8

Anton Galba spürte nach langer Zeit wieder so etwas wie innere Ruhe. Die Sache selbst, so schien es, war zur Ruhe gekommen. Seine Frau half ihm dabei. Sie verbreitete in ihren Reden erfrischende Alltäglichkeit. Sprach von Begegnungen mit Bekannten, über den Garten und seine Bepflanzung, und ob man eventuell im nächsten Urlaub einmal nach Lanzarote fahren sollte. Ihre Freundin Maria kam zu Besuch. Die Freundschaft hatte eine Intensivierung erfahren, die sich Anton Galba nicht recht erklären konnte und die ihm deshalb unheimlich war – vom abwesenden Herrn Hopfner wurde nie gesprochen. Der blieb verschwunden, Maria schien sich damit abgefunden zu haben. Nicht, dass sie den Eindruck besonderer Trauer machte, das war nach ihren Erlebnissen mit Hopfner auch nicht zu erwarten; sie zeigte aber auch keine Furcht vor einem eventuellen Auftauchen dieses Menschen – das Thema war abgeschlossen, Galba kam es merkwürdig vor – sie konnte doch nicht wissen, ob Hopfner nicht eines unschönen Tages wieder vor ihrer Tür stehen würde. Aber das schien für Maria Hopfner keine Option darzustellen. Er sah darin eine beachtliche Verdrängungsleistung.

»Wie hat sie es eigentlich finanziell?«, fragte er seine Frau nach einem Grillabend.

»Ach, ganz gut, sie wird von einem Verein unterstützt – so Philanthropen, die anonym bleiben wollen.«

Anton Galba sagte nichts mehr.

Zu Nathanael Weiß gab es keinen Kontakt. Dieser Stille in ihren Beziehungen war kein Zerwürfnis vorausgegangen, kein Ausbruch aggressiver Gefühle, überhaupt nichts Negatives, wenn man die Enttäuschung des Inspektors über die mangelnde Mordbegeisterung des Schulkameraden nicht als ein solches werten mochte.

Später musste er eingestehen, dass er sich die ganze Zeit wie ein Kind verhalten hatte; ein Kind, das glaubt, die Welt durch Einhaltung magischer Riten im Griff zu haben: dies und jenes nicht tun – und dies und jenes Schlimme wird nicht passieren. Also: nicht nach Nathanael Weiß fragen und jener wird mit seinem Treiben aufhören und ihn, Galba, nicht mehr behelligen. Die Überwachungskamera zeigte Tag für Tag dasselbe. Fleischabfälle wurden von den Mitarbeitern Fimberger oder Bösch in den Trichter geworfen und zermahlen. Fleischabfälle, nichts sonst. Galba kontrollierte die Videodateien jeden Tag kurz vor Dienstschluss. Anfangs war diese Kontrolle eine schwere Belastung gewesen, vor der er sich den ganzen Tag lang fürchtete, aber mit dem immer selben, harmlosen, wenn auch widerwärtigen Ablauf der Fleischwolfaktion verlor sich auch die Furcht vor der Kontrolle.

Er hätte sich leicht über den Stand der Dinge informieren können. Bei Ingomar Kranz. Den sah er zumindest ab und zu im Fernsehen bei einem Aufsager. Dort war ihm nichts anzumerken. Kranz anzurufen, traute er sich nicht. Die Euphorie, die ihn nach dem Entschluss, Kranz das Video zu zeigen, erfasst hatte, war verflogen. Es war keine Explosion erfolgt, kein Skandal erschütterte die Provinz, alles blieb ruhig. Darauf war er nicht gefasst gewesen. Er hatte damit gerechnet, vom Dienst suspendiert zu werden, er hatte damit gerechnet, jeden Tag einer anderen Fernsehanstalt ein Interview geben zu müssen, und mit vielen anderen Unannehmlichkeiten mehr hatte er gerechnet. Aber nicht damit – dass gar nichts geschah. Als hätte es das entsetzliche Video mit dem weißen Paket nie gegeben. Manchmal zweifelte er, ob er tatsächlich gesehen hatte, was er glaubte, dort gesehen zu haben; aber er wagte nicht, das File hochzuladen und noch einmal anzuschauen.

Er konnte sich, so dachte er später, nicht vorwerfen, nachgerade mit Absicht wieder in die Sache eingedrungen zu sein. Das hatte er nämlich nicht getan. Er hielt sich von allem zurück, was die wunderbare Ruhe seines Lebens stören konnte. Er las zum Beispiel keine Zeitungen mehr. Nicht die lokale, marktbeherrschende, für die er etwa fünf Minuten gebraucht hatte, noch eine überregionale, für die er zehn Minuten brauchte. Die Lokalzeitung war abonniert, er ließ sich von seiner Frau beim Frühstück das Interessante vorlesen – das sei doch viel kommunikativer, meinte er auf ihr Erstaunen, wenn einer etwas vorlas und dann darüber gesprochen wurde, als wenn dieser eine sich in die Zeitung vergrub und keinen Ton von sich gab. Sie ließ sich gern zur neuen Sitte bekehren. Das Frühstück verlief kommunikativer, sogar heiterer. Hilde hatte das Talent, solche Sachen auszusuchen, über die man reden, sich ereifern, manchmal lachen konnte. Das war schön, kein Vergleich zu früher. Erst nach vierzehn Tagen fiel ihm ein, dass dieses Verfahren eine große Gefahr in sich trug. Wenn ihm seine Frau nun etwas von einer vermissten Person vorlas – von einer neuen vermissten Person, dann würde die heile Welt zusammenbrechen. Aber seine Frau las von keinen vermissten Personen vor. Weder von denen, die in dieser Causa schon vermisst wurden, noch von neuen.

Die Sache begann mit dem Mitarbeiter Thomas Fimberger aus dem Ruder zu laufen. Nicht, dass Fimberger etwas Ungewöhnliches oder Anrüchiges getan hätte. Er war weder neugierig noch schlampig; er schnüffelte nicht in Sachen herum, die ihn nichts angingen, er blieb niemals länger als bis siebzehn Uhr, und er machte niemals Überstunden. Er kontrollierte keine Abläufe, außer jene, die ihm Dipl.-Ing. Galba aufgetragen hatte, und er ließ nie absichtslos seine Blicke schweifen, worauf ihm plötzlich ein merkwürdiges Detail auffiel … wie das immer in den US-Kriminaldokus hieß; Thomas Fimberger lebte für seine fünfköpfige Familie und seinen Hausumbau, der seit Jahren all seine Kräfte und seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte. Wäre es nach Thomas Fimberger gegangen, der aus Kärnten stammte und sich glücklich nach Vorarlberg verheiratet hatte, so hätte die halbe Bevölkerung Dornbirns in der Blechhütte verschwinden können, ohne dass ihm etwas aufgefallen wäre, nicht an der Blechhütte mit ihrem Apparat und nicht an der ausgedünnten Bevölkerung.

Aber Thomas Fimberger neigte zu Erkältungen. Er litt, wie er oft betonte, an nichts und war kerngesund, noch nie im Spital gewesen und so weiter, ein kerniger Kärntner Bua – aber Zugluft vertrug er nicht. Wenn die Tage kürzer wurden, begann er über rauhen Hals zu klagen und beginnenden Schnupfen. Und einen roten Schal zu tragen, wenn er aus dem Gebäude musste. Als Kärntner Naturbursche verabscheute er Medikamente und die ganze Chemie, schwor auf natürliche Mittel. Besondere Teemischungen und vernünftige Kleidung – dazu zählte auch der rote Schal, den er aber nur so lange trug wie nötig, wie er betonte und jedem, der sich dafür interessierte, erklärte. Auch jedem, der sich nicht dafür interessierte. Länger als zwei Tage müsse er den Schal nicht tragen, betonte er, dann sei die beginnende Verkühlung auch schon im Keim erstickt. Dank der überragenden prophylaktischen Wirkung des Huflattich, den seine Frau selber sammelte (in einem total unbelasteten, naturnahen Gebiet natürlich). In Wahrheit war es so, dass der Kollege Fimberger, gegen den sich sonst nicht das Geringste sagen ließ, den anderen Mitarbeitern mit seinem Naturheilfimmel auf die Nerven ging; der rote Schal war ein Kennzeichen der Debatte, die allerdings ganz allein von Fimberger bestritten wurde. Seine Umgebung ließ es über sich ergehen.

So kam es, dass Galba bei einer Kontrolle des Überwachungsvideos aus der Blechhütte ein schwer erklärbares Verhalten des Kollegen Fimberger auffiel: Obwohl er schon seit Tagen an einer hartnäckigen Erkältung laborierte (die erste Herbstnacht hatte sie mitgebracht) und deshalb nur mit rotem Schal unterwegs war, legte er den Schal ab, sobald er die Blechhütte betrat – nein, er entfernte ihn schon draußen, denn wenn er mit einer Tonne Abfallfleisch ins Blickfeld der Kamera geriet, hatte er seinen Schal schon abgelegt. Warum tat er das? Er trug ihn doch sogar im Büro; in der Blechhütte war es kein Grad wärmer als im Freien, der Wind pfiff durch die Ritzen. Sonst sah Fimberger aus wie immer: Er trug den blauen Overall, die berüchtigte Tonne, im internen Jargon Suppentopf genannt (sie hatte keinerlei Ähnlichkeit mit einem solchen), war auch dieselbe. Nur den roten Schal hatte er abgelegt. Fimberger war eindeutig zu identifizieren … Galba war im Begriff, Fimberger zu fragen, warum er ohne Schal in die Blechhütte ging. Galba fragte nicht.

Er ließ die Arme über die Lehne des Bürostuhls hinabhängen, die Beine rutschten weit unter den Schreibtisch, er selber im Stuhl immer weiter nach vorn, er hatte das Gefühl, alle Kraft sei ihm wie Wasser aus den Gliedern geronnen, nur die Reibung hinderte seinen Körper, auf den Boden zu rutschen wie ein Sandsack. Er atmete schwer. Das machte die Erkenntnis, die ihn getroffen hatte. Nicht wie ein Blitz (so heißt es ja oft), sondern wie ein Keulenschlag. Diese Keulenschlagerkenntnisse sind jene, auf die man gern verzichtet hätte – sie bringen einen nicht weiter, nur runter. Ganz tief.

Denn das Unterscheidungsmerkmal zwischen einem Fimberger mit und einem Fimberger ohne Schal war die Zeit. Die erschien zwar im rechten unteren Eck des Bildschirms, aber dort konnte man alles Mögliche erscheinen lassen. Das Bhagavadgita, den 23. Psalm und eben jedes Datum und jede Uhrzeit vor und nach Christi Geburt. Jetzt stand dort eben das Datum des Vortages. Er hatte alles geglaubt wie ein Kind.

Fimberger dachte gar nicht daran, seinen Schal abzulegen, wenn er die Blechhütte betrat. Warum hätte er es tun sollen? Ergo entsprach einem Fimberger ohne Schal in der Hütte derselbe Fimberger ohne Schal im Freien – er trug den verdammten Schal oder er trug ihn nicht, so einfach war das; und wenn ihn die Kamera in der Hütte ohne Schal zeigte, während ihn die Netzhäute Galbas und aller Angestellten mit Schal wahrnahmen, dann lag es einfach daran, dass die Aufnahme aus einer Zeit stammte, als Fimberger ohne Schal unterwegs war. Auch ganz einfach. Der Kärntner ohne Schal war statistisch auch viel häufiger als derselbe mit. Dass der gesunde und der kränkelnde Fimberger sich optisch unterschieden, konnte ein Außenstehender nicht wissen, der die Computerfiles der Aufzeichnung manipulierte. Und ein File aus glücklicheren Tagen für jene Nacht einfügte, in der … etwas anderes als Schlachtabfälle in den Trichter geworfen worden war. Diese Person musste Zugang zum Gelände, zur Hütte, Zugang zum Büro, zum Computer haben. Zugang zu allem. Diese Person könnte den Betriebsablauf der ARA sabotieren, falsche Zahlen einfügen, Messgeräte manipulieren – aber den Gedanken verwarf er: Davon hätte man im täglichen Betrieb etwas merken müssen. Die Person, um die es hier ging, hatte kein Interesse, die Abwasserreinigungsanlage Dornbirn zu stören, ihr ging es nur darum, einen kleinen Teil der Anlage für eigene Zwecke zu nützen.

Anton Galba zog sich im Sessel hoch. Er war sicher, ihm würde nichts passieren. Beim Hochziehen des Körpers fiel ihm das ein. Wenn er nicht sicher wäre, säße er gar nicht mehr in diesem Sessel, schon lang nicht mehr. Sondern schwämme (oder heißt es schwömme?) – er ertappte sich beim halblauten Reden, zum Glück war die Bürotür zu … irrealer Bedingungssatz der Gegenwart, wahrscheinlicher Konjunktiv schwömme … schwömme oder schwämme, wie auch immer – schon geraume Zeit, in unidentifizierbare Fitzelchen zerrissen, zermahlen im Verein mit einer Masse genauso wenig identifizierbarer Reste von Schweinen, Kühen, Ziegen und – ja doch – ein paar Menschen, im Gärturm 2 herum, zusammen mit der gesamten voroxidierten Scheiße der schönen Stadt Dornbirn!

Er begann nachzudenken. Gott sei Dank begann er zu denken, was das Gefühl der Panik bekämpfte, endlich besiegte.

Ja, kein anderer Schluss war möglich: Er war sicher auf diesem Stuhl. Und würde sicher sein bis zur Pensionierung. Seiner Pensionierung oder der von ihm. Aber bei dem war nicht sicher, ob er mit der Pension aufhören würde, Dornbirn zu läutern und zu bessern. Von diesem Augenblick an dachte er, wenn er an ihn dachte, nur das persönliche und besitzanzeigende Fürwort, er, ihm, ihn, sein, seines und so weiter, nicht mehr den Namen. Automatisch ging das, er musste sich nicht anstrengen dazu, sein Gehirn vermied, den Namen bewusst werden zu lassen, zu denken, geschweige denn auszusprechen.

Alles war sicher. Er selber, sein Posten, seine Familie. Warum? Ganz einfach: Es war viel bequemer so. Jedem anderen auf diesem Stuhl müsste man erst die Schlüssel abluchsen, keiner würde die so einfach hergeben, wie Anton Galba sie hergegeben hatte, um den Mord am Mitarbeiter Mathis zu vertuschen. Denn dieser Mord, das wollen wir nicht vergessen und auch nicht darüber streiten, ob das jetzt vielleicht doch nur Totschlag gewesen ist – diese Tötungsaktion und das Verschwindenlassen der Leiche steht am Anfang der Ereigniskette. Und sie steht damit auch am Anfang der Kausalkette.

Mit der Erkenntnis, dass er sicher war, mit hoher Wahrscheinlichkeit, kam ein neuer Gedanke: was tun? Die Antwort war: nichts. Nichts zu tun, würde ihn nicht gefährden. Nichts zu tun, wäre allerdings einen Haufen andere Menschen gefährden. Nein, nicht gefährden. Zum Tode verurteilen. Und nicht nur zum Tode, sondern zum spurlosen Verschwinden. Das war vollkommen klar, es brachte nichts, sich darüber Illusionen hinzugeben. Andererseits, dachte er, sollten wir, wenn wir schon über die Sache nachdenken, begrifflich sauber bleiben!

Er stand auf, ging im Büro auf und ab. Er redete halblaut, die Verwendung der ersten Person Mehrzahl beruhigte ihn, das war nicht der pluralis majestatis, nur die Vorstellung einer Gruppe vernünftiger Menschen, die mit ihm in diesem Raum anwesend waren und gemeinsam über die Sache nachdachten; das gab ihm Sicherheit, dass er nicht allein war.

Was zum Beispiel heißt ein Haufen Leute? Wie viele sind das denn? Ein Haufen evoziert eine Menge, eine Schar, deutlich mehr als eine Gruppe. Eine Gruppe kann man zählen oder zuverlässig schätzen, einen Haufen nicht. Ein Haufen füllt den Platz vor dem Gärturm 2 zum größten Teil; dort stehen sie stumm, sozusagen anklagend, und warten auf die Erfüllung ihres düsteren Schicksals. Aber so war es gar nicht! Er müsste seine … Wie sollen wir das nennen … Reinigungsquote? Läuterungsrate? … wie auch immer, sagen wir einfach: Eifer – also seinen Eifer müsste er beträchtlich steigern, wenn er auch nur in die Nähe der Bezeichnung Haufen kommen wollte.

Er blieb vor dem Büroschrank stehen, machte die Tür auf. Darin standen alte Akten, der Schrank war sein Archiv, er öffnete ihn selten. Im obersten Fach stand eine Flasche Obstler, keine Massenware aus dem Supermarkt, sondern das Erzeugnis einer Kleinbrennerei in Lustenau, der Mann hatte sogar eine Auszeichnung erhalten, Brenner des Jahres; Galba nahm die Flasche heraus, ein Gläschen von dem Silbertablett daneben. Es war sein Schnaps für offizielle Anlässe, am Schluss von Führungen auswärtiger Delegationen, die wegen des famosen Düngers gekommen waren, wurde der prämierte Obstler serviert, wenn die religiösen Überzeugungen der Besucher das zuließen; für Muslime (immer häufiger kamen Besucher aus dem Nahen Osten!) hatte Dipl.-Ing. Galba noch keinen adäquaten Ersatz für einen würdigen Exkursionsabschluss gefunden, was ihn bekümmerte.

Jetzt schenkte er sich ein Stamperl ein und trank es aus.

Also: Rekapitulation, wo waren wir … ach ja, bei der Zahl, der Menge, beim rein Quantitativen … kein Haufen, das nicht. Mathis konnte man nicht zählen, der ging auf die eigene Kappe, war sowieso nur ein Unfall. Das erste sozusagen echte Opfer war der Bauunternehmer Stadler, gefolgt von Hopfner … Dann kam … Moment: das weiße Paket. Wer dort drin war, wusste Galba nicht. Das bekümmerte ihn. Er schenkte sich noch einen Obstler ein, trank ihn, diesmal in kleinen Schlucken.

Nach dem weißen Paket wurde es schwierig. Galba hatte nur noch indirekte Beweise. Das manipulierte Videofile. Also mindestens eine weitere Person war noch in den Häcksler gewandert, es konnten natürlich auch mehrere sein. Aber war es wahrscheinlich?

Er setzte sich, skizzierte mithilfe des Schreibkalenders eine Liste der Ereignisse. Die Daten waren nicht sehr genau, er erinnerte sich nicht mehr, nur ein einziges Datum wusste er sicher. Als ihn Helga verlassen hatte. Das machte aber nichts; auch mit nur ungefähren zeitlichen Bezügen ergab eine kurze Rechnung ein doch überraschendes Bild: Etwa alle sechs Wochen ein Vorfall, das war moderat, man konnte darüber denken, was man wollte, er hätte die Quote rein aus dem Bauch heraus viel höher geschätzt, da sieht man wieder, welche Streiche es einem spielen kann, das eigene Gedächtnis.

Das Gläschen war leer, er schenkte nach. Summa summarum vier Fälle in einem halben Jahr, da konnte man kaum von Massenmord sprechen, oder? Verwerflich, ungesetzlich, keine Frage, darüber brauchen wir nicht zu diskutieren, aber wir müssen auch bei den realen Zahlen bleiben, sonst leisten wir nur den … den … Mystikat… Mystifikationen Vorschub.

Das hatte er laut gesagt. »Vier, nicht etwa fünf.« Auch mehr als drei, wahrscheinlich schon, obwohl er vom vierten gar nichts wusste, den hatte er nicht gesehen, nur aus Indizien auf seine Existenz geschlossen, aber lassen wir es einmal viere sein, das sind nicht fünf! Oder sechs! Sondern eben nur vier! Verdammt noch mal! Und das ist ein Unterschied. Auch, wenn es hundertmal so viele wären, oder tausendmal, viertausend und sechstausend, dann wäre es eben doch nur viertausend! Und nicht sechstausend, jawohl! Da beißt die Maus keinen Faden ab, auch nicht, wenn es noch einmal tausendmal so viele wären, vier Millionen. Dann wären es eben vier Millionen, verdammte Scheiße! Aber keine sechs Millionen! Zum Beispiel. Immer bei der Wahrheit bleiben, bei der nackten Zahl!

Er schenkte sich ein, trank in kleinen Schlucken.

Vier also. Er streckte die linke Faust aus, hob sie gegen die Decke, entfaltete die Finger. Den Zeigefinger, den Mittelfinger, den Ringfinger, den kleinen Finger. Wie viele Finger? Vier. Kein Daumen. Er blinzelte, neigte den Kopf, betrachtete die Hand aus verschiedenen Winkeln. Wie viele Finger? Vier. Es wurden nicht mehr. Vier Finger. Vier Millionen. Wobei die vierte … hatte er gar nicht gesehen … nur Indizien. Höchstens vier. Nicht einmal fünf, schon gar nicht sechs Millionen. Eine Hand mit sechs Fingern gab es ja gar nicht, sechs Millionen konnten es gar nicht sein. Keine sechs Finger. Wieso kam er auf die Millionen?

Beim Nach-oben-Schauen wurde ihm schwindlig, einen winzigen Augenblick meinte er, aus dem Handrücken den Daumen herauswachsen zu sehen, obwohl er den doch, den Daumen, in die abgewandte Handfläche presste, und dann auf der anderen Seite, noch kurioser, einen sechsten, absolut unanatomischen Finger; nur einen Augenblick, dann rutschte er vom Stuhl auf den Boden. Alles wurde schwarz.

Als er wach wurde, tat ihm der Kopf weh, sonst nichts. Schlecht war ihm auch nicht. »Ich hab übertrieben«, sagte er laut zu sich. Niemand sonst war im Raum, die Tür zu. Er betrachtete die Flasche auf dem Schreibtisch. Immer noch halbvoll, erstaunlich. Dann hatte er gar nicht so viel getrunken. Er ging in den Waschraum, spritzte sich Wasser ins Gesicht. Gleich ging es besser. Zu schnell zu viel getrunken. Kann vorkommen. »Bin ich perfekt?«, fragte er mit lauter Stimme den Spiegel über dem Waschbecken. »Nein«, antwortete die Figur darin, »das bist du nicht. Wie kommst du auf die Idee? Niemand ist perfekt.«

»Ach nein? Aber wie die Dinge so laufen, könnte man glauben … alle sind perfekt. Perfektion ist die … die Mindestvoraussetzung für alles und jedes … Ohne müssen wir gar nicht anfangen!«

»Aber du bist nicht perfekt«, sagte der Spiegel, »auch sonst niemand, das ist gar nicht möglich. Wenn man für zwei Groschen Verstand hat, sieht man es auch ein …«

»Du hast leicht reden!« Galba begann zu lachen, hielt sich am Rand des Beckens fest. »Aber wo du recht hast, hast du recht!«

»Wo du recht hast, hast du recht …« wiederholte er mehrere Male mit leiser Stimme, als er ins Büro zurückging. Der graue Bodenbelag schien weicher, seine eigenen Schritte kamen ihm … geschmeidig vor.

Er fühlte sich besser.

Das war die große Erkenntnis dieses Tages. Er fühlte sich besser. Diese Sache … nun ja, unangenehm, keine Frage. Und schwierig. Er hatte sich bis jetzt nur auf das Unangenehme daran konzentriert, das Schwierige ausgelassen. Es war nicht so einfach, eine Lösung zu finden. Vielleicht gab es ja gar keine.

Er hatte die Medien informiert. Mit welchem Ergebnis? Mit gar keinem. Als ob er gar nicht dort gewesen wäre. Sollte er noch einmal hingehen?

Herr Kranz, ich wollte Sie noch einmal an dieses Video erinnern …

Welches Video?

Das, wo der Leiter der Kriminalabteilung eine Leiche durch den Fleischwolf dreht …

Ach das! Genau! Hat er ihn nicht vorher umgebracht? Das ist aber nicht drauf?

Nein, nur die Fleischwolfsache …

Gut, dass Sie mich erinnern, ich hätt’ es glatt vergessen, ich hab momentan so viel um die Ohren. Wegen der Landtagswahl …

Verstehe …

Ich geh der Sache gleich nach, versprochen!

Würde es sich so abspielen? Vermutlich nicht. Wenn er weiter so insistierte, könnte es sein, dass er selber … Er war da hineingeraten. Ohne eigenes Zutun, jawohl. »Ohne eigenes Zutun!«, rief er in die abendliche Stille des Büros. Ein Stubser, wenn man körperlich angegriffen wird, das ist kein Zutun, verdammt noch mal! Das ist ein Versehen, nicht einmal eine Fehlhandlung, nicht einmal eine Übertreibung, sondern schlichtes Versehen! Wie wenn man ein Glas fallen lässt. Das passiert allen Menschen.

Er schenkte sich noch ein Gläschen ein, trank es in einem Zug aus und verließ das Büro. Er fühlte sich getröstet. Er hatte ein Problem, jawohl, das war nicht zu leugnen. Er sollte es lösen, dieses Problem, wie man alle Probleme lösen soll, sonst hießen sie ja nicht so, die Probleme.

Aber nicht heute und nicht morgen. Dazu war es zu schwierig. Kindische Vorstellung, die Lösung könnte in einem einzigen Einfall bestehen, einem einzelnen Wort. Wie beim Fernsehquiz. Und vielleicht gab es auch keine Lösung, das war ja immerhin möglich. Oder die Lösung würde Jahrhunderte in Anspruch nehmen wie der Beweis gewisser Vermutungen in der Mathematik. Regte sich dort jemand auf? Nein, wenn es nicht geht, dann geht es halt nicht! Er konnte jetzt nichts tun. Nur nachdenken. Wenn er Zeit hatte. Er musste auch noch einen Beruf ausüben, die ganze Stadt hing davon ab, fünfundvierzigtausend Menschen, denen buchstäblich die Scheiße … wenn er einen Fehler machte. Klar, daran dachte niemand, das nahmen alle für selbstverständlich. Selbstverständlich war gar nichts …

Als er daheim angekommen war, hatte er einen Grad der Selbstgerechtigkeit und Selbstrechtfertigung erreicht, als habe er eben ein sündteures mehrtägiges Seminar für Führungskräfte absolviert. Er plauderte angeregt mit Hilde und bezog die Töchter ins Gespräch ein, die darauf allerdings keinen gesteigerten Wert zu legen schienen. Hilde freute sich, dass es ihm besser ging. Ja, sie freute sich, sie lächelte, es war ihr anzusehen, es ging ihr gut.

Nur mit dem Einschlafen hatte er Probleme. Als es endlich gelang, überfielen ihn Träume besonderer Farbigkeit und Plastizität, aus denen er hochschreckte. Schon zwei Minuten nach dem Erwachen konnte er sich nicht mehr an den Inhalt erinnern, dämmerte wieder ein, glitt in den nächsten Traum. Er erwachte schon um fünf mit fürchterlichem Durst, metallischem Geschmack im Mund und Kopfschmerzen. Er trank in der Küche zwei große Wassergläser aus, setzte sich im Wohnzimmer in einen Sessel und dachte nach. Es brachte nichts, die Gedanken gingen im Kreis, es schienen dieselben Gedanken zu sein wie am Vortag. Aber es fehlten auch Panik und Furcht. Es fehlte die quälende Empfindung eigenen Ungenügens, dieses Etwas-tun-Müssen, jetzt gleich, innerhalb der nächsten zwei Minuten. Er war nur verdrossen und verkatert. Er ging in die Küche zurück, nahm zwei Aspirin mit Wasser und begann einen Artikel in der Zeitung zu lesen.

Hilde wunderte sich, dass er schon wach war, sagte aber nichts. Er blieb während des Frühstücks schweigsam. Der Kaffee tat gut, der Kopf nicht mehr weh, er fuhr zur Arbeit. Es ging so. Er schwieg auch beim Mittagessen, murmelte nur, er müsse früher weg, fuhr auch früher als sonst.

Am Nachmittag hatte er sich so weit erholt, dass er klar denken konnte. Das Problem mit dem Häcksler blieb ungelöst; er hatte nur eine Erkenntnis gewonnen: Alkohol war keine Lösung. Er war ungeeignet als Alkoholiker. Das funktionierte bei ihm nicht. Er müsste jetzt, an diesem Nachmittag, um dasselbe Gefühl auch nur brüchiger Selbstgerechtigkeit wieder zu erzeugen, eine ganze Menge nachschütten. Das war ihm unmöglich, das hielt er nicht aus, für diese Methode war er der Falsche. Er musste etwas anderes tun, etwas mehr Ingenieurmäßiges. Er kannte sich in diesen Dingen besser aus als Nathanael Weiß. Anton Galba hatte sich blenden lassen, ins Bockshorn jagen von der kriminellen Energie des Polizisten. Es war eine Reaktion wie auf eine Fangfrage in einem Test. Man ist darauf nicht vorbereitet, haut die Nerven weg. Aber nur einmal. Dann hat der Trick seine Wirkung verloren. Wenn Weiß in die Anlage eindrang und die Aufzeichnungen manipulierte, musste es eben weitere Aufzeichnungen geben, die er nicht manipulieren konnte, weil er nicht davon wusste. Es kam nur darauf an, eine weitere Kamera anzubringen, nein, keine zweite, sondern viele andere, vier, fünf oder auch zehn und zwanzig. An Orten, auf die niemand kam. Vernetzt. Unabhängig von der IT der Anlage. Das war alles machbar. Teuer, aber machbar. Er konnte sich die Webcams besorgen, die Verdrahtung installieren. Er wusste nichts darüber, aber er wusste, wo er die Informationen herbekam. Er würde ein bisschen studieren, sich einlesen und dann handeln.

Als er mit seinen Überlegungen so weit gekommen war, stand er auf und wanderte im Büro auf und ab. Es war unglaublich. Die ganze Zeit hatte er auf das Problem gestarrt wie das Kaninchen auf die Schlange, wochenlang. Dabei lag die Lösung klar vor ihm. Gegen Videomanipulation hilft noch mehr Video; daran zu zweifeln, gab es keinen Grund. Er konnte die Anlage mit Überwachungsmaßnahmen verseuchen wie einen Hochsicherheitsknast aus einem Science-Fiction-Thriller, er hatte die Mittel dazu, die Fähigkeiten und vor allem: die Zeit. Er war den ganzen Tag hier, wenn es sein musste, auch die halbe Nacht. Weiß dagegen hatte nur die Nacht – die andere Hälfte, die ihm Galba ließ. Weiß konnte den Häcksler in Betrieb nehmen und den Computer manipulieren, der groß und breit in Galbas Büro stand. Und nicht einmal besonders intelligent. Fimberger auftauchen zu lassen, ja, und die Zeit der Aufnahme zu ändern, daran hatte er noch gedacht, im letzten Augenblick war ihm wohl noch eingefallen, dass ein Fimberger, der laut Insert um vier Uhr früh Fleischabfälle entsorgt, auch dem Wohlmeinendsten komisch vorkommen müsste. Billig war das alles, so billig!

Aber er, Galba, hatte es ja lang geglaubt, das musste er seinem Widersacher zugestehen. Ohne die Sache mit dem Schal hätte er es auch noch länger geglaubt, wer weiß, wie lang. Jahrelang. Bis zur Pensionierung. Weil man gern glaubt, was man glauben will, dachte er. Ja, Herr Ingenieur, der Druck im Reaktor ist normal, das Manometer zeigt es ja an, oder? Was soll sein? Man kommt nicht auf die Idee, ans Glas zu klopfen, um den hängen gebliebenen Zeiger zu lockern; nicht nach zehn Jahren. Der Zeiger ist nie hängen geblieben. Bis heute. Heute ist alles anders … Genau so hatte er sich verhalten. Wie der Unglückswurm in der Schaltzentrale. Alles ist normal. Weil alles normal sein muss. Aber so ist es eben nicht gewesen.

Weiß machte keine großen Pläne. Er handelte instinktiv. Das war sicher richtig. Großartige Pläne gehen großartig schief. Weiß dachte nicht nach. Er ging hin und tat, was er für richtig hielt. Einfach so. Er stellte keine sophistischen Haarspaltereien an. Ob es eventuell weitere Kameras gab. Ob Galba glaubte, was er sah. Alle glaubten, was sie auf einem Bildschirm sahen; mehr, als wenn sie es mit den eigenen Augen gesehen hätten. Das war eben so. Weiß hatte recht.

*

Das Verhängnis von Direktor Baumann war seine Unzufriedenheit. Seit er denken konnte, plagte ihn die Gewissheit der Nichtübereinstimmung seiner realen persönlichen Verhältnisse mit jenen, wie sie hätten sein sollen. Er versuchte zeit seines Lebens, diese Diskrepanz, die er als massiven Bruch empfand, zu beseitigen, und tat alles, was ihm dazu nötig schien, ohne Rücksicht auf irgendwen zu nehmen, auch nicht auf sich selbst. Dass jemand mit dieser Einstellung im Bankgeschäft recht rasch Karriere machte, konnte auch in der Provinz nicht ausbleiben; nichtsdestotrotz blieb für Direktor Baumann das Erreichte zu wenig, Posten und Sozialprestige waren noch weit unter dem, was er als angemessen empfand. Als Leiter einer Bank, deren traditionelle Aufgabe in der Kreditgewährung für das örtliche Gewerbe bestand, blieb sein Wirkungskreis beschränkt. Das wurmte ihn. Also suchte er nach neuen Geschäftsmöglichkeiten und fand sie in der Phase des ausufernden Derivatehandels. Die Bank verdiente wie verrückt, die Zahlen Baumanns waren erstaunlich, in der Wiener Zentrale wurde man aufmerksam; die Zahl seiner internen Neider wuchs exponentiell. Als die Blase dann platzte, erlebten diese Neider einen schwarzen Tag, denn Direktor Baumann aus Dornbirn war von alldem nicht betroffen, im Gegenteil: Er hatte ein halbes Jahr zuvor die riskanten Investments zurückgefahren und Kasse gemacht. Warum? Das wurde er oft gefragt. Instinkt, sagte er dann und lächelte, selbstgefällig, wie seine Gegner fanden. Nach dem berühmten Satz, wonach man Mitleid geschenkt bekommt, sich den Neid aber verdienen müsse, hätte er aber alle jemals erzeugten Neidgefühle mit einem Schlag in solche des Mitleids verwandeln können – wenn er nur den wahren Grund für den Ausstieg aus obskuren Immobilienfonds genannt hätte. Denn dieser Ausstieg erfolgte aufgrund eines Traums.

Kurz nach dem merkwürdigen, in seinen Ursachen nie aufgeklärten Absturz der Privatmaschine des Finanziers Harlander, etwa drei Tage oder, besser, Nächte später, hatte Baumann einen so intensiven Traum, dass er nach dem Aufwachen nicht nur jedes Detail wiedergeben konnte, sondern von der Wahrhaftigkeit des Geträumten völlig überzeugt war. Man wird so einer Reaktion bei einem hartgesottenen Bankmenschen eine gewisse Skepsis entgegenbringen, dagegen den Satz »Direktor Baumann träumt nie« für glaubwürdig halten, aber das sind Vorurteile. Nein, nein, auch Banker träumen, Baumann selten, wenn er aber Träume hatte, bezogen die sich auf die Zukunft, und zwar ausschließlich. Das Geträumte traf dann auch ein. Ja, natürlich immer! Beispiele? Belassen wir es bei einem: Am 24. Dezember 2004 träumte Direktor Baumann von einer riesigen Wasserwelle, die über einen tropischen Strand hereinbrach und zahlreiche Menschen verschlang. Als er drei Tage später die Fernsehbilder sah, fing er an zu lachen. Die Bilder entsprachen dem, was er im Traum gesehen hatte, bis in Einzelheiten. Kamerastandpunkt, Beleuchtung, Bildausschnitt. Er hatte, wenn er es recht bedachte, nicht das Ereignis vorausgeträumt, sondern die Bilder von dem Ereignis, wie sie dann durch das Fernsehen verbreitet wurden.

Wer nun annimmt, so ein Erlebnis müsse einen Menschen tief erschüttern, kennt Direktor Baumann schlecht. Er nahm seine Gabe, die Zukunft vorherzuträumen, wie ein bizarres Accessoire seiner psychischen Ausstattung. Wie manche Menschen fähig sind, mit den Ohren zu wackeln, konnte er eben die nahe Zukunft im Traum erschauen, fast immer eine vollständig nutzlose Kunst, nehmen wir nur den Tsunami Weihnachten 2004: Wie hätte Direktor Baumann seinen Wahrtraum zu irgendeiner Art der Warnung verwenden sollen? »Ihr Menschen an den tropischen Küsten der Erde: Haltet euch fern von diesen Küsten!« Er hätte anhand seiner Traumerinnerung den Ort nicht einmal auf Asien einschränken können, die Leute auf seinen Traumbildern waren zu klein für rassische Zuordnungen.

Für gewöhnlich erleben Menschen mit dem zweiten Gesicht schwere Krisen, wenn das zuvor Geschaute eintrifft, Kassandra ist das erste Beispiel. Von Krisen war Direktor Baumann weit entfernt. Leute, die das Missvergnügen hatten, ihn zu kennen, hätten das ohne weitere Überlegung auf seine Herzenskälte zurückgeführt – aber niemand wusste von diesen Träumen, auch seine Frau Karin nicht, denn er schreckte nicht aus dem Schlaf hoch, was einfach daran lag, dass diese Traumerlebnisse durch die Abwesenheit jeder Emotion gekennzeichnet waren. Er fürchtete sich nicht, verfolgte die Vorgänge in seinen Träumen mit vagem Interesse.

Den ersten Wahrtraum hatte er im Alter von achtzehn Jahren erlebt, wenige Tage vor der Matura. Da träumte er, er schlage den schmalen blauen Band auf, in dem das Geschichtswerk des Thukydides für Gymnasialzwecke auf knapp neunzig Seiten eingedampft war; genau jenes abgegriffene Büchlein, das er selber besaß, und blättere darin, bis er (im Traum) ohne besonderen Anlass bei der Überschrift »Die Pest in Athen (II 47–49)«, dem einzigen deutschen Satz in der griechischen Textmasse, innehielt, noch eine einzelne Seite umblätterte und dann bei der Nummer 49 verharrte. Weiter passierte nichts, er konnte den Text nicht lesen, der verschwamm vor den Augen, die Nummer 49 war aber so klar, dass er nach dem Aufwachen beschloss, es könne nicht schaden, sich die Stelle genauer anzusehen. Das tat er dann auch. Was kam zur Griechisch-Matura? Thukydides, Band II seines Geschichtswerks, Paragraph 49. Baumann schrieb ein glattes Sehr gut und maturierte mit Vorzug, was ihm ein Stipendium einbrachte und ihn auf jene Schiene setzte, die von einem absolvierten Zeugnis zum nächsten und in Rekordzeit zum Doktor juris führte. Vergessen hatte er das nie, dem Ereignis aber auch keine besondere Bedeutung zugemessen. Er lebte normal, ging ins Bankwesen, stieg auf, heiratete, hatte Kinder (Sohn und Tochter) und hatte Träume, die sich erfüllten. Meistens konnte er damit nichts anfangen, das zweite Gesicht war in gewissem Sinne an ihn verschwendet; eine Fehlzuteilung jener höheren Instanz, die solche Träume schickte, wenn es denn eine solche Instanz überhaupt gab. Aussehen tat es jedenfalls wie eine ärgerliche Schlamperei, Verstaatlichte Industrie oder so …

Er nahm das nicht ernst, bis er in jenem Frühjahr nach dem Harlander-Absturz wieder träumte, diesmal glich alles einem Fernsehbeitrag, die Kamera fuhr durch vorstädtisches Gebiet, vor jedem zweiten Haus stand ein großes Schild, den Schriftzug real estate erkannte er im Vorbeifahren und eine Menge Preise. Ob die hoch oder niedrig waren, konnte er im Traum nicht beurteilen, klar war aber, dass diese Häuser verkauft werden sollten, und zwar alle und jetzt. Man musste kein ökonomisches Genie sein, um zu erkennen, dass dies auf die Preise drücken würde; als Baumann aufwachte, zog er ein paar Schlussfolgerungen und stieg in den nächsten Wochen aus den Immobilieninvestments aus, die er eingegangen war.

Direktor Baumann hatte bei all seinen Handlungen immer das Interesse der Bank im Auge, nie sein eigenes; man darf sagen, dass der Thukydides-Wahrtraum vor seiner Griechisch-Matura der letzte gewesen war, aus dem er persönlichen Nutzen gezogen hatte. Er gehörte auch nicht zu jenen Zeitgenossen, die Anweisungen der Zentrale in Zweifel ziehen und unter mehr oder auch weniger vorgehaltener Hand kritisieren. Das Einzige, was ihn an der Wiener Zentrale störte, war, dass er ihr nicht angehörte, dies zu erreichen, war sein Lebensziel, und er bemühte sich, alle Anweisungen, die von dort kamen, auf Punkt und Komma umzusetzen. Als im Verlauf der Finanzkrise die Vergaberichtlinien für Kredite verschärft wurden, dachte er nicht eine Sekunde daran, die neuen Vorschriften abzumildern. Das brachte für jene Häuslebauer, deren Eigenheimträume in ortsüblicher Weise auf Kante gerechnet waren, große Unannehmlichkeiten mit sich. Fremdwährungskredite wurden, den Anweisungen der Zentrale folgend, umgeschuldet, die höheren Eurozinsen konnten von manchen nicht mehr gezahlt werden. Oder endfällige Kredite, die dereinst mit einem Tilgungsträger hätten bezahlt werden sollen, wurden fällig gestellt, nachdem dieser aktienbasierte Tilgungsträger im Verlauf von drei Wochen die Hälfte seines Wertes verloren hatte. Das alles zusammen brachte viele Kunden der Bank des Direktors Baumann in große finanzielle Probleme, die auch durch die nachfolgenden Zwangsversteigerungen nicht geringer wurden. Noch bitterer als das rein Geldliche war das Zerplatzen von Lebensträumen, was die Betroffenen in einen Strudel aus Erbitterung und Wut fallen ließ. Manche dieser Betroffenen waren mit Nathanaels Helferin bekannt.

Wäre Direktor Baumann nur ein wenig zufriedener gewesen mit der Lage der Dinge – alles hätte für ihn anders ausgehen können. Aber der quälende Ärger, nicht die Stellung innezuhaben, die ihm nach seiner Ansicht zustand, steigerte sich im Laufe der Finanzkrise zu schwerem Gram, der ihn niederbeugte. Baumann war Realist genug, zu begreifen, wie die Dinge lagen; er hatte eben, das lag klar zutage, in Wien nicht genügend Protektion, man stützte nun die Idioten, die auf die Blase hereingefallen waren, indem man die Institute und damit die obersten Posten rettete, die allseits waltende Ungerechtigkeit steigerte sich unter den Bedingungen der Krise zum Paroxysmus: Statt diese Tröpfe mit nassen Fetzen aus der Stadt zu jagen, wurden sie vom allerbarmenden Staat aufgefangen wie in Abrahams Schoß, mussten nur auf die allerfrechsten finanziellen Vergütungen verzichten, um die Massen zu beruhigen. Und die Massen ließen sich beruhigen. Sie murrten zwar und gossen dieses Murren in die Leserbriefspalten der Zeitungen und in die Mikrophone der elektronischen Medien, aber mehr war nicht – kein Vorsitzender einer Großbank kam in die Verlegenheit, wohin er am Abend sein Haupt betten sollte, weil der Mob seine Villa niedergebrannt hatte. Nichts wurde abgefackelt, nicht einmal zur verhältnismäßig moderaten Reaktion des Scheibeneinschmeißens ließ sich jemand bewegen, auch die körperliche Unversehrtheit der Betreffenden blieb gewahrt, keine Beulen, Blutergüsse, ganz zu schweigen von gebrochenen Gliedmaßen, ja, nicht einmal Verbalinjurien bekamen die Herrschaften zu hören. Der ganze Hass, den ihre Aktionen auslösten, richtete sich in bewährter Weise nach innen, auf die Opfer selber, die vielfältige Aggressionsakte gegen sich und ihr familiäres Umfeld setzten. Das meiste davon blieb verborgen und war auch nicht so drastisch wie im Falle des Josef Mannhard, der … Aber wir greifen vor.

Direktor Baumann litt psychisch unter den Ungerechtigkeiten genauso wie nur irgendein kleiner Kreditnehmer, es waren nur verschiedene Ungerechtigkeiten. Der Schuldner beklagte, dass ihm der Kredit fällig gestellt wurde. Baumann, dass die Wiener Bankspitze nicht in den sozialen Abgrund stürzte und er selber den Platz ganz oben einnehmen durfte. Es waren, das wusste er, die Zahlen, die ihm das ermöglichen würden; schließlich handelte es sich um eine Bank, da galten jenseits aller Vetternwirtschaft und politischer Postenschieberei immer noch die Zahlen. In Zeiten der Krise mehr denn je. Angeschlagen waren die Herren nämlich schon – wenn überhaupt ein Provinztalent eine Chance bekommen sollte, dann jetzt, da unruhige Blicke von Wien in die Provinz fielen, weil es ja, bittesehr, so wie bisher auch nicht weitergehen kann, alles, was recht ist! Wenn er unter diesem Scanner eine Chance bekommen wollte, mussten seine Zahlen besser sein als der Durchschnitt, deutlich besser. Seine Zahlen waren aufgrund des Wahrtraums schon sehr gut gewesen, das reichte aber nicht – wenigstens ein Teil des Erfolges musste auf die strikte Befolgung der Anweisungen der Zentrale zurückzuführen sein; mit den Höhenflügen eines Finanzgenies konnte man eben jetzt dort nichts anfangen. Die wichtigste Anweisung lautete, den verdammten faulen Pöbel endlich an die Kandare zu nehmen und zum Zahlen zu bewegen. So wurde das natürlich nicht formuliert, es war aber allen klar, was gemeint war: Diese Leute bauten Häuser, kauften Protzautos, von denen ihre Väter nicht einmal zu träumen gewagt hätten, und fuhren zweimal im Jahr auf Urlaub. Alles mit dem Geld anderer Leute. Das musste aufhören. Wer es am schnellsten und radikalsten aufhören ließ, würde hoch steigen. Direktor Baumann war entschlossen, derjenige zu sein. Also nahm er die Kreditkunden an die Kandare. Deutlich rigoroser als seine Kollegen. Einer dieser Kunden war Josef Mannhard, der mit vielen anderen die Neigung teilte, über seine Verhältnisse zu leben. Nicht viel, das nicht – bei freundlicherer Vorgangsweise hätte sich auch ein Weg finden lassen, die Fälligstellung des zum Hausbau aufgenommenen Schweizer-Franken-Kredits zu vermeiden, nachdem dieser Kredit durch den dramatischen Wertverlust des aktienbasierten Tilgungsträgers notleidend geworden war. Einer mitfühlenden Bankseele wäre etwas eingefallen, solche Seelen gab es ja, aber Direktor Baumann hatte verfügt, die »weiche Welle«, wie er es nannte, sei nun vorbei, und er hatte dies seinen Untergebenen so deutlich dargestellt, dass kein Interpretationsspielraum mehr blieb.

Wir wollen nichts beschönigen: Josef Mannhard war an seiner Lage zum Großteil selber schuld. Musste er als Versicherungsangestellter in mittlerer Position unbedingt einen Mercedes der E-Klasse fahren? Und musste die Tochter ein Pferd haben? Von seiner Frau sind keine Extravaganzen bekannt, es reichte auch so. Dafür nämlich, Herrn Mannhard durch die Fälligstellung des Kredits in eine recht heikle Lage zu bringen, fehlten nun doch jene Reserven, die er mit seinem ansehnlichen Gehalt gut getan hätte aufzubauen. Die unglücklichen Folgen der Situation sind durch Medienberichte sattsam bekannt. Am 11. November, dem Martinitag, fuhr Josef Mannhard mit seinem E-Klasse-Mercedes in den BayWa Bau & Gartenmarkt in Lauterach und erstand einen sogenannten Zabin, ein axtartiges Werkzeug, und eine Rolle Seil. Er bezahlte bar, fuhr nach Hause und erschlug mit dem Zabin Frau und Tochter; danach erhängte er sich mit dem gekauften Seil, wobei die offene Architektur seines Griffner-Fertigteilhauses, Modell Pult diesem Vorhaben entgegenkam, es gab da eine Galerie, von der er mit der Schlinge um den Hals nur hinunterspringen musste. Er war sofort tot, wie auch Frau und Tochter sofort tot gewesen sein mussten, die fünfundzwanzig Zentimeter lange Spitze des Zabins trat jeweils bis zur Hälfte in die Hirnschale ein.

Der Fall erregte ungeheures Aufsehen, da man solche Bluttaten im Lande nicht gewohnt war. In Josef Mannhards Vorleben hatte nicht die kleinste Spur auf sein schreckliches Ende gedeutet, die Gerüchte, die zu wuchern begannen, übertrieben die finanziellen Schwierigkeiten, in denen er steckte, und lieferten gleichzeitig die Ursache, besser: Verursacherin seiner Probleme. Es war die Bank, die den Kredit fällig gestellt – aber eben nicht einen Tropfen in ein schon volles Fass, sondern sozusagen einen ganzen Eimer in ein Fass geschüttet hatte, das noch eine gute Handbreit Platz gehabt hätte. Aber wenn jemand so ein Fass zum Überlaufen bringen will, findet er Mittel und Wege, hieß es. Dieser Jemand war Direktor Baumann.

Baumanns Pech war, dass Josef Mannhard der dritte Sohn einer Familie mit sechs Kindern gewesen war, drei Söhne, drei Töchter, von denen zwei in Berufen mit starkem Publikumsverkehr tätig waren, ein Sohn bei der führenden Tageszeitung, eine Tochter in der Verwaltung der größten Gemeinde des Landes. Die Steuerung des Rumors in eine gewisse Richtung war eine Frage von Wochen, schuld an der Katastrophe der Familie Mannhard allein ein gewisser Direktor Baumann, so der öffentliche, nie mehr in Frage gestellte Konsens. Baumann kriegte, wie immer in solchen Fällen, von seiner negativen Beurteilung nichts mit, weil ihm seine Untergebenen in der Bank nicht mitzuteilen wagten, was sie am Stammtisch und beim Friseur, im Squash-Center und auf dem Vita-Parcour alles zur Causa Mannhard zu hören bekamen. Er hätte sich aber auch keine Sorgen gemacht, wenn er informiert gewesen wäre, denn zu jener Zeit kamen die ersten positiven Signale aus Wien, zaghaft noch, aber eben doch – dass seine Aktivitäten wahrgenommen und für gut befunden wurden. An dem Baumann könnten sich manche ein Beispiel nehmen, hatte es da auf einer Sitzung geheißen, wie er mit der weichen Welle Schluss gemacht habe, eine Bank sei kein Sozialverein und so weiter in diesem Ton. Die Erfolge würden nicht ausbleiben, in ein, zwei Jahren würde Baumann die Früchte seiner Bemühungen ernten, bis dahin galt es, nicht nachzulassen, sondern die Anstrengungen zu verdoppeln.

An dieser Stelle kam nun Gebhard Schlosser ins Spiel, dessen Anteil an den Ereignissen am besten mit einem Begriff aus der Chemie beschrieben werden kann: dem des Katalysators. Der ist einfach da und ermöglicht durch dieses bloße Dasein erstaunliche Reaktionen der Stoffe in seiner Umgebung. Bei Gebhard Schlosser lag die katalytische Kraft in seiner Redebegabung. Er war nicht nur ein begehrter Redner bei Fasnachtsveranstaltungen, sondern Mitglied mehrerer Vereine, für deren Obmänner er die Reden zur Jahreshauptversammlung schrieb. Bei der Post, wo er im Innendienst arbeitete, kam dieses Redetalent nicht zur Geltung, dafür entschädigten ihn seine zahlreichen außerdienstlichen Aktivitäten. Dazu gehörte auch das Familienleben im weiteren Sinne, er besuchte seine zahlreichen Verwandten und ließ sich von ihnen besuchen, redete dort, hörte aber auch Neues, das er dann weitererzählte. Gebhard war von einer im Lande untypischen Offenheit, was sich schon an der Wahl der Partnerin ablesen ließ. Er hatte eine Deutsche geheiratet. Einmal im Monat besuchten sie seine Schwägerin, die auch im Lande Wurzeln geschlagen hatte, um Skat zu spielen. Das konnte hier kein Mensch, die Schwestern hatten es ihm beigebracht. Der Schwager besaß kein Talent zum Kartenspiel, aber für Skat brauchten sie ja nur drei. An diesem Skatabend im späten November kam allerdings keine rechte Stimmung auf, denn Gebhard Schlosser hatte schwere Sorgen.

»Es kommt auf uns zu«, sagte er, »ihr werdet schon sehen – wie ein Güterzug rollt das heran.«

»Du übertreibst!«, sagte seine Frau und rollte mit den Augen.

»Was kommt auf euch zu?«, fragte die Schwägerin.

»Die Bank zieht die Riemen an …«

»Welche Riemen, wovon redest du?«

»Die Riemen um meinen Hals!«

Und so weiter. Denn Gebhard Schlosser hatte, wie so viele, auch ein Haus gebaut und sich dafür bis über beide Ohren verschuldet. »Der Mannhard«, sagte er, »das war ja nur die Spitze des Eisbergs …«

»Welcher Mannhard?«, fragte die Schwägerin. »Welcher Eisberg?«

Gebhard Schlosser klärte sie auf. Aus dem Kartenspiel wurde nichts mehr an diesem Abend. Die Schwägerin erfuhr erstens die wahren Hintergründe der Mannhard-Tragödie, die sie bis zu diesem Zeitpunkt nicht mitbekommen hatte, weil sie die Tageszeitung beim Frühstück nur überflog, und zweitens von der Sorge Gebhards, dessen Kredit nicht nur bei derselben Bank lief wie der des unglücklichen Mehrfachmörders, sondern auch dieselbe vermaledeite Konstruktion aufwies. Endfälliger Schweizer-Franken-Kredit mit einem Aktienfonds als Tilgungsträger. Es sei, sagte er, nur eine Frage der Zeit, bis die Henker von der Bank an seine Tür klopften. Seine Frau schüttelte den Kopf, hatte sich zurückgelehnt und machte hinter seinem Rücken ihrer Schwester entschuldigende Zeichen, er übertreibt, sollte das wohl heißen, aber die Schwester war nicht dieser Ansicht, räumte die Karten beiseite, schenkte Barolo nach und ließ sich alles haarklein erzählen. Die Mannhard-Geschichte – wenn das die Spitze des Eisbergs sei, wo sei dann der Eisberg? Gebhard Schlosser wusste, wo der Eisberg war, er hatte viele Konfidenten. Als er mit seiner langen, kaum durch Zwischenfragen der Schwägerin unterbrochenen Geschichte am Ende war, schwieg sie eine Zeitlang, starrte dabei auf die Tischdecke. Dann sagte sie: »Ich würde mir keine Sorgen machen. Oft kommt es ganz anders, als man denkt. Nicht nur bei den guten Sachen, auch bei den bösen. Alles geht gut aus, glaub mir.«

Billiger Trost, aber mit solcher Betonung und innerer Wahrhaftigkeit vorgetragen, dass Gebhard Schlosser spürte, wie ihn große Ruhe erfüllte. Die Schwägerin, das wusste er in diesem Augenblick mit der Kraft der absoluten Gewissheit, hatte recht. Das Gefühl hielt auch auf dem Heimweg an, was ihn schweigsamer werden ließ, als seine Frau gewohnt war, und in den nächsten Tagen und Wochen. Er kam dann aus Gründen, die bald klar werden sollten, nie mehr auf diesen Abend zurück, seine Frau auch nicht. Die Henker der Bank hatten sich vielleicht aufgemacht, um an seine Tür zu klopfen, aber sie waren an dieser Tür nicht angekommen. Oder jemand hatte sie zurückgerufen. Das Schicksal der Familie Mannhard blieb der Familie Schlosser erspart, auch ein nur im Entferntesten ähnliches; es blieb alles, wie es war. Er zahlte seine Beiträge auf das bewusste Konto, das heißt, sie wurden, wie es üblich ist, jeden Zweiten des Monats von seinem Gehalt abgebucht.

Denn die Schwägerin hatte, als das Ehepaar Schlosser gegangen war, Nathanael Weiß angerufen und ein Treffen vereinbart.

*

Nathanael war bei der Schilderung der Frau nachdenklich geworden. Er kannte die Probleme, denen sich nun viele gegenübersahen, nur aus der Zeitung, sein Polizistenposten war sicher, was einfach hieß, dass er größere Chance hatte, erschossen als entlassen zu werden.

»Wenn wir uns diesen Baumann vornehmen«, sagte er, »unter welchem Titel? Was ist der femewrogige Punkt?«

»Verräterei natürlich!«

»Ach ja. Das hab ich mir gedacht, was soll es auch sonst sein …«

Sie standen wieder an der kleinen Brücke. Eine graue Wolkendecke hing über dem Ried, es war kalt, es würde aus diesen Wolken schneien, es war schon angekündigt.

»Du hast Bedenken«, sagte sie. Keine Frage, eine Feststellung. »Wegen der Verräterei.«

»Nein, nicht deswegen. Es ist nur so … Ich meine, du bist hinter diese Sache gekommen, weil du zufällig einen Betroffenen kennst. Der Mannhard-Fall … Also ja, das ging bei uns in der Inspektion herum, auch das Gerede, aber ehrlich gesagt hätte ich nie gedacht, dass diese Sache … uns betreffen könnte. Die Feme, meine ich.« Er hob die Arme. Es sah hilflos aus. »Ich bin nicht auf die Idee gekommen! Du hast recht, es ist Verräterei, das Urteil hat er auch verdient, keine Frage. Aber kannst du mir einmal erklären, warum mir das nicht selber eingefallen ist? Ich hätte ja wochenlang Zeit gehabt …«

»Mach dir deswegen keinen Kopf. Du hast ja auch noch andere Sachen zu tun …«

»Das mein ich ja! Andere Sachen – genau richtig. Wir haben beide noch andere Sachen zu tun. Wir sind Amateure, das will ich damit sagen. So kann es nicht weitergehen.«

»Wie dann?«

»Es nützt nichts«, sagte sie, »wir müssen den Ingomar mehr einbinden …«

»Wie stellst du dir das vor? Der klappt doch zusammen, wenn er …«

»Nein, nicht dabei! Er soll uns nur helfen … zu … Wie sagt man … zu evaluieren.«

»Wie meinst du das?«

Sie erklärte es ihm.

Ingomar Kranz war sehr bedrückt, als ihn Nathanael an diesem Abend zu einem Treffen rief. Er sollte sich an einer bestimmten Brücke einfinden, um sechs Uhr am Abend, da war es dunkel, man konnte auch nur zu Fuß an jenen Riedgraben oder mit einem Ross. Ingomar hatte kein Ross. Der Treffpunkt hing mit der Femegeschichte zusammen, das war klar, also sollte dort etwas beschlossen werden, von dem Ingomar gehofft hatte, er werde es nie erfahren. Aber das war kindisch, er wusste das; mitgegangen, mitgefangen, mitge… Er verzichtete darauf, den Spruch zu vollenden, der sicher auch aus dem Mittelalter stammte, dieser Aspekt der Angelegenheit war ihm fast noch mehr zuwider als der technische, für den man sehr lang eingesperrt würde; das mythische Geraune, Feme, Freigericht und der ganze Kokolores. Aber er war nicht in der Position, Bedingungen zu stellen. Nicht einmal Änderungen vorzuschlagen.

Die kleine Brücke fand er nach der Wegbeschreibung ohne Probleme, den Weg dahin mit einer Taschenlampe. Die Frau, die er das letzte Mal nur von fern gesehen hatte, war auch da. Sie sah nach nichts aus, ein Hausfrauengesicht. Aber sympathisch, das wurde rasch klar. Sie schien ihn zu mustern. Es war seltsam, er konnte es nicht sehen, denn an der kleinen Brücke war es inzwischen so dunkel, dass man die Züge des Gegenübers nicht mehr erkennen konnte; Kranz hatte nur das Gefühl, von dieser Frau betrachtet zu werden. Mit Interesse. Sie sprachen erst von anderen Dingen, Fernsehsachen, aber ihre Stimme vermittelte den Eindruck, sie nehme tatsächlichen Anteil an seiner Person, an dem, was er dachte und fühlte. Das war vollkommen neu für ihn. Wenn er sonst mit Leuten sprach, sahen sie in ihm den Journalisten, eine andere Existenz als diese berufliche, funktionale, schien er nicht zu haben. Manchmal dachte er, mit der Pensionierung würde er verschwinden, buchstäblich. Von anderen nicht einmal mehr gesehen werden, wenn er über den Marktplatz ging, mitten in der Stadt.

Im Gespräch kam sie auf ihren Vorschlag mit der Kartei, mit der Evaluierung, regelmäßigen Treffen.

»Hier?«, fragte er. »Sitzungen sind das dann wohl nicht. Wir können uns ja nicht hinsetzen.«

»Das ist kein Problem«, sagte sie. »Ich habe in der Nähe eine Riedhütte.«

»Mit Stromanschluss? Ich meine, wenn wir eine PowerPoint-Darstellung brauchen …«

»Nein, Sie missverstehen mich. Wir sitzen nicht in der Hütte, sondern an einem Tisch davor. Unter freiem Himmel. Das Femegericht tagt immer unter freiem Himmel.«

»Und es gibt auch keine PowerPoint-Präsentation«, sagte Nathanael Weiß. »Überhaupt keine elektronische Aufzeichnung.«

»Kein Computer? Wie soll das gehen? In jedem Fall sind doch Dutzende, manchmal Hunderte von Einzelheiten relevant, wie sollen wir die im Kopf behalten?«

»Gar nicht«, sagte die Frau. »Das ist es ja eben: All diese Einzelheiten sind relevant, wie Sie sagen, für moderne Rechtsprechung. Da türmen sich die Akten zu Gebirgen …«

»… oder verstopfen die Festplatten«, unterbrach Weiß. »Das ist alles Unsinn. Darum geht es nicht.«

»Worum es geht«, setzte die Frau fort, »ist eine einzige Frage: schuld oder nicht schuld? Und das wissen wir, oder? Wir wissen es, weil wir Dinge erfahren haben, gesehen, gehört, wie auch immer: mit den Sinnen wahrgenommen. Daraus entsteht unsere Überzeugung; sie wächst, sie gedeiht, sie wird reif …«

»Wie eine Pflanze …«

»Genau so ist es. Das andere ist mechanische Rechnerei, da geht es um Quantitäten. Wie viel Euro Geldstrafe, wie viel Jahre Gefängnis, es ist alles im Prinzip die Frage: Wie lang steht das Auto schon ohne Schein auf dem bewirtschafteten Parkplatz? Danach bemisst sich die Strafe.«

»Aber an solchen Fragen ist das Femegericht nicht interessiert«, sagte Nathanael. »Deshalb brauchen wir auch keine Protokolle und keine Akten. Die normalen Vergehen und Verbrechen – das ist Sache der normalen Behörden, Polizei, Gerichte. Wir verfolgen die Sonderverbrechen, die in dieser Gesellschaft nicht ausreichend oder nicht mehr verfolgt werden. Es gibt keine Aufzeichnungen, keine Computerfiles, die sich auf die Tätigkeit dieses Freistuhls beziehen …«

»Und wozu brauchen Sie dann mich?«

»Sie sind unser Korrektiv, der Dritte im Bunde, nennen Sie es, wie Sie wollen. Sie sollen uns davor bewahren, uns zu verrennen … in irgendeinen Blödsinn, verstehen Sie! Wenn wir zum Beispiel hinter einem Hühnerdieb her sind – und einen richtig dicken Fisch, einen Schädling allerersten Grades gar nicht wahrnehmen, weil er … Wie soll ich sagen …«

»… weil Sie nicht hinsehen«, vollendete Kranz den Satz. »Weil er von Ihrem Radar nicht erfasst wird …«

»Aus welchen Gründen immer«, sagte die Frau und erzählte die traurige Geschichte des Josef Mannhard. Ingomar begann zu begreifen, was von ihm erwartet wurde. Das eine, das er befürchtet hatte, wurde explizit nicht erwartet. »Das ist nicht jedem gegeben«, sagte die Frau, »machen Sie sich nichts draus. Ich sage immer: Jeder soll tun, was er gut kann, und von allem anderen die Finger lassen!«

»Außer, es geht nicht anders«, sagte Nathanael Weiß.

Sie spazierten im Dunkeln zur Riedhütte. Zu sehen war nicht viel, vom Weg gar nichts mehr, Ingomar hätte nicht mehr hergefunden. Er äußerte sein Bedauern, dass diese Treffen immer am Abend stattfänden, wolle aber natürlich nichts gegen altehrwürdige Traditionen des Femegerichtes gesagt haben …

»Das mit dem Dunkeln, die Vermummung, gespenstische Höhlen – alles Blödsinn«, erklärte die Frau. »Haben sich die romantischen Dichter ausgedacht. Die wirklichen Freistühle standen unter freiem Himmel, getagt wurde, wie ja schon der Name sagt, am hellen Tage. Dass wir die Sache auf den Abend verlegen, hat nichts mit Traditionen zu tun, sondern mit der Berufstätigkeit vom Nathanael. Er kann untertags schlecht weg.«

»Sie könnten aber schon?«, fragte Ingomar.

»Ja, ich könnte schon. Ich bin Hausfrau, ich kann es mir einteilen. Es wird aber ohnehin Zeit, dass ich mich vorstelle.« Sie lächelte, gab ihm die Hand und sagte ihren Namen.

Ingomar Kranz staunte.

*

Was Direktor Baumann betraf, so betonte Ingomar Kranz in seiner neuen Rolle als Korrektiv und dritter Mann, keinerlei Einwände zu haben. Er gab nur zu bedenken, dass Baumann mit seiner Verräterei nicht allein sei, da gebe es allein im näheren Umkreis ein halbes Dutzend andere, die, wenn überhaupt, dann nur wenig besser seien als der Bankdirektor. Das wurde zur Kenntnis genommen und erwogen. Man kam zum Schluss, dass es bei den beschränkten Kräften und Mitteln des Freistuhls von Dornbirn nicht darum gehen könne, alles vorkommende Unrecht auszumerzen, sondern dass man sich wohl oder übel auf gewisse Beispiele konzentrieren müsse, von denen aber – so wurde gehofft – eben auch eine Beispielwirkung auf andere ausstrahlen würde und so zu einer Besserung führen könne. Ingomar hielt das für Wunschdenken, sagte es aber nicht. Er konnte den beiden nicht noch mehr Lasten auflegen, wenn er schon selber nicht …

»Es geht uns nicht um Listen«, unterbrach Nathanael Weiß seine Gedanken. »Listen lassen sich schnell schreiben. Ein Name ist gleich einmal eingetragen. Und dann noch einer und noch einer. Kaum versieht man sich’s, stehen vierhundert Namen drauf. Der Betreffende braucht nur noch unten zu unterschreiben. Das Elend des 20. Jahrhunderts kam auch von diesen verfluchten Listen: Ist einmal eine da, muss sie abgearbeitet werden, verstehen Sie?«

»Ich glaube schon … Man muss weitermachen, bis der letzte Name durchgestrichen ist. Wie ein Zwang …«

»Genau so ist es und genau deshalb machen wir es nicht so. Schon aus diesem Grunde gibt es am Ende, wenn es zur Sache geht, nichts Geschriebenes bei uns.«

»Wir wollen gar nicht erst in die Versuchung einer Liste kommen«, sagte die Frau. »Kein Papier, kein Stift – keine Liste. Listen führen zum Massenmord. Wir sind keine Massenmörder.«

»Nein«, sagte Ingomar Kranz, »Massenmörder seid ihr nicht.«

Die Durchführung der Aktion sollte nach bewährtem Muster erfolgen: Weiß sah keinen Sinn darin, nach irgendeiner Richtung davon abzuweichen. »Wir machen es so wie immer«, sagte er.

»Und wie geht das?«, fragte Ingomar Kranz, der sich nun, da seine Mithilfe bei der Aktion selber nicht gefordert wurde, durchaus für das Procedere interessierte. Auf diese einfache Frage wusste Weiß keine Antwort – er kam nun drauf, dass gar kein Schema existierte, keine Vorgehensweise; sie hatten sich bis jetzt von den Umständen inspirieren lassen und danach gehandelt.

»Sehen Sie«, sagte die Frau, »wie wertvoll Sie sind, Herr Kranz?«

»Ingomar«, sagte der, »ich weiß, es kommt der Dame zu, aber unter unseren besonderen Umständen, also wenn es erlaubt ist, würde ich vorschlagen – ich heiße Ingomar …« Er streckte ihr die Hand hin, sie schlug ein, Nathanael schloss sich an.

»Worauf ich hinauswollte«, sagte sie dann, »von wegen wertvoll: Ingomar fällt auf, was uns beiden verborgen bleibt. Wir haben keine Vorgangsweise, das musst du zugeben.« Nathanael nickte. »Wir gehen einfach die Wand lang, ohne Plan. Nur ist uns das nicht aufgefallen. Bis jetzt. Bis zu deiner Frage.«

Ingomar Kranz schien verlegen, was die Frau noch mehr für ihn einnahm.

»Es kann doch sein«, meinte er, »dass spontanes Vorgehen genau richtig ist – so, wie ihr es bisher gemacht habt.«

»Kann aber auch sein«, sagte Nathanael, »dass es falsch ist und wir bis jetzt nur Glück hatten. Was stimmt, finden wir nie heraus, wenn wir uns die Sache nicht durch den Kopf gehen lassen. Da hat sie schon recht.«

»Wenn ich euch richtig verstehe«, setzte Ingomar fort, »existiert bis jetzt nicht nur kein Plan, sondern es gibt auch keine schriftlichen Aufzeichnungen, Skizzen, Notizen, nichts dieser Art?«

»Nein, ganz so ist das nicht«, sagte Nathanael Weiß. »Ohne Notizen – ich meine, ohne eine Materialsammlung über die Zielperson geht so etwas nicht. Da wäre keine Polizeiarbeit möglich – und das, was wir machen, auch nicht – Sie müssen die Gewohnheiten der Leute kennen, ihre wahrscheinlichen Handlungen. Nicht wie ein Profiler, aber doch so gut, dass ein Überraschungsmoment weitgehend ausgeschlossen ist. Sonst wäre die Sache zu riskant.«

»Aber Computer können angezapft werden, ich weiß, dass die Hacker heutzutage…«

»… Eben deshalb gibt es ja bei dieser Sache keinen Computer«, unterbrach ihn Weiß. »Alles nur Papier und Bleistift und alles bei mir zu Hause. Ich verstaue die Sachen in Ordnern mit Finanzamtsunterlagen vergangener Jahre. Dort würde sie niemand suchen.«

Die Frau blickte Weiß mit großen Augen an, der sah über sie hinweg in das dunkle Ried, ohne ihren Blick zu bemerken. »Verstecke nützen nichts«, fuhr er fort. »Glaubt einem Polizisten, wenn er euch das sagt: Verstecke nützen nichts. Am besten verborgen bleiben die Dinge, die gar nicht versteckt sind, die offen vor aller Augen liegen …«

»… wie in dieser Geschichte von Edgar Allan Poe«, sagte Kranz, »wie hieß sie noch …«

»Der versteckte Brief oder so ähnlich«, sagte die Frau.

»Wie auch immer, die Sachen stehen bei mir im Arbeitszimmer in langweiligen Steuerberater-Ordnern, einfach so offen im Regal hinter dem Schreibtisch. Das ist das Beste, was man machen kann.«

Sie hatten die Riedhütte erreicht, die Frau servierte Schnaps, eine Solarlampe warf ihr milchiges Licht über den Holztisch. Die Rede kam wieder auf den Direktor Baumann. Kranz machte sich fleißig Notizen.

Sie fassten einen Plan.

Danach brachten sie Ingomar Kranz, der den Weg sonst nicht gefunden hätte, zu seinem Auto zurück. Als die Rücklichter verschwunden waren, sagte sie zu Nathanael:

»Bist du verrückt geworden?« Ihre Stimme klang ruhig.

»Warum?«

»Hättest du ihm nicht noch eine Zeichnung machen können, einen Plan deiner Wohnung?«

»Daran hab ich gedacht, das wäre aber sogar ihm aufgefallen.«

»Was?«

»Meine Liebe, wir müssen uns absichern. Dieser Kranz ist nicht böser oder besser als der Durchschnitt … Eines ist aber unübersehbar: Der Herr Redakteur fühlt sich nicht wohl bei uns …«

»… Du meinst, er will abspringen?«

»Er will und er wird, sobald sich die Gelegenheit bietet.«

»Wie kommst du auf die Idee?«

»Mit Körpersprache kennst du dich nicht aus, ich aber schon. Macht der Beruf. Ich kann nicht behaupten, dass ich es jedes Mal merke, wenn einer lügt. Das wäre Unsinn. Ich merke es nur öfter als der Durchschnitt, und meistens nur bei Menschen, die nicht mit der Polizei zu tun haben. Leider. Die anderen, die Stammkunden, lügen viel geschickter …«

»Kranz lügt also?«

»Nein, nicht direkt. Er macht uns nur was vor. Die wahre Meinung des Redakteurs Kranz über die Feme haben wir noch nicht gehört.«

»Und die wäre?«

»Keine Ahnung. Vielleicht sind wir ihm zu radikal. Oder zu wenig ideologisch. Was weiß ich. Er äußert sich ja nicht. Er stimmt immer allem gleich zu. Er hat Angst.«

Die Frau seufzte. »Du hast da sicher mehr Erfahrung, das will ich nicht bestreiten. Aber könnte es nicht sein, dass die Polizei ein bisschen paranoid ist?«

»Natürlich ist die Polizei paranoid. Wenn sie das nicht ist, dann ist sie korrupt. Dazwischen gibt es nichts. Ein gesunder Polizeikörper pflegt eine gesunde Portion Paranoia!«

»Aha.«

»Ja, lach nur …«

»Ich lache gar nicht. Nehmen wir an, du hast recht. Wie willst du das herausfinden?«

»Durch eine Falle.«

Nathanael Weiß erklärte ihr die Falle, deren Aufstellung sie miterlebt hatte, ohne sich dessen bewusst zu werden. Danach sagte sie: »Du bist schlau wie der Teufel, Nathanael!«

Nathanael gefiel das Kompliment.

*

Anton Galba hatte lange nicht mehr gebastelt. Jahre nicht. Früher war das ein schönes Hobby gewesen; im hinteren Teil des Kellers stand noch die Modelleisenbahn, mehrere Quadratmeter groß, so geschickt konstruiert, dass man sie in Teile zerlegen und diese hochkant verstauen konnte – so stand sie auch an der Rückwand, brauchte kaum Platz. Aber eben: Hervorgeholt hatte Anton Galba diese Anlage nicht mehr, seit die Töchter ihr – man konnte es kaum Desinteresse nennen, eher »unüberwindliche Abneigung« – mit einer Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht hatten, die keinen Interpretationsspielraum zuließ.

Durch die Aufbewahrung der Eisenbahn an der Rückwand gab es davor Platz für einen Bastelraum, einen Arbeitstisch und diverse Wandschränke mit vielen kleinen Schubladen. Hilde hatte an der Eisenbahn ebenso wenig Interesse wie ihre Töchter, mehr noch: Er war sich durchaus im Klaren, dass seine Damen die Beschäftigung eines erwachsenen Mannes mit einer Spielzeugeisenbahn für peinlich hielten. Im Lauf der Zeit hatte er selber die Lust an der Anlage verloren und sich auf elektronische Basteleien verlegt, zum Beispiel Bewegungsmelder, die einige starke Lampen im Garten steuerten; auch die Steuerung der Heizung hatte er selber entworfen und gebaut; sie war mit ihren Temperatursensoren und der Zeitsteuerung deutlich besser und bequemer als jedes käuflich zu erwerbende System. Gewürdigt wurde das von den anderen Mitgliedern des Galba’schen Haushalts allerdings nicht. Die mieden den hinteren Kellerraum, es wurde akzeptiert, dass er sich dort einschloss, »um nicht bei komplizierten Lötarbeiten gestört zu werden« – so hatte er die Maßnahme begründet.

Nie war eine der Damen auf die Idee gekommen, ihn in seinem Refugium zu stören; wenn Hilde etwas Wichtiges mitzuteilen hatte, rief sie ihn auf dem Handy an. Für sie waren seine elektronischen Basteleien kaum brauchbarer als die Modelleisenbahn; das wusste er, aber sie bemühte sich, der Tatsache, dass man nun die Pelletsheizung per Mobiltelefon Stunden vor dem Heimkommen aus der Ferne einschalten konnte, angemessene Bewunderung zu zollen. Das gelang ihr nicht gut, er ließ den Versuch aber gelten.

Hilde verstand zwar nichts von Elektronik, hätte aber doch, wenn sie an diesem Dezembernachmittag den Bastelraum betreten hätte, mit einem Blick erfasst, dass die Vorgänge darin nicht mit Chips, Drähten und Lötkolben zu tun hatten. Auf dem Arbeitstisch stand ein voluminöser Blumenübertopf aus rotem Styropor, darüber war an einem Gestänge senkrecht eine Handbohrmaschine angebracht, von der eine dünne gläserne Stange nach unten lief und im Topf verschwand. Die Stange drehte sich. Beim Nähertreten wäre ihr weiteres Unelektronisches aufgefallen: Die Stange lief durch einen Spezialstopfen in ein kugelförmiges Glasgefäß mit drei Hälsen an der Oberseite. Durch den mittleren Hals ragte der sich drehende Glasstab, im linken Hals steckte ein langes Thermometer, im rechten ein rohrartiger Aufsatz mit einer klaren Flüssigkeit. Die tropfte durch einen Hahn in die untere Glaskugel, die auch mit einer Flüssigkeit zur Hälfte gefüllt war. Man konnte das nicht gut sehen, weil im Raum zwischen Glaskugel und Blumentopf Schneematsch stand. Neben der Apparatur ein weiterer Styroportopf mit frischem Schnee. Schnee gab es nämlich genug in diesem Dezember, es hatte die ganze Nacht geschneit, am Morgen lagen frische dreißig Zentimeter – erst dieser Anblick hatte Anton Galba jenen Plan fassen lassen, den er nun durchführte. Er stand vor dem Aufbau, den Blick aufs Thermometer geheftet. Der Rührer wirbelte die Mischung im Inneren des Kolbens rundherum und bewirkte eine innige Durchmischung der beiden Flüssigkeiten, die miteinander reagierten und dabei so viel Wärme erzeugten, dass er den Dreihalskolben mit Schneewasser kühlen musste. Wenn im Kältebad zu viel Wasser entstand, schöpfte er es mit einer Kelle aus dem Styroporgefäß und ersetzte es durch frischen Schnee. Es kam darauf an, dass die Reaktion gleichmäßig ablief, nicht zu wenig aus dem Trichter zutropfte und nicht zu viel; dass die Wärme zuverlässig abgeführt wurde, dazu brauchte es Kühlung, die in einem professionellen Labor von der Eismaschine bereitgestellt wurde. »Wir Amateure aber«, sagte Anton Galba, »loben den Winter, der uns ein Kältemittel vom Himmel fallen lässt. Auch wenn die Zwecke, wofür wir es gebrauchen, nicht den Beifall dieses Himmels finden dürften. Oder vielleicht doch …?« Er sprach laut, wie er es, wenn er allein war, in den letzten Wochen immer häufiger tat. Es half ihm, die Gedanken zu klären. Ein Gedanke hatte sich dabei herausgeschält: Wenn es um Beifall von oben ging, hatte Nathanael Weiß viel schlechtere Aussichten als Anton Galba. Das galt auch für die Spießgesellen Nathanaels, wer immer sie sein mochten. Er musste Helfer haben, ein Mensch allein konnte das alles nicht bewältigen. Darüber hatte er lang nachgedacht, als der Gedanke Nummer eins erst einmal gefasst war. Was geschah nach der Umsetzung dieses wertvollen Gedankens; was würden die anderen machen? Mit ihrem Treiben fortfahren, als sei nichts geschehen? Wie viel wussten die vom Beginn der Sache, vom Verbleib des unvergesslichen Mitarbeiters Mathis? Er kam auch nach eingehenden Überlegungen nie auf einen anderen Ausweg als eben den, der jetzt beschritten werden musste: Wenn der Gedanke Nummer eins sich mit entsprechendem Aplomb verwirklichen ließe, würde das die anderen abschrecken. Ganz einfach. Abschreckung. Wer zu solchen Mitteln griff, dem würde man alles zutrauen, moralisch sowieso, das war nicht die Frage, aber vor allem technisch. Praktisch. Und damit würden diese Leute recht haben. Anton Galba war Techniker. »Ich bin Techniker!«, rief er der Bohrmaschine zu, deren Surren im langsamsten Gang den Keller erfüllte. Der Bohrer, mit einem Stück Gummischlauch als Kupplung auf dem Glasstab zum Rührer umfunktioniert, rührte und surrte weiter. Der Tropftrichter auf der rechten Seite war leer, er ließ die Maschine eine halbe Stunde weiterrühren, füllte aber keinen neuen Schnee mehr in das Kältebad, der Matsch verwandelte sich in Wasser. Dann baute er den Rührer ab, hob den Glaskolben aus dem Bad, entfernte den Styroportopf. Die Mischung erwärmte sich. Sehr allmählich kam sie auf Raumtemperatur, keine Reaktionswärme mehr. Keine Reaktion. Die war abgelaufen, zu Ende. Auch ein Laie hätte bemerkt, dass eine Änderung eingetreten war: denn nun gab es in dem Gefäß zwei gelbliche Flüssigkeiten, die sich offenbar nicht vermischen wollten, eine untere und eine dünne obere. »Ich bin verrückt«, sagte er, »vollkommen verrückt!«

Jetzt kam der heiklere Teil des Unternehmens. Er goss den Inhalt des Dreihalskolbens in einen Zwanzig-Liter-Ballon. Diese Riesenflaschen verwendete man zum Ansetzen von Kräuterschnäpsen und zum Vergären kleiner Mengen Beerenwein. Das hatte er früher auch damit gemacht, jetzt nützte er den Ballon, um die Reaktionsmischung zu waschen. Er ließ aus der Leitung das Mehrfache an Wasser zufließen, montierte wieder den Rührer und mischte alles ein paar Minuten durch. Nach dem Abstellen des Rührers bildeten sich wieder zwei Phasen, die obere war nun deutlich mehr geworden. Der Ballon hatte den Vorteil eines Glashahns am Boden, daraus ließ er die untere Phase in einen Plastikeimer ablaufen, setzte dann eine ordentliche Menge verdünnter Bikarbonatlösung zu, die er schon vorbereitet hatte, rührte wieder durch, ließ die Phasen sich wieder trennen. Diesmal ließ er eine kleine Menge der oberen Flüssigkeit mit in den Eimer fließen, neigte den Ballon, um sicherzugehen, dass nur noch organische Phase übrig war. Er schloss den Hahn, ersetzte den Eimer durch eine Flasche. Ein neue, gleichwohl leere Wermutflasche mit eindrucksvollem Etikett, auf der ein Haufen kleingedrucktes Italienisch jeden, der dieser Sprache mächtig war, von den Vorzügen des Inhalts überzeugen und Minuten beschäftigen würde, bis er alles durchgelesen hatte. Anton Galba hatte die Flasche erst vor ein paar Tagen gekauft und den Inhalt bis auf ein einziges Gläschen ins Klo geschüttet; dieses Gläschen hatte er vor einer Stunde auf das Wohl des Nathanael Weiß getrunken. Er stellte die Flasche nicht unter den Hahn wie vorher den Plastikeimer, sondern ließ den Hahn in den Flaschenhals tauchen und die Wandung von innen berühren. Dann machte er den Hahn auf. Sehr langsam. Die Flüssigkeit floss träge durch das Röhrchen, bildete einen Tropfen an der Hahnmündung, bekam aber gleich Kontakt mit der Wand des Flaschenhalses und glitt nach unten, etwa wie Öl. Es sah nach Wermut aus, war aber keiner, es war zäher. Anton Galba spürte die Schweißtropfen, die ihm über die Stirn liefen. Ein süßlicher Geruch breitete sich aus. Dieser Teil der Operation verlangte nach einem Abzug, den hatte er nun einmal nicht, er musste sich mit dem Luftzug begnügen, den er durch Öffnen aller Kellerfenster und Türen, sogar der Haustür, erzwingen konnte, es zog wie in einem Vogelhaus, es wurde eiskalt, das mochte auch helfen, der Dampfdruck war dann geringer. Die meisten Leute kriegten nur gemeines Kopfweh von den Dämpfen der Substanz, aber manche wurden benommen, und das war schlecht, ganz schlecht. Wer beim Abfüllen dieses Öls benommen war, hatte schlechte Karten.

Denn es durfte nicht erschüttert werden. Indem zum Beispiel ein Tropfen in die Flasche hineinfiel. Fallen war schlecht. Das Öl durfte rinnen, aber nicht tropfen. Unter keinen Umständen.

Die Flasche war voll. Im Ballon gab es noch eine beträchtliche Menge. Er stellte die Flasche mit großer Sanftheit auf den Boden und ließ den Rest mit ebenso großer Sorgfalt wie vorher in einen Eimer Wasser laufen, spülte mit Spiritus nach. Er würde die Reste später im hinteren Teil des Gartens wegschütten. Er stellte die Flasche auf den Tisch. Er lebte noch. »Seht ihr, liebe Kinder, ich lebe noch.« Er hob den Zeigefinger, wackelte damit in der Luft herum. »Der Onkel lebt noch, das heißt aber nicht, dass ihr das zu Hause nachmachen sollt! Das dürft ihr auf keinen Fall! Denn dass der Onkel jetzt noch lebt, liegt nur daran, liebe Kinder, dass er ein eiskaltes Arschloch ist, ehrlich! Ihr glaubt mir nicht? Ach so, das Arschloch schon, nur dass es so gefährlich ist, glaubt ihr nicht? Es hat doch so einfach ausgesehen! Dann bittet Papa oder Mama, sie sollen euch aus der Videothek den Film Lohn der Angst mitbringen. Ja, ich weiß, die Bösen unter euch laden ihn sich widerrechtlich aus dem Internet runter. Wie dem auch sei: ein sehenswerter Film. Yves Montand spielt mit und Peter van Eyck in seiner besten Rolle. Unbedingt ansehen!« Dann fing er an zu lachen.

»Warum hast du die Haustür offen gelassen?« Die Stimme kam von oben, dahinter das Gelächter der Mädchen, die sich etwas Lustiges erzählt hatten. Vermutlich. Er hatte nicht mehr so den Überblick, aus welchen Gründen sie lachten und aus welchen nicht.

»Vom Löten«, rief er zurück, verstaute die Wermutflasche, die keinen Wermut enthielt, in einem der Wandschränke. »Die Isolierung ist angekommen, hat furchtbar gestunken!«

»Ich riech nichts.« Sie kam die Treppe herunter. Er trat in den Kellerflur, schloss die Tür zum Bastelraum hinter sich. »Wie war’s auf dem Weihnachtsmarkt?«

»Ach, das Übliche.« Sie umarmte ihn. »Die Musik ist nicht mehr so laut wie letztes Jahr. Stell dir vor, sie haben jetzt Decken über die Lautsprecher gehängt!«

»Dann hat dein Leserbrief doch was genützt!« Sie gingen nach oben. Hilde hatte wegen der übertriebenen Lautstärke der Berieselungsmusik, die zentral gesteuert wurde, einen Brief an die Lokalzeitung geschrieben und die dezentere Vorgangsweise auf anderen Weihnachtsmärkten erwähnt, zum Beispiel in Feldkirch. Die Verantwortlichen reagierten erwartungsgemäß nicht, aber die Mieter der Verkaufsstände. Mit Decken. Wir sind ein glückliches Gemeinwesen, dachte Anton Galba. Mit überschaubaren, lösbaren Problemen. Zu laute Lautsprecher auf dem Weihnachtsmarkt. Nur ein Beispiel. Oder ein Polizist, der Leute verschwinden lässt. Nein, das gehörte wohl nicht hierher. Auch nicht der Leiter der städtischen Abwasserreinigungsanlage, der dem Polizisten dabei hilft. Beim Leute-verschwinden-Lassen … nein, stimmt so nicht: Er hilft nicht, er hat nur nichts dagegen unternommen. Bis jetzt.

Die Mädchen zeigten ihm, was sie gekauft hatten. Filzpantoffeln und eine Art Glaskugel zur Luftverbesserung. Sie verströmte einen penetranten Zimtgeruch. Anton Galba zeigte sich in erwartetem Maße erheitert. Weihnachtsmärkte dienten der nostalgischen Erheiterung, die Töchter waren dem Alter, in dem sie das alles ätzend gefunden hatten, entwachsen und im Alter der sentimentalen Erinnerung angekommen, in dem sie bis ans Ende ihrer Tage bleiben und Jahr für Jahr ebenso unnötige wie kitschige Dinge auf Weihnachtsmärkten kaufen würden. Ich bin ein guter Vater und Ehemann, dachte er, ich spiele mit, bewundere ihre Einkäufe, spreche über den Weihnachtsmarkt, über das kommende Fest und kann nebenbei an ganz anderes denken, ohne dass es jemand merkt. Dass uns kein Erdbeben passieren sollte zum Beispiel. Weil sonst die Wermutflasche im Schrank im Keller umfällt. Ich muss sie verkeilen, dachte er; Erdbeben sind selten bei uns und niemals stark, aber die Flasche könnte umfallen, ich muss sie verkeilen, jetzt gleich. Sie enthält ja keinen Wermut. Es sieht nur so aus.

Er entschuldigte sich, er habe nur was im Keller vergessen. Bin ich ein Monster? Nein, nur jemand, der keinen anderen Ausweg sieht als eine Flasche mit Wermut, der kein Wermut ist. Eine Flasche, die nicht umfallen darf. Nicht hier.