EPILOG
DIE KREUZFAHRT DES
DESERTEURS
Mit raschen, sicheren Bewegungen steckte Pierre Nazzari die Geldstücke in den Schlitz des Spielautomaten. Dann berührte er den Knopf mit dem Zeigefinger, und schon begrüßte eine fröhlich-metallische Stimme den neuen Spieler. Er winkte den philippinischen Kellner heran und bestellte etwas zu trinken. Erst danach konzentrierte er sich aufs Spiel. Er wollte zu gern wissen, warum das Glück ihm nicht mehr hold war. Bis vor zwei Tagen hatte er gewonnen, keine Riesenbeträge, aber er war nie mit leeren Händen in die Kabine zurückgekehrt. Er machte eine Pause, um einen Schluck Cognac zu trinken und die Rechnung mit seinem neuen Namen abzuzeichnen: Didier Vilrouge.
Pierre-Didier war das typische Opfer für so ein Kreuzfahrtschiff-Casino, obwohl er noch nie eines betreten hatte, auch nicht an Land. Er kannte sich damit so wenig aus, dass er nie gewagt hatte, sich einem Roulette- oder Baccarat-Tisch zu nähern, und sich mit den Einarmigen Banditen begnügte, bei denen er sich ebenso hochkomplizierten wie überflüssigen statistischen Berechnungen hingab. Niemand hatte ihm erklärt, dass die Bank immer gewinnt und die Automaten auf den Schiffen nur an den ersten Tagen ordentliche Gewinne ausspucken, damit die dummen Hähnchen sich für großartige, vom Glück begünstigte Spieler halten. Dann werden die Gewinne immer schmäler, und an den drei letzten Tagen werden die Hähnchen gerupft, bis sie alles verloren haben. Darauf fallen alle rein. Auch diejenigen, die mit dem einzigen Ziel an Bord kommen, irgendwann an den Pokertisch zu gelangen, denn das Spiel ist in den Casinos Europas verpönt und nur noch in internationalen Gewässern als Glücksspiel zu haben. Sie verbringen die Tage in der Kabine, in der sie sich sogar das Essen servieren lassen, und abends stellen sie sich im dunklen Anzug an die Kasse, um ihr Geld in Chips umzutauschen. Auf Schiffen kann man kein Geld leihen und auch keinen Versuch starten, das Glück zu erzwingen. Der Sicherheitsdienst ist äußerst effizient.
Dem rumänischen Ex-Polizisten, der den Sicherheitsdienst an Bord der Fähre von Pierre-Didier leitete, stand es groß und deutlich auf die Stirn geschrieben: Versucht es gar nicht erst. Auch das übrige Personal war nicht gerade wegen seiner Freundlichkeit beliebt. Sie waren höflich, verhehlten aber nicht, dass sie nur hier waren, um die Hähnchen zu rupfen. Am Ende einer jeden Kreuzfahrt gehen um die dreitausendachthundert Passagiere von Bord, ein paar Stunden später werden die Anker gelichtet, und das Schiff ist wieder voll belegt. Die Hähnchen unterteilen sich in verschiedene Kategorien und gesellschaftliche Klassen, alle aber tragen unterschiedslos dazu bei, Charterer und Reeder reich zu machen.
Monsieur Vilrouge blieb bis gegen neunzehn Uhr in seiner Kabine. Daraufhin begab er sich zum Abendessen und danach sofort zum Glücksspiel. Er teilte sich einen Tisch mit einem anderen Einzelreisenden, einem Ingenieur aus Brindisi, der in Bari zugestiegen war. Kaum dass seine Frau ihm eröffnet hatte, sie werde jetzt mit anwaltlicher Hilfe die Scheidung einreichen, war er ins Reisebüro gegangen und hatte ein Billett für das nächste Schiff gekauft. Er war nicht unsympathisch, redete aber ununterbrochen. An den ersten Abenden hatte er von Antipasto bis Dessert von seiner Frau erzählt. Er war todsicher, dass er ohne sie nicht würde leben können.
»Lieben Sie sie derart, dass Sie es für ganz ausgeschlossen halten, irgendwann im Leben eine andere Frau zu finden?«, hatte Didier ihn eines Abends gefragt, als es ihm reichte. »Wenn zum Beispiel heute Abend eine Hübsche ankommt und sich in Sie verliebt, tun Sie so, als würden Sie nichts bemerken, jammern alle Tage Ihrer Frau hinterher und holen sich in Gedanken an die verflossene Liebe einen runter?«
»Was erlauben Sie sich …«, hatte der andere gestottert.
»Antworten Sie!«
Das hatte er nicht getan, sondern Didier nur angestarrt und gesagt: »Man merkt, dass Sie erst fünfunddreißig sind.«
»Neununddreißig!«, hatte er ihn korrigiert.
Ab jenem Abend informierte ihn der Ingenieur zwar nicht mehr über seine intimen Zustände, monologisierte aber dennoch endlos weiter. An Themen fehlte es ihm nie, und sein Lieblingssujet war die Kreuzfahrt als solche.
»Wissen Sie, warum es derart modern ist, seine Ferien auf diesen Hundertzwölftausend-Tonnen-Monstern zu verbringen?«
Der Deserteur schüttelte den Kopf, damit er weiterreden konnte.
»Weil die Leute sich um nichts kümmern müssen. Sie brauchen nur an Bord zu gehen, für alles andere sorgt ›das Schiff‹.«
»Das kann man in einem Hotel doch auch haben«, hatte er entgegnet, um auch mal etwas zu sagen.
Fröhlich kicherte der Ingenieur, weil er ihn bei einem Irrtum ertappt hatte. »Falsch. ›Das Schiff‹ kümmert sich in der gesamten Zeit, während der Passagier an Bord ist, um dessen Sicherheit und Gesundheit.«
»Daran hatte ich tatsächlich nicht gedacht«, sagte er in der Hoffnung, der Ingenieur könnte das Thema wechseln.
Der kam aber erst richtig in Fahrt. »Wissen Sie, was das bedeutet? Das ist der Tod des Reisens als Abenteuer, als Entdeckung, als Chance, die Realitäten, die man bereist, zu verstehen. Hier ist alles vorgefertigt …«
Nazzari interessierte das herzlich wenig. Er spielte die Rolle des Spielers, um nicht aufzufallen, denn wer keine Neugier erregen will, fügt sich am besten in eine vorhandene Typologie ein. So hatten es ihm die Leute erklärt, die ihn an Bord gebracht hatten; er wäre von sich aus nie im Leben auf die Idee gekommen.
Die Nacht, in der er auf Sardinien aus diesem Haus geflohen war und Nina den beiden Killern überlassen hatte, war keine zwei Monate her. Er war nach Korsika gelangt, doch statt nach Marseille weiterzureisen, fuhr er nach Calvi und klopfte bei seinem alten Geschäftspartner an, dem Genueser Giacomo Queirolo, Leutnant im Zweiten Fallschirmjägerregiment der Fremdenlegion.
Ihm hatte der Deserteur alles erzählt. Darum war er zu ihm gegangen. Queirolo war der einzige Mensch, dem er solch eine Geschichte voller Verrat und Tod anvertrauen konnte. Pierre Nazzari war sicher, er würde nur dann Didier Vilrouge werden können, wenn er sich von dieser Last befreite. Der Leutnant hatte ihn aufgenommen und ihm zugehört. Und er hatte ihn zu einem Arzt und einem Zahnarzt gebracht.
Eines Abends schließlich hatte der Leutnant ihm einen wohlgekleideten Mann in den Sechzigern vorgestellt, begleitet von zwei gefährlich dreinblickenden Vierzigjährigen.
»Mein Name ist Goujon«, stellte der Mann sich in unbeholfenem Italienisch vor, »und ich jage jemanden, den Sie gut kennen: Michele Ceccarello.«
Pierre bedachte seinen Freund von der Fremdenlegion mit einem traurigen Seitenblick. »Werde ich jetzt seine Hure?«
Der Mann lachte auf. »Nein. Ich habe nur einen Vorschlag zu machen. Sie müssen ihn nicht annehmen …«
Und so war er nach Venedig zurückgekehrt, diesmal nicht, um nach Cagliari zu fliegen, sondern um auf ein riesiges Schiff voller Touristen zu gehen, das unter italienischer Flagge nach Griechenland und in die Türkei fahren sollte.
Pierre warf einen Blick in die Papiertüte, in der er die Spielchips aufbewahrte. Er verlor wirklich zu viel, bald hatte er die allabendliche Summe verbraucht, die die Franzosen ihm zur Verfügung stellten. In der Hoffnung, nicht allzu bald in die Kabine zurückzumüssen, wechselte er an einen anderen Automaten. Am nächsten Tag würde das Schiff in Istanbul haltmachen, und er sollte erstmals an Land gehen. Das einzige Mittel gegen die Anspannung war, sich in dem Lärm dieser Apparate zu verlieren, mit dem sie den Gewinn anzeigten. Nach ein paar Runden jedoch hatte er alles verloren, wie nicht anders zu erwarten. Er trank noch einen Cognac. Den letzten ließ er sich in der Kabine servieren, um nicht so allein mit der Einsamkeit zu sein.
Am nächsten Morgen saß er mit den anderen Passagieren, die eine Stadtrundfahrt gebucht hatten, in einem großen, auch als Theater fungierenden Saal. Er trug die Kleidung, die zu dem Anlass verteilt worden war, eine Jacke und eine beidseitig tragbare Mütze, auf dem Rücken einen kleinen Rucksack. Eine Betreuerin befestigte ihm eine selbstklebende Nummer auf der Brust und ermahnte ihn, sich nicht von der Gruppe zu entfernen.
Sie stiegen in einen Autobus, der sie in der Stadt herumfuhr. Der Reiseführer, ein Typ in den Fünfzigern, hatte in Italien studiert, war effektiv und gut vorbereitet und zeigte ihnen den ganzen Vormittag über Moscheen, Paläste und Museen. Der Deserteur trabte mit der Herde mit und tat beständig so, als interessiere ihn, was er durch das Busfenster sah.
Endlich durften sie in der Nähe des Großen Basars aussteigen, und der Reiseführer verkündete, sie hätten jetzt zwei Stunden »Freizeit«, um sich die Geschäfte anzusehen und Gewürze und Kunsthandwerk einzukaufen.
Nun verließ Pierre die Gruppe und begab sich in die inneren Gässchen, einem auswendiggelernten Weg folgend. Erst betrat er ein Geschäft mit Antiquitäten und kaufte dort einen Gegenstand aus dem frühen 20. Jahrhundert, dann einen Lampenladen, durch dessen Schaufenster man die Tischchen eines winzigen Cafés gut im Blick hatte. Er tat so, als interessiere er sich für die Reproduktion einer alten Öllampe, und begann einen umständlichen Feilschhandel, währenddessen er immer wieder in die Richtung schielte, die ihn wirklich interessierte.
Ceccarello kam nach ein paar Minuten, nahm Platz und bestellte etwas zu trinken. Ein Zufall war das nicht, man hatte ihn unter einem Vorwand zu dieser Stunde an diesen Ort gelockt. Pierre wusste nicht, wie das gelungen war, er wusste nur, dass Ceccarello sich für gewisse Geschäfte in der Türkei aufhielt, die dem französischen Geheimdienst ganz und gar nicht passten.
Er meinte, die Lampe gefalle ihm doch nicht genug, und verließ das Geschäft über eine Gasse, die parallel zu der mit dem Café verlief. Dann nahm er einen Quergang und lief etwas zurück, bis er sich im Rücken des Gesuchten befand. Er zog sich die Mütze tiefer in die Stirn, trat hinter Ceccarello und schob ihm das zuvor gekaufte alte Kurzbajonett zwischen die Nackenwirbel.
Ceccarello merkte nicht einmal mehr, dass er starb. Als sein Leib vom Stuhl glitt, war Pierre schon weit weg. Auf einem anderen zuvor detailliert gelernten Weg begab er sich zum Parkplatz der Autobusse und wartete bequem im Sitzen die Rückkehr der anderen Passagiere ab.
Die Angst, in einem türkischen Gefängnis zu landen, legte sich erst, als das Schiff in Richtung Griechenland wieder in See stach. Dort genoss der Deserteur die ganze Zeit über die Befriedigung, dass er dieses Stück Scheiße umgebracht hatte. Endlich würde niemand mehr ihm nachstellen.
Vier Tage später warf das Schiff Anker vor dem Hafen von Dubrovnik, den es wegen zu viel Tiefgangs nicht anlaufen konnte. Kleine Schiffe beförderten die Passagiere im Pendelverkehr ans Festland, und Pierre ging rasch zu dem Restaurant, in dem Zlatka arbeitete.
Sie lächelte, als sie ihn erblickte. »Du bist wieder da«, sagte sie gerührt. »Ich hatte schon Angst, du wärst wieder einmal einer von den Betrügern.«
»Vielleicht war ich das sogar. Aber ich habe mich verändert. Das hoffe ich jedenfalls.«
Die Frau verschwand hinter einer Tür, um gleich darauf mit einem Schlüsselbund aufzutauchen.
»Geh nach Hause und warte auf mich.«
Didier Vilrouge verließ das Restaurant und wanderte über vertraute Straßen. Die Abfahrt des Schiffs war für sechzehn Uhr vorgesehen, und es würde keine Minute auf ihn warten. Die große Ferienmaschinerie konnte sich keine Verspätungen leisten.
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