19

„Bin ich schon verwandelt, oder kommt noch irgendwas, was schlimmer ist, als die Erfahrung, nicht ins Licht gehen zu können?“

Roy setzte sich wieder zu ihr aufs Bett und streichelte sanft ihre Hand.

„Was bis jetzt mit dir passiert ist, ist nur ein Teil der Verwandlung. Dein menschlicher Körper ist gestorben und mein Biss hat dafür gesorgt, dass deine Seele in der Hülle bleibt. Also hat dein Körper angefangen, sich zu verwandeln. Dein Bewusstsein ist zurückgekehrt, weil es nirgendwo hin konnte. Im Moment bist du untot, Emily. Leg deine Hand an deine Brust. Dein Herz schlägt nicht. Du hast keinen Stoffwechsel. In diesem Zustand bist du nur wenige Stunden lebensfähig. Was dich vollständig verwandeln wird, ist Blut. Du musst Blut zu dir nehmen, um das vampirische Erbe anzutreten. Dein Körper wird sich verwandeln. Deine Organe verändern sich, und dein Herz wird als das einer Vampirfrau zu schlagen beginnen.“

Emily nickte. „Das heißt, noch habe ich die Wahl, ob ich Vampir werden oder sterben will.“

„Nicht ganz. Ein Teil von dir ist schon Vampir. Wenn du jetzt Blut riechst, wird dein Blutdurst erwachen. Ich will dir nichts vormachen: Das erste Ausfahren der Fangzähne ist sehr schmerzhaft, und auch die Umwandlung deiner Organe tut weh. Aber wenn es überstanden ist, bist du unsterblich. Na ja, wenn dir nicht gerade jemand eine Silberkugel oder Tageslicht verpasst oder Ähnliches. Du wirst übersinnliche Fähigkeiten entwickeln und fliegen können, besser oder schlechter.“

Die junge Frau begann wieder zu weinen. Plötzlich wurde sie sich darüber klar, was sie alles zurück gelassen hatte.

„Ich werde nie mehr essen können. Nie mehr nachmittags im Park spazieren. Oh Gott Roy, was habe ich aufgegeben!“ Zitternd schlang sie die Arme um ihren Körper und schluchzte hemmungslos.

Doch als der Vampir sie tröstend umarmte, begannen plötzlich ihre neuen Sinne zu erwachen. Sein Herzschlag dröhnte in ihren Ohren, und sie roch das Vampirblut durch seine weiche Haut hindurch. Sie hatte angenommen, dass Vampire nur bei menschlichem Blut Appetit bekamen. Offensichtlich lag die Sache beim Erwachen des Blutdurstes etwas anders. Bei diesem außergewöhnlichen, köstlichen Duft, begann ihr Oberkiefer plötzlich höllisch zu schmerzen, und sie wandte sich schnell ab, den Mund in ihren Händen verbergend.

Roy lächelte leicht. „Emily, es ist wirklich nicht nötig, deine Fänge vor mir zu verstecken. Falls es dir noch nicht aufgefallen ist: Ich habe selbst welche.“

Sie konnte über diesen Scherz leider gar nicht lachen, weil sich in diesem Moment beidseitig große Spitzen aus ihrem Zahnfleisch bohrten und sich ihren Weg nach außen bahnten. Sie schrie laut auf, sprang auf die Füße, rannte panisch im Zimmer umher und fügte sich selbst nur noch mehr Schmerzen zu bei dem Versuch, ihre neu zum Leben erwachten Fangzähne zurück zu schieben und das schmerzende Zahnfleisch zu massieren.

Roy eilte schnell zu ihr und hielt ihre Hände fest, bevor sie sich ernsthaft verletzte.

„Emily, hör auf! Du wirst dir nur wehtun! Du kannst sie nicht aufhalten, wenn sie ausfahren! Das ist der Blutdurst. Dein Körper verlangt danach. Lass es zu.“

Als Emily Roy ansah, stand eine große Frage in ihrem Gesicht, die er sofort dadurch beantwortete, dass er mit einem Fingernagel seine Haut am Handgelenk einritzte.

„Das erste Mal trinkst du immer von einem Vampir. Damit dein Körper die Verwandlung vollenden kann.

Überraschenderweise war der Ekel, den sie vor dem letzten Schluck empfunden hatte, einem unglaublichen Durst gewichen. Als sie den dünnen, roten Faden anstarrte, der aus Roys Vene tropfte, sah sie dieses Mal nicht eine widerliche Flüssigkeit, die sie im Leben nie wieder anrühren wollte. Ihr lief beinahe das Wasser im Mund zusammen, als der köstliche, süße Duft des Lebenssafts den Raum erfüllte und ihre Ohren mit einem Rauschen erfüllte, das sie noch nie zuvor erlebt hatte.

„Trink. Trink und verwandle dich. Ich bin bei dir.“

Gierig und ohne weiter darüber nachzudenken stürzte Emily sich auf das Handgelenk des Lords und begann unbeirrt an seiner Vene zu saugen. Dabei bemerkte sie nicht, wie sie Roy mit ihren Lippen und dem stetigen Saugen langsam in Ekstase brachte. Gedankenlos schlug sie zusätzlich ihre Fangzähne in sein Fleisch, um noch mehr Blut zu bekommen, bis sie, nach viel zu kurzer Zeit, sanft und etwas widerwillig von ihm zurück gedrängt wurde. Roy verschloss seine Wunden, kämpfte seine Lust innerlich herunter und half Emily, sich zurück auf das Bett zu legen. Mit einem frischen Taschentuch tupfte er sanft die rote Spur von ihren Lippen, die die Mahlzeit hinterlassen hatte.

Emily wollte ihn gerade fragen, wie lange die Wirkung auf sich warten lassen würde, als sie plötzlich von heftigen Krämpfen geschüttelt wurde. Wie im Todeskampf wand sie sich auf dem Bett und schrie laut auf, als ihr das Herz in der Brust zu zerreißen schien.

Evelyn kam herein gerannt um sie bei der Verwandlung zu unterstützen, doch Roy jagte sie sofort wieder hinaus.

„Es ist meine Schuld und ich werde sie begleiten!“

Emily glaubte, wahnsinnig zu werden. Alles um sie herum schien sich zu verändern, nicht nur sie selbst. Ihr Herz schlug schneller als früher, und sie spürte jede Faser ihres Körpers überdeutlich. Das Licht im Raum veränderte sich und auch der Schall. Alles schien plötzlich klarer, deutlicher und lauter zu werden. Die Farben traten deutlicher hervor, und tausend neue Gerüche reizten die Nasenschleimhäute der jungen Vampirfrau. Ihr Zahnfleisch schmerzte, als wollte es bersten, und Emily hatte einen unglaublichen Appetit auf Blut. Sie hätte für einen Schluck des roten Saftes jedes Steak stehen lassen, was ihr selbst unglaublich vorkam.

Dann ließ der Schmerz plötzlich nach, und all die Eindrücke, die auf sie einprasselten, kamen zum Stehen, als sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel.

Emily wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, doch als sie die Augen aufschlug, war es tiefste Nacht, und Roy saß an ihrem Bett.

„Geht es dir besser?“

Emily nickte und blickte an sich herunter. Ihre Haut war blasser geworden, doch ansonsten schien sich nichts verändert zu haben.

„Ist es immer so schlimm?“

Ihr Lord nickte und half ihr hoch. „Und weil es so schlimm ist, gibt es einen Ehrenkodex unter Vampiren: Beißt man jemanden, lässt man ihn danach nicht allein. Man hilft ihm bei der Verwandlung, so gut man es vermag.“

Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander, bis Roy sich endlich traute, die Frage zu stellen, die ihm seit dem Augenblick im Wald auf der Seele lag.

„Bist du… sauer? Ich meine hasst du mich jetzt dafür, dass ich dir das angetan habe?“

Emily schüttelte langsam den Kopf. „Nein, nicht wirklich. Im Endeffekt… war es meine Entscheidung. Vielleicht ist es so, wie es jetzt ist, besser als eine Gefangenschaft als Mensch. Sie wagte nicht, ihm zu sagen, dass sie sich sehr wohl darüber bewusst war, dass sie ihn hätte sterben lassen und frei sein können.

Ein langes Schweigen trat ein.

„Du hast das also… nur getan, um einer lebenslangen Gefangenschaft zu entgehen? Ich habe dir doch gesagt, dass du für mich keine Gefangene bist. Ich dachte, das wüsstest du inzwischen.

Emily sah Roy fassungslos an und schüttelte dann beinahe belustigt den Kopf.

„Somit wäre bewiesen, dass Vampirmänner genauso dämlich sind wie menschliche. Oh man.“

Roy erwiderte ihren Blick verärgert. „Wie darf ich das denn jetzt bitteschön verstehen?“

Gut, streiten war gut. Vielleicht war es leichter ihm die Tatsachen wütend entgegen zu schleudern, anstatt Gefühlsduselei zuzulassen.

„Ganz einfach: Wenn du mich nicht gebissen hättest, wärst du da draußen gestorben, richtig? Und ich wäre allein gewesen. Allein im Einzugsbereich einer Großstadt, mit der Möglichkeit, schnell nach London zu kommen, an mein Geld, meine Sachen, ein Flugticket nach Hause… Und jetzt frag mich nochmal, warum ich das zugelassen habe, du Esel.“

Sie wartete seine Reaktion nicht ab sondern stand auf und ging zu einem Spiegel an der Wand. Mit einiger Überraschung nahm sie ihr verändertes Spiegelbild zur Kenntnis.

Roy wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Hatte Emily ihm gerade eine Liebeserklärung gemacht? Zögernd stellte er sich neben sie, außerhalb der Reichweite des Spiegels, und ließ seinen Blick zärtlich über ihr neues Erscheinungsbild gleiten.

Ihre langen, braunen Haare glänzten gesund, die Locken fielen, stärker gedreht als früher, bis zu ihren Brüsten hinunter. Ihre vormals schon eleganten Gesichtszüge hatten sich leicht verändert, um unauffällig den Anlagen der Fangzähne im Kiefer Platz zu machen, und wirkten nun beinahe überirdisch schön. Ihre Wimpern waren länger und voller, und ihre sinnlichen, vollen Lippen von einem verführerischen Rot. Ihre braunen Augen waren heller geworden und glänzten ihr nun bernsteinfarben aus dem Spiegel entgegen.

Da sie sich nun selbst besser gefiel als vorher, nahm Emily diese Veränderung mit Humor zur Kenntnis.

„Wow, ich brauche mich nie wieder zu schminken!“

Roy lachte befreit, was wie Donnergrollen von den Wänden widerhallte.

Mit jeder Sekunde, in der sie kräftiger wurde, bekam sie mehr Spaß an ihrem neuen Dasein und vergaß den Schrecken der Verwandlung.

„Werde ich vergessen, wer ich war?“

Das Familienoberhaupt schüttelte energisch den Kopf. „Niemals. Ich habe dir doch von Dracula erzählt und von meiner Verwandlung. Man vergisst sein Leben niemals. Es rückt nur mit den Jahren in weite Ferne. Aber du hast einen Vorteil, den Vampire vor deiner Zeit nicht hatten.“

„Und der wäre?“

„Es gibt Sonnenschutz, der es dir von Zeit zu Zeit ermöglichen wird, die Sonne zu sehen und dich bei Tageslicht hinaus zu wagen. Wenn du es zu sehr vermisst.“

Diese Aussicht ließ Emilys Laune weiter steigen und allmählich begann sie, sich beinahe wohl zu fühlen. Dennoch spürte sie sehr deutlich, dass sie nicht mehr die Frau war, die sie noch am Abend zuvor gekannt hatte, und das machte ihr noch etwas Angst.

„Was wird sich noch verändern?“

Roy wanderte im Zimmer auf und ab und betrachtete seine Schöpfung immer wieder voller Stolz und Zärtlichkeit.

„Nun, du wirst Gefühle deutlich intensiver erleben. Wut, richtigen Zorn, Liebe, Trauer, Leidenschaft. Du wirst dich erst daran gewöhnen und es unter Kontrolle bringen müssen. Junge Vampire sind meistens launisch und kaum kontrollierbar, und dir wird es nicht viel anders gehen. Aber du wirst lernen, damit umzugehen. Ich helfe dir dabei.

Außerdem werden andere die Veränderungen sehen. Wenn du wütend oder leidenschaftlich wirst, werden deine Fänge ausfahren und deine Augen werden glühen. Das wird deine Sicht schärfen, aber der Nachteil ist natürlich, dass es unmöglich wird, Wut oder Lust vor anderen zu verbergen.“

Emily musste plötzlich daran denken, wie sie das Glühen der Augen bei ihrer Großtante zum ersten Mal gesehen hatte.

„Edwina!“ Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie der Vampirfrau früher oder später mitteilen musste, was passiert war. Sie war immerhin ein Teil ihrer Familie. Zumindest in ihrem menschlichen Leben.

„Roy, lösen sich verwandtschaftliche Verhältnisse wirklich auf, wenn man sich verwandelt?“

Der Vampir nickte und sah ihr dabei fest in die Augen. „Genetisch bist du weder mit Gene, noch mit Edwina länger verwandt, wenn du das meinst. Aber eure menschliche Erinnerung bindet euch an einander. Durch meinen Biss gehörst du jetzt zu uns, zu Lumen Lacrimabundus. Wenn unsere Familie wieder vereint ist und du mit in die Unterkunft ziehst, werden wir das mit einem Blutritual besiegeln und du erhältst das Zeichen.“

Emily nickte nachdenklich und zögerte, ehe sie fragte: „Und… wenn nicht?“

„Wenn nicht… was?“

„Edwina ist nicht in eure Unterkunft gezogen und auch in keine andere. Sie ist in ihrem Haus geblieben, und führt ein Leben, das wenigstens ein wenig angelehnt an ein menschliches ist. Sie hat an keinem Blutritual teilgenommen, oder?“

Roys Blick verfinsterte sich. „Ich möchte nicht über Edwinas Entscheidung sprechen.“

Er schien sich plötzlich von Emily zu entfernen und unnahbar zu werden, doch die frisch gebackene Vampirfrau wollte sich damit nicht zufrieden geben.

„Roy, erklär es mir, bitte. Ich bin jetzt Teil eurer Welt, also hab ich auch ein Recht, diese Dinge zu erfahren. Vor allem, wenn es um meine Familie geht.“

Er wandte sich wieder ihr zu und funkelte sie wütend an, hielt aber im selben Moment überrascht inne.

„Was ist?“

„Nichts, nur… daran, dass nun auch deine Augen rot glühen können, werde ich mich erst gewöhnen müssen.“

Emily starrte ihn einen Moment lang an, bevor sie sich zurück zum Spiegel wandte und zutiefst erschrak. Die leichte Wut, die sie über seine Weigerung zur Auskunft empfand, hatte das Bernstein ihrer Augen, das sowieso noch neu für sie war, in einen rötlichen Ton verwandelt, und ihre Pupille war zu einem kleinen Schlitz geworden. Als sie mit der Zunge über ihr Zahnfleisch glitt, konnte sie die halb ausgefahrenen Fangzähne spüren. Es tat schon viel weniger weh als beim ersten Mal, sie spürte sie kaum noch.

„Wow. Daran werde ich mich gewöhnen müssen. Aber zurück zur Sache. Also, wie war das mit Edwina?“

Roy gab sich geschlagen. Diese Frau war anscheinend genauso dickköpfig wie er selbst. Besser, er arrangierte sich von Anfang an damit.

„Also schön. Dass ich Edwina nicht im Rausch der Rache getötet habe, liegt nur daran, dass sie sich so verteufelt gewehrt hat. Es hat fast Spaß gemacht, sie leiden zu lassen und ich dachte, dass sie eine gute Vampirfrau abgeben würde. Also habe ich sie verwandelt. Leider wurde sie sofort nach ihrer Verwandlung stocksauer auf mich. Sie liebte ihr menschliches Leben und hasste ihr vampirisches Dasein vom ersten Moment an. Daher weigerte sie sich sofort strickt, mir in die Unterkunft zu folgen. Gene hat mehrere Versuche unternommen, sie zu überzeugen, doch sie blieb hartnäckig in ihrem Haus.“

„Ich weiß. Gene und Edwina haben mir davon erzählt.“

„Eben. Irgendwann kam ein Punkt, an dem wir es leid waren, sie zu bitten und sie verstoßen haben. Das bedeutet für einen Vampir, dass er in einer Unterkunft nicht mehr willkommen ist und keine Möglichkeit mehr erhält, sich per Ritual an uns zu binden. Auch andere Unterkünfte werden ihn oder sie nur noch zögerlich aufnehmen. Doch das alles ist Edwina bis zum heutigen Tage egal. Ich weiß nicht genau, woher sie ihr Blut bezieht, aber sie ist auf jeden Fall sehr diskret dabei, was ich ihr zu Gute halte. Dennoch… Teil unserer Welt ist sie nicht.“

Emily nickte und seufzte tief. „Wenn ich das richtig verstehe, hat also im Grunde jeder Vampir eine Wahl, ob er das Ritual machen will, oder nicht?“

Roy zögerte, ihr zuzustimmen. Er hatte plötzlich Angst davor, dass sie eine Zugehörigkeit zu seiner Sippe ablehnen würde. Grund genug dafür hatte sie. Um den unsicheren Moment zu überspielen, schlug er ihr schnell vor, zu den anderen zu gehen und ihnen ihr neues Ich zu präsentieren.

Emily erklärte sich aufgeregt einverstanden. Es fühlte sich gut an, nun keine Angst mehr vor der Fremdartigkeit der anderen Vampire haben zu müssen. Sie war nun endgültig eine von ihnen.

Tom stieß als erster einen leisen Pfiff aus, als er die Vampirfrau die Treppe hinunter gehen sah. Emily musste unvermittelt lächeln. Nie hatte sie sich so sexy, so fit und so stark gefühlt.

All ihre Sinne schienen doppelt und dreifach so gut zu funktionieren wie früher und dadurch fühlte sich alles irgendwie… echter an.

Silvester kam zur Treppe geeilt, um die Schönheit mit einem Handkuss zu begrüßen.

„Wow, MyLady, Sie haben sich ganz schön gemacht! Sag mal, ist das Bernstein in deinen Augen?“

Wie nach einem Besuch im Schönheitssalon wurde Emily von allen Seiten begutachtet und bewundert. Es dauerte eine Weile, bis Gene an ihre Seite trat.

Emily sah das leichte Glimmen in seinen Augen und roch förmlich die Lust, die durch seine Adern schoss. Es irritierte sie, die Erregung eines anderen Vampirs riechen zu können.

Dass sie an ihrer Reaktionsgeschwindigkeit arbeiten musste, erkannte sie, als sie sich plötzlich in den Armen ihres ehemals menschlichen Cousins wiederfand und seine Härte drängend zwischen ihren Beinen spürte. Seine Fänge waren voll ausgefahren und er schien sich kaum noch beherrschen zu können.

Als er sie gerade leidenschaftlich küssen wollte, ging Roy ungestüm dazwischen und erteilte Gene einen derart harten Fausthieb, dass dieser einige Meter weit durch die Halle schlitterte, bis er schließlich gegen die nächste Wand prallte. Dabei stieß Roy ein Knurren aus, das jeder Bulldogge Konkurrenz machte.

„Fass sie noch einmal an und du bist Asche!“ Emily zuckte zusammen, als das Brüllen des Clanführers durch das Gebäude hallte. Seine Fangzähne fuhren zu voller Länge aus und seine Augen begannen dunkelrot zu glühen. Die junge Frau wich erschrocken zurück, bis Evelyn ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter legte.

„Keine Sorge. Das sind normale Machtkämpfe unter Vampiren. In zwei Sekunden hat er sich beruhigt. Aber er hat wenigstens keinen Zweifel daran gelassen, zu wem du gehörst!“ Die Vampirfrau kicherte leise, als sie sich ein paar Schritte entfernte, um sich an Evan zu schmiegen.

Emily musterte die anderen Vampire. Tatsächlich schien allen sofort klar zu sein, dass sie sie besser nicht als Objekt der Begierde ansahen.

Es war so viel neu für sie, dass sie nicht mehr in der Lage war, ihre Gefühle für Roy wirklich zu fassen. War sie tatsächlich verliebt in den Vampir? Liebte sie ihn tatsächlich so sehr, dass sie ihm blind in seine Welt gefolgt war und alles andere aufgegeben hatte? Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, als sie plötzlich einen starken Arm und Roys durchdringenden, erregenden Duft direkt neben sich spürte.

„Alles in Ordnung? Hat er dir wehgetan?“

Emily schüttelte den Kopf. „Quatsch. Er war nur scharf, das hast du wohl gesehen. Den Fehler wird er kein zweites Mal machen, dafür hast du gesorgt. Beinahe wütend wendete sie sich ab und fuhr sich erneut mit der Zunge über die Fänge, deren Spitzen bereits wieder aus dem Zahnfleisch lugten. Sie konnte sich ihre eigene Wut nicht erklären. Müsste sie sich nicht geschmeichelt fühlen, dass Roy sie verteidigen wollte? Hatte er das gemeint, als er sagte, dass junge Vampire sich schlecht beherrschen konnten? Sie verstand sich ja selbst nicht mehr!

Evelyn lächelte sie freundlich an. „Keine Sorge. Mit etwas Training fahren sie nicht sofort aus. Das lernst du alles noch.“

Emily hatte plötzlich genug davon, als Attraktion angegafft zu werden. Sie war in dieser Nacht gestorben und als Vampir ins Leben zurückgekommen. Sie hatte das Todesurteil für die Familie Watson unterschrieben und wahrscheinlich ihre Eltern, die im Jenseits sehnsüchtig auf sie warteten, bitterlich enttäuscht. Nun versuchte sie verzweifelt, mit ihrem veränderten Körper, dem damit verbundenen Gefühlschaos und ihren neuen Möglichkeiten umzugehen und wurde dabei wie eine Zirkusattraktion angestarrt. Außerdem schien Roy sie nun automatisch als sein Eigentum zu betrachten. Oder war das normal in einer guten Partnerschaft? Es reichte. Sie drehte sich auf dem Absatz um und marschierte schnurstracks Richtung Treppe.

„Wo willst du denn hin?“ Roy holte sie mühelos ein.

„In mein Zimmer. Da bin ich keine Attraktion wie aus dem Zirkus. Lasst mich einfach alle in Ruhe!“

Verwirrt nahm sie zur Kenntnis, dass das katzenhafte Knurren aus ihrer eigenen Kehle kam, ebenso wie das Fauchen zwischen voll ausgefahrenen  Zähnen. Sie wusste, dass in diesem Augenblick ihre Augen glutrot leuchteten.

Roy grinste, anstatt auf sie zu hören. „Du bist noch schöner, wenn du wütend bist.“

„Ja ja, die ungestüme Jugend…“ Evelyn gackerte leise, blieb aber lieber am Fuß der Treppe stehen, weil sie Emilys noch unberechenbares Temperament fürchtete.

Ohne auf die dummen Sprüche einzugehen, rannte Emily die Treppe hoch, einem Moment der Einsamkeit entgegen.