Die Queen mag keine Dino-Droppings

Saurier am Strand der Isle of Wight

Die Isle of Wight ist Englands Sommerloch, der sonnigste Flecken der Insel. Doch Martin Simpson freut sich schon im frühen Sommer auf den Winter, und man merkt es ihm auch an: Wir stehen am flachen Strand der Compton Bay, hinter uns das Wasser, vor uns die Klippen, an deren Oberkante unterm Gras die Schwalben hängen. »Wo ich hier stehe«, sagt er und zeichnet mit den Händen eine vage Grenze links und rechts, »war vor dem letzten Winter noch das Cliff.« Jetzt säuft der Himmel grau am Horizont im Wasser ab. Wir anderen hätten lieber Sonne gehabt an diesem kühlen, verhangenen Tag, doch Martin scheint hinter dem bleiernen Vorhang der Wolken bereits den Herbst zu ahnen, der für seinen Auftritt probt. Und der nächste Winter, weiß er, kommt bestimmt.

Martin Simpson ist Wanderführer, Geologe und Fossiliensammler, und sein liebster Arbeitsplatz ist hier: Die alte grüne Jacke aus schwerer Baumwolle schimmert längst nicht mehr nach Wachs und Imprägnierung, sie ist um die Taschen gelb und trocken wie der Lehm im Steilhang hinter ihm. In der einen trägt er einen schweren Meißel mit sich, in der anderen den Fäustel. Er greift sich einen Brocken von der Klippe und zerschlägt ihn in der hohlen Hand: weicher Sandstein wird im Handumdrehen zu Sand. Dann schiebt er mit der Stiefelspitze eine Handvoll Strand zusammen und presst sie zwischen seinen Händen. Wir glauben gerne, dass so oder ähnlich der Sandstein entsteht. Jetzt brauchen wir uns alles dies nur unter den Bedingungen der Kreidezeit zu denken, vor rund hundert Millionen Jahren.

Die Kreide sehen wir von Weitem, fern am malerischen Westzipfel der Insel mit dem weiß getupften Wahrzeichen, den Needles. Doch weiter südlich, bei Hanover Point, stehen wir noch unterhalb der Kreideschicht von einst, die hier schon lange abgetragen ist, im Lehm einer alten Lagune. Der feste Mergelkern am Fuß der Klippen ist auf der Südwestseite der Insel kilometerweit von höchst porösen Kalk- und Grünsandschichten überlagert. Regenwasser sickert leicht durch diese Schichten, sammelt sich und macht den Untergrund verformbar, schlüpfrig-glatt und fließt dann mit dem grauen oder blauen Sediment, das deshalb auch »Blue Slipper« heißt, weiter abwärts, was hier heißt: nach Süden. Dadurch sind die oberen Schichten in ständiger Bewegung. Gerade in den Winterstürmen mit ihren plötzlichen Kälteeinbrüchen kommt es so regelmäßig zu landslips, Erdrutschen und Klippenstürzen. Es sind die größten in Nordwesteuropa.

Der Parkplatz oberhalb, von dem wir aufgebrochen sind, ist schon bedenklich angefressen, bald wird er ganz verschwunden sein; bei Rocken End im Süden der Insel stürzten 1928 mehrere Hundert Meter Straße in die Tiefe, die neue von 1933 macht daher einen weiten Bogen um St. Catherine’s Point. 1963 fiel ein alter Herrensitz ins Wasser, und 1978 nahm die Klippe gleich fünf Häuser mit. Zwischen einem und vier Metern im Jahr weicht die Küste zurück, Martin Simpson drückt es anders aus: Vor zweitausend Jahren war die Isle of Wight noch doppelt so groß, in fünftausend Jahren wird sie verschwunden sein.

Bis dahin aber gibt sie jeden Winter ihre Schätze frei. Wir starren auf das Cliff und sehen nichts, nur hellen Sandstein, gelben Lehm und Ton in vielerlei Schattierungen, weiß und rötlich, grau und grün. »Das machen alle Leute falsch«, sagt Martin uns, »die Klippen verändern sich den Sommer über nicht. Man muss am Wasser gucken.« Am Wasser gibt die Ebbe immer wieder etwas frei von dem, was sich die Flut zuvor geholt hat.

Wir finden pflichtgemäß am flachen Wasser schwarze Stücke: »Kohle«, sagt er, »nichts Besonderes.« Dann hebt er selbst etwas auf, so rund und schwarz wie unsere fossile Kohle, und kann uns gleich den Unterschied erklären. Sein Fund ist tatsächlich leicht porös: Der Knochen eines Dinosauriers, besser gesagt ein kleiner Teil davon, vielleicht das Innere. Auch Exkremente fallen immer wieder an, dinosaur droppings, schwarz und hart auch sie und meist nur fingernagelgroß. Noch sind wir skeptisch, aber aus der Tiefe seiner Jackentasche holt er uns dann einen Wirbelknochen, den er hier am Strand gefunden hat. Diese Größe fällt auf keinem Schlachthof an. Hier aber sind die versteinerten Rückenwirbel des Iguanodon nichts Ungewöhnliches.

In der Grafschaft Sussex hat man 1822 den ersten britischen Iguanodon entdeckt; damals dachte man ihn sich noch als eine Art Rhinozeros-Reptil, bis man sich durch spätere Funde ein besseres Bild von ihm machen konnte: mäßig aufrecht auf zwei starken Hinterbeinen, mit einer Art von Pferdeschädel und einem langen Schwanz als Kontergewicht für den Rumpf, bis zu acht Meter lang und fünf Meter hoch. Und was man für das Nasenhorn gehalten hatte, entpuppte sich als Daumenklaue. In den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts erwarb sich der Reverend William Fox bleibende Verdienste um die Knochenfunde dieser Küste; bald konnte man beweisen, dass der kleinere Hypsilophodon kein junger Iguanodon war, sondern jemand aus der weiteren Verwandtschaft, doch eine eigene Art: Wissenschaftlich und dem Reverend zuliebe Hypsilophodon foxi genannt. 1865 kam, honoris causa, der Polacanthus foxi dazu.

Mit Martin Simpson balancieren wir vorsichtig bis an den Rand des Felsenriffs von Hanover Point; der Untergrund ist bucklig-hart wie Kopfsteinpflaster, doch mit weichen Algen überwachsen und deshalb glatt wie Schmierseife. Als wir wieder, nah am Wasser, besser stehen können, sehen wir die umgestürzten Stämme eines fossil forest deutlich vor uns, damals Nadelhölzer, heute Stein. Der Name fossil forest greift ein wenig hoch, denn eigentlich ist dies kein Wald, nur eine Sammlung angeschwemmter Stämme, die jetzt zerbrochen und in runden Scheiben liegen wie in Olympia die Reste der antiken Säulen. Doch es ist leicht, sie in Gedanken wieder aufzurichten und eine kreidezeitliche Lagunenlandschaft zu entwerfen, träge Flussmäander, stille Tümpel, Urwald bis ans Wasser.

Sogar das Leben malen wir uns aus mit Martins Hilfe: Er zeigt uns große Spuren im Gestein, die Fußtritte des Iguanodons in einer Reihe, nur echt mit den drei Zehen! Ein Vorgänger von Martin, der Amateurgeologe Samuel Beckles, hat solche Spuren schon 1862 gründlich untersucht. Je nach ihrer Tiefe und dem Abstand zwischen ihnen kann man ahnen, wie schwer das Tier war und wie schnell es lief. Nach der Fülle der Befunde ahnt man, dass es in Herden umherzog. Quer dazu läuft eine zweite Spur: Ein Tyrannosaurus, wie Martin erklärt. Und dann verwandelt sich der Geologe in einen Kollegen Sherlock Holmes’: »Man kann sogar beweisen, dass sie einander hier nicht begegnet sind. Der eine hätte sonst den anderen angegriffen.« Das sagt er voller Gleichmut und im Ernst, und dabei klingt die Logik ganz wie ein Jurassic Joke!

Wie dem auch sei, die Spuren werden es nicht mehr verraten. Zwei Jahre, mehr gibt ihnen Martin nicht, dann hat das Meer sie sich geholt. Retten oder konservieren kann man sie kaum und braucht es auch nicht: Erstens haben alle Museen genug, und zweitens gibt es immer wieder neue. Diese freilich sind besonders imposant. Als man sie gefunden hatte, kam ein Fernsehteam, um sie der ganzen Welt zu zeigen. Da war die schönste schon verschwunden. Jemand hatte versucht, den Sandsteinfels mit einer Säge zu traktieren. Er hatte nichts davon als ein eckiges Loch, denn der Fußabdruck zerbrach. So zeigte das Fernsehen jenes viereckige Loch, und daran konnten sich die Hobby-Fährtensucher halten. Ein rechteckiges Loch im Stein als Anhaltspunkt erkennt man leichter als die Fußspuren eines Dinosauriers, wenn man sie nicht kennt.

Manchmal kommen auch Fanatiker, die wollen selber Winter spielen und graben in der Klippe. Aber das ist verboten und außerdem gefährlich; das Cliff gehört den Farmern, alles andere am Strand, zwischen den Grenzen von Ebbe und Flut, gehört seit alters her der Krone, auch die Knochen und die schwarzen Exkremente, die Martin immer wieder mit nach Hause nimmt. Sorgen hat er deshalb keine: »Ich habe schon der Queen geschrieben, ob sie die Dino-Droppings haben will.« Doch bisher, so sagt er, habe ihm der Buckingham Palace noch nicht geantwortet.