Jep«, sagte Jane und nahm eine Seite ihres Kopfhörer vom Ohr. »Genau wie Sie vermutet hatten. Wir geben es ein, der Computer teilt die Nachricht in Spitzen und Täler der Wellenform ein, wir spielen den Walbengeln die Frequenzen vor, und sie lassen den Wal entsprechend singen. Das haben wir im Lauf der Jahre so eingerichtet.«

Nate fiel auf, dass der Walbengel an der Metallkonsole seine Hand in einer organischen Steckdose hatte, wie ein Kabel aus Fleisch und Blut, das durch den Sockel des Geräts mit dem Wal-250

schiff verbunden war, wie bei den organischen Pulten, vor denen die Piloten saßen.

»Wozu die Computer und das ganze Zeug, wenn die Walbengel das alles … ja, wie machen sie es? Instinkt?«

Der Walbengel an der Konsole grinste Nate an, quiekte, dann machte er das internationale Zeichen für Wichsen.

»Nur so bleiben wir auf dem Laufenden«, sagte Jane. »Glauben Sie mir, für lange Zeit waren wir hier nur Passagiere. Die Walbengel besitzen den gleichen navigatorischen Sinn wie die Wale. Wir begreifen nichts davon. Es handelt sich um eine Art magnetisches Vokabular. Erst seit die Schmutzfinken – das sind Sie – Computer entwickelt haben und wir ein paar Leute bekamen, die sie auch bedienen konnten, nehmen wir an dem teil, was hier vor sich geht. Inzwischen können wir GPS-Koordinaten feststellen, sie übermitteln und mit den anderen Mannschaften kommunizieren. Wir haben eine gewisse Ahnung davon, was wir tun.«

»Sie sagen ›für lange Zeit‹. Wie lange?«

Unruhig sah Jane Nuñez an, die ihren Blick nervös erwiderte.

Einen Moment dachte Nate, sie wollten eilig zusammen auf der Toilette verschwinden, was seiner Erfahrung nach das war, was Frauen machten, bevor sie größere Entscheidungen trafen – etwa welche Schuhe sie kaufen sollten oder ob sie jemals wieder mit ihm schlafen würden oder nicht.

»Für lange Zeit, Nate. Wir wissen nicht genau, wie lange.

Noch vor den Computern, okay?«

Womit sie meinte, dass sie es ihm nicht sagen wollte und sie ihn, wenn er drängte, belügen würde. Plötzlich fühlte sich Nate eher wie ein Gefangener, und als Gefangener war ihm, als sei es seine Pflicht und Schuldigkeit, zu fliehen. Er war sicher, dass genau das die Pflicht und Schuldigkeit eines Gefangenen war.

Er hatte es in einem Film gesehen. Auch wenn sein früherer 251

Plan, aus dem Spundloch ins Meer zu springen, ihm im Rückblick nun etwas übereilt schien.

Er fragte: »Wie tief sind wir?«

»Normalerweise senden wir bei etwa siebenhundert Metern.

Das bringt uns ziemlich genau in den SOFAR-Kanal, egal wo wir uns geografisch befinden.«

Der SOFAR-Kanal war eine natürliche Kombination aus

Druck und Temperatur in bestimmter Tiefe, die einen Korridor aus verringertem Widerstand entstehen ließ, in dem sich der Schall über viele tausend Kilometer ausbreiten konnte. Der Theorie nach verwendeten ihn Blau- und Buckelwale, um miteinander über große Entfernungen hinweg navigatorische Details zu kommunizieren. Offensichtlich machten es die Walbengel und die Leute, die auf ihren Schiffen arbeiteten, genauso.

»Entspricht dieses Signal dem natürlichen Ruf eines Blauwals?«

»Ja«, sagte Tim. »Das ist einer der Vorteile, wenn man innerhalb der Wellenform auf Englisch kommuniziert. Als die Walbengel noch für die direkte Kommunikation gesorgt haben, war der Ruf erheblich variantenreicher, aber unser Signal ist gut versteckt, mehr oder weniger. Nur nicht vor ein paar Übereifri-gen, die zufällig darüber stolpern.«

»Wie ich?«

»Ja, wie Sie. Wir sind in großer Sorge wegen der Akustik-Leute in Woods Hole und beim Hatfield Marine Center in Oregon. Die verbringen viel zu viel Zeit mit ihren Spektrogrammen von Unterwassergeräuschen.«

»Sie sind sich darüber im Klaren«, sagte Nate, »dass ich diese Sache mit Ihren Schiffen vielleicht nie rausgefunden hätte. Ich habe keineswegs eine Eingebung gehabt, was die binären Signale angeht. Ein bekiffter Surfer hat mich darauf gebracht.«

252

»Ja«, sagte Jane. »Wenn es Ihnen damit besser geht, können Sie ihm die Schuld dafür geben, dass Sie jetzt hier sind. Wir haben gewartet, bis Sie anfingen, im Signal nach dem Binärcode zu suchen. Da haben wir Sie abberufen, sozusagen.«

Nate wünschte wirklich, er könnte Kona die Schuld zuschie-ben, aber da es so schien, als sollte er nie wieder in die Zivilisation zurückkehren, war es nicht mehr wichtig, einen Sündenbock zu finden. »Woher wussten Sie es? Ich habe ja nicht gerade eine Pressemitteilung rausgegeben.«

»Wir haben unsere Möglichkeiten«, erwiderte Nuñez, wobei sie sich Mühe gab, nicht allzu geheimnisvoll zu klingen, was ihr jedoch misslang. Das wiederum amüsierte den Walbengel an der Konsole und die beiden Piloten maßlos.

»Ihr könnt mich mal«, sagte Nuñez. »Es ist ja nun nicht gerade so, als wärt ihr Jungs Raketentechniker, oder?«

»Und ihr Jungs wart die Nightwalker, von denen Tako Man gesprochen hat«, sagte Nate zu den Piloten. »Ihr habt Clays Boot versenkt.«

Die Piloten hoben die Arme in Gruselmonster-Pose über ihre Köpfe, fletschten die Zähne und gaben ein gespieltes Knurren von sich, dann stießen sie wieder diese Laute aus, die Nate inzwischen für Walgekicher hielt. Auch der Walbengel an der Konsole klatschte in die Hände und lachte laut.

»Franklin! Wir sind hier noch nicht fertig. Könnten wir die Schnittstelle zurückbekommen?«

Franklin – offenbar der Walbengel, der die Konsole bedient hatte – sank in sich zusammen und schob seine Hand wieder in die Steckdose. »Tschuldigung«, hörte man eine leise Stimme aus seinem Blasloch.

»Blöde Kuh«, kam es leise von einem der Piloten.

»Schicken wir es noch mal ab. Die Basis soll wissen, dass wir morgen früh da sind«, sagte Nuñez.

253

»Dann ist Disziplin also kein Problem?«, fragte Nate und grinste, weil Nuñez die Geduld verloren hatte.

»Ach, sie sind wie kleine Kinder«, sagte Nuñez. »Wie Delfine: Setzt man sie mitten im Meer mit einem roten Ball aus, spielen sie den lieben, langen Tag und machen nur Pause, um zu essen und zu rammeln. Ich sage Ihnen: Es ist, als müsste man einen Haufen notgeiler Kleinkinder hüten.«

Franklin quiekte und klickte eine Antwort, und diesmal stimmten Tim und Jane ins Gelächter der Walbengel mit ein.

»Was? Was?«, fragte Nate.

»Ich muss nicht einfach nur mal rangenommen werden!«, rief Nuñez. »Jane, haben Sie das mitgekriegt?«

»Klar«, sagte die Blonde.

»Mir reicht’s. Ich ziehe mich zurück.« Unter dem Kichern der Walbengel verließ sie die Brücke.

Tim sah sich nach Nate um und nickte zu dem Kopfhörer, die Nuñez liegen gelassen hatte. »Wollen Sie einspringen?«

»Ich bin hier Gefangener«, sagte Nate.

»Ja, aber auf die nette Tour«, sagte Jane.

Es stimmte. Alle waren ihm gegenüber freundlich gewesen, seit er an Bord gekommen war und hatten sich um ihn gekümmert. Er fühlte sich nicht wie ein Gefangener. Nate war nicht sicher, ob er nicht das Helsinki-Syndrom durchlebte, bei dem man mit seinen Entführern sympathisierte – oder war es das Stockholm-Syndrom? Ja, das Helsinki-Syndom hatte etwas mit Haar-ausfall zu tun. Es war definitiv das Stockholm-Syndrom.

Er trat an den Sonarbildschirm und setzte den Kopfhörer auf.

Augenblicklich hörte er den fernen Gesang eines Buckelwals. Er schaute Tim an, der eine Augenbraue in die Höhe schob, als wollte er sagen: Sehen Sie?

»Also, erzählen Sie schon«, sagte Nate. »Was hat es mit dem Gesang auf sich?« Es war einen Versuch wert.

254

»Das wollten wir Sie gerade fragen«, sagte Jane.

»Na toll«, erwiderte Nate. Plötzlich fühlte er sich gar nicht mehr so gut. Nach allem, was passiert war, wussten nicht mal die Leute, die mit den Walen reisten, was der Gesang bedeutete?

»Geht es Ihnen gut, Nate?«, fragte Jane. »Sie sehen etwas angeschlagen aus.«

»Ich glaube, ich leide unter dem Stockholm-Syndrom.«

»Seien Sie nicht albern«, sagte Tim. »Sie haben noch reichlich Haare.«

»Möchten Sie was gegen Magenbeschwerden?«, fragte Jane.

Ja, dachte er, die Flucht scheint mir Priorität zu haben. Er war ziemlich sicher, wenn er nicht entkommen konnte, würde er ausrasten und jemanden umbringen oder zumindest übertrieben streng mit diesen Leuten sein.

Komisch, dachte er, wie sich doch die Prioritäten mit den Umständen ändern. Den größten Teil seines Lebens denkt man, dass man etwas will … den Gesang der Buckelwale verstehen, beispielsweise. Also verfolgt man dieses Ziel mit zäher Unbeirr-barkeit, lässt alles andere im Leben schleifen, nur um sich dann davon ablenken zu lassen und plötzlich noch etwas anderes zu wollen – Amy beispielsweise. Und dann kommt irgendwann der Augenblick, an dem einem die Umstände verdeutlichen, was man eigentlich wirklich will, und das ist – seltsam genug –

endlich aus diesem Wal rauszukommen. Komisch, dachte Nate.

»Entspann dich, Kona«, sagte Clair, und ließ ihre Tasche an der Tür fallen. »Ich hab keinen Löffel dabei.«

Clay sprang von Margarets Schoß auf. Kona und er beobachteten, wie Clair den Raum durchquerte und Margaret und Libby in die Arme schloss, kurz innehielt, als sie Libby an sich drückte, und Clay über die Schulter hinweg zuzwinkerte.

»Wie schön, euch alle zu sehen«, sagte Clair.

255

»Ich geh nicht wieder los, um Pizza holen, Mann. Vergiss es«, sagte Kona, der immer noch erschrocken aussah.

»Was macht ihr gerade?«, fragte Clair.

Und so nahm es Margaret auf sich, zu erklären, was sie in den letzten Stunden herausgefunden hatten, wobei Kona die relevan-ten und persönlichen Details hinzufügte. Währenddessen saß Clay auf dem Boden in der Küche und sann über die Fakten nach. Nachsinnen, meinte er, sei angesagt.

Nachsinnen ist so ähnlich wie überlegen und ein bisschen wie denken, nur lockerer. Zum Nachsinnen muss man die Fakten am Rande des Rouletterades herumrollen lassen, damit sie sich dort niederlassen, wo sie es für richtig halten. Margaret und Libby waren Wissenschaftlerinnen, daran gewöhnt, ihre Fakten so schnell wie möglich in die entsprechenden Lücken zu zwängen, und Kona … nun, ein Gedanke, der in seinem Kopf herumrollte, war eher wie ein Tennisball in einer Kaffeekanne – einfach zu eierig, als dass er sich in irgendeiner Form auswirken konnte –, und Clair versuchte nur, alles mitzubekommen. Nein, das Nachsinnen blieb an Clay hängen, und er trank dunkles Bier aus einer schwitzenden Flasche und wartete darauf, dass die Rouletteku-gel liegen blieb. Was sie auch tat, so etwa im selben Moment, in dem Margaret Painborne mit ihrer Geschichte zum Ende kam.

»Das Ganze hat offensichtlich mit militärischer Verteidigung zu tun«, sagte Margaret. »Niemand sonst hätte einen Grund –

hey, selbst die dürften eigentlich keinen guten Grund haben.

Aber ich sage, wir schreiben heute Abend unseren Senatoren, und morgen früh konfrontieren wir Captain Tarwater damit. Er weiß ganz bestimmt was darüber.«

»Und das ist der Punkt, an dem du völlig falsch liegst«, sagte Clay. Und alle drehten sich um. »Ich habe darüber nachgeson-nen« – hier legte er eine Pause ein, um der Wirkung willen –

»und mir scheint, dass zwei unserer Freunde in etwa zu dem Zeitpunkt verschwunden sind, als sie etwas darüber herausge-256

funden haben. Und das alles, vom Einbruch bis zum Versenken meines Bootes« – auch hier legte er eine Pause – »hat damit zu tun, dass jemand nicht will, dass wir es wissen. Also denke ich, es wäre leichtsinnig von uns, wenn wir allen erzählen, was wir wissen, bevor wir wissen, was wir wissen, was es ist.«

»Das kann nicht stimmen«, sagte Libby.

»›Bevor wir wissen, was wir wissen, was es ist‹?«, zitierte Margaret. »Nein, das stimmt nicht.«

»Macht für mich total Sinn«, erklärte Kona.

»Nein, Clay«, sagte Clair. »Ich kann damit leben, dass du auf flotte Dreier stehst, und ich hab auch kein Problem mit einem bleichgesichtigen Rastabengel, der uns Unabhängigkeit predigt, aber ich sage dir: Deinen grammatikalischen Raubbau kann ich nicht gutheißen. Schließlich bin ich Lehrerin!«

»Wir dürfen es niemandem sagen!«, schrie Clay.

»Schon besser«, sagte Clair.

»Kein Grund zu schreien«, sagte Libby. »Margaret hat nur die radikal-reaktionäre, feministische, lesbische, kommunistische Hippie-Biologin raushängen lassen, stimmt’s nicht, Liebes?«

Libby Quinn grinste ihre Partnerin an.

»Ich sag euch gleich das Akronym dafür«, murmelte Clair und zählte die Worte an ihren Fingern ab. »Himmel, deine Visitenkarte muss so groß wie ein Bettvorleger sein.«

Margaret sah Libby böse an, dann wandte sie sich Clay zu.

»Glaubst du wirklich, wir könnten in Gefahr sein?«

»Scheint mir so. Hör zu, ich weiß, dass wir das alles ohne deine Hilfe nicht wüssten, aber ich will einfach nicht, dass jemand zu Schaden kommt.«

»Wir können schweigen, wenn du es für das Richtige hältst«, sagte Libby und traf für ihre Freundin die Entscheidung, »aber ich glaube, dass wir uns noch viel mehr Audiobänder anhören müssen – um zu sehen, seit wann das so geht. Um rauszufinden, 257

wieso es manchmal nur ein Geräusch und dann wieder eine Nachricht ist.«

Margaret war wütend damit beschäftigt, ihr Haar zu flechten und zu entflechten, und starrte leeren Blickes vor sich hin, während sie überlegte. »Sie nutzen den Walgesang als Tarnung, damit die feindlichen U-Boote die Nachrichten nicht bemerken.

Wir brauchen mehr Daten. Aufnahmen von anderen Buckelwalen außerhalb amerikanischer Gewässer. Um zu sehen, wie weit sie damit gegangen sind.«

»Und wir müssen uns Blau-, Finn- und Seiwalrufe anhören«, sagte Libby. »Wenn sie Infraschall verwenden, macht es nur Sinn, die großen Wale zu imitieren. Ich rufe Chris Wolf von der Uni in Oregon an. Er untersucht die alte Sonar-Matrix der Navy, mit der sie früher russische Unterseeboote aufspüren wollten. Er müsste Aufnahmen von allem haben, was wir brauchen.«

»Nein«, sagte Clay. »Niemand außerhalb dieses Raumes.«

»Komm schon, Clay. Du wirst paranoid.«

»Sag das noch mal, Libby. Er untersucht wessen alte Sonar-Matrix? Das Militär steckt doch immer noch hinter diesem Sosus, mit dem sie die Tiefsee abhören.«

»Also glaubst du, es ist das Militär?«

Clay schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich fress einen Besen, wenn mir ein Grund einfällt, wieso die Navy einem Wal

›Flossen weg‹ auf den Schwanz schreiben sollte. Ich weiß nur, dass Leute verschwinden, die irgendwas darüber rausfinden, und jemand eine Nachricht geschickt hat, dass Nate in Sicherheit ist, nachdem wir alle dachten, er sei tot.«

»Und was willst du jetzt also machen?«

»Ihn suchen«, erwiderte Clay.

»Na, das dürfte vermutlich allen das Begräbnis versauen«, sagte Clair.

258

DRITTER TEIL

DER QUELL

Wir wurden als Gen-Maschinen gebaut

und zu Mem-Maschinen erzogen,

aber wir besitzen die Macht,

uns gegen unsere Schöpfer zu wenden.

Wir allein auf der Welt können gegen die Tyrannei selbstsüchtiger Replikatoren rebellieren.

Richard Dawkins

Fünfundneunzig Prozent aller Spezies,

die je existiert haben, sind mittlerweile ausgestorben, also guck bloß nicht so selbstgefällig.

Gerard Ryder

259

27

Die Neue Welt

Das Walschiff klappte sein Maul auf, und Nate und die Mannschaft wurden wie denkender Sabber ans Ufer gespien. Mehrere Walbengel nahmen sie in Empfang, von denen einer Nate ein Paar Nikes überreichte, um dann die heimkehrende Mannschaft mit einigem Klicken, Quieken und freundschaftlichem Rubbeln zu begrüßen. Nach fast zehn Tagen im Walschiff war alles so grell, dass Nate gar nicht sagen konnte, was da vor sich ging.

Die anderen Menschen trugen Sonnenbrillen und hockten am Boden, um ihre Schuhe anzuziehen, nur wenige Schritte vom Maul des Schiffes entfernt. Nach dem steinernen Gefühl unter seinen Füßen zu urteilen, vermutete Nate, dass sie sich wohl auf einer Art Pier befanden. Cal Burdick nahm seine Sonnenbrille ab und bot sie ihm an.

»Nehmen Sie nur. Ich kenne das alles schon seit vielen Jahren, aber für Sie dürfte es sicher von einigem Interesse sein.«

Mit der dunklen Brille konnte Nate tatsächlich besser sehen.

Seine Augen waren in Ordnung, aber sein Verstand hatte Probleme, das zu verarbeiten, was sie ihm übermittelten. Es war hell wie der lichte Tag (wenn auch ein bedeckter Tag), aber sie standen nicht unter freiem Himmel. Sie befanden sich im Innern einer Grotte, die so gewaltig war, dass Nate nicht mal die Enden ausmachen konnte. Ein Dutzend Fußballstadien hätten hineinge-passt, und es wäre immer noch Platz für einen Vergnügungs-park, ein Casino und den Vatikan gewesen, wenn man die eine oder andere Basilika gekappt hätte. Die gesamte Decke war eine Lichtquelle, kaltes Licht, so schien es – einige Regionen gelb, andere blau –, große, leuchtende Flecken von unregelmäßiger Form, als hätte Jackson Pollock einen Sonnensturm an die Decke gemalt. Die Hälfte der Grotte stand unter Wasser, glatt 260

und reflektierend wie ein Spiegel, unterbrochen nur von kleinen Walbengeln, die sich hier und da in Grüppchen zu fünft oder sechst tummelten und mit ihren Blaslöchern alle paar Meter synchron Luft ausstießen. Walbengelkinder, dachte er. Am Ufer lagen etwa fünfzig Walschiffe unterschiedlicher Spezies, deren Mannschaften kamen und gingen. Riesige Schläuche, die wie gigantische Erdwürmer aussahen, führten zu den Schiffen – je einer auf jeder Seite der Köpfe – und stellten Verbindungen zum Ufer her. Der Boden … der Boden war rot und hart wie Linole-um, poliert, wenn auch nicht glänzend. Er war Hunderte von Metern lang, wohl fast zwei Kilometer, und schien halb an den Wänden der immensen Grotte hinaufzureichen. Nate sah Öff-nungen in den Wänden, ovale Gänge oder Türen oder Tunnel oder irgendwas. Nach der Größe der Leute und der Walbengel zu urteilen, die dort ein und aus gingen, schätzte er, dass der Durchmesser mancher Öffnung gut und gern zehn Meter betrug, während andere so groß wie ganz normale Türen waren. Neben einigen der kleineren Eingänge gab es Fenster – oder etwas, das er für Fenster hielt –, alle eher rundlich. In der gesamten Grotte gab es keinen rechten Winkel. Hunderte Menschen liefen zwischen ebenso vielen Walbengeln herum und transportierten Proviant und Ausrüstung mit Dingern, die wie ganz normale Karren und Handwagen aussahen.

»Wo zum Teufel sind wir?«, fragte Nate, der fast seinen Kopf verdrehte, um alles gleichzeitig zu betrachten. »Ich meine: Was zum Teufel ist das?«

»Wirklich erstaunlich«, sagte Cal. »Ich beobachte es gern, wenn Leute Gooville zum ersten Mal sehen.«

Nate strich mit der Hand über die Erde oder den Boden oder was auch immer diese Oberfläche sein mochte, auf der sie saßen.

»Was ist das für Zeug?« Es schien glatt zu sein, besaß aber Struktur, Poren, ein wenig rau, wie Steingut oder …

261

»Es ist ein lebender Panzer, wie von einem Hummer. Der ganze Bau hier lebt, Nate. Alles – die Decke, der Boden, die Wände, die Einfahrt vom Meer her, unsere Unterkünfte – das alles ist ein einziger, gewaltiger Organismus. Wir nennen es das Goo

»Das Goo. Dann ist das hier Gooville?«

»Ja«, sagte Cal mit einem breiten Lächeln, das makellose Zähne bloßlegte.

»Und dann sind Sie …?«

»Genau. Die Goos. Darin steckt eine wunderbare Logik, denken Sie nicht?«

»Ich kann nicht denken, Cal. Wissen Sie, sein ganzes Leben lang hört man Leute von Dingen reden, die unfassbar sind, aber das ist nur ein hohles Klischee – eine Hyperbel –, als würde man sagen, einem würde das Blut in den Adern gefrieren.«

»Jep.«

»Also, ich bin völlig aus der Fassung. Total fassungslos.«

»Und Sie dachten, die Schiffe wären eindrucksvoll, hm?«

»Ja, aber das hier? Ein lebender Organismus, der sich selbst geformt hat, und zwar zu einem komplexen … ja, was? System?

Ich fass es nicht.«

»Stellen Sie sich vor, wie die Bakterien, die in Ihrem Verdauungstrakt leben, über Sie denken.«

»Also, im Moment glaube ich, sind sie von mir genervt.«

Mehrere Walbengel versammelten sich etwa zehn Meter vor ihnen, deuteten auf Nate und kicherten.

»Die kommen nur, um sich die Neuen anzusehen. Wundern Sie sich nicht, wenn sie sich auf der Straße an ihnen reiben. Man will Ihnen nur ›Hallo‹ sagen.«

»Straßen?«

262

»Wir nennen sie Straßen. In gewisser Weise sind es auch welche.«

Nachdem sie nun nicht mehr im mattgelben Licht der Walschiffe standen, fiel Nate auf, wie groß die farbliche Bandbreite der Walbengel war. Manche waren tatsächlich blau gesprenkelt wie Blauwale, andere dagegen schwarz wie ein Grindwal oder hellgrau wie Zwergwale. Manche besaßen sogar die schwarzweiße Färbung von Orcas oder Weißseitendelfinen, andere wieder waren weiß wie Belugas. Die Körperformen waren allesamt sehr ähnlich, unterschieden sich nur in der Größe, wobei die Killerwalbengel gut dreißig Zentimeter größer und fünfzig Kilo schwerer waren und etwa doppelt so breite Kiefer wie alle anderen hatten. Außerdem fiel im Licht auf, dass er der einzige Mensch mit sonnengebräunter Haut war. Die Leute, selbst Cal und seine Mannschaft, sahen gesund aus. Es schien nur, als habe keiner von ihnen je die Sonne gesehen. Wie die Briten.

Nuñez kam herüber und half erst Cal und dann Nate auf die Beine.

»Wie sind die Schuhe?«

»Ungewohnt, wenn man so lange keine mehr getragen hat.«

»Sie werden ein paar Stunden etwas wacklig auf den Beinen sein. Sie werden das Schwanken spüren, wenn Sie still stehen.

Es dauert etwa einen Tag. Genau so, als wäre man mit einem ganz normalen Schiff auf See gewesen. Ich bringe Sie in Ihr neues Quartier, führe Sie ein bisschen herum, damit Sie sich einleben können. Der Colonel wird vermutlich bald nach Ihnen schicken. Man wird Ihnen helfen, Menschen wie Walbengel.

Alle wissen, dass Sie neu sind.«

»Wie viele, Cielle?«

»Menschen? Fast fünftausend leben hier. Walbengel vielleicht halb so viele.«

»Wo ist ›hier‹? Wo sind wir?«

263

»Ich hab ihm von Gooville erzählt«, sagte Cal.

Nuñez blickte zu Nate auf, dann schob sie die Sonnenbrille zur Nasenspitze, so dass er ihre Augen sehen konnte. »Flippen Sie mir bloß nicht aus, okay?«

Nate schüttelte den Kopf. Was glaubte sie denn? Dass sie ihm irgendwas erzählen konnte, was schräger, irrsinniger oder be-

ängstigender wäre als alles, was er bereits gesehen hatte?

»Über dieser Decke befindet sich dicker Fels, auch wenn wir nicht genau wissen, wie dick eigentlich – jedenfalls sind wir etwa zweihundert Meter unter der Oberfläche des Pazifischen Ozeans. Wir befinden uns ungefähr dreihundert Kilometer vor der chilenischen Küste, unter dem Kontinentalschelf. Wir sind durch einen Spalt im Kontinentalhang hereingekommen.«

»Wir befinden uns zweihundert Meter tief. Und der Druck?«

»Wir sind durch einen langen Tunnel hereingekommen, eine Reihe von Kompressionsschleusen, durch die man die Schiffe lenkt, bis wir bei normalen Druckverhältnissen angekommen sind. Ich hätte es Ihnen gezeigt, als wir durchkamen, aber ich wollte Sie nicht wecken.«

»Ja, vielen Dank dafür.«

»Bringen wir Sie zu Ihrem neuen Haus! Wir haben einen langen Weg vor uns.«

Nate stolperte beinahe, als er versuchte, sich nach den Schiffen umzusehen, die dort im Hafen lagen. Tim hielt ihn am Arm fest.

»Das ist alles reichlich viel auf einmal. Manche Leute sind schon richtig durchgedreht. Man muss nur eines akzeptieren: Das Goo würde nie zulassen, dass jemandem etwas geschieht.

Der Rest ist dann einfach nur eine Folge von Überraschungen.

Wie das Leben auch.«

Nate blickte in die dunklen Augen des Mannes, um abzuschätzen, ob daraus Ironie sprach, aber er war offen und ehrlich wie eine Schale Milch. »Das Goo kümmert sich um mich?«

264

»Genau«, sagte Tim und half ihm zur Grottenwand hinüber, zur eigentlichen Stadt Gooville mit ihren organisch geformten Türen und Fenstern, ihren Knöpfen und Knoten, ihren Hummerpanzer-Gängen, ihren Walbengel-Schulen, die gemeinsam arbeiteten oder im Wasser plantschten, eine ganze Stadt, von der Nate vermutete, dass dort glückselige Irrenhäusler wohnten.

Nach zwei Tagen der Sinnsuche im Kuddelmuddel von Wellenformen und Einsen und Nullen, die eilig in den Rechner getippt wurden, fand Kona am Strand einen Surfer/Hacker namens Lolo, der einwilligte, alles für Linux aufzubereiten, im Tausch gegen Konas altes Surfbrett und fünfzehn Gramm allerbester Blüten.

»Wieso nimmt er denn kein Bargeld?«, fragte Clay.

»Er ist Künstler«, erklärte Kona. »Bargeld hat doch jeder.«

»Ich weiß nicht, wie ich das für die Buchhaltung formulieren soll.«

»Blüten, allerbest?«

Verloren betrachtete Clay die Notizblätter, die sich auf seinem Schreibtisch neben dem Platz stapelten, wo Margaret Painborne saß und tippte. Er reichte Kona eine Rolle Banknoten. »Geh.

Kauf Blüten. Bring ihn her. Bring mir mein Wechselgeld.«

»Ich spende mein Brett für den guten Zweck«, sagte Kona.

»Ich könnte mich auch gut mal wieder der Mystik widmen.«

»Soll ich Tante Clair erzählen, dass du versucht hast, mich zu erpressen?« Clay war dazu übergegangen, Kona gegenüber Clair als Drohung einzusetzen, eine Art Damoklesschwert/Stellvertre-tender Schuldirektor/Böse Domina, und es schien zu laufen wie geschmiert.

»Muss los, Bruder. Mach’s gut.«

Plötzlich flammte etwas in Clays Kopf auf, ein elektrisieren-des Déjà-vu, ein wahrer Geistesblitz. »Warte, Kona.«

265

Der Surfer blieb in der Tür stehen und drehte sich um.

»Als du deinen ersten Tag hier hattest, der Tag, an dem dich Nate zum Labor geschickt hat, um den Film zu holen … hast du das wirklich gemacht?«

Kona schüttelte den Kopf. »Neeeiin, Boss, das Schnittchen hat gesehen, wie ich los wollte. Sie hat gesagt: Behalt das Geld, lass mich zum Labor gehen. Und als ich mit meinem Dope wieder da war, hat sie mir die Fotos zugesteckt, damit ich sie Nate gebe.«

»Das hatte ich irgendwie schon befürchtet«, sagte Clay. »Hau rein, zisch ab! Hol uns, was wir brauchen.«

Drei Tage später standen sie alle da und sahen zu, wie Lolo die Enter-Taste drückte und die Infraschall-Wellenform eines Blauwal-Rufes am unteren Bildschirmrand entlanglief, während da-rüber Buchstaben aus den Daten transkribiert wurden. Lolo war ein Jahr älter als Kona, halb Japaner, halb Amerikaner, braun gebrannt wie eine Haselnuss, mit kükengelben Mini-Dreads und einem Gemälde aus Maori-Tattoos auf Rücken und Schultern.

Lolo fuhr auf dem Stuhl herum und sah sie an. »Ich hab mal einen Fünfzig-Minuten-Trance-Track mit sechzig Percussion-Loops gemischt. Das war echt schwieriger als das hier.« Lolos bisherige Ausflüge in die Klangbearbeitung hatten ihn als Computer-DJ in einen Dance Club von Honolulu geführt.

»Es hat nichts zu bedeuten«, sagte Libby Quinn. »Es war reiner Zufall, Clay.«

»Abwarten.«

»Aber seit dem ersten Tag haben wir nichts mehr gefunden.«

»Wir wussten, dass es vielleicht so sein würde und nicht überall Nachrichten versteckt sein können. Wir müssen einfach nur die richtigen Stellen finden.«

Libbys Augen flehten ihn an. »Clay, die Saison ist kurz. Wir müssen raus aufs Meer. Nachdem du jetzt dieses Programm 266

hast, brauchst du unsere Hilfe nicht mehr. Margaret und ich bringen dir noch ein paar Aufnahmen. Wir kriegen sie von vertrauenswürdigen Leuten, aber wir können es uns nicht leisten, die ganze Saison in den Sand zu setzen.«

»Und wir müssen diese Sache mit dem Torpedo-Testgebiet öffentlich machen«, fügte Margaret hinzu, weit weniger mitfühlend als Libby.

Clay nickte und betrachtete seine nackten Füße auf dem Holz-fußboden. Er holte tief Luft, und als er wieder aufblickte, lächelte er. »Ihr habt Recht. Aber stoßt nicht nur ins Horn und hofft, dass jemand es mitbekommt. Cliff Hyland hat mir erzählt, dass sie sich nur für Tauchdaten interessieren. Ihr werdet einen Beweis brauchen, dass sich Buckelwale am Grund des Kanals bewegen, sonst wird die Navy behaupten, dass ihr nur Walfreaks seid und die Tiere nicht gefährdet sind. Trotz des Testgebiets.«

»Dann ist es für dich okay, wenn wir es öffentlich machen?«, fragte Libby.

»Die Leute werden früh genug von den Torpedos erfahren. Ich glaube nicht, dass es für euch gefährlich wird. Sagt nur nichts von dem, was hier sonst noch passiert, okay?«

Die beiden Frauen sahen einander an, dann nickten sie. »Wir müssen gehen«, sagte Libby. »Wir rufen dich an, Clay. Wir lassen dich nicht einfach so im Stich.«

»Ich weiß«, sagte Clay.

Als sie weg waren, wandte sich Clay den beiden Surfern zu.

Dreißig Jahre hatte er mit den weltbesten Wissenschaftlern und Tauchern gearbeitet, und das war ihm nun geblieben: zwei kleine Kiffer. »Wenn ihr beiden was zu tun hättet, könnte ich das verstehen.«

»Bloß raus hier«, sagte Lolo, sprang auf und rannte zur Tür.

Clay warf einen Blick auf den Monitor, vor dem Lolo gesessen hatte, und las: ANKOMME MONTAG CIRCA 1300 HALTET

267

SCHUHE GRÖSSE 44 FÜR QUINN BEREIT_ENDE

MSS_AAAA_BAXYXA-BUDAB

»Hol ihn zurück!«, sagte Clay zu Kona. »Wir müssen wissen, auf welchem Band das war.«

»Libby hat ihm alle gegeben, die sie hatte.«

»Das weiß ich. Ich muss wissen, woher sie es hatte. Wo und wann es aufgenommen wurde. Ruf Libby auf ihrem Handy an!

Versuch, sie an den Apparat zu kriegen.« Clay wollte die Bild-ansicht ausdrucken, bevor die Nachricht automatisch weiter-gescrollt war. »Wie zum Teufel funktioniert dieses Ding?«

»Woher weißt du, dass ich nicht einfach abhaue?«

»Als du heute Morgen aufgewacht bist, Kona, gab es da für dich einen Grund aufzustehen, abgesehen von Wellen und Dope?«

»Ja, Mann, ich muss Nate finden.«

»Wie hat sich das angefühlt?«

»Ich ruf Libby an, Boss.«

»Loyalität ist wichtig, Junge. Ich geh und hol mir Lolo. Um rauszufinden, welches Band es war.«

»Schnauze, Boss. Ich versuch zu wählen.«

Hinter ihnen ratterte die kryptische Nachricht aus dem Drucker.

268

28

Einzeller

Stockholm-Syndrom oder nicht – langsam hatte Nate genug von dieser ganzen »Alles ist wunderbar, und das Goo wird es schon richten«-Haltung. Wie in einer Hippie-Kommune. Nuñez war drei Tage hintereinander zu ihm gekommen und hatte ihn herumgeführt, und alle, die er kennen gelernt hatte, waren einfach ein bisschen zu glücklich darüber gewesen, dass sie zweihundert Meter tief im Inneren eines monströsen Lebewesens wohnten. Als wäre das normal. Als würde man ihm nicht etwas vorgaukeln, weil er nach wie vor Fragen stellte. Wenigstens die Walbengel schnaubten feucht und kicherten, wenn er vorüberging. Wenigstens die hatten ein Gespür für die Absurdität des Ganzen, trotz des Umstands, dass es sie eigentlich gar nicht geben sollte, eine Einsicht, die man von ihnen wohl nicht erwarten konnte.

Man hatte ihn in einer besonders guten Wohnung untergebracht (oder dem, was man wohl als Wohnung bezeichnen würde), im zweiten Stock, mit Blick über die Grotte. Die Fenster waren oval, und das Glas darin war zwar durchsichtig, aber flexibel. Es war, als würde man die Welt durch ein Kondom betrachten, und das war noch längst nicht alles, was ihm an diesem Ort unheimlich erschien. Die Wohnung besaß eine Spüle, einen Abfluss im Badezimmer und eine Dusche – allesamt mit großen, schmatzenden Schließmuskeln am Boden –, und die Dichtung um die Tür des Kühlschranks, falls man ihn denn so nennen wollte, schien aus Nacktschnecken zu bestehen, oder zumindest etwas, das einen schimmernden Schleim hinterließ, wenn man dagegen kam. Darüber hinaus gab es in der Kü-

che einen zähnefletschenden Müllschlucker, von dem er sich lieber fern hielt. Das Schlimmste war, dass sich die Wohnung gar 269

keine Mühe gab, zu verbergen, dass sie lebte. Am ersten Tag, als der menschliche Teil der Mannschaft auf einen Drink hereingeschaut hatte, zur Einweihung, befand sich ein schuppiger Knauf an der Wand neben der Eingangstür, mit dem sich die Tür öffnen ließ, wenn man darauf drückte. Als die Crew gegangen war und Nate aus seiner Dusche kam, war der Türknauf verheilt.

Man sah dort eine Narbe, aber das war alles. Nate war eingesperrt.

Ein Trommelwirbel kleiner Steine wurde laut, die an sein Panoramafenster prasselten. Nate trat an die Scheibe, sah auf die große Grotte und den Hafen hinaus, dann hinunter auf die Urheber seiner Unbill. Ein Pulk von Walbengelkindern warf Steinchen an sein Fenster. Wump, wump-a, wump. Die Steine prallten ab, ohne Spuren zu hinterlassen. Als Nate am Fenster erschien, wurde das Prasseln heftiger, da die Walbengelkinder immer schneller warfen und auf ihn zielten, wie beim Dosen-werfen.

»Es hat seinen Grund, wieso Zetazeen in der echten Welt keine Hände haben!«, schrie Nate sie an. »Ihr seid der Grund!

Ihr kleinen Freaks!«

Wump, wump-a, wump, klack. Hin und wieder traf ein Wurf den muschelkalkartigen Fensterrahmen, was klang, als landete eine Murmel auf Fliesen.

Ich hör mich schon an wie der alte Spangler, der meinen Bruder und mich immer angeschrien hat, wenn wir ihm Äpfel vom Baum geklaut haben, dachte Nate. Wann bin ich ein alter Mann geworden? So will ich gar nicht sein.

Es klopfte leise an seiner Eingangstür. Als er herumfuhr, öffnete sich die Tür wie Fensterläden, zwei Muschelhälften, von Muskeln in der Wand bewegt. Nate kam sich vor wie eine überraschte Dosenschildkröte. Cielle Nuñez stand mit gefalteten Lei-nenbeuteln unterm Arm in der Tür. Sie war eine sympathische Frau, attraktiv, kompetent und keine Bedrohung. Nate war si-270

cher, dass man sie aus diesem Grund dazu auserkoren hatte, ihn herumzuführen.

»Wollen Sie shoppen gehen, Nate? Ich hatte schon angerufen, um Ihnen zu sagen, dass ich komme, aber Sie sind nicht rangegangen.«

Die Wohnung besaß eine Sprechapparatur, so eine Art verziertes Röhrending, das pfiff und mit metallisch grünen Käferflü-

geln summte, wenn jemand anrief. Nate fürchtete sich davor.

»Cielle, könnten wir heute bitte mal nicht so tun, als wären wir alte Freunde? Sie sperren mich ja doch wieder ein, wenn Sie gehen.«

»Zu Ihrer eigenen Sicherheit.«

»Das scheint mir das Argument aller Gefängniswärter zu sein.«

»Möchten Sie was essen und was anzuziehen haben, oder nicht?«

Nate zuckte mit den Schultern und folgte ihr zur Tür hinaus.

Sie liefen am Rand der Grotte entlang, die eine Kreuzung zwischen altenglischem Dorf und sozialem Wohnungsbau für Hob-bits zu sein schien: Ungleichmäßig geformte Türen und Fenster boten einen Blick in Läden, die mit Backwaren und anderen Speisen aufwarteten. Offenbar war das Goo kein Freund von Küchenherden. Sämtliche Speisen wurden irgendwo anders zubereitet. Es gab einen Wärmekasten in Nates Wohnung. Er sah aus wie ein Brotkasten, der aus einem mächtigen Gürteltierpan-zer hergestellt war. Er funktionierte tadellos. Man rollte den Deckel auf, stellte das Essen hinein, und schon hatte man keinen Appetit mehr.

»Heute besorgen wir Ihnen was zum Anziehen«, sagte Cielle.

»Diese Khakis sind eine Leihgabe. Sie sind nur für die Walschiff-Crews gedacht.«

271

Während sie herumgingen, folgte ihnen ein halbes Dutzend Walkinder, die ununterbrochen schnatterten und kicherten.

»Ich würde also Probleme bekommen, wenn ich auf der Straße nach Walkindern trete?«

»Aber natürlich«, lachte Cielle. »Wir haben hier Gesetze, wie überall.«

»Offenbar keines, das Kidnapping und unrechtmäßige Inhaftierung verbietet.«

Nuñez blieb stehen und nahm ihn beim Arm. »Was beklagen Sie sich? Es ist doch gut, hier zu sein. Niemand misshandelt Sie.

Alle sind nett zu Ihnen. Wo ist das Problem?«

»Wo das Problem ist? Das Problem ist, dass ihr Leutchen alle aus eurem Leben gerissen wurdet, weg von euren Familien und Freunden, weg von allem, was euch vertraut war, und alle tut ihr so, als würde es euch nicht das Geringste ausmachen. Mir macht es aber was aus, Cielle. Scheiße, es macht mir eine ganze Menge aus. Und ich verstehe diese ganze Kolonie nicht – diese Stadt oder was es auch sein mag. Wie kann sie überhaupt existieren, ohne dass irgendjemand was davon weiß? Wieso ist in all den Jahren niemand entkommen und hat das Geheimnis dieser Grotte verraten?«

»Ich habe es Ihnen doch gesagt. Wir wären alle ertrunken –«

»Blödsinn. Das kaufe ich Ihnen nicht ab. Die Dankbarkeit einem Retter gegenüber hält nicht lange an. Ich habe es selbst erlebt. Es bestimmt nicht das ganze Leben. Jeder, den ich hier treffe, ist glückselig. Ihr Leutchen betet das Goo an, stimmt’s?«

»Nate, wenn Sie nicht eingesperrt sein wollen, werden Sie auch nicht eingesperrt. Sie können sich in Gooville frei bewegen

… überall hingehen, wo Sie wollen. Es gibt Hunderte Kilometer von Gängen. Manche davon habe selbst ich noch nie gesehen.

Gehen Sie. Verlassen Sie die Grotte, und steigen Sie in einen dieser Gänge hinab. Aber wissen Sie was? Heute Abend werden Sie wieder nach Ihrer Wohnung suchen. Sie sind hier kein 272

Gefangener. Sie leben nur an einem anderen Ort und auf eine andere Weise.«

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«

»Das Goo ist der Quell, Nate. Der Ursprung allen Lebens. Sie werden es sehen. Der Colonel –«

»Scheiß auf den Colonel! Der Colonel ist doch ein Mythos.«

»Sollten wir einen Kaffee trinken? Sie wirken mürrisch.«

»Verdammt, Cielle, meine Kopfschmerzen tun nichts zur Sache.« Eigentlich taten sie das doch, in gewisser Weise. Nate hatte den ganzen Tag noch keinen Kaffee gehabt. »Außerdem, woher weiß ich, dass wir da wirklich Kaffee trinken? Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus Kaffeebohnen und mutier-tem Seeotter.«

»Das hätten Sie gern?«

»Nein, das hätte ich nicht gern. Ich hätte gern einen Türknauf.

Und nicht so ein organisches Knotendings – ich möchte einen toten Türknauf. Und zwar einen, der schon immer tot war. Nicht irgendwas, zu dem ich freundschaftliche Beziehungen hatte.«

Cielle Nuñez war ein paar Schritte zurückgewichen, und die Walkinder, die ihnen gefolgt waren, schwiegen nun und standen in defensiver Herdenformation, die größeren Kinder außen. Spa-ziergänger, die normalerweise nickten und lächelten, wenn sie vorübergingen, machten einen großen Bogen um Nate. Heftiges Pfeifen wurde unter den umherlaufenden Walbengeln laut.

»Das würde Sie glücklich machen?«, fragte Nuñez. »Ein Türknauf? Wenn ich Ihnen einen Türknauf besorge, sind Sie glücklich?«

Warum sollte es ihm peinlich sein? Weil er die Kinder erschreckt hatte? Weil sich seine Entführer unwohl fühlten?

Trotzdem war es ihm peinlich.

»Ich könnte außerdem ein paar Ohrstöpsel gebrauchen, falls Sie welche haben. Zum Schlafen.«

273

Während zehn der vierundzwanzig Stunden wurde es in der Grotte dunkel. Cielle hatte erklärt, das mache man nur für die Menschen, damit sie etwas Ähnliches wie ihren normalen Ta-gesrhythmus beibehalten konnten. Die Menschen brauchten den Wechsel zwischen Tag und Nacht – ohne diesen konnten viele nicht schlafen. Das Problem war nur, dass die Walbengel nie schliefen. Sie ruhten, aber sie schliefen nicht. Wenn es also in der Grotte dunkel wurde, machten sie einfach weiter. Allerdings gaben sie in der Dunkelheit ständig dieses Sonarklicken von sich. Bei Nacht hörte sich die Grotte an, als würde eine Armee von Stepptänzern aufmarschieren.

Nuñez nickte. »Das lässt sich vermutlich arrangieren. Möchten Sie jetzt einen schönen, heißen Becher Seeotter?«

»Was?«

»Kleiner Scherz. Nehmen Sie’s leicht, Nate.«

»Ich will nach Hause.« Er hatte es gesagt, bevor es ihm überhaupt bewusst war.

»Das wird nicht gehen. Aber ich gebe es weiter. Ich denke, es wird Zeit, dass Sie den Colonel kennen lernen.«

Sie verbrachten den Tag damit, durch die Läden zu ziehen.

Nate fand ein Paar Leinenhosen, die ihm passten, Strümpfe und Unterwäsche und einen Stapel T-Shirts in einem winzigen Laden. So etwas wie Geld schien nicht nötig zu sein. Nuñez nickte dem Händler nur zu, und Nate nahm, was er brauchte. Es gab kaum Auswahl in den Läden, und das meiste, was dort angeboten wurde, stammte aus der realen Welt: Kleidung, Stoffe, Bücher, Rasierklingen, Schuhe und kleinere Elektrogeräte. Aber einige Läden führten Dinge, die in Gooville angebaut oder gefertigt worden waren: Zahnbürsten, Seifen, Lotionen. Die Verpackung schien aus dem sechzehnten Jahrhundert zu stammen – die Händler wickelten Pakete in dieses allgegenwärtige Öltuch, das leicht nach Tang roch, und tatsächlich war es von der gleichen olivgrünen Farbe wie der Riesentang. Kunden 274

brachten ihre eigenen Krüge für Öl, Essig und andere Flüssig-keiten mit. Nate hatte alles gesehen, von einem modernen Mayonnaise-Glas bis zu Töpferwaren, die mindestens hundert Jahre alt sein mussten.

»Wie lange, Cielle?«, fragte er, während er einem Händler zusah, der gezuckerte Datteln in einen mundgeblasenen Glas-krug zählte und diesen mit Wachs versiegelte. »Wie lange gibt es hier unten schon Menschen?«

Sie folgte seinem Blick zu dem gläsernen Krug. »Wir bekommen viele Kostbarkeiten aus versunkenen Schiffen, also lassen Sie sich nicht davon beeindrucken, wenn Sie Antiquitäten sehen.

Das Meer ist ein guter Konservator. Möglicherweise haben wir es erst vor einer Woche geborgen. Eine Freundin von mir bewahrt Kartoffeln in einer zweitausend Jahre alten, griechischen Amphore auf.«

»Ja, und ich sammle mein Kleingeld im Heiligen Gral. Wie lange?«

»Sie sind heute so feindselig. Ich weiß nicht, wie lange, Nate.

Lange eben.«

Er hatte Dutzende, Hunderte weiterer Fragen, zum Beispiel, woher sie die Kartoffeln hatten, wenn es doch kein Sonnenlicht gab, um etwas anzubauen. Aus versunkenen Schiffen holten sie die Kartoffeln jedenfalls nicht. Aber Cielle ließ es gar nicht so weit kommen und stellte sich ahnungslos.

Sie aßen in einem winzigen Lokal zu Mittag, das eine umwer-fende Irin mit atemberaubend grünen Augen und einem mächtigen Schwall roter Haare betrieb, die – wie anscheinend alle hier

– Cielle kannte und wusste, wer Nate war.

»Haben Sie denn schon einen Walkman, Dr. Quinn? Diese Walbengel lassen einen mit ihren Sonaren nachts glatt zum Trinker werden.«

»Wir besorgen ihm heute ein paar Ohrstöpsel, Brennan«, sagte Cielle.

275

»Musik … damit kriegt man das Walbengel-Gepfeife weg«, sagte die Frau und verschwand in der Küche. An den Wänden des Bistros hing eine Sammlung antiker Biertabletts, befestigt –

wie Nate in Erfahrung gebracht hatte – mit einem Klebstoff, der dem Sekret ähnelte, mit dem sich Seepocken an Schiffen festhielten. Etwas anzunageln, war nicht gern gesehen, da die Wände bei Verletzung eine Weile bluteten.

Nate nahm einen Bissen von seinem Sandwich – Fleischklöße mit Mozzarella auf gutem, knusprigem Baguette.

»Wie?«, fragte er Cielle und pustete dabei Krümel auf den Tresen. »Wie wird das ganze Zeug gemacht, wenn es kein Feuer gibt?«

Cielle zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. In einer Bäckerei vermutlich. Die Speisen werden außerhalb der Grotte zubereitet. Dort bin ich nie gewesen.«

»Sie wissen nicht, wie? Wie ist das möglich?«

Cielle Nuñez legte ihr Sandwich beiseite, stützte sich auf einen Ellbogen und lächelte Nate an. Sie hatte bemerkenswert gütige Augen, und Nate musste sich in Erinnerung rufen, dass sie den Auftrag hatte, sich mit ihm anzufreunden. Interessant, dachte er, dass sie dafür eine Frau ausgesucht haben. War sie ein Köder?

»Haben Sie je Ein Yankee am Hofe des Königs Artus gelesen, Nate?«

»Natürlich. Wie alle.«

»Dieser Mann geht aus dem späten neunzehnten Jahrhundert nach Camelot und versetzt alle mit seinem wissenschaftlichen Wissen in Erstaunen, vor allem, weil er Schießpulver herstellen kann, stimmt’s?«

»Ja, und?«

»Sie sind Wissenschaftler, also halten Sie sich vielleicht besser als die meisten, aber nehmen Sie einen Durchschnittsbürger, zum Beispiel: jemanden, der in einem Supermarkt arbeitet.

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Setzen Sie ihn ins zwölfte Jahrhundert … Wissen Sie, was ihn dort ereilen wird?«

»Was wollen Sie mir sagen?«

»Tod durch bakterielle Infektion, höchstwahrscheinlich. Und die letzten Worte, die ihm über die Lippen kommen, dürften sein: ›Es gibt etwas, das nennt sich Antibiotikum, wirklich wahr.‹ Was ich sagen will, ist: Ich weiß nicht, wie dieses Zeug gemacht wird, weil ich es noch nicht wissen musste. Niemand weiß, wie all die Sachen gemacht werden, die man so benutzt.

Ich denke, ich könnte es rausfinden und es Sie wissen lassen, aber ich versichere Ihnen, dass ich Sie nicht einfach hinhalte, um geheimnisvoll zu erscheinen. Wir machen mit den Walschiffen viele Bergungen, und es gibt ein Netzwerk, das bis in die reale Welt reicht und uns viele unserer alltäglichen Dinge besorgt. Wenn ein Frachter palettenweise Waren für die Bewohner einer abgelegenen Pazifikinsel entlädt, wissen die Leute an Bord nur, dass sie bezahlt wurden und ans Ufer geliefert haben.

Sie warten nicht ab, wer die Waren holt. Die Alten sagen, früher hätte das Goo für alles gesorgt. Es kam nichts von draußen herein, was sie nicht bei sich gehabt hatten, als sie herkamen.«

Nate biss von seinem Sandwich ab und nickte, als würde er da-rüber nachdenken, was sie eben gesagt hatte. Seit er in Gooville angekommen war, hatte er jeden wachen Augenblick über zwei Dinge nachgegrübelt: erstens, wie das alles funktionieren konnte, und zweitens, ob es einen Fluchtweg gab. Von irgendwoher musste das Goo seine Energie bekommen. Allein schon für die Beleuchtung der großen Grotte wären viele Millionen Kalorien nötig. Falls die Energie von draußen kam, wäre es vielleicht möglich, auf diesem Weg auch zu entkommen.

»Und müssen Sie es füttern? Das Goo?«

»Nein.«

»Na, dann –«

277

»Keine Ahnung, Nate. Ich weiß es einfach nicht. Wie funktioniert eine chemische Reinigung?«

»Na, wahrscheinlich werden da Lösungsmittel verwendet, die, mh … Hören Sie, Biologen haben nicht viel Zeug, das chemisch gereinigt werden muss. Ich bin mir sicher, dass es nicht besonders kompliziert ist.«

»Tja, das Gleiche könnte ich in Bezug auf das Goo sagen.«

Cielle stand auf und sammelte ihre Pakete ein. »Gehen wir, Nate. Ich bringe Sie zu Ihrer Wohnung. Dann mache ich mich auf den Weg zur Höhle der Walbengel und kümmere mich darum, dass der Colonel Sie empfängt. Und zwar noch heute.«

Nate hatte noch zwei Bissen von seinem Sandwich übrig.

»Hey, ich hab noch zwei Bissen von meinem Sandwich übrig«, sagte er.

»Tatsächlich? Und haben Sie sich gefragt, woher wir in Gooville Fleischklöße bekommen? Was für Fleisch könnte da wohl drin sein?«

Nate ließ sein Sandwich fallen.

»Wir sind wohl ein bisschen heikel, was?«, sagte Brennan, als sie aus der Küche kam, um die Teller abzuräumen.

Nate las gerade einen miesen Gerichtsroman, den er in der kleinen Bibliothek seiner Wohnung gefunden hatte, als ihn die Walbengel holten. Sie kamen zu dritt, zwei große Bullen mit der Färbung von Killerwalen und ein kleineres, blaues Weibchen.

Erst als die Blaue mit der Stimme einer zermalmten Elfe »Hi, Nate« quiekte, erkannte er Emily 7 wieder.

»Wow, hi, Emily. Ist ›Emily‹ okay, oder sollte ich lieber

›Sieben‹ dazu sagen?« Nate war hinterher immer so unbeholfen, selbst wenn es gar kein Hinterher gab, weil nichts gewesen war.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und wölbte ihr linkes Auge in seine Richtung.

278

»Okay«, sagte Nate und machte sich bereit. »Dann sollten wir wohl los. Habt ihr meinen Türknauf schon gesehen? Brandneu.

Rostfreier Stahl. Mir ist bewusst, dass er zu allem anderen nicht passt, aber, na ja, er gibt mir so ein Gefühl von Freiheit.« Klar, Nate. Es ist ein Türknauf, dachte er.

Sie gingen mit ihm am äußeren Rand der Grotte entlang und in einen der gigantischen Gänge, die aus der Grotte hinausführten.

Sie liefen eine halbe Stunde, folgten einem Labyrinth aus Gängen, die immer enger wurden, je weiter sie kamen, wobei die leuchtend rote Hummerpanzer-Oberfläche zu etwas verblasste, das wie Perlmutt aussah. Es leuchtete schwach, gerade so hell, dass sie sehen konnten, wohin sie gingen.

Schließlich wurde der Gang wieder breiter und führte in einen Raum, der wie eine Art ovales Amphitheater aussah, in dem alles wie Perlmutt schimmerte. Bänke säumten den Raum, allesamt mit Blick auf eine breite Rampe, die zu einem runden Portal – groß wie ein Garagentor – führte, verschlossen von einer Iris aus schwarzem Muschelkalk.

»Ooooooh, der große, mächtige Zauberer von Oz wird dich nun empfangen«, sagte Nate.

Die Walbengel, die normalerweise so ziemlich alles lustig fanden, wandten sich ab. Einer der beiden Schwarzweißen fing an, durch sein Blasloch ein leises Lied zu pfeifen. »In der Halle des Bergkönigs« oder einen Streisand-Song – irgendwas Grusliges, dachte Nate.

Emily 7 schlug dem Pfeifer mit dem Handrücken gegen die Brust, und er hörte abrupt auf. Dann legte sie Nate eine Hand auf die Schulter und bedeutete ihm, die Stufen zu dem runden Portal hinaufzugehen.

»Okay, das war’s dann wohl.« Nate machte sich rückwärts auf den Weg die Rampe hinauf, während die Walbengel langsam von ihm abrückten. »Ihr lasst mich hier besser nicht allein. Den Weg finde ich nie zurück.«

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Emily 7 setzte ihr liebreizendes Hack-einen-Lachs-in-zweiHälften-Lächeln auf und winkte ihn weiter.

»Danke, Em. Du siehst toll aus, weißt du. Hatte ich das schon gesagt? So glänzend. « Er hoffte, dass glänzend gut war.

Die Iris hinter ihm öffnete sich. Die Walbengel fielen auf die Knie und berührten mit ihren Unterkiefern den Boden. Nate drehte sich um und sah, dass die Perlmuttrampe in einen leuchtend roten Raum führte, der vor Licht pulsierte und feucht schimmerte, während die Wände zu atmen schienen. Also, das sah wie ein Lebewesen aus – das Innere eines Lebewesens. So hatte er es sich eigentlich vorgestellt, als er vom Wal gefressen worden war. Er ging hinein. Nach ein paar Schritten verschmolz die Rampe mit dem rötlichen Fleisch, von dem Nate nun sehen konnte, dass es mit Adern und etwas, bei dem es sich um Nerven handeln mochte, durchzogen war. Die Größe des Raumes konnte er nicht ausmachen. Dieser schien sich zu erweitern, um ihn zu empfangen, und hinter ihm zusammenzuziehen, als bewegte sich Nate in einer großen Blase. Als die Iris im rosigen Goo verschwand, spürte Nate, wie Panik in ihm aufkam. Er holte tief Luft – satte, feuchte Luft –, und seltsamerweise erinnerte er sich daran, was ihm Poynter und Poe im Buckelwalschiff erklärt hatten: Es ist einfacher, wenn man akzeptiert, dass man tot ist. Er atmete noch mal tief ein und schob sich ein paar Schritte vorwärts, dann blieb er stehen.

»Ich fühl mich hier drinnen wie ein verdammtes Spermium!«, schrie er. Scheiß drauf, er war ja sowieso schon tot. »Ich soll mich mit dem Colonel treffen.«

Bei dem Stichwort begann sich das Goo vor ihm zu öffnen, was aussah, als säße man im Innern einer sich entfaltenden Blü-

te. Helleres Licht beleuchtete den Raum, der nun gerade groß genug war, um Nate, eine zweite Person und etwa drei Meter Konversationsabstand zu beherbergen. In einer gewaltigen Masse aus rosafarbenem Goo, bekleidet mit einem Tropenanzug und 280

mit einer Baseballkappe der San Francisco Giants auf dem Kopf, hatte es sich der Colonel bequem gemacht.

»Nathan Quinn! Schön, Sie zu sehen! Ist lange her«, sagte er.

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Gespräche unter Toten

Nate hatte seinen alten Lehrer Gerard »Growl« Ryder vierzehn Jahre nicht zu Gesicht bekommen, aber abgesehen davon, dass er sehr blass war, sah der Biologe ganz genauso aus, wie Nate ihn in Erinnerung hatte: klein und kräftig, mit einem spitzen Kinn, und dazu langes, graues Haar, das stets drohte, ihm vor seine hellgrünen Augen zu fallen.

»Sie sind der Colonel?«, fragte Nate. Ryder war vor zwölf Jahren verschwunden. Verschollen bei den Aleuten.

»Ich habe eine Weile mit dem Titel herumgespielt. Ungefähr eine Woche war ich ›Menschenfleisch, der Mächtige‹, aber ich fand, das klang, als hätte ich etwas zu kompensieren, also habe ich etwas Militärisches gesucht. Es gab ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Käpt’n Nemo aus Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer und Colonel Kurtz aus Herz der Finsternis. Schließ-

lich habe ich mich einfach zum ›Colonel‹ durchgerungen. Es klingt bedrohlicher.«

»Das tut es.« Wieder einmal kam die Wirklichkeit für Nate in eine kontextuelle Schräglage, und er gab sich alle Mühe, nicht abzurutschen. Dieser einstmals großartige, großartige Mann saß nun in einem Haufen Goo und sprach davon, wie er sein megalomanisches Pseudonym gewählt hatte.

»Tut mir Leid, dass Sie so lange warten mussten, bis ich Sie holen ließ. Aber da Sie nun hier stehen: Wie fühlt man sich in Gegenwart Gottes?«

»Bei allem Respekt, Sir, Sie haben sie doch nicht mehr alle.«

282

»Das ist irgendwie nicht richtig«, flüsterte Clay Libby Quinn ins Ohr. »Wir sollten keine Beerdigung abhalten, wenn Nate noch lebt.«

»Es ist keine Beerdigung«, sagte Libby. »Es ist ein Gottesdienst.«

Alle waren in die Schutzstation gekommen. In der ersten Reihe: Clay, Libby, Margaret, Kona, Clair und die Komische Alte. Weiter hinten: Cliff Hyland und Tarwater mit ihrem Team, der Graf und seine wissenschaftlichen Handlanger, Jon Thomas Fuller und sämtliche Bootsbesatzungen der Hawaii Whale Inc., die sich aus etwa dreißig Leuten zusammensetzten. Ganz hinten: Walpolizisten, Barkeeper und zwei Kellnerinnen aus dem Longee’s. Vom Hafen: Hausbootbesitzer und Charterkapitäne, der Hafenmeister, leichte Mädchen und Tauchlehrer, Deckshelfer und einer, der auf dem Tankanleger hinterm Kaffeetresen stand.

Darüber hinaus Forscher von der University of Hawaii und –

was seltsam genug war – zwei Schwarzkorallentaucher. Die Deckenventilatoren mischten ihre Gerüche in der abendlichen Brise. Clay hatte den Gottesdienst für den Abend angesetzt, damit die Forscher keinen Arbeitstag verloren.

»Trotzdem«, sagte Clay.

»Er war ein Löwe«, sagte Kona, und eine Träne schimmerte in seinem Auge. »Ein mächtiger Löwe.« Es war das größte Kompliment, das ein Rastafari einem Menschen machen konnte.

»Er ist nicht tot«, sagte Clay. »Das weißt du doch, du Depp.«

»Trotzdem«, sagte Kona.

Es war eine hawaiianische Bestattung, zu der jedermann in Flipflops und Shorts kam, aber die Männer hatten ihre besten Aloha-Hemden angezogen, die Frauen ihre buntesten Kleider, und viele hatten Blumengirlanden mitgebracht und über die Kränze vorn im Raum drapiert, die Nathan Quinn und Amy Earhart darstellen sollten. Ein Priester von der Unity Church sprach zehn Minuten über Gott und Meer, Wissenschaft und Hingabe, 283

und dann machte er den Platz frei für alle, die noch was sagen wollten. Es folgte eine lange Pause, bis die Komische Alte zum Podium wankte, in einem weiten Muumuu, auf dem ein lächelnder Wal abgebildet war. In ihrem Haar schimmerte ein Dutzend weißer Orchideen.

»Nathan Quinn lebt weiter«, sagte sie.

»Gebt ihr ein Amen!«, rief Kona. Clair riss an seinen letzten Dreadlocks.

Die Biologen und Studenten sahen sich an, mit großen Augen, verdutzt, als fragten sie sich, ob jemand ein Amen dabeihatte, auf das er verzichten konnte. Niemand hatte ihnen gesagt, dass sie ein Amen brauchen würden, sonst hätte sie bestimmt eins eingepackt. Die Hafenleute und Bürger von Lahaina waren durch die Wissenschaftler eingeschüchtert, und sie hatten nicht die Absicht, in Gegenwart so vieler Schlauberger ein Amen wegzugeben, nie im Leben. Den Walbullen missfiel der Umstand, dass Kona nicht im Gefängnis saß – einen Dreck würden sie ihm geben, von einem Amen ganz zu schweigen. Schließlich seufzte einer der Schwarzkorallentaucher, der am Abend zuvor den perfekten Trauercocktail entdeckt hatte (eine Pille Ecstasy, ein Joint und eine Flasche Whisky), sein kraftloses »Amen«

über die Trauernden hinweg, wie ein verschlafener Kuss, früh-morgens, wenn man aus dem Mund stinkt.

»Und ich weiß«, fuhr die Komische Alte fort, »wenn er nicht so stur gewesen wäre und diesem Sänger im Kanal ein Pastrami-Sandwich mit dunklem Brot mitgebracht hätte, wäre er heute noch unter uns.«

»Aber wenn er hier unter uns wäre –«, flüsterte Clair.

»Schschscht«, schschschte Margaret Painborne.

»Wag nicht, mir den Mund zu verbieten, sonst kannst du dich schon mal für ein neues Gebiss anmelden.«

»Bitte, Schatz«, sagte Clay.

284

Die Komische Alte faselte etwas davon, sie habe in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren jeden Tag mit den Walen gesprochen. Sie kannte Nate und Clay schon, seit die beiden das erste Mal auf die Insel gekommen waren, und erinnerte sich, wie jung und dumm sie damals gewesen seien, und wie sehr sich das verändert hatte, denn jetzt seien sie nicht mehr jung. Sie sprach davon, was für ein tiefgründiger und vernünftiger Mann Nate sei, der – wenn er nicht so zerstreut gewesen wäre – vielleicht eine anständige Frau gefunden hätte, die ihn liebte, und dass sie nicht wisse, wo er sei, aber wenn er seinen Hintern nicht bald nach Maui schaffte, wollte sie ihm denselben versohlen. Und dann setzte sie sich in ohrenbetäubender Stille, und alle starrten Clay an, der konzentriert den Deckenventilator musterte.

Nach einer langen, beklemmenden Minute, in der es ein paar Mal schien, als wollte der Priester den Gottesdienst beenden, stand Gilbert Box auf, der Graf. Ausnahmsweise trug er keinen Hut, dafür aber seine große Sonnenbrille, und ohne den mächtigen Hut verlieh die Brille seiner eckigen Erscheinung etwas In-sektenhaftes – eine besonders blasse Gottesanbeterin in Khakis.

Er richtete das Mikrofon ein, räusperte sich mit großer Geste und sagte: »Ich habe Nathan Quinn nie gemocht …« Und alle warteten auf das »aber«, aber es kam nicht. Gilbert Box nickte der Menge zu und setzte sich wieder hin. Gilberts Wiesel applaudierten.

Als Nächstes meldete sich Cliff Hyland zu Wort, sprach zehn Minuten davon, was für ein großartiger Mensch und wunderbarer Forscher Nate gewesen sei. Dann ging tatsächlich Libby nach vorn und sprach ausgiebig darüber, wie kanadisch Nate gewesen sei und wie er einmal das Große Wappen von British Columbia gegen alle anderen Provinzwappen verteidigt habe, weil es einen Elch und einen Widder zeigte, die eine Wasser-pfeife rauchten, was von Gemeinschaftsgeist und Toleranz zeuge, während Ontarios Wappen einen Elch und einen Wapiti-hirsch zeigte, die versuchten, einen Bären zu fressen, und das 285

von Saskatchewan zeigte einen Elch und einen Löwen, die Feuer unter einem Fonduetopf machen wollten (wobei beide unübersehbar die allen Kanadiern angeborene Angst vor Elchen ausschlachteten), und auf dem Wappen von Quebec war eine Frau in einer Toga dargestellt, die einem Löwen ihre Brust zeigte, was einfach nur scheißfranzösisch sei. Er hatte sämtliche Provinzen und deren Wappen aufgezählt, aber an die anderen konnte sich Libby nicht mehr erinnern. Dann schniefte Libby und setzte sich hin.

»Was anderes ist dir nicht eingefallen?«, zischte Clay. »Nach wie vielen Ehejahren? Fünf?«

Libby flüsterte ihm ins Ohr: »Ich musste etwas finden, was für Margaret nicht bedrohlich ist. Aber du reißt dich ja auch nicht gerade darum, aufs Podium zu steigen.«

»Ich werde nichts über meinen toten Freund sagen, solange ich nicht sicher sein kann, dass er tot ist.«

Und bevor sie sich’s versahen, stand Jon Thomas Fuller auf dem Podium und dankte Nate für die Unterstützung seines neuen Projektes, dann erklärte er, wie dankbar er sei, dass die Gemeinschaft der Walforscher hinter seiner neuen »Delfin-Begegnungsstätte« stehe, was für die anwesenden Walforscher eine echte Neuigkeit war. Während der kurzen Ansprache hielt Clair Clays Nacken im Griff, scheinbar in tröstender Umarmung

– aber in Wahrheit aber war es ein Würgegriff, den sie von den Cops im Fernsehen gelernt hatte. »Baby, wenn du versuchst, auf ihn loszugehen, liegst du in drei Sekunden ohnmächtig am Boden. Es wäre respektlos – dem Gedenken an Nate gegenüber.«

Aber ihr Bemühen ließ Kona auf der anderen Seite unbeachtet, und der brachte es fertig, ein »Bullshit« zu husten, als Jon Thomas sich wieder hinsetzte.

Als Nächstes stand eine Doktorandin auf, die für Cliff Hyland arbeitete, und sprach davon, wie sehr Nates Arbeit sie dazu inspiriert habe, sich der Forschung zu widmen. Dann sprach 286

jemand von der Hawaiianischen Naturschutzbehörde darüber, dass Nate stets an vorderster Front für den Schutz der Buckelwale gekämpft habe. Dann sagte der Hafenmeister, Nate sei ein fähiger und verantwortungsvoller Bootsführer gewesen. Alles in allem verging eine Stunde, und als deutlich wurde, dass keiner mehr aufstehen würde, machte sich der Priester auf den Weg zum Podium, doch Kona kam ihm zuvor. Er war Claires

stählernem Griff entkommen und stolzierte nach vorn.

»Wie das alte Tantchen sagt: Nathan lebt weiter. Leider hat keiner hier was vom Sahneschnittchen gesagt, die – Jah sei ihr gnädig – in diesem Augenblick im weiten Meer die Fische füttert.« (Schnief.) »Ich kannte sie nur kurz, aber ich glaube, ich spreche für uns alle, wenn ich sage, dass ich sie immer gern mal nackt sehen wollte. Echt, Mann. Wenn ich nur daran denke, an ihren festen, runden –«

»– dann wird sie uns sehr fehlen«, sagte Clay und beendete den Satz des Möchtegern-Hawaiianers. Er hielt Kona den Mund zu und zerrte ihn zur Tür. »Sie war ein schlaues Mädchen.« In diesem Moment erklomm der Priester das Podium, dankte allen, dass sie gekommen waren, und erklärte mit einem Gebet, die letzte Ehre sei somit erwiesen. Amen.

»Tja, geistige Gesundheit kann ein Problem darstellen«, sagte Growl Ryder. »Gottes Gewissen zu sein, ist ein harter Job.«

Nate sah sich um, und das Goo wich um sie herum zurück, als folgte es seinem Blick, bis die Kammer einen Durchmesser von gut fünf Metern hatte – eine Blase. Es ist, als würde man in einer Harnblase zelten, dachte Nate.

»Besser so?«, fragte Ryder.

Nate erkannte, dass der Colonel die Form des Raums beein-flussen konnte.

»Ein Sitzgelegenheit wäre nett.«

287

Das Goo hinter Nate formte sich zu einer Chaiselounge. Nate berührte sie nur zögerlich, erwartete schleimige Fäden an seiner Hand, aber obwohl das Goo glänzte, als wäre es feucht, fühlte sich der Sitz doch trocken an. Warm und eklig, aber trocken. Er setzte sich darauf.

»Alle denken, Sie sind tot«, sagte Nate.

»Danke gleichfalls.«

Nate hatte noch nicht viel darüber nachgedacht, aber natürlich hatte der Colonel damit Recht. Sicher hatte man ihn längst für tot erklärt.

»Waren Sie schon die ganze Zeit hier, seit sie damals verschwunden sind, vor wie vielen Jahren – zwanzig?«

»Ja. Man hat mich mit einem umgebauten Nordkaper geholt.

Er hat mein Schlauchboot und meine Ausrüstung aufgefressen.

Mit einem Blauwal haben sie mich dann hergebracht. Ich bin auf der Reise völlig durchgedreht. Konnte das alles nicht in meinen Kopf kriegen. Fast den ganzen Weg hierher war ich ange-schnallt. Das hat sicher nicht geholfen.« Ryder zuckte mit den Schultern. »Es ging mir besser, nachdem ich akzeptiert hatte, wie es hier unten läuft. Ich habe verstanden, wieso sie mich geholt haben.«

»Und zwar …?«

»Aus demselben Grund, aus dem man auch Sie geholt hat. Ich stand kurz davor, mir aus den Signalen in den verschiedenen Walrufen ihre Existenz zusammenzureimen. Man hat uns beide geholt, um die Walschiffe und schlussendlich auch das Goo zu beschützen. Wir sollten dankbar sein, dass man uns nicht einfach getötet hat.«

Darüber hatte Nate schon nachgedacht. Wozu der Aufwand?

»Okay, und wieso hat man es nicht einfach getan?«

»Nun, sie haben mich lebend geholt, weil das Goo und die Leute hier wissen wollten, was ich wusste und wie ich darauf 288

gekommen war, etwas hinter den Walrufen zu vermuten. Und Sie hat man lebend geholt, weil ich es befohlen habe.«

»Warum?«

»Was meinen Sie damit? ›Warum‹? Weil wir Kollegen waren, weil ich Ihr Lehrer war, weil Sie klug und intuitiv sind und ich Sie mochte und ich ein netter Kerl bin. ›Warum‹? Leck mich am Arsch … ›Warum‹?«

»Growl, Sie leben hier in einer Schleimhöhle und wahren eine Identität als mysteriöser Herrscher über eine Unterwasserstadt, Sie haben das Kommando über eine Flotte fleischlicher Kriegs-schiffe mit Mannschaften aus Walmenschen, und momentan liegen Sie auf einer pulsierenden Masse aus gallertartigem Goo, das aussieht, als stamme es aus dem Wackelpeter der Hölle …

also entschuldigen Sie bitte vielmals, wenn ich Zweifel an Ihren Motiven hege.«

»Okay. Das ist ein Argument. Kann ich Ihnen was zu trinken anzubieten?«

Wie viele Wissenschaftler, die Nate kannte, hatte Ryder geredet und geredet, bis er mittendrin merkte, dass er gewisse zwi-schenmenschliche Umgangsformen, die zivilisierte Menschen pflegten, schlicht vergessen hatte, doch in diesem Augenblick lag er vollkommen neben der Spur. »Nein, ich will nichts trinken. Ich will wissen, wie das alles so gekommen ist. Was ist das für Zeug? Sie sind Biologe, Ryder, es muss Sie doch neugierig gemacht haben.«

»Und ich bin es immer noch. Aber ich weiß nur, dass alles in Gooville aus diesem Zeug besteht, alles was Sie hier sehen, die Gebäude, die Gänge, der Großteil der Maschinen, beispielsweise der Biomaschinerie – das alles ist das Goo. Ein gigantischer, alles umfassender Organismus. Er kann sich in fast jeden anderen Organismus auf der Erde verwandeln und neue Organismen bilden, wenn die Notwendigkeit besteht. Das Goo hat die Walschiffe und die Walbengel erschaffen. Und jetzt kommt der 289

Knaller, Nate: Es hat dafür keine dreißig Millionen Jahre gebraucht. Die gesamte Spezies ist nicht älter als dreihundert Jahre.«

»Das ist unmöglich«, sagte Nate. Es gab gewisse Dinge, die man akzeptierte, wenn man Biologe werden wollte, zum Beispiel, dass komplexes Leben durch einen Evolutionsprozess in Form natürlicher Auslese entstanden war, dass man eine neue Spezies bekam, weil die Gene, die für das Überleben in einer bestimmten Umgebung günstig waren, innerhalb dieser Spezies reproduziert, ausgewählt und weitergegeben wurden, ein Prozess, der oft Jahrmillionen dauerte. Man gab keine Bestellung auf, um sich seine neue Spezies am Ausgabeschalter abzuholen.

Es gab keinen kosmischen Chefkoch, es gab keinen Uhrmacher, es gab keinen Schöpfer. Es gab nur Entwicklung und Zeit.

»Woher wollen Sie das denn überhaupt wissen?«

»Vieles weiß ich einfach, weil ich mit dem Goo in Kontakt stehe, aber ich liege selten daneben. Vielleicht war es noch weniger Zeit – zweihundert Jahre.«

»Zweihundert Jahre? Die Walbengel sind definitiv intelligentes Leben, und ich weiß nicht, was diese Walschiffe eigentlich sind, aber auch die leben zweifelsohne. Derart komplexe Ent-wicklungen geschehen niemals in so kurzer Zeit.«

»Nein, ich würde sagen, das Goo ist vermutlich schon etwa dreieinhalb Milliarden Jahre hier. Die Felsen dieser Höhlen ge-hören zu den ältesten der Welt. Ich sage nur, dass die Walbengel und die Schiffe neu sind. Die sind erst ein paar hundert Jahre alt, denn seit damals braucht das Goo sie.«

»Das Goo brauchte sie, und deshalb hat es sie erschaffen, damit sie ihm dienen? Als hätte es einen Willen?«

»Es hat tatsächlich einen Willen. Es hat ein Bewusstsein, und es weiß eine Menge. Tatsächlich möchte ich behaupten, dass das Goo eine Fundgrube für alles biologische Wissen auf dem Planeten darstellt. Dieses Goo, Nate … dieses Goo ist Gott 290

näher als alles, was wir sonst je zu sehen bekommen. Es ist die perfekte Suppe.«

»So was wie die Ursuppe?«

»Ganz genau. Vor vier Milliarden Jahren haben sich ein paar große, organische Moleküle zusammengetan, wahrscheinlich um eine geothermische Quelle in der Tiefsee herum, und sie haben gelernt, sich zu teilen, sich zu reproduzieren. Da die Reproduktion das Spiel des Lebens ist, haben sie sehr schnell – vermutlich nach kaum hundert Millionen Jahren – den gesamten Planeten überzogen. Große, organische Moleküle, die heute nicht mehr existieren könnten, weil Millionen Bakterien sie fressen würden, aber damals gab es noch keine Bakterien. Es gab eine Zeit, in der die gesamte Meeresoberfläche von einem einzigen Lebewesen bevölkert war, das gelernt hatte, sich selbst zu reproduzieren. Es stimmt: Als die Replikatoren den unterschiedlichen Be-dingungen ausgesetzt waren, mutierten sie, entwickelten sich zu neuen Spezies, ernährten sich voneinander, manche kolonisier-ten sich gegenseitig und verwandelten sich in komplexe Tiere, aber ein Teil dieses Urtieres zog sich in seine ursprüngliche Nische zurück. Mittlerweile wurden chemische Informationen ausgetauscht – erst durch RNS, dann durch DNS –, und als sich die einzelnen Spezies entwickelten, trugen sie sämtliche Informationen für die Erschaffung der nächsten Spezies weiter, und diese Information reicht auch bis zum Urtier zurück. Aber es hatte seine sichere Nische, holte seine Energie aus der Erdwär-me, im Schutz von Fels und Tiefsee. Es nahm alle Informationen von den Tieren auf, mit denen es in Kontakt kam, aber es veränderte sich nur, um sich schützen und reproduzieren zu können. Während Millionen und Abermillionen Spezies im Meer lebten und starben, entwickelte sich dieses Urtier nur sehr langsam und lernte und lernte. Überlegen Sie mal, Nate: In den Zellen Ihres Körpers findet sich nicht nur der Plan für alle Lebewesen auf der Erde, sondern für alles, was je gelebt hat.

Achtundneunzig Prozent Ihrer DNS sind nur Trittbrettfahrer, 291

glückliche, kleine Gene, die schlau genug waren, sich anderen, erfolgreichen Genen anzuschließen, wie eine Geldheirat, wenn man so will. Aber das Goo – es besitzt nicht nur alle diese Gene, es kann sie auch an- und abstellen. Dieser Platz, auf dem Sie sitzen, könnte ohne weiteres drei Milliarden Jahre alt sein.«

Plötzlich empfand Nate etwas, das er bisher nur gekannt hatte, wenn er mit seinem Laken um den Kopf in irgendeinem Hotel aufgewacht war: eine tiefe, ernste, von Widerwillen getriebene Hoffnung, dass dieser Platz in der ganzen Zeit irgendwann mal von seinem abgestoßenen Genmaterial gereinigt worden war. Er stand auf, nur zur Sicherheit. »Woher wollen Sie das alles wissen, Growl? Es widerspricht allem, was wir über die Evolution wissen.«

»Nein, tut es nicht. Es passt genau. Ja, ein komplexer Vorgang wie das Leben kann sich entwickeln, wenn man ihm genügend Zeit lässt, aber wir wissen auch, dass ein Tier, das perfekt in seine Nische passt, nicht zur Veränderung gezwungen wird.

Haie sind im Grunde seit hundert Millionen Jahren unverändert geblieben, der Nautilus fünfhundert Millionen Jahre. Na ja, Sie sehen hier das Tier, das seine Nische zuerst gefunden hat. Das erste Lebewesen, der Ursprung, der Quell.«

Nate schüttelte den Kopf, als ihm die Dimension all dessen bewusst wurde. »Möglicherweise sind Sie in der Lage, die evolutionäre Entwicklung aufzuzeigen, aber das erklärt keineswegs Bewusstsein, analytisches Denken, Prozesse, für die ein komplizierter Mechanismus nötig ist. Einer derartigen Komplexität ist man mit großen, flauschigen Molekülen nicht gewachsen.«

»Die Moleküle haben sich verändert, aber sie erinnern sich.

Das Goo ist eine komplexe, wenn auch amorphe Lebensform. Es gibt dafür keine Analogien. Alles und nichts ist Vorbild dafür.«

Nate trat einen Schritt vom Colonel zurück, und das Goo zuckte und machte ihm Platz. Die Bewegung rief ein kurzes Schwin-delgefühl hervor, und er verlor das Gleichgewicht. Das Goo fing 292

ihn auf. Die Oberfläche wölbte sich gegen seine Schulter und hielt ihn auf den Beinen. Abrupt fuhr Nate herum. Das Goo zog sich zurück.

»Gott im Himmel! Das ist gespenstisch!«

»Da haben Sie es, Nate. Bewusstsein. Sie würden staunen, was das Goo alles weiß – und was es uns zu erzählen hat. Hier kann man sein Leben verbringen, Nate. Sie werden Dinge sehen, die Sie sonst nie zu sehen bekämen, und Dinge tun, die Sie sonst nie tun könnten. Und außerdem könnten Sie mir helfen, das größte biologische Rätsel in der Geschichte unserer Welt zu lösen.«

»Ich glaube, nachdem Sie das gesagt haben, sollten Sie in manisches Gelächter ausbrechen, Colonel.«

»Wenn Sie mir helfen, gebe ich Ihnen, was Sie immer haben wollten.«

»Im Gegensatz zu dem, was Sie glauben, will ich nur nach Hause.«

»Dazu wird es nicht kommen, Nate. Niemals. Sie sind ein kluger Kopf, also werde ich Sie nicht damit beleidigen, so zu tun, als seien die Umstände anders, als sie sind. Sie werden diese Höhlen nie mehr lebend verlassen, also werden Sie eine Entscheidung treffen müssen, wie Sie Ihr Leben verbringen wollen.

Sie können hier alles haben, was Sie auch an der Erdoberfläche haben können, sogar viel mehr als das, aber Sie werden uns nicht verlassen.«

»Nun, in diesem Fall, Colonel, überreden Sie Ihren Riesen-schwabbel, Sie zu reproduzieren, dann können Sie sich selbst am Arsch lecken.«

»Ich weiß, was der Gesang der Wale bedeutet, Nate. Ich weiß, wozu er da ist.«

Nate fühlte sich, als hätte ihm seine eigene fixe Idee eins aufs Maul gehauen, aber er versuchte, sich den Treffer nicht anmerken zu lassen. »Ist jetzt gar nicht mehr so wichtig, oder?«

293

»Verstehe. Sie brauchen etwas Zeit, um sich an die Vorstellung zu gewöhnen, Nate, aber es besteht eine gewisse Dringlichkeit. Wir können nicht einfach warten und Daten sammeln – wir müssen etwas unternehmen. Ich brauche Ihre Hilfe. Wir werden bald erneut miteinander sprechen.«

Das Goo kam herab und schien den Colonel zu umschlingen.

Es hörte sich an, als würde jemand Papier zerreißen, und hinter Nate öffnete sich ein langer, rosafarbener Tunnel, der bis hinab zur Irispforte führte, durch die er hereingekommen war. Er warf einen letzten Blick über die Schulter, aber da war nur noch Goo.

Ryder war nicht mehr da.

In der Halle wurde Nate von den beiden großen Killerwalben-geln in Empfang genommen, die erst ihn ansahen und dann einander, um mit breitem, zahnreichem Grinsen loszukichern.

Emily 7 war nirgends zu sehen.

»Der hat sie doch nicht mehr alle«, sagte Nate.

Die Walbengel brachen in keuchendes Gegacker aus und krümmten sich vor Lachen, als sie Nate durch den Gang in die Grotte zurückführten. Da kann man sagen, was man will, dachte Nate. Das Goo hat diese Typen erschaffen, damit sie ihren Spaß haben.

Sobald Nate die Wohnung betreten hatte, wusste er, dass er nicht allein war. Da war so ein Geruch, und nicht nur der allgegenwärtige Geruch des Meeres, von dem die Grotte erfüllt war, sondern ein süßerer, künstlicher Duft. Eilig suchte er die Wohn-räume und das Badezimmer ab. Als sich die Tür zum Schlafzimmer öffnete, sah er Umrisse unter der Decke seines Doppel-betts. Die Biobeleuchtung im Schlafzimmer war nicht wie üblich angegangen. Nate seufzte. Die Gestalt unter der Decke hatte sich ganz am Rand des Bettes eingerollt, genau so, wie sie es auf dem Walschiff getan hatte.

»Emily 7, du bist eine liebenswerte – äh – Person, wirklich, aber ich bin …« Was war er? Er hatte keine Ahnung, was er 294

sagen wollte. Er musste sich erst besser selbst kennen lernen? Er brauchte Freiraum? Doch dann wurde ihm bewusst, dass diese Gestalt dort unter der Decke – wer immer es auch sein mochte –

zu klein war, als dass es sich um das verliebte Walmädchen handeln konnte. Nuñez, dachte er. Das würde noch schwieriger als mit Emily 7 werden. Nuñez war im Grunde sein einziger menschlicher Kontakt in Gooville, selbst wenn sie für das Goo arbeitete. Er wollte es sich nicht mit ihr verderben. Das konnte er sich nicht leisten. Er trat ins Schlafzimmer und versuchte, sich etwas einfallen zu lassen, was die Lage nicht noch schwieriger machte.

»Hör mal, ich weiß, wir haben viel Zeit miteinander verbracht, und ich mag dich, ich mag dich wirklich –«

»Gut«, sagte Amy und warf die Decke zurück. »Ich mag dich auch. Kommst du rein?«

295

30

Motherfluker

Clay und Kona hatten den Tag damit verbracht, den Dreck von der aus dem Hafenbecken gehobenen Always Confused zu schrubben.

Danach stand Clay auf der äußeren Hafenmauer von Lahaina und beobachtete, wie der rote Sonnenball im Pazifik versank und purpurnes Feuer über die Insel warf. Er hatte so ein seltsames Gefühl in der Magengrube, so eine Mischung aus Melancholie und Rastlosigkeit, als hätte er auf einer Totenwache für jemanden, den er gar nicht wirklich kannte, Kaffee mit Irish Whiskey getrunken. Ihm war, als müsste er etwas unternehmen, aber er wusste nicht, was. Er musste sich bewegen, aber er wusste nicht, wohin. Libby hatte bestätigt, dass die letzte verschlüsselte Nachricht, die Nate betraf, über eine Woche nach seinem Verschwinden aufgenommen worden war, und das

schien ihm ein weiterer Beweis dafür zu sein, dass Nate seine Tortur im Kanal überlebt haben musste. Aber wo war er? Wie beeilt man sich, jemanden zu retten, wenn man nicht weiß, wo er ist? Sämtliche Analysen der Bänder hatten seither nur noch simple Walrufe preisgegeben. Clay wusste nicht weiter.

»Was machst du?« Kona trat hinter ihn. Er war barfüßig und roch nach Putzmittel.

»Ich warte auf den grünen Blitz.« Tat er nicht wirklich, aber manchmal, wenn die Sonne hinter dem Horizont eintauchte, passierte es. Irgendwas musste doch passieren.

»Ja, hab ich auch schon mal gesehen. Wie kommt das?«

»Mh, also …« Das war noch so was – er hatte die Naturwis-senschaften einfach nicht genug im Griff, um dieses Walprojekt am Leben erhalten zu können. »Ich glaube, wenn die Sonne am 296

Horizont verschwindet, wird das restliche Lichtspektrum von der Mukosphäre reflektiert und ruft so den grünen Blitz hervor.«

»Klar, Mann. Die Mukosphäre.«

»Das nennt man Wissenschaft«, sagte Clay, wohlwissend, dass es keine Wissenschaft war.

»Wenn das Boot sauber ist, fahren wir raus, nehmen Wale mit dem Tonband auf und so?«

Gute Frage, dachte Clay. Er konnte die Daten sammeln, aber es mangelte ihm am nötigen Wissen, sie zu analysieren. Er hatte gehofft, das würde Amy übernehmen.

»Ich weiß nicht. Vielleicht finden wir ja Nate.«

»Dann meinst du, er lebt noch? Nach so langer Zeit?«

»Ja. Ich hoffe es. Ich denke, wir sollten die Arbeit weiterführen, bis wir ihn gefunden haben.«

»Yeah! Nate sagt, die Japaner töten unsere Zwerge, wenn du nicht hart arbeitest.«

»Die Zwergwale, ja. Ich war mal auf einem ihrer Schiffe. Die Norweger tun es auch.«

»Ekelhaft abscheulich Schweinerei, das.«

»Vielleicht. Die Zwergwalherde ist groß. Sie sind nicht ge-fährdet. Japaner und Norweger fangen nicht so viele, dass es der Population schaden könnte. Warum also sollten wir sie nicht jagen lassen? Ich meine, mit welchem Argument könnte man sie aufhalten? Dass Wale niedlich sind? Die Chinesen braten kleine Kätzchen – da protestieren wir auch nicht.«

»Die Chinesen braten Kätzchen?«

»Ich sage ja nicht, dass ich es toll finde, dass sie die Tiere töten, aber wir haben kein wirklich gutes Argument dagegen.«

»Die Chinesen braten Kätzchen?« Konas Stimme schraubte sich bedenklich in die Höhe.

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»Vielleicht kann manches von unserer Arbeit beweisen, dass diese Tiere eine Kultur haben, dass sie uns näher sind, als es den Anschein hat. Dann hätten wir ein Argument.«

»Kätzchen? So kuschelig kleine Miezekätzchen? Die braten sie einfach?«

Clay dachte nach, betrachtete den Sonnenuntergang und war traurig und frustriert, und die Worte kamen wie ein endlos langer Seufzer aus ihm hervor: »Allerdings habe ich auf dem Walfangschiff gesehen, wie die japanischen Walfänger die Tiere einschätzen. Für die sind es Fische. Nicht mehr oder weniger als ein Thunfisch. Aber ich habe eine Pottwalkuh mit ihrem Kalb fotografiert, und das Kalb wurde von der Herde getrennt. Die Mutter kam zurück, um das Kalb zu holen, und schob es weit weg von unserem Schlauchboot. Die Walfänger waren sichtlich bewegt. Sie haben das Mutter/Kind-Verhalten erkannt. So benehmen sich keine Fische. Also ist noch nichts verloren.«

»Kätzchen?« Kona seufzte und klang genauso niedergeschlagen wie Clay.

»Mh-hm«, sagte Clay.

»Also, wie finden wir Nate, damit wir gute Arbeit leisten und die Buckel und die Zwerge retten?«

»Du meinst, das machen wir?«

»Nein. Noch nicht. Erst warten wir auf den grünen Blitz.«

»Ich verstehe nichts von Wissenschaft, Kona. Ich hab mir das mit dem grünen Blitz nur ausgedacht.«

»Ach, das wusste ich nicht. Wissenschaft, von der man nichts versteht, sieht immer aus wie Zauberei.«

»Ich glaube nicht an Magie.«

»Oh, Bruder, sag so was nicht. An Magie kommt keiner vorbei. Jetzt brauchst du meine Hilfe ganz bestimmt.«

Clay spürte, wie ihm ein Teil seiner bleischweren Melancholie von den Schultern genommen wurde, als er diesen Moment mit 298

dem Surfer teilte, doch sein Drang, etwas zu unternehmen, nervte ihn wie eine Mücke am Ohr. »Lass uns einen kleinen Ausflug machen, Kona.«

»Braten die in China wirklich Kätzchen?«, quiekte Kona mit so hoher Stimme, dass die Hunde am Hafen aufjaulten.

»Amy, wie … was?« Die Lichter waren angegangen, und Nate sah, dass Amy in seinem Bett lag. Einiges von Amy sah er nun zum ersten Mal.

»Sie haben mich geholt, Nate. Genau wie dich. Ein paar Tage später. Es war grauenvoll. Schnell, halt mich fest.«

»Dich hat auch ein Walschiff gefressen?«

»Ja, genau wie dich. Halt mich fest, ich hab solche Angst!«

»Und sie haben dich bis hierher gebracht?«

»Ja, genau wie dich, nur ist es für ein Fräulein noch schlimmer. Ich fühl mich … so … so nackt. Halt mich!«

»›Fräulein‹? Niemand sagt heute noch ›Fräulein‹.«

»Na, dann eben Afro-Amerikanerin.«

»Du bist keine Afro-Amerikanerin.«

»Ich kann mich nicht an alle politisch korrekten Begriffe erinnern. Gott im Himmel, Nate, was willst du? Eine Gebrauchs-anweisung? Komm rein.« Amy schlug die Decke zurück, dann nahm sie eine Pin-up-Pose ein und lächelte.

Aber Nate wich zurück. »Du steckst deinen Kopf ins Wasser, um den Walen zu lauschen. Der einzige Mensch, bei dem ich das vorher je gesehen hatte, war Ryder.«

»Sieh dir an, wie schön braun ich bin, Nate.« Sie fuhr mit den Fingerspitzen über ihre sonnengebräunte Haut, die in Nates Augen eher sonnenbeige war. Nichtsdestoweniger hatte sie nun seine Aufmerksamkeit. »So braun war ich noch nie.«

»Amy!«

299

»Was?«

»Das Ganze war doch abgekartet!«

»Ich liege hier splitternackt. Hast du daran schon mal gedacht?«

»Ja, aber –«

»Ha! Du gibst es zu. Ich war deine Forschungsassistentin. Du hattest die Macht, mich zu entlassen. Und doch: Da stehst du und stellst dir vor, wie ich nackt aussehe.«

»Du bist nackt.«

»Ha! Ich glaube, ich habe alles gesagt, was ich zu sagen habe.«

»Dieses ewige ›Ha‹ ist unprofessionell, Amy.«

»Mir doch egal. Ich arbeite nicht mehr für dich, und du bist nicht mehr mein Boss, und außerdem: Guck dir diesen Hintern an.« Er tat es. Sie warf einen Blick über ihre Schulter und grinste. »Ha!«

»Hör auf damit.« Er betrachtete die Wand. »Du hast mich ausspioniert. Deinetwegen ist das alles so gekommen.«

»Mach dich nicht lächerlich. Ich war nur ein kleiner Teil davon, aber das ist alles vergeben und vergessen. Guck mal, wie knackig ich bin!« Amy präsentierte sich, als hätte Nate sie eben in einer Gameshow gewonnen.

»Könntest du bitte damit aufhören?« Nate griff nach der Decke und zog sie ihr bis zum Hals.

»Knak-kig!«, sagte sie und legte mit jeder Silbe eine Brust frei.

Nate ging aus dem Zimmer. »Zieh dir was an, und komm raus da. So rede ich kein Wort mehr mit dir.«

»Gut, dann rede nicht«, rief sie ihm nach. »Komm einfach ins Bett.«

300

»Du bist nur ein Backfisch, der mich ködern soll«, rief er aus der Küche.

»Hey, Freundchen, so jung bin ich nun auch wieder nicht.«

»Dieses Gespräch geht erst weiter, wenn du voll bekleidet da rauskommst.« Nate setzte sich an seinen kleinen Esstisch und versuchte mit aller Macht, seine Erektion niederzuringen.

»Was ist los mit dir? Bist du irgendwie ein Spinner, eine Memme, so was wie ein Homo, hä?«

»Ja, genau«, sagte Nate.

Einen Moment blieb es im Schlafzimmer still. »O mein Gott, ich komme mir vor wie der letzte Idiot.« Ihre Stimme klang sanfter als vorher. Stolpernd kam sie aus dem Schlafzimmer, eingewickelt in die Decke. »Es tut mir ehrlich Leid, Nate. Ich hatte ja keine Ahnung. Du wirktest so interessiert. Ich hätte doch nie –«

»Ha!«, sagte Nate. »Da siehst du mal, wie es sich anfühlt.«

Die Komische Alte hatte ihnen Eistee mit Ingwergeschmack gegeben und Kona an eines ihrer Teleskope gesetzt, damit er sich den Mond ansah. Sie nahm neben Clay auf der Veranda Platz, und eine Weile lauschten sie der Nacht.

»Es ist schön hier«, sagte Clay. »Ich glaube, ich war noch nie bei Nacht hier oben.«

»Normalerweise liege ich um diese Uhrzeit im Bett, Clay. Ich hoffe, du hältst mich nicht für beschränkt, wenn ich meine Gedanken erst sortieren muss.«

»Natürlich nicht, Elizabeth.«

»Danke. Ich sehe es so: Jahrelang habt ihr, Nate und du, allen erzählt, ich sei nicht ganz bei Trost, weil ich behaupte, dass ich mit den Walen kommuniziere. Jetzt kommst du mitten in der Nacht hier raufgefahren, um mir die welterschütternde Nachricht zu überbringen, dass genau das, wovon ich euch seit Jahren 301

erzähle, möglicherweise stimmt?« Sie stützte ihr Kinn auf die Faust und sah Clay mit großen Augen an. »Sehe ich das in etwa richtig?«

»Wir haben nie behauptet, dass du nicht ganz bei Trost bist, Elizabeth«, sagte Clay. »Das wäre übertrieben.«

»Wie dem auch sei, Clay. Ich bin nicht verrückt.« Sie nippte an ihrem Tee. »Aber ich bin euch auch nicht böse. Ich lebe schon sehr lange auf diesen Inseln, Clay, und die meiste Zeit habe ich auf diesem Vulkan gewohnt. Ich habe mir den Kanal länger angesehen, als die meisten Menschen auf der Erde sind, aber kein einziges Mal habt ihr mich gefragt, wieso eigentlich.

Wahrscheinlich wolltet ihr einem geschenkten Gaul lieber nicht ins Maul schauen. Es war einfacher zu glauben, ich hätte nicht mehr alle Bananen an der Staude, als mich zu fragen, woher mein Interesse kommt.«

Clay merkte, dass ihm der Schweiß am Kreuz hinunterlief.

Schon früher hatte er sich in Gesellschaft der Komischen Alten unwohl gefühlt, aber auf ganz andere Weise – eher so, wie man sich fühlt, wenn eine Großtante einem in die Wange kneift und endlos von den alten Zeiten schwärmt. Heute war es, als würde er vom Staatsanwalt ins Kreuzverhör genommen. »Ich glaube kaum, dass Nate oder ich eine Antwort auf diese Frage hätte, Elizabeth, also ist es auch nicht ungewöhnlich, dass wir dich nicht danach gefragt haben.«

»Das ist Quatsch mit Krabbensoße«, sagte Kona, ohne sich vom Okular des Acht-Zoll-Spiegelteleskops abzuwenden.

»Er ist ein lieber Junge«, sagte die Komische Alte. »Clay, du weißt doch, dass Mr. Robinson bei der Navy war. Habe ich dir je erzählt, was er da gemacht hat?«

»Nein, Ma’am. Ich habe angenommen, dass er Offizier war.«

»Ich kann verstehen, wieso du das glaubst, aber das viele Geld kam von meiner Familie. Nein, Schätzchen, er war nur ein 302

kleiner Unteroffizier, ein Sonar-Mann. Man hat mir sogar gesagt, er sei damals der beste Sonar-Mann der Navy gewesen.«

»Das war er sicher, Elizabeth, aber –«

»Halt den Mund, Clay. Du wolltest meine Hilfe. Jetzt helfe ich dir.«

»Ja, Ma’am.« Clay hielt den Mund.

»James – so hieß Mr. Robinson mit Vornamen – hat den Buckelwalen so gern zugehört. Er sagte, sie würden ihm seine Arbeit erschweren, aber er hat sie geliebt. Damals waren wir auf Honolulu stationiert, aber U-Boot-Mannschaften hatten Schichten von hundert Tagen, und wenn sie dann im Hafen lagen und Zeit hatten, fuhren wir rüber nach Maui, mieteten ein Boot und fuhren raus auf den Kanal. Er wollte, dass ich an seiner Welt teilhabe – der Welt der Unterwasserlaute. Das kannst du doch verstehen, oder, Clay?«

»Natürlich.« Langsam allerdings hatte Clay kein so gutes Gefühl mehr, was diese Reise ins Land der Erinnerungen anging. Es gab einiges, was er wissen musste, aber er war nicht sicher, ob das hier dazugehörte.

»Damals habe ich vom Geld meines Vaters Papa Lani gekauft.

Wir dachten, wir würden dort irgendwann leben und vielleicht ein Hotel daraus machen. Jedenfalls haben James und ich eines Tages beschlossen, ein kleines Motorboot zu mieten und auf der Meeresseite von Lanai zu campen. Es war ein schöner Tag, eine ruhige Fahrt. Auf dem Weg hinüber tauchte neben unserem Boot ein Buckelwal auf. Er schien uns sogar zu folgen, wenn wir den Kurs änderten. James fuhr langsamer, damit wir bei unserem neuen Freund bleiben konnten. Früher gab es keine Vorschriften, wie man sich einem Wal zu nähern hatte, nicht so wie heute. Wir wussten damals nicht mal, dass wir sie retten sollten, aber James liebte Buckelwale, und mir ging es irgendwann genauso. Damals lebten auf Lanai nur die Ananaspflanzer, und so fanden wir einen einsamen Strand, an dem wir ein Feuer 303

machten. Wir wollten uns was zu essen kochen, ein paar Highballs aus Blechbechern trinken, nackt schwimmen gehen und … na ja, du weißt schon, am Strand Liebe machen. Siehst du, jetzt habe ich dich schockiert.«

»Nein, hast du nicht«, sagte Clay.

»Doch, hab ich. Tut mir Leid.«

»Nein, hast du nicht. Ehrlich. Alles in Ordnung, erzähl deine Geschichte.« Alte Ladys, dachte er.

»Als am Abend der Passat aufkam, haben wir das Zelt etwas abseits vom Strand in einem kleinen, windgeschützten Canyon aufgebaut. Nun, ich habe James nach allen Regeln der Kunst einen geblasen, und danach ist er auf der Stelle eingeschlafen.«

Clay verschluckte sich an seinem Tee.

»Ach, herrje, hast du einen Eiswürfel ins falsche Halsloch bekommen? Kona, Schätzchen, komm her und klopf Clay mal auf den Rücken.«

»Nein, geht schon.« Clay winkte ab. »Wirklich, alles okay.«

Tränen liefen über seine Wangen, und er wischte sich die Nase am Hemd ab. Plötzlich war er unglaublich froh, dass er Clair nicht mitgenommen hatte.

Kona hockte im Schneidersitz vor ihnen, da er plötzlich festgestellt hatte, dass er sich für Historisches interessierte. »Erzähl weiter, Tantchen.«