6.

Wir saßen an diesem Abend sehr lange auf der Veranda, viel länger als nur einen Augenblick. Wir tranken Rotwein, und ich erzählte. Einmal glaubte ich, Lotta bei den Weiden herumklettern zu sehen. Lotta und noch ein Kind, ein Stück größer als sie und mit goldrotem Haar. Ich blinzelte. Nein. Da war niemand auf der Weide, gar niemand. Die Dämmerung gebar bisweilen ihre eigenen Gestalten. Sie gebar ganz hinten auf der Wiese auch eine Spaziergängerin mit langem schwarzem Haar, die alleine durchs Abendlicht schwamm, und ich goss Wein nach und erzählte weiter.

Es tat unerwartet gut, zu erzählen.

Als ich geendet hatte, war es so dunkel geworden, dass man die Weiden nicht mehr sah und auch nicht sagen konnte, wer dort war oder nicht war.

Claas legte eine Hand auf meinen Arm, und ich zog meinen Arm nicht weg.

»Er hat ganz alleine versucht, die Welt zu retten«, sagte er leise. Ich nickte.

»Und du denkst, er ist dabei irgendwem auf die Füße getreten oder bei … irgendetwas … in die Quere gekommen.« Ich nickte wieder. »Jemandem, der versucht hat, ihn verschwinden zu lassen.«

»Ja«, sagte ich. »Aber er hat es geschafft, abzuhauen. Irgendwo auf der Autobahn.«

Ich merkte auf einmal, dass ich wieder fror. Ich rückte näher zu Claas auf der Verandabank.

»Ich habe gestern noch mal mit dem Fahrer gesprochen«, sagte er leise. »Weißt du. Dem, der David angefahren hat. Er hat im Endeffekt das Gleiche gesagt wie schon vorher. Dass David auf einmal da war, wie aus dem Boden gewachsen oder vom Himmel gefallen. Aber er hat zugegeben, dass es eher unwahrscheinlich ist, dass ein neunjähriger Junge vom Himmel fällt. Er sagte, die Straße vor ihm in der Dämmerung sei leer gewesen. Völlig leer. Dann hätte er den Radiosender verloren und kurz auf die Anzeige gesehen, um ihn neu einzustellen, und als er wieder auf die Straße sah – er meinte, das war höchstens nach einer Sekunde – da stand David dort, in der Mitte der Fahrbahn.«

»Du meinst, jemand hat ihn auf die Straße gestoßen.«

»Es ist möglich, oder? Der Fahrer sagt, er hat niemanden gesehen. Aber er hat auch nicht darauf geachtet, er hat nur auf David geachtet, der auf der Straße lag, und dann hat er den Krankenwagen gerufen.«

»Da ist ein Hügel mit Büschen, rechts. Ich war da.«

Claas drückte mich ein wenig fester an sich. »Ich weiß«, sagte er. »Ich war auch da. Dreimal jetzt.«

Ich lehnte mich an ihn. »Man kann sich zwischen den Büschen verstecken«, flüsterte ich.

»Ja«, sagte Claas. »Und ein paar hundert Meter davor führt die Autobahn über die Warnowtalbrücke. Man könnte dort ins Tal hinunterklettern, irgendwie wegkommen, ohne gesehen zu werden. Auch das ist möglich.«

»Wenn es so war«, wisperte ich, »wenn ich den zwischen die Finger kriege, der das getan hat, dann bringe ich ihn um.«

Claas schob mich ein wenig von sich fort und sah mich an, er studierte mein Gesicht sehr gründlich, wie etwas, das er zum ersten Mal sah.

»In Ordnung«, sagte er schließlich.

Dann beugte er sich vor und küsste mich, und ich küsste aus reiner Überraschung zurück. Es war ein langer und beinahe schmerzhaft intensiver Kuss; unsere ganze Wut war darin enthalten, die Wut auf einen Unbekannten; auf den Mörder unseres Sohnes. Er war allerdings kein Mörder. David lebte. Und so war auch unsere Hoffnung in dem Kuss enthalten, die Hoffnung darauf, dass er bald aufwachen würde. Die Hoffnung hob mich von der Verandabank und trug mich nach drinnen, sie trug mich durch die Küche ins Wohnzimmer, als wöge ich nicht mehr als eine Feder, und dort bettete mich die Hoffnung auf das alte Ledersofa mit den vielen abgewetzten bunten Kissen. Sie sah dabei Claas erstaunlich ähnlich.

Das Sofa unter mir fühlte sich an wie ein Stück Vergangenheit. Wir hatten es zusammen gekauft, gebraucht, sehr billig, bei einer Haushaltsauflösung. Vielleicht war auch damals jemand in ein Seniorenheim gezogen, von dessen fünftem Stock aus man irgendetwas sehen konnte, das man gar nicht sehen wollte. Wir hatten nicht darüber nachgedacht, wir waren jung gewesen, wir hatten das Sofa gekauft und in unsere erste gemeinsame, winzige Wohnung geschleppt, und wir hatten uns darauf geliebt, weil das Bett im Nebenzimmer uns zu spießig – und auch zu hart – dafür erschien. Dann hatten wir das alte Pfarrhaus hier im Dorf gekauft und das Sofa über die dreistufige Treppe getragen, die rissig war, weil die Wurzeln der beiden Kastanienbäume immer wieder versuchten hindurchzuwachsen. Und wir hatten uns gesagt: Hier in diesem Haus ist der richtige Platz für ein altes Ledersofa mit bunten Kissen. Hier ist der richtige Platz für uns.

David, dachte ich, David ist später auf diesem Sofa gezeugt worden. Das war ein erstaunlicher Gedanke.

»Du hast sehr viel an«, sagte Claas und katapultierte mich zurück in die Gegenwart. Seine Hände versuchten, unter meinem T-Shirt den Verschluss meines BHs zu lösen, und ich erinnerte mich daran, dass er das noch nie gekonnt hatte, und hätte beinahe gelacht. Ich löste den Verschluss selbst und streifte das T-Shirt über den Kopf. Ein Teil von mir war neun Jahre jünger, war wieder an dem Tag angekommen, an dem wir das Sofa hierhingestellt hatten.

Es war Frühling gewesen, so wie jetzt, und ich wusste noch, dass alles geduftet hatte – die jungen Blumen draußen und die alte Erde, und Claas’ Hemd hatte nach Schaf gerochen, das wusste ich auch noch, er war gerade hereingekommen vom Schafefüttern, und die Schafe waren etwas Neues und Aufregendes gewesen, genau wie das Haus, genau wie das Leben außerhalb der Stadt.

Ich schlang die Arme um seinen Hals, wie ich es vor neun Jahren getan hatte, ich schloss die Augen und zog einen vergangenen Claas an mich, und ich wollte sagen: Wie seltsam, ich liebe nicht dich, ich liebe den, der du gewesen bist, aber so etwas sagt man nicht. Ich sagte: »Du hast auch zu viel an.« Ich war genauso schlecht darin, Männerhosen aufzuknöpfen, wie Claas darin war, BHs zu öffnen, vor allem mit geschlossenen Augen. Wir verhedderten uns eine Weile ineinander, bis wir unsere Kleider irgendwie doch loswurden, und dann spürte ich Claas’ Hände auf meiner Haut. Sie waren sehr warm, und meine Haut war sehr kalt, wir waren wie die entgegengesetzten Pole einer Batterie, durch die ein Strom fließt.

Wo war eigentlich die Mauer? Meine unsichtbare Mauer? Für den Moment schien sie verschwunden, und ich hoffte, dass sie verschwunden blieb.

Ich versuchte, mich daran zu erinnern, wann wir das letzte Mal miteinander geschlafen hatten, aber ich wusste es nicht mehr. Ich erwartete nichts, absolut nichts, und vielleicht wurde es deswegen gut.

Der Strom, der durch die Batterie unserer unterschiedlich warmen Körper floss, riss mich mit und ließ es unwichtig werden, ob dies die Vergangenheit oder die Gegenwart war. Möglicherweise ist es auch die Zukunft, dachte ich, eine Zukunft, in der David wieder im Haus ist. Er ist oben in seinem Zimmer mit irgendeinem völlig abwegigen Projekt beschäftigt; dem Einlegen von Frühlingsblumen in Formalin oder dem Katalogisieren verschiedener Nudelsorten. Ich legte Claas eine Hand auf den Mund, »sch«, flüsterte ich, »leise … sonst kommt er die Treppe runter und startet ein neues Projekt … ein Fotoprojekt über Sofas … Das wäre dann … jetzt … nicht mehr jugendfrei …«

»Wer?«, flüsterte Claas.

Da dachte ich, dass dies wohl doch die Vergangenheit war, weil Claas nicht wusste, von wem ich sprach, und dass es vielleicht der Tag war, an dem David entstand. Ich bin betrunken, dachte ich, ich gleite durch die Zeiten wie ein Stück Seife, ich denke die seltsamsten Dinge. Also beschloss ich, gar nichts mehr zu denken, ich war einfach ein Körper, der sich mit einem anderen Körper zusammenschloss, um zu tun, wozu Körper gemacht waren, und das war richtig so.

»Lovis«, flüsterte Claas sehr viel später. »Lovis, Lovis.«

»Claas«, flüsterte ich.

Wir lagen nebeneinander auf dem Sofa, auf dem Rücken, obwohl das Sofa sehr schmal war. Claas ließ seine Hand über meinen nackten Bauch gleiten, und ich fing sie ein und hielt sie fest.

»Wir könnten wieder mal verrückte Dinge tun«, sagte ich. »Wir könnten nackt durch den Garten laufen, es ist sowieso dunkel, keiner sieht uns. Wie damals, weißt du noch? Wir haben so viele verrückte Dinge getan.«

Claas rollte sich auf die Seite und stützte sich auf einen Ellbogen, um mich im Dämmerlicht des Frühlings anzusehen. Ich strich mit dem Zeigefinger die Haut neben seinem Auge entlang. »Als wir das letzte Mal nackt durch den Garten gelaufen sind, hattest du diese Fältchen noch nicht«, wisperte ich. »Auf Davids Diagramm wärst du ungefähr in der Mitte … Lass es uns tun, ja? Lass uns jetzt gleich hinausgehen, ohne etwas anzuziehen, lass uns auf eine Weide klettern und die Sterne angucken und dann Verstecken spielen, so wie mit David, als er klein war.«

»Ich muss mit dir sprechen«, sagte Claas. »Über ihn.«

»Über David?«

Er nickte. »Ja. Wenn er zurückkommt … wann immer das sein wird … es ist möglich, dass alles anders sein wird.«

»Natürlich«, sagte ich und fuhr mit dem Finger seine Augenbrauen nach. »Alles wird ganz anders. Ich werde anders sein. Ich werde mir mehr Zeit für ihn nehmen. Wer weiß, vielleicht male ich überhaupt nicht mehr …«

»Ich glaube nicht, dass er das wollen würde. Dass du nicht mehr malst.«

»Dann male ich weniger«, sagte ich, und ich fühlte mich federleicht an, als ich das sagte. »Oder anderes. Für ihn. Für euch. Ich kann die ganze Welt für euch malen … Ich habe diese Abstraktionen satt. Ich male dir einen Nachtimbiss, wenn du willst. Oder einen Mondscheinspaziergang. Ich male David eine neue Schreibmaschine …«

»Lovis.« Claas nahm meine Hand aus seinem Gesicht, hielt sie fest und sah mich weiter an, und da sah ich, dass sein Blick unheimlich ernst war, ernst und unheimlich, und dass er nicht über Mondschein und Schreibmaschinen reden wollte.

»Lovis, ich habe mit den Ärzten gesprochen.«

»Mit Samstag?«

»Ja. Mit Samstag auch. David wird vielleicht nie wieder laufen können. Du hast das nicht gesehen, oder du wolltest es nicht sehen … unter der Decke, die da im Krankenhaus über ihm liegt … Er hat bei dem Unfall das linke Bein verloren. Und seine Wirbelsäule und sein Gehirn … Es ist noch nicht klar, was wird. Wir werden uns umstellen müssen. Uns darauf einrichten, dass er vielleicht in einem Zimmer im Erdgeschoss besser aufgehoben ist als oben … und wir brauchen ein anderes Auto …«

»Ein Auto, mit dem man einen Rollstuhl transportieren kann?«, hörte ich mich fragen, und meine Stimme klang eiskalt und giftig. »Oder gleich einen Sarg?«

Ich setzte mich auf und starrte Claas an, der einfach liegen blieb, auf eine schreckliche Art hilflos.

»Wie kannst du so was sagen?«, zischte ich. »Hast du deinen Sohn schon so weit aufgeben? Machst du im Kopf schon einen Behinderten aus ihm? Ich werde dir was sagen, es ist auch mein Sohn, und ich habe keinen behinderten Sohn, mein Sohn wird wieder Fußball spielen, zusammen mit seinen Freunden, und …«

»Das soll er ja«, sagte Claas leise. »Ich möchte ja auch, dass er wieder Fußball spielt. Dass er seine Freunde behält. Aber wir müssen ein paar Dinge besorgen, damit er das kann …«

»Seine Freunde behält?«, fauchte ich. »Wie könnte er sie nicht behalten? Die haben ihn noch nicht aufgegeben, nicht so wie du. Finn und Peter zum Beispiel … die stehen sofort wieder vor der Tür, sobald David zu Hause ist, sicher … und wenn er noch eine Weile zu Hause bleiben muss, dann besuchen sie ihn eben … man kann doch auch drinnen schöne Sachen machen, und es gibt doch Reha, und alles … Er wird wieder Fußball spielen, das schwöre ich dir.«

»Lovis. Bitte.« Claas streckte eine Hand aus, aber diesmal zuckte ich weg, ich ließ mich nicht von ihm berühren, nicht mehr, er war in den letzten drei Minuten jemand ganz anderer geworden. Oder er war einfach wieder der geworden, der er war, und mir wurde mit einem Schlag klar, dass er nie mehr der Claas der Vergangenheit sein konnte. Die letzte halbe Stunde war nichts gewesen als dumme, weinduselige Illusion.

»Fass mich nicht an«, sagte ich. »Ich hasse dich.« Und ich klang dabei wie ein Kind und ärgerte mich darüber.

»Tu das«, sagte Claas müde. »Hass mich, Lovis. Das geht vorbei. Alles geht vorbei. Du musst dich nur an den Gedanken gewöhnen, dass die Dinge anders sein werden …«

»Das werde ich nicht!«, rief ich und sprang auf. »Ich werde mich nie an den Gedanken gewöhnen, dass ihr David in … in einen Rollstuhl verbannt, du und die Ärzte in Rostock, das lass ich nicht zu, ihr … ich … David …« Aber ich wusste nicht, was ich sagen wollte, was ich sagen konnte, und so rannte ich aus dem beinahe dunklen Wohnzimmer hinaus in die beinahe dunkle Nacht, rannte ganz alleine über die Koppel, wo die Schafe sich als dunkle Klumpen in der Nacht abzeichneten, Tränen der Wut in meinem Gesicht. Ich kletterte ganz allein auf die mittlere Weide, und dann saß ich in ihren abgebrochenen Ästen und schüttelte meine Fäuste gegen den Mond, ich, eine angetrunkene jähzornige nächtliche Geisterfrau, und fauchte die Nacht an.

»Ich werde kein behindertes Kind haben«, fauchte ich. »Ich! Werde! Kein!«

Schließlich brach ich in der Weide zusammen, als wäre auch ich nichts weiter als einer ihrer Äste, zerdrückt von meinem eigenen Gewicht. Was waren das für Worte, die ich da in die Nacht schrie?

Natürlich, dachte ich, würde ich David genauso lieben, wenn er in einem Rollstuhl säße.

»Es gibt sehr gute Rollstühle für Kinder«, flüsterte ich. »Es gibt gute Irgendwas für Kinder. Es gibt Armprothesen und Beinprothesen, die man wirklich bewegen kann und …« Ich brach ab. Da war etwas in der Dunkelheit gewesen, eine Bewegung am Fuße der Weide, und ich erschrak. Kamen die Wildschweine bis hierher? War es nur ein Reh? Der Hund, vielleicht? Oder etwas ganz anderes, ein Geschöpf, geboren aus Nacht und Wut?

»Bist du das?«, fragte eine kleine Stimme von dort unten.

»Ich glaube«, antwortete ich unsicher. »Ich glaube, ich bin ich. Ich bin Lovis, Davids Mutter.«

»Also doch«, sagte die kleine Stimme, und da erkannte ich sie. Es war Lotta. »Warum hast du nichts an?«, fragte sie.

»Warum rennst du nachts draußen herum, statt im Bett zu sein?«

»Ich kann nicht schlafen«, sagte Lotta. »Ich muss immer an David denken. Manchmal turne ich nachts in den Weiden, wenn ich nicht schlafen kann. Glaubst du, … er sieht uns?«

»Sieht uns?« Ich wischte mir mit dem nackten Arm durchs Gesicht, damit Lotta meine Tränen nicht sah, und merkte auf einmal, wie sehr ich schon wieder fror. Der Frühling war noch jung; nicht dazu gemacht, nachts nackt in Weiden zu sitzen.

»Ja. David. Glaubst du, er sieht uns? Er hat mir mal erzählt, Buddatisten oder wie die heißen, die können medisieren, dann verlassen sie ihren Körper und schweben irgendwo rum und kommen später wieder zurück. Glaubst du, dass es bei David auch so ist?«

Ich schluckte. »Glaubst du es?«

»Manchmal«, sagte Lotta nachdenklich. »Manchmal fühlt es sich so an.«

»Geh wieder nach Hause. Du erkältest dich.«

»Du auch«, sagte Lotta, und ich nickte. »Wir können ja von ihm träumen«, sagte sie zum Abschied. »Beide, du und ich. David als Traum reicht sicher für uns beide, was.«


Diesmal war ich lange blind.

Ich saß da und starrte die Buchstaben von Eintrag 6 an und wurde nicht schlau aus ihnen. Ich legte meine Hände auf die Tasten der alten schwarzen Schreibmaschine, verschob sie nach oben, nach unten, nach rechts und nach links. Nichts funktionierte.

Es war Morgen, das Haus war leer und still. Claas war in die Klinik gefahren, ich hatte ihn das Haus verlassen hören, und dann hatte ich am Fenster gestanden und seinem Auto nachgesehen.

Ich hatte nicht geschlafen. Ich hatte die ganze Nacht in meinem Atelier gesessen, vor einer leeren Leinwand. Ich hatte versucht, mir eine Zukunft vorzustellen, in der David ein anderer David war.

Und jetzt saß ich also hier, in Davids Zimmer, das wir vielleicht ins Erdgeschoss verlegen würden.

In meinen Ohren sang die Müdigkeit, aber mein Puls raste, und ich konnte die Augen nicht schließen, es war, als gäbe es eine Sperre in mir, die sich gegen den Schlaf sträubte.

Lotta hatte gesagt, wir könnten von David träumen.

Ich hatte Angst, von David zu träumen. Von dem anderen David, der er sein würde, wenn er die Klinik verließ. Und plötzlich sprang ich auf und rannte die Treppe hinunter, Davids Projektmappe unter dem Arm. Claas musste sich geirrt haben. Natürlich. David hatte kein Bein verloren, es war alles ein Irrtum.


Ich war noch nie so schnell in Rostock gewesen. Auf der Autobahn dachte ich, dass ich jetzt nicht rechtzeitig bremsen könnte, wenn plötzlich ein Kind vor mir auftauchte. Aber Kinder tauchen nicht einfach auf Autobahnen auf, egal, was der Fahrer des Unfallwagens sagte.

Ich hastete über die Intensivstation, ohne jemanden zu grüßen, ich erreichte Davids Zimmer, versuchte einen Moment, zu Atem zu kommen, bemerkte den Schatten einer Schwester bei den Geräten, blinzelte ihn weg und schlug die weiße Decke zurück.

»Frau Berek«, sagte jemand hinter mir. Thorsten Samstag.

»Haben Sie denn immer Dienst?«, fragte ich, und meine Stimme klang ganz leer. »Ist nie ein anderer Arzt da?«

»Zufall«, sagte Thorsten. »Immer, wenn Sie hier sind …«

»Wir duzen uns doch«, sagte ich.

Er räusperte sich, sagte aber nichts. Ich drehte mich zu ihm um. Die Schattenschwester verschwand lautlos durch die stets offene Flurtür.

»Warum hat keiner von den Ärzten es mir gesagt?«, fragte ich.

»Was?«

»Das Bein. Davids Bein. Claas hat es mir gesagt.«

Er trat neben mich. Eine Weile standen wir zusammen da, still wie vor einem Altar, und sahen den Körper an, der reglos vor uns im Bett lag. Unterhalb der linken Hüfte gab es nur noch einen Verband. Davids rechtes Bein, das neben dem nicht mehr vorhandenen lag, sah merkwürdig verloren aus. Auch merkwürdig blass. Mir war ein wenig übel, und ich schämte mich dafür.

»Wussten Sie es nicht?«

Ich schüttelte den Kopf. »Er hatte einen Leberfleck direkt unter dem linken Knie«, flüsterte ich, kaum hörbar. »Er ist so oft auf die hingefallen, früher, und ich habe Jod auf seine aufgeschürften Knie gepinselt, und immer war da dieser Leberfleck …«

Samstag räusperte sich noch einmal. »Besser, ich sage das dann auch gleich. Frau Berek … Lovis … wir sind uns nicht sicher, ob das rechte noch ausreichend durchblutet ist. Es kann sein, dass er auch das verliert.«

»Er wird nie wieder laufen«, sagte ich tonlos. »Niemand kann auf zwei Beinprothesen laufen.«

Damit drehte ich mich um und ging.


Samstag fand mich eine halbe Stunde später im Lager.

»Hier sind Sie«, sagte er.

»Nein«, sagte ich und gab es auf, ihm zu sagen, er solle mich duzen. »Ich bin nicht hier. Das ist nur ein Schatten. Gehen Sie weg.«

»Warten Sie«, sagte er und beugte sich über mich. »Sie versuchen noch immer, diese Texte zu entziffern, oder?«

»Er hat jedes Mal das System gewechselt. Bei jedem Eintrag. Er war … es ist … ihm wirklich wichtig, dass die Sache geheim bleibt. Diesmal komme ich nicht dahinter.«

Thorsten Samstag betrachtete die Seite, die ich aufgeschlagen hatte. »Sehen Sie es nicht?«

»Was?«, fragte ich.

»Etwas fehlt. Es ist wie mit Davids Bein. Sie sehen nicht, dass etwas fehlt.«

Ich starrte die Buchstaben an, feindselig, mit brennenden Augen. Sie brannten von der Anstrengung, nicht zu heulen. »Was?«

»Die Vokale sind nicht da«, sagte Samstag. »Sie müssen akzeptieren, dass etwas fehlt, damit Sie weiterkommen.«

»Sie hören sich an wie Rosekast«, murmelte ich. »Der Philosoph.«

Aber da hatte er das Lager schon verlassen, um nach irgendeinem piependen Gerät zu sehen.


Werkstattbericht – Eintrag 6
9. 12. 2011

Liste der Lösungen von Problemen:
 
  1. Herr Wenter – Edeka Kasse Bücher
  2. René – Blitz
  3. Frau Hemke – Kirche
  4. Hund – Schule
  5. Kühe – Celia

Als ich Lotta diese Liste vorgelesen habe, hat sie sie nicht verstanden. Daher folgt nun eine Erklärung.
Ad 1) Herr Wenter.
(Falls Sie das nicht wissen: Ad ist Latein und heißt »zur Erläuterung von« oder »ergänzend ist zu bemerken«.)
Herr Wenter wäre beinahe vergessen worden, bei all den anderen Dingen, die wir erledigen müssen. Ich habe mich aber doch erinnert und unauffällig mit ihm gesprochen. Er sagte, Leute hätten ihm in letzter Zeit Dinge in den Briefkasten gesteckt, zum Beispiel eine Packung Tabletten, aber er hätte sie nicht genommen, weil man bei so was nie weiß und weil er überhaupt nicht gerne Tabletten nimmt. Herr Wenter hat leider kein Internet, wo er hätte nachsehen können, was für Tabletten es waren und ob er sie nehmen möchte. Er hustet immer noch und war immer noch nicht beim Arzt, und Lotta findet auch, dass er blasser ist als früher. Und dünner. Ich habe mir daher eine neue Methodik ausgedacht, um Herrn Wenters Vertrauen in Ärzte, zu denen er bald gehen muss, herzustellen.
Beim Edeka gibt es an der Kasse Bücher zu kaufen, die für Leute gemacht werden, welche eigentlich keine Bücher lesen. Es gibt Bücher über Vampire oder über Liebe oder über niedliche kleine Mädchen, aber am meisten Bücher gibt es, erstaunlicherweise, über Ärzte. Sie sind sehr billig, weil das Papier eher dünn ist.
Das erste Buch, das ich vorgestern gekauft habe, hieß DER ARZT IHRES VERTRAUENS, und auf dem Titelbild untersuchte ein junger, netter Arzt eine junge, nette Frau mit einem Stethoskop am Busen. Beide lächelten. Ich habe Herrn Wenter das Buch ganz ohne Begleitschrift in den Briefkasten gelegt, damit er wiederum nicht weiß, dass es von uns ist. Ich denke, wenn er es sieht, wird er das Titelbild spannend finden und das Buch lesen, so dass er sieht, wie gut man Ärzten vertrauen kann. Morgen werde ich das nächste Buch in seinen Briefkasten stecken, ich habe es schon besorgt, es ist noch schöner und heißt DOKTOR DES PARADIESES. Darauf sind Palmen und ein Strand, und der Titel passt ja außergewöhnlich gut. Ich denke, bei Buch 5 oder 6 wird Herr Wenter davon überzeugt sein, dass Ärzte nicht gefährlich sind, sondern es eine gute Idee wäre, hinzugehen.

Ad 2) René
Lotta hat gesagt, sie hat gesehen, wie die Jungs von der Bushaltestelle wieder Steine geworfen haben. Ich ging daher zu René, der nicht über Steine reden wollte, aber eine neue Schramme unter dem linken Auge hatte. Er trug keine Verbände mehr an den Händen.
»Hab ich abgemacht«, erklärte er und grinste. »Stört.«
»Aber die wachsen schief zusammen«, sagte ich, »die Knochen, wenn man die nicht richtig schient.«
»Schief is okay«, sagte René. »Is egal.«
Renés Mutter sagte, die Steine könnte man nicht ändern, aber René sollte zu Hause bleiben, wenn es dämmerig wird. Nur ist die Dämmerstunde seine liebste, vielleicht, weil die Autos in der Dämmerstunde Lichter anhaben und er es schöner findet, Autos mit Lichtern zu winken. Aber die Dämmerstunde ist auch die liebste Stunde der Jungs von der Bushaltestelle, weil sie sich dann betrinken können, ohne dass es so sehr auffällt, oder falls sie arbeiten, haben sie dann frei (ich glaube aber, die meisten von ihnen haben keine Arbeit). Lottas Bruder Marcel ist nicht immer dabei, sagt sie. Manchmal hat er auch Angst, weil er selbst nicht sehr schlau ist, nur ein bisschen schlauer als René, und es könnte ja sein, dass sie eines Tages die Steine auf ihn werfen. Ich glaube, die Jungs von der Bushaltestelle sind alle nicht besonders schlau. Weshalb sie jemanden brauchen, der noch etwas weniger schlau ist als sie, damit sie ihre eigene Nichtschläue vergessen können.
»Es ist ein Glück, dass sie nicht schlau sind«, sagte ich, »denn wer nicht schlau ist, dem kann man schnell Angst einjagen.«
»Was willst du machen?«, fragte Lotta. »Dich als Geist verkleiden und sie erschrecken?«
»Nein«, sagte ich. »Viel einfacher. Sie knipsen.«

Wir nahmen Lovis Fotoapparat, weil sie einen ziemlich guten Apparat hat und weil der Apparat ein Blitzlicht besitzt. Es war notwendig, sich zu verstecken, und deshalb versteckten wir uns. Wir taten das in einem Gebüsch auf der Straßenseite gegenüber vom Bushäuschen. Dann warteten wir auf die Jungs, die kamen, und auf René, der nicht kam.
Wir versteckten uns drei Tage lang, immer in der Dämmerung, immer mit dem Apparat, es war ein bisschen, als säße man beim Angeln und würde auf die Fische warten. Lovis wurde zweimal ärgerlich, weil ich beim Abendessen unauffindbar war. Ich sagte ihr, ich hätte draußen gespielt, was nur begrenzt gelogen war.
Am vierten Abend tauchte René auf. Er schlenderte die Straße entlang, die Hände in den Hosentaschen, und guckte sich um, ob Autos da wären zum Winken. Als er am Bushäuschen vorbeiging, pfiffen die Jungs, es waren vier an diesem Abend. Sie stießen sich an und lachten, und dann hob wirklich einer einen Stein auf und warf. René zuckte zusammen. Er ging weiter, und der nächste Stein kam angeflogen, und danach der übernächste. Es waren nur kleine Steine, und jetzt nahm René langsam die Hände aus den Hosentaschen und schlug durch die Luft, als wollte er Mücken abwehren. Aus dem Bushäuschen sickerte giftiges Gelächter. Doch die Mücken ließen sich nicht vertreiben, sie kamen jetzt in kleinen Schwärmen: Hände voll Kies. Ich sah, wie ihn einer der Mückenschwärme an der Backe traf, und als er sich über die Backe wischte, war Blut an seinen Händen, ein wenig nur, Blut aus einer kleinen Schramme, aber was heißt »ein wenig nur«? Es war zu viel. »Den Fotoapparat!«, flüsterte Lotta und stieß mich an. Ich hatte den Apparat beinahe vergessen.
Jetzt hob ich ihn, klappte den Blitz aus und zwang mich, mich aufs Fotografieren zu konzentrieren. Es war nicht einfach, weil ich sehr böse war und eigentlich lieber ins Bushäuschen gerannt wäre, um die Jungs anzuschreien, aber so dumm bin ich nicht.
Ich drückte ab, als der nächste Mückenschwarm kam, und einen Moment lang waren René und die Straße und das Bushäuschen hell erleuchtet. René hob wieder eine ungeschickte Hand, und im Bushäuschen sah man die verblüfften Gesichter der Jungs, die eben noch hatten lachen wollen und jetzt mit offenem Mund ins plötzliche Licht starrten. Das Bild hing noch vor mir in der Luft, als es schon wieder dunkel war; ich sah das verwischte Blut auf Renés Backe und seinen verwirrten Blick. Eine Weile war es sehr still um uns. René stand einfach still auf der Straße. Keiner wusste, woher das Licht gekommen war.
Ich streckte eine Hand aus und legte sie auf Lottas Arm, damit sie uns nicht verriet.
Schließlich hörten wir etwas wie eine Frage aus dem Bushäuschen, sie murmelten jetzt wieder dort, flüsterten, sprachen endlich wieder lauter, und ihre Worte lösten auch Renés Starre, er ging weiter – und Lotta flüsterte: »Los!«
Ich drückte ab, ohne zu sehen, was sie meinte, doch kurz darauf schrie René auf, ich sah, wie er seine Schulter festhielt, und dann rannte er. Er rannte ungelenk und nicht schnell. Ich drückte ein drittes und ein vierte Mal ab, knipste den rennenden René und noch einmal das Bushäuschen, und Lotta sagte: »Das war ein größerer Stein. Aber das war gut. Du hast sie. Mitten beim Werfen.«
Sie hatte das sehr leise gesagt, doch inzwischen hatten die im Bushäuschen begriffen, woher die Blitze kamen. Einer von ihnen rief etwas, und kurz darauf rannten sie ebenfalls. Sie rannten nicht weg wie René. Sie rannten über die Straße, auf uns zu.
Und dann rannten wir.
Wir rannten über eine Wiese, eine Straße hinunter und eine andere Straße hinauf, quer durchs Dorf, hinter uns die Schatten der Jungs.
Ich trug den Fotoapparat, aber Lotta war trotzdem langsamer als ich, weil ihre Beine kürzer sind.
»Komm!«, keuchte ich. »Schneller!«
Einmal fuhr ein Auto an uns vorbei, nämlich Jarsens schwarzer Jeep, und ich hoffte, dass seine Scheinwerfer uns nicht zu gut beleuchteten. Noch waren die Schatten weit genug weg. Vermutlich hatten sie uns nicht erkannt. Ich führte uns in einem Bogen zu der Pflasterstraße, in der die alte Kirche steht und am Ende unser Haus, und als ich die Mauernische erreichte, in der das Tor zum Kirchgrundstück eingelassen ist, duckte ich mich hinein.
Lotta war nicht mehr neben mir.
Ich drehte mich um und sah sie die Straße entlangkommen, ganz alleine. Hinter ihr rannten die Jungs. Ich wusste, dass sie wusste, wo ich war, weil wir uns schon häufiger in dieser Mauernische beim Tor versteckt hatten. Und sie hätte es geschafft, mich zu erreichen. Aber sie blieb stehen, mitten auf der Straße. Sie blieb stehen und drehte sich um.
Dann waren die schwarzen Gestalten bei ihr und umringten sie, und ich sah nichts mehr, nur noch ihre Rücken. Und ich dachte an Herrn Tielow. Ich dachte: Dies hier darf nicht geschehen.
In diesem Moment tat ich etwas völlig Bescheuertes. Ich schloss die Augen und betete. Ich meine, ich bin mir ziemlich sicher, dass es keinen Gott gibt, deswegen machen wir ja das Paradies selber, aber in diesem Moment betete ich. Mach, dass dies nicht passiert, betete ich, hilf Lotta, hilf Lotta, hilf Lotta.
Als ich die Augen wieder aufmachte, kam noch ein Auto. Dieses Auto bog in die Kopfsteinpflasterstraße ein, seine hellen Scheinwerfer fanden die Gruppe dort, und die Gruppe löste sich auf. Die großen, klobigen Bushäuschen-Schatten flohen. Kurz darauf beleuchtete das Auto nur noch eine kleine Gestalt, die mitten auf der Straße auf dem Boden saß, und dann stand die kleine Gestalt auf und rannte ebenfalls weg.
Das Auto war Claas’ Auto. An diesem Abend war ich sehr dankbar dafür, dass er erst so spät aus der Klinik kam. Als er vor unserem Haus hielt, stieg er aus und sah sich suchend um, aber er fand die kleine Gestalt nicht mehr.
Ich fand sie, kurze Zeit später.
Sie saß neben der Straße im letzten hohen Herbstgras und war noch immer außer Atem.
»Warum bist du denn stehen geblieben?«, fragte ich ärgerlich, weil ich mir Sorgen gemacht hatte. »Bist du total übergeschnappt oder was?«
»Nee«, sagte Lotta. »Die hätten dich doch gesehen. Wenn ich zu dir gerannt wäre. Dann hätten sie den Apparat kaputt gemacht … bestimmt …«
»Haben sie dich gehauen?«, fragte ich.
»Nee«, sagte Lotta. »Nur fast. Marcel war dabei, und er hat gesagt: Wartet, das ist ja meine Schwester, und dann war schon das Auto da.«
Aber als Lotta aufstand, hielt sie ihren Arm komisch, und da dachte ich, dass sie wahrscheinlich geschwindelt hatte. Sie hatten sie doch gehauen, oder auf den Boden geschubst und getreten.
»Weißt du«, sagte ich. »Beinahe hätte ich eben geglaubt, dass es doch so was wie einen Gott gibt, der einen beschützt.« Und ich lachte ein bisschen. »Komisch, was?«

Die Fotos habe ich ausgedruckt, und manche sind ganz gut geworden. Vor allem das, bei dem Lotta »los!« gesagt hat, sie hatte recht, ich habe einen von ihnen mitten beim Werfen erwischt. Man sieht ziemlich genau, was los ist. Lotta hat gesagt, ich soll Marcel wegschneiden.
Weil er sie sonst wirklich richtig haut. Das hat er zu ihr gesagt.
Es ist nicht gut und auch nicht gerecht, aber ich habe ihn weggeschnitten. Er war sowieso am Rand.
Die Bilder minus Marcel habe ich mit Tesafilm außen ans Schaufenster vom Edeka geklebt und an die Bushaltestelle. Ich habe gesehen, wie die einsame Spaziergängerin sie sich angeguckt und den Kopf geschüttelt hat, und auch Lottas Schwester Livia stand eine Weile davor. Einen Tag später waren die Bilder alle abgerissen, aber ich habe sie einfach noch mal ausgedruckt und aufgehängt, und ich glaube, sie haben jetzt Angst, die vom Bushäuschen. Mal sehen.
Eine Weile fürchtete ich mich davor, dass sie Lotta was tun, aber entweder haben sie sich nicht getraut, oder sie denken, dass Lotta nur zufällig in der Nacht da war, weil sie ganz bestimmt keinen Fotoapparat hat und keinen Drucker.


Ad 3) – Frau Hemke
Das ist ein kurzes »Ad«. Es besteht eigentlich nur aus einem Pappkarton, auf den ich SPENDEN FÜR FRAU HEMKE, DAMIT SIE NICHT INS ALTERSHEIM MUSS geschrieben habe. Oben habe ich einen breiten Schlitz reingeschnitten. Wir haben den Pappkarton außen an die Kirche gehängt, da, wo es ein bisschen windgeschützt ist, neben die Metallbox, in die man Spenden »Für die Restauration der Kirche« stecken kann.
November ist natürlich ein Monat, in dem nicht so viele Touristen kommen, die Geld spenden. Aber die Leute aus dem Dorf, die gucken manchmal nach den Gräbern von ihren gestorbenen Verwandten, die können ja Geld reinstecken. Ich bin gespannt, wann genug Geld in dem Karton ist, um die notwendigen Essens-und-Aufpass-Dienste für Frau Hemke zu bezahlen.

Ad 4) – Hund
Ich habe in der Schule einen Zettel ausgehängt, damit einer sich meldet, der den Hund will. Das muss ja einer sein, der weiter weg wohnt, damit Herr Tielow nichts merkt. Solange muss der Hund bei uns im Werkzeugschuppen bleiben.
Als ich gestern an Tielows Haus vorbeikam, saß er auf einem Stuhl vor seiner Tür und sah die ganze Zeit den Hundezwinger an. Er sah gar nicht wütend aus, sondern ratlos und auch traurig. Ich weiß von Renés Mutter, mit der ich zufällig geredet habe, was Tielow denkt. Er denkt, der Hund wäre weggelaufen, als Lotta ihm entwischt ist. Er hat vorher gar nicht gemerkt, dass der Hund schon weg war, und er denkt, Lotta hat die Tür des Zwingers irgendwie alleine aufbekommen, und der Hund ist mit abgehauen. Das hat er der Mutter von René erzählt, und sie hat ihn gefragt, wieso Lotta im Hundezwinger war, und er hat gesagt, weil sie seine Kirschen klauen wollte, und Renés Mutter hat zu mir gesagt, so ein Unsinn, Kirschen im Oktober (da war es noch Oktober), aber das ist Herrn Tielow wohl überhaupt nicht aufgefallen.
Ich glaube, er vermisst den Hund. Zu spät. Zurück kriegt er den nicht.

Ad 5) – Kühe
Ich war alleine noch mal bei den Kühen, mit meiner Taschenlampe. Sie standen wieder da und guckten ins Leere. Celia war nicht da. Ich habe mir die Gitter näher angesehen. Es gibt keine Schlösser. Die Kühe sind nur durch ihre Dummheit in den Boxen gefangen, oder durch die Eigenschaft, dass sie Kühe sind, die Kuhheit an sich, sozusagen, denn sie können die Riegel vor den Gittern nicht lösen. Wenn man die Riegel löst, können die Kühe in den Gang, aber die Tür, durch die Lotta und ich gegangen sind, ist zu schmal und nicht für Kühe gemacht. Es gibt deshalb ein Tor am anderen Ende des Ganges. Und das ist verschlossen, mit einem Schlüssel.
»Wen könntest du denn nach dem Schlüssel fragen?«, sagte Rosekast, als ich ihm die Sache erzählte.
»Den Bauern«, sagte ich. »Aber das geht ja wohl nicht. Bleibt nur Celia.«
Wir saßen draußen auf der Bank in Rosekasts Garten, mit einem dicken Stapel Bücher neben uns, die Rosekast wohl gelesen hatte. Manchmal lese ich auch die eine oder andere Seite aus seinen Büchern, und was da steht, ist sehr seltsam, weil man es nicht begreift.
»Ist es richtig, die Kühe zu entführen?«, fragte Rosekast.
»Natürlich«, sagte ich. »Sie haben zu wenig Platz. Kühe sind, glaube ich, Steppentiere. Im weiteren Sinne. Sie müssen eigentlich ziehen, wie Vögel, in einer Herde. Mindestens brauchen sie aber eine Wiese. Mein Paradies ist nicht nur für Menschen, sondern auch für Hunde und Kühe, und deshalb entführe ich sie. Aber das stimmt nicht, ich befreie sie nur.«
»Wie verdient der Bauer dann sein Geld, ohne die Milch?«, fragte Rosekast.
»Er muss sich neue Kühe anschaffen«, sagte ich, »aber die muss er anständig behandeln! Sie auf die Weide bringen und alles. Ich schicke ihm einen annonymen Brief, in dem steht, wenn er sie wieder nicht anständig behandelt, dann werden sie wieder freigelassen.«
»Es wird eine Menge Geld kosten, neue Kühe anzuschaffen«, gab Rosekast zu bedenken. »Und es kostet Geld, eine Weide zu kaufen oder zu mieten.«
»Dann wird er das wohl bezahlen müssen«, sagte ich und war beinahe ein bisschen böse, weil Rosekast so redete, als wäre er auf der Seite des Bauern. Er erklärte mir aber, das wäre er nicht, er wäre der Teufelsadvokat, was gut zum Paradies passt und bedeutet, dass er die Seite von dem vertrat, der meiner Meinung nach der Böse war, aber abwesend, und sich daher nicht selbst verteidigen konnte. Ein Teufelsadvokat ist nur da, damit die Diskussion weitergehen kann. Ich weiß nicht, ob ich dann der Gottesadvokat bin. Vielleicht.
Das bringt mich auf die Frage, ob eigentlich daraus, dass es höchstwahrscheinlich keinen Gott gibt, folgt, dass es höchstwahrscheinlich auch keinen Teufel gibt. Kann es nur beide zusammen geben?
»In jedem Fall«, sagte Rosekast, »gibt es die Kühe. Man muss in der Philosophie von den Dingen ausgehen, die man hat, nur von da aus kann man auf die abstrakten schließen. Den Bauern gibt es auch … Sind die Kühe also wichtiger als er, der Mensch?«
»Es sind mehr«, sagte ich, und das war eine richtig gute Antwort, oder, weil sie kurz war.
»Die Menschen stehen sonst mehr aufseiten der Menschen«, sagte Rosekast nachdenklich, »und die Kühe aufseiten der Kühe. Gewöhnlich.«
»Schließen Sie daraus, dass ich eine gewöhnliche Kuh bin?«
Er lächelte. »Oder ein ungewöhnlicher Mensch.«
Da lächelte ich. Ein ungewöhnlicher Mensch will ich nämlich gerne sein. Gewöhnliche Menschen gibt es schon zu viele (vielleicht mehr als Kühe), was wiederum in der Natur der Sache liegt.
»Überhaupt ist es Zufall, dass der Bauer ein Bauer ist und ich ich bin und die Kühe Kühe sind«, sagte ich. »Einer aus meiner Klasse hat nämlich bei der Religionswerkstatt was über Hinduismus erzählt, und bei den Hindus kann man ja als alles Mögliche wiedergeboren werden, auch als Kuh. Es gibt also gar keinen Unterschied zwischen Kühen und Bauern, außer in der äußeren Form.«
Darüber musste Rosekast wohl eine Weile nachdenken, und während er dachte, goss ich mit einer alten Kaffeekanne das Gemüse, das Lotta und ich in seinen Garten gepflanzt hatten.
Lotta war nicht mit an diesem Tag, weil sie zu Hause was helfen musste, und ich pflückte ein paar späte Astern für sie, die neben dem Gemüse wuchsen. Irgendwer musste früher mal Astern im Garten angepflanzt haben, Rosekast oder jemand anderer, denn jetzt wuchsen sie wild überall, obwohl es schon ziemlich kalt ist.
»Was werden die Kühe tun, wenn sie frei sind?«, fragte Rosekast, ehe ich ging.
»Das, was Kühe in freier Wildbahn eben so tun«, sagte ich, wusste aber nicht, was das war. »Vielleicht könnte das ein Unterprojekt meines Projektes werden. Herauszufinden, was Kühe so tun, wenn sie es selbst entscheiden können.«

Als ich auf dem Rückweg an der Tarzanschaukel vorbeikam, saß Lotta darauf. Die Schaukel, die nur ein dickes Stück Ast ist, hing ganz unten im Graben, das Seil schwang leicht hin und her, und Lotta baumelte mit den Beinen. Sie reichte mit den Füßen gerade nicht auf den Boden.
»Die Blumen sind für dich«, sagte ich. »Musst du nicht mehr zu Hause helfen?«
»Nee«, sagte Lotta und spuckte ihren Kaugummi aus. »Wir haben geputzt, aber dann ist Livia nach Hause gekommen, und Mama und sie haben gestritten, weil Livia immer nur nach Hause kommt, wenn es ihr gerade passt, und weil Mama wissen wollte, wo sie dauernd ist, aber Livia hat gesagt, das geht sie nichts an, und Mama hat gefragt, woher sie überhaupt das Kleid hat, das sie trägt, und dass sie sich’s schon denken kann, und da bin ich weg, weil sie angefangen haben, sich anzuschreien.« Sie roch an den Astern, die nach nichts rochen. »Die riechen gut«, sagte sie.
Ich sah sie mir an, wie sie so auf der Schaukel saß, mit den Astern in der Hand, und das Licht war so ein Spätnachmittagslicht, silbrig novembrig, und irgendwie war Lotta darin beinahe schön. Lovis hätte das malen können.
Und ich dachte, dass die ganze Paradieswerkstatt – denn so nenne ich sie jetzt manchmal zur Abkürzung – ein bisschen so ist wie die Tarzanschaukel. Oder das ganze Leben überhaupt. Es geht immer hoch und runter und hoch und runter, in einer weiten Bahn, mal klappt alles und mal gar nichts, und wenn das Licht richtig auf die Dinge fällt, wünsche ich mir, dass Lovis sie malt.
»David«, sagte Lotta. »Du guckst so. Stimmt was nicht?«
»Doch«, antwortete ich. »Ich war … versunken.« Und ich schüttelte die Versunkenheit aus meinem Kopf. »Ich muss zu Celia gehen«, sagte ich. »Aber ich habe eigentlich keine Lust, denn das bedeutet, dass ich zur Marie gehen muss, die ja ihre Mutter ist, und wenn die Marie gerade arbeitet …«
»Du meinst, wenn sie einen Mann da hat?«
»Ja, ich weiß nicht … dann wär es doch blöd, zu klingeln.«
»Wir können hinten in den Garten schleichen und von da durchs Fenster reingucken«, sagte Lotta. »Sie hat die Vorhänge nie ganz zu, weil da Büsche vor sind. Weiß ich von Marcel und Anthony, die schleichen sich manchmal da hin, durch die Büsche, um zu gucken.«
»Danke, nein, ich will aber nicht gucken«, sagte ich. »Ich will nur mit Celia über den Schlüssel für die Kühe sprechen.«
»Ich kann ja für dich gucken, ob einer da ist«, sagte Lotta und sprang von dem Schaukel-Ast. »Komm.«

Es begann zu regnen während wir durchs Dorf gingen, und das silberne Dämmerlicht verschwand langsam hinter dem Horizont. Der Wind jagte ungemütlich um die Häuserecken. Lottas Jacke war zu dünn, und deshalb gab ich ihr meine, weil ich darunter noch einen dicken Strickpullover anhatte, so ein Öko-Ding, nicht schön, aber praktisch. Lotta hat nur zu dünne Jacken.
An der Bushaltestelle saßen fünf von den Bushaltestellenjungs und hatten die Hände tief in den Taschen, weil sie auch froren, nur manche brauchten eine Hand zum Rauchen. Die Zigaretten leuchteten in der Dunkelheit orange, und ich dachte darüber nach, dass man bei Gelegenheit ein Projekt über Farben in der Nacht machen könnte.
Bei der Marie brannte das rote Licht im Fenster wie immer abends, noch eine Farbe in der Nacht.
»Ich komm gleich wieder«, flüsterte Lotta, schob einen neuen Kaugummi in den Mund und ging um das Haus herum, um hinten über den Gartenzaun zu klettern.
Ich stellte mich unter die Straßenlaterne ein Stück weit vom Haus entfernt und wurde nass, weil der Wollpullover keine Kapuze hatte. Lovis sagt immer, meine Haare sehen aus wie ein goldener Helm, wenn sie nass sind, weshalb ich sie später umfärben werde, weil so was irgendwie lächerlich ist.
Ich guckte mir die Haustür an, an der ein Kranz aus Trockenblumen hing, und den Briefkasten, auf den jemand Schlumpfaufkleber geklebt hatte, vielleicht Celia, als sie ein Kind gewesen war. Dann sah ich eine Bewegung im Garten, rechts vom Haus, und zuerst dachte ich, es wäre Lotta, die zurückkam. Aber es war Celia selbst.
Sie war klatschnass und trug einen Korb voll Wäsche, die sie offensichtlich gerade von der Leine genommen hatte, um sie vor dem Regen zu retten, der immer stärker wurde. Aber jetzt hatte sie das wohl vergessen, denn sie stand einfach da, den Korb in den Armen, hob ihr Gesicht zum grauen Abendhimmel und ließ die kalten Tropfen darüber rinnen. Dann stellte sie den Wäschekorb ab, ins nasse Gras, und breitete ihre Arme aus, als wollte sie den Novemberregen begrüßen.
»Celia!«, rief ich leise, doch sie hörte mich nicht. Sie trug ein knielanges Kleid, das ich noch nie an ihr gesehen hatte, irgendwie wirkte es zu teuer für Celia, die sonst nur in ausgeleierten T-Shirts und Trainingshosen herumlief. Das Kleid war hübsch, nur nicht geeignet für November, ein Überbleibsel des Sommers wie eine Erinnerung, die sie nicht loslassen wollte.
Der Regen klebte es eng an ihren mageren Körper, und ich dachte wieder, dass sie um die Mitte herum nicht ganz so mager war. Vielleicht hätte ich das nicht denken sollen, vielleicht breiteten sich meine Gedanken irgendwie aus mir heraus aus, denn in diesem Moment rief jemand: »Ach, guck mal an, die Tochter von der Marie. Tritt jetzt in die Fußstapfen der Mutter, was?«
Celia und ich zuckten gleichzeitig zusammen.
Auf der anderen Straßenseite, gerade außerhalb des Laternenlichts, stand ein Mann im Regenmantel neben seinem Fahrrad. Jetzt schob er es über die Straße, an mir vorbei, ohne mich zu sehen, und trat an den Zaun. Ich kannte ihn, es war der, der immer die Lokalzeitung austrug und ab und zu das rechte Hetzblatt, von dem Claas sagt, man sollte es aufbewahren und sammeln, weil es interessant ist, und das Lovis immer im Kamin verbrennt.
Celia blieb stehen, mitten im Regen, und sah den Mann an, ich glaube, sie war einfach zu erschrocken, um sich zu bewegen. Er starrte zurück, wie man ein Tier anstarrt. Ich sah ihn nur von schräg hinten, aber man sah auch von schräg hinten, dass er starrte. Das Kleid war wirklich sehr nass. Celia sah beinahe nackt aus darin, nackt mit einer dünnen Lage dunkler Farbe auf dem Körper, man konnte sogar die Nippel ihres Busens durch den Stoff sehen und vor allem ihren Bauch, der sich darunter vorwölbte, ein bisschen nur, aber doch sichtbar.
»Na, ich schätze mal, vierter Monat, was?«, sagte der Mann, und erst verstand ich nicht, was er meinte, aber dann verstand ich es doch. Falls Sie das nicht wissen: Er meinte, dass Celia ein Kind bekommt. Ich weiß gar nicht, wie alt Celia genau ist, nicht so alt, dass sie ein Kind bekommen sollte, glaube ich.
»Ist der Vater ein Kunde von der Marie?«, fragte der Mann im Regenmantel. »Hilfst du jetzt ’n bisschen aus, wie?«
Celia schüttelte langsam den Kopf. Der Mann lachte. Dann stieg er auf sein Fahrrad, sehr langsam, und sagte noch: »Das ist ja mal ’ne Neuigkeit, was. Wirst uns sicher noch erzählen, für wen du die Beine breit gemacht hast. Du bist ja viel zu blöd, um’s nich irgendwann zu erzählen. Bis da können wir ’n paar Wetten abschließen. Hey!« Er drehte sich um, und ich sah, dass da jemand die Straße entlangkam, sehr fest in einen Novembermantel gewickelt. Es war die einsame Spaziergängerin.
»Hey, Sie! Wissen Sie schon, wer sich ein Baby machen lassen hat?«, rief der Mann, aber die Spaziergängerin sah nicht aus, als interessierte sie das. Sie war wieder zu sehr in Gedanken versunken. Sie ging einfach weiter. Da fuhr der Mann auf seinem Fahrrad weg, wahrscheinlich, um anderen Leuten die Neuigkeit zu erzählen.
Celia sah ihm nach. Dann hob sie den Wäschekorb hoch und ging zur Seitentür des Hauses.
»Warte!«, rief ich. »Ich … ich muss dich was fragen.«
Celia blieb stehen. Sie legte die Hand auf ihren Bauch, als wollte sie das, was darin wuchs, vor weiteren Fragen schützen. Und als sie mich ansah, presste sie die Lippen fest aufeinander.
»Ich will nichts darüber fragen«, sagte ich. »Das geht mich nichts an. Den Typen auch nicht. Ich wollte fragen … kannst du mir den Schlüssel für die Kühe besorgen?«
Und dann erklärte ich ihr ganz schnell, dass ich die Kühe befreien musste, weil sie Platz brauchten und weil es zur Paradieswerkstatt gehörte, und dass ich es nachts tun würde, und Celia arbeitete doch dort, sie könnte doch den Schlüssel entleihen, nur für eine Weile, das würde sicher niemand mitbekommen.
Celia hörte mit schiefgelegtem Kopf zu. Der Regen rann über ihr Gesicht und der Regen rann über mein Gesicht, und auf seltsame Weise verband uns das.
Schließlich nickte Celia langsam. »Platz braucht jeder«, sagte sie. »Einen Ort, wo man ihn in Ruhe lässt. Auch Kühe, das versteh ich. Aber einer muss die Kühe melken. Immer.«
»Platzen sie sonst?«, fragte ich und lachte. Aber Celia guckte mich ganz ernst an.
»Die machen ja ständig Milch«, sagte sie. »Das ist denen so angezüchtet. Wenn keiner die Milch holt, tut das den Kühen weh. Ich kann sie melken. Wenn du mir sagst, wohin du mit den Kühen willst.«
»Nirgendwohin«, sagte ich. »Sie sollen doch frei sein. Vielleicht laufen sie in den Wald, keine Ahnung.«
»Dann muss man sie suchen, im Wald«, meinte Celia. »Um sie zu melken. Aber, David. Ich geh nicht in den Wald, ich hab Angst. Es ist zu dunkel da im November.«
»Vielleicht kann Rosekast melken«, sagte ich. »Der wohnt ja im Wald.«
»Wer?«, fragte Celia.
»Rosekast. Kennst du den nicht?«
»Nein«, sagte Celia. »Ich weiß, dass da mal einer gewohnt hat, im Wald, aber das ist schon ’ne Weile her. Und der hieß auch anders.«
»Vielleicht hat er sich umbenannt?«, sagte ich. »Jedenfalls bin ich nicht sicher, dass er melken kann, und deshalb ist es wohl besser, du bringst es mir bei, bevor ich die Kühe befreie.«
In diesem Moment ging die Vordertür auf, und darin erschienen die Marie und Lotta. Die Marie ist ja immer ein bisschen groß und dick, aber neben Lotta sah sie noch größer und dicker aus. Sie trug ein sehr kurzes, rotes Kleid und dazu graue Trainingshosen, die sie vielleicht gerade übergezogen hatte, weil sie keinen Kunden hatte. Und sie hielt Lotta am Kragen gepackt wie eine junge Katze.
»Ich hab nur«, sagte Lotta gerade.
»Natürlich hast du nur«, sagte die Marie. »Genau wie deine Brüder. Denken die, ich weiß nicht, dass sie sich in den Büschen verstecken?«
Sie schüttelte den Kopf, und ich dachte, sie würde Lotta die Stufen vor ihrem Haus hinunterschubsen, oder sie vielleicht sogar werfen, weil sie so stark aussah. Aber plötzlich zerbrach ihr ärgerliches Gesicht zu einem irgendwie traurigen Lächeln. »Sollen sie was lernen fürs Leben«, sagte sie. »Und du lauf nach Hause und verdien dein Geld später mal auf ’ne andre Art. Oder heirate ’nen anständigen Mann, du fängst dir schon einen ab mit deinen blonden Haaren, wenn du zusiehst.«
»Ich werde trotzdem arbeiten«, sagte Lotta und sah zur Marie hoch, die über ihr aufragte wie ein Turm. »Ich glaub, ich werde putzen, so Fenster und alles, das kann ich jetzt schon. Da kriegt man auch Geld für. Ich muss was verdienen, vor allem, wenn ich heirate.«
»Ach so?«, fragte die Marie und zog ihre stark geschminkten, wulstigen Augenbrauen zusammen.
»David muss doch denken«, sagte Lotta ernst. »Er denkt, und ich verdiene das Geld, so machen wir das später. Wenn er will.«
»Lotta«, sagte ich, und sie drehte sich um und sah ertappt aus. »Du spinnst total«, sagte ich.
Da hielt ein Auto am Straßenrand neben uns, ein sehr großes, graues, und die Marie sagte »Kundschaft«, und wir gingen ziemlich eilig nach Hause, weil es noch kälter geworden war.

Natürlich heirate ich nicht. Nie und niemanden. Lotta am allerwenigsten. Lotta ist so völlig anders. Sie wird zum Beispiel nie verstehen, über was ich mit Rosekast spreche. Und ich will nicht, dass sie Fenster putzen geht, weil sie für mich Geld verdienen will, das wäre ja wohl das Letzte. Außerdem mag ich Lotta. Ich glaube, wenn man jemanden mag, sollte man den nicht heiraten.

»Ja«, flüsterte ich. »David, vielleicht ist das richtig. Vielleicht hätte ich Claas nie heiraten sollen.«

Ich schlug die Mappe zu, weil sie wieder unleserlich wurde, und ging in das Zimmer, in dem David genauso reglos lag wie seit Tagen. Der Pfleger, der gerade herauskam, grüßte mich stumm und freundlich wie sie alle. Die grüne EKG-Linie lief unverändert über den Bildschirm am Kopfende des Bettes – oder für mich sah sie unverändert aus. Aber ich wusste nicht, was ihre Zacken und Spitzen, ihre Täler und Berge bedeuteten. Claas hätte es gewusst.

»Aber du würdest mir höchstens sagen, dass es etwas Schreckliches bedeutet«, flüsterte ich bitter. »Stimmt’s? Du hast deinen Sohn aufgegeben. Ich bin die Einzige, die daran glaubt, dass er wieder gesund wird.« Ich streckte die Hand aus und fuhr behutsam über Davids Wange. Die Schürfwunde dort begann zu heilen. Die Haut regenerierte sich, die Zellen teilten sich, abgekapselt von Davids Bewusstsein. Sie bereiteten seinen Körper für die Rückkehr jenes Bewusstseins vor, dachte ich, wie jemand, der eine Wohnung aufräumt, weil er die Rückkehr eines geliebten Menschen nach langer Reise erwartet.

»Aber du siehst das nicht so, was, Claas?«, wisperte ich. »Du bist Arzt, du siehst das rational, du siehst nur, was stattfindet, nicht, was zu erhoffen ist. Du hast ihn gleich aufgegeben, gleich als der Anruf kam. David hatte einen Unfall, hast du gesagt, Auf der A 20. Er ist nicht bei Bewusstsein, aber er lebt. Sie haben ihn nach Rostock gebracht. Wir fahren sofort los. Und das war alles. Keine Verzweiflung, keine Regung … nichts.« Ich hieb mit der Faust gegen das Fußende des Bettes.

»Mit wem sprechen Sie?«, fragte Thorsten Samstag hinter mir. Ich hatte ihn nicht kommen hören.

»Mit meinem Mann«, sagte ich.

Samstag sah sich um. »Er ist … nicht da?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Aber das ist ein Dauerzustand. Er ist nie da.«

Und dann spürte ich Samstags Hand auf meinem Arm. Die Berührung löste ein seltsames Kribbeln aus, und ich dachte an ein anderes Kribbeln, eine andere Art Elektrizität, die ich auf einem alten Ledersofa gespürt hatte. Ich wollte nicht daran denken. Ich würde nie wieder mit Claas auf einem Sofa liegen, in diesem Moment war ich mir sicher, es war ein letzter Rückfall gewesen. Ich hatte geglaubt, alles könnte wieder gut werden. Es konnte nicht. Die Mauer um mich war stärker als je zuvor.

»Sie sind so verbittert«, sagte Samstag.

»Schlimmes Wort«, sagte ich.

Seine Hand lag noch immer auf meinem Arm. Ich legte meine eigene Hand, die andere Hand, darauf. Die Haut auf seinem Handrücken fühlte sich fremd und kühl an, und dennoch wurde mir unnatürlich warm in diesem Moment.

»Ich wollte gar nichts Bitteres denken«, murmelte ich. »Ich wollte eigentlich daran denken, dass die Haut in Davids Gesicht heilt. Dass alles … irgendwie … heilen kann.«

»Ja«, sagte Samstag. »Alles kann heilen.«

Er nahm die Hand von meinem Arm, und ich bedauerte das, und ich dachte mein Sohn liegt im Koma, ich kann jetzt nicht mit einem fremden Mann flirten, und dann legte er beide Arme um mich und hielt mich einen Moment lang ganz fest.

»Alles«, wiederholte er flüsternd, »alles kann heilen.«


An diesem Abend malte ich wieder.

Claas war nicht da, als ich nach Hause kam, und ich war dankbar dafür. Ich hatte die Ruhe in Samstags Worten, hatte seine Berührung mit ins Auto genommen, aber sobald ich das Haus betrat, war die Ruhe fort, und ich sah wieder das weiße Krankenhauslaken vor mir und das sehr dünne, einsame eine Bein darunter, das David geblieben war und womöglich nicht bleiben würde.

Vor der Verandatür saß der Hund und sah mich an.

Ich rannte die Treppe hinauf in mein Atelier, riss die Farben und Pinsel an mich wie eine Ertrinkende einen Rettungsring und attackierte die leere Leinwand mit der Gewalt eines Sturms. Die Farben, die ich wahllos daraufklatschte, waren wie Regenböen; ich schleuderte sie diesem falschen unschuldigen Weiß entgegen, kompromisslos und wütend.

Das Rot der Mohnblumen auf den Feldern, die David nie mehr pflücken würde, weil man in einem Rollstuhl schlecht über die Wiesen fahren kann. Das Blau des Himmels, in den er mit Lotta zusammen hinaufgesehen hatte. Das Grün der Wiese neben dem Haus, wo wir Ball gespielt hatten, als er kleiner gewesen war. Und das Gelb der toten Blätter, die im letzten Herbst gefallen waren, als er beschlossen hatte, das Paradies zu erschaffen.

Am Ende riss ich alles von der Staffelei und spannte eine neue Leinwand auf einen neuen, unverbrauchten Rahmen. Aber eine Leinwand reichte nicht, ich brauchte drei, eine große quadratische und zwei schmale, hohe, die ich seitlich der Staffelei plazierte, um sie später zu bearbeiten, Leinwände wie die Seiten eines Altars.

Und ich begann, Gott zu malen.

Die heilige Dreifaltigkeit, Dreieinigkeit, Drei-Unverständlichkeit.

Nicht abstrakt und geometrisch. Nicht in wütenden Farbklecksen. Ich zeichnete nach der Natur, Strich für Strich, in kaum sichtbarer, hellgelber Farbe; eine erste, sorgfältige Vorzeichnung, so wie man eine Wandmalerei in einer Kirche beginnt. Ich zeichnete drei Figuren. Eine von ihnen besaß die Flügel einer Taube, die anderen beiden hatten sich in weite Gewänder gehüllt. Ihre Gesichter waren leere Ovale. Ich würde lange brauchen, um dieses Bild fertigzustellen, um die richtigen Farben zu finden.

»Ein Triptychon für David«, flüsterte ich.

Und dann malte ich der mittleren, größten Figur ein Fratzengesicht. Er war ein Dämon, mein Gott, ein böser Geist, der sich am Leid auf der Welt weidete, an meinem Leid, an Davids Leid, am Leid aller Menschen. Er war ein Geschöpf der Nacht. Ein Geschöpf der Dämmerung auf einer Autobahn.


Meine Hand zeichnete weiter, als mein Kopf längst damit aufgehört hatte. Und ich sah am unteren Rand des Bildes Gestalten aus dem weißen Nichts der Leinwand treten: Lotta, René, Celia mit dem Neugeborenen, eine alte Frau zwischen Johannisbeerbüschen, Herrn Wenter mit einem Arztroman in der Hand, ein Bushäuschen voller biertrinkender Jungen, Kühe, die Marie, einen Mann im Regenmantel …

Zuerst, dachte ich, waren die Figuren in Davids Projekt übersichtlich gewesen, aber es wurden mit jedem Eintrag mehr, sie bewegten sich aus dem Schatten ins Licht: ein abstruses Ballett, ein irrer Reigen, ein Totentanz. Ich verbot mir, dieses letzte Wort zu denken.

Und dann, ganz plötzlich, wusste ich, was ich tun würde.

Ich saß auf dem Boden, außer Atem, den Pinsel noch in der Hand, und wusste es.

»Ich übernehme«, flüsterte ich. »David, ich führe dein Projekt weiter. Die Werkstatt zur Verbesserung der Allgemeinen Gerechtigkeit. Ich kann mehr tun als du, die Erwachsenen sitzen immer am längeren Hebel, leider … Ich werde eine Liste machen … David …«

»Ja«, sagte David. »Mach das, Lovis. Zuerst muss man immer eine Liste machen.«

Ich sah auf, und da stand er im offenen Fenster des Ateliers, die Füße auf dem Fensterbrett. Sein Haar leuchtete so golden wie nie.

Er trug sein rot-grünes Lieblings-Sweatshirt und Jeans, und ich fragte mich verwirrt, ob eines seiner Beine in Wirklichkeit eine Prothese war, eine sehr gute, die man nicht bemerkte.

»Du findest schon noch heraus, was passiert ist«, sagte er. Er lächelte, als er das sagte, und seine grünen Meereswellenaugen strahlten. »Du findest heraus, wie ich auf die Autobahn gekommen bin. Mach eine Liste der Leute.«

Ich stand auf und streckte die Hände aus, wollte auf David zugehen, ihn umarmen, aber er tat einen Schritt nach hinten und war fort. Ich rannte zum Fenster, um mich hinauszubeugen – und stieß mit dem Kopf gegen die Scheibe. Das Fenster war nie offen gewesen. Draußen war alles dunkel.

Auf einmal merkte ich, wie unendlich müde ich war nach der letzten durchwachten Nacht.

Ich brauchte dringend Schlaf.