Kapitel 5
obinton war neun Jahre alt, als sein Vater eine Par-Rtitur suchte und dabei die Notenblätter fand, die Merelan heimlich in der Schublade ihres Arbeitstisches verwahrte.
»Was ist das für ein Gekritzel?« fragte er und las das oberste Blatt. Ohne zu bemerken, dass es seiner Frau vor Verblüffung die Sprache verschlug, überflog er zwei weitere Blätter, ehe er alles fest zusammenrollte und achtlos in die Schublade zurückwarf.
Merelan stand wie angewurzelt im Türrahmen, in
der Hand einen geöffneten Brief. Auf ihrem Gesicht lag ein eigentümlicher Ausdruck.
»Was schnüffelst du in meinem Arbeitstisch herum?«
wollte sie wissen, während sie um einen ruhigen Tonfall rang. Merelan war außer sich vor Wut, weil Petiron in ihren Sachen stöberte und die für sie unersetzbaren Kompositionen ihres Sohnes derart nachlässig behandelte.
»Unter anderem suche ich unbeschriebene Blätter, ich habe keine mehr«, entgegnete er gereizt, hektisch in der Schublade kramend. Die Unordnung schien ihn anzuwidern. »Ab und zu könntest du hier aufräumen, Merelan.«
»Saubere Blätter liegen hier, wo jeder sie sehen kann«, versetzte sie, jedes Wort ärgerlich betonend, und zeigte auf eine Schachtel, die auf ihrem Arbeitstisch stand.
»Ach ja.« Er nahm sich ein paar Blätter heraus und 116
prüfte jedes einzelne auf seine Brauchbarkeit hin. »Darf ich mir diese hier ausborgen?«
»Ja. Aber du musst sie ersetzen.« Es kostete sie große Mühe, nicht die Beherrschung zu verlieren. Den Brief hatte sie zu einem kleinen Ball zusammengeknüllt.
»Du brauchst dich nicht gleich so aufzuplustern«, meinte er, als ihm ihr zorniger Blick und ihre angespannte Haltung auffielen. »Ich besorge dir schon neue.« Er schickte sich an, das Zimmer zu verlassen, blieb jedoch wieder stehen. »Wer hat eigentlich diese Melodien geschrieben? Du?« Er lächelte, bestrebt, sie zu besänftigen. »Nicht schlecht.«
Sein gönnerhaftes Lächeln und der herablassende
Tonfall machten sie so wütend, dass sie mit der Wahrheit herausplatzte. »Dein Sohn hat sie komponiert.«
Petiron blinzelte verdutzt. »Robie?« Er ging an den Arbeitstisch zurück, doch Merelan kam ihm zuvor.
Schützend stellte sie sich vor das Pult. »Mein Sohn komponiert schon Lieder? Du hast ihm natürlich dabei geholfen«, fügte er hinzu, als sei dies die einzig logi-sche Erklärung.
»Er komponiert ohne jede Hilfe.«
»Aber irgendwer muss ihm doch zur Hand gegangen sein«, beharrte Petiron und versuchte, an Merelan vorbei in die Schublade zu fassen. »Die Partituren waren gut, wenn auch ein bisschen kindlich.« Plötzlich klappte er den Mund auf. »Seit wann schreibt er Lieder?«
»Wenn du ihm ein richtiger Vater wärst, ihm Beachtung schenktest, ihn ab und zu fragen würdest, was in der Schule läuft«, versetzte Merelan, wobei sie all ihrer aufgestauten Frustration freien Lauf ließ, »dann wüsstest du, dass er bereits seit mehreren Jahren Musikstücke schreibt. Einige kennst du sogar – die Lehrlinge singen sie.«
»Tatsächlich?« Petiron runzelte die Stirn. Er ver-117
stand die Welt nicht mehr. Wieso hatte seine Frau ihm so lange Robintons Musikalität verheimlicht, und warum hatte sie ihn nicht darauf aufmerksam gemacht, dass die Lehrlinge seine Melodien sangen? »Ja, richtig, ich weiß schon, welche du meinst.« Er erinnerte sich an die Weisen, die Washell seinen Schülern beibrachte.
Gewiss, die Lieder entsprachen den Fähigkeiten dieser Altersgruppe, aber … Vorwurfsvoll starrte er Merelan an. Irgendwie fühlte er sich von ihr verraten. »Warum, Merelan? Warum hast du mich in diesem Punkt im
Ungewissen gelassen? Wieso hast du mir nie erzählt, wie begabt mein Sohn ist?«
»Ach, auf einmal ist er dein Sohn anstatt meiner«, entgegnete Merelan aufgebracht. »Jetzt, da er Talent zeigt, entdeckst du deine Vatergefühle.«
»Mein Sohn, dein Sohn – was macht das für einen
Unterschied? Wie alt ist er eigentlich – sieben?«
»Er ist neun Planetenumläufe alt«, fauchte sie. Dann marschierte sie aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
Petiron starrte ihr hinterher, die Hand mit den sauberen Blättern wie bittend erhoben, während der laute Knall noch in seinen Ohren nachhallte.
»Also, ich hätte nie gedacht …« Er lehnte sich gegen den Arbeitstisch und versuchte, Merelans seltsames Verhalten und die schier unglaublichen Enthüllungen über seinen – ihren – Sohn zu begreifen. Langsam blies er den Atem aus. Die Anschuldigungen, die seine Gemahlin ihm an den Kopf geworfen hatte, fand er un-geheuerlich. Damit musste er erst einmal fertig werden. Dann schüttelte er sich und ging in sein Arbeitszimmer zurück, begierig, die Partituren von dem
Sandtisch auf die Blätter zu übertragen. Bald merkte er, dass er sich nicht auf seine Arbeit konzentrieren konnte. Das Gespräch mit Merelan hatte ihn zu sehr erschüttert.
118
Ein Junge von neun Planetenumläufen, der eigenständig diese Melodien verfasst hatte – so simpel und kindlich sie auch auf den ersten Blick schienen – war reif für eine ernsthafte musikalische Ausbildung. War er wirklich schon neun? Wie schnell doch die Zeit verging. Natürlich, ein Kind, das pausenlos von Musik umgeben war, musste notgedrungen ein bestimmtes
Maß an Grundkenntnissen aufschnappen. Robintons
kleine Liedchen waren vielleicht lediglich Variationen über Themen, die er gehört hatte, und nicht etwa eigene Kompositionen.
Aber worüber hatte sich Merelan bloß so aufgeregt?
War es denn so schlimm, dass er das Alter ihres Sohnes nicht wusste? Wie auch immer, er würde sich die Notenblätter noch einmal gründlich ansehen. Selbst wenn es sich nur um Variationen eines bekannten Motivs handelte, reichte dies aus, um dem Kind eine Ausbildung angedeihen zu lassen. Vielleicht lohnte es sich, ein knospendes Naturtalent auf einen gewissen professionellen Standard zu heben. Unter Umständen
konnte Robinton es sogar bis zum Gesellen bringen!
Die Vorstellung gefiel Petiron, und er vergegenwärtigte sich, dass er sich so gut wie nie Gedanken über Robs Zukunft machte. Aber darum kümmerte man
sich erst, wenn ein Kind elf, zwölf Planetenumläufe alt war und eine Anwärterschaft als Lehrling anstrebte, oder nicht? Obwohl Petiron von seiner eigenen Unvor-eingenommenheit fest überzeugt war, gelangte er zu dem Schluss, dass andere ihm Parteilichkeit vorwerfen könnten, wenn er die Ausbildung seines Sohnes selbst in die Hand nähme. Möglicherweise wäre es doch besser, Robinton einem tüchtigen Meister anzuvertrauen und ihn für eine Weile ganz wegzugeben – in eine Burg, wo er den Unterschied zu seiner Heimat bemerken würde. Nach einer Weile wüsste er dann die Vorzüge der hiesigen Harfnerhalle zu schätzen.
119
Doch, das wäre die ideale Lösung, und dann hätte er Merelan wieder ganz für sich allein und sie konnte sich ohne Ablenkung auf ihre wichtige Aufgabe als Sängerin und Lehrerin konzentrieren. In letzter Zeit wirkte sie ohnehin bedrückt und irgendwie abwesend.
Wo hatte sie diese Notenblätter hingelegt? Sie hatten sich an der linken Seite der Schublade befunden. Er begann in den Sachen zu wühlen. Normalerweise ging Merelan mit allem, was Musik betraf, sehr ordentlich um, doch der Inhalt dieses Fachs war ein wüstes
Durcheinander.
Von den zusammengerollten Blättern keine Spur. Sie musste sie mitgenommen haben, als sie wütend davon-rauschte, weil er Robs Alter nicht wusste. Aber wo-rüber sollte sich ein Mann mit seinem Sohn unterhalten, wenn dieser noch so jung war? Eine Beziehung konnte sich erst einstellen, wenn das Kind die Ansichten und Lebensphilosophien seines Vaters verstand. Über seinen Beruf und seine Berufung Bescheid wusste.
In diesem Augenblick nahm Petiron sich vor, seinen Sohn doch selbst zu unterweisen. Er wollte sicher gehen, dass er auch den ihm angemessenen Unterricht erhielt. Und auf gar keinen Fall würde er ihn bevorzugen, nur weil er sein eigen Fleisch und Blut war. Der Junge musste genauso viel leisten wie alle anderen Lehrlinge auch …
»Robinton!« rief er und steuerte resolut das kleine Kinderzimmer an, das im rückwärtigen Teil der Wohnung lag. Die Tür stand einen Spalt breit offen. Petiron trat ein. Das Zimmer war aufgeräumt, das Bett gemacht, und die wenigen Spielsachen standen säuberlich in einer Reihe auf dem einzigen Regal. Dann entdeckte Petiron neben dem Spielzeug die Flöte und einen kleinen Harfenkasten. Jemand brachte seinem Sohn das Harfespielen bei!
In Petiron braute sich ein gerechter Zorn zusammen.
120
Merelan benahm sich wirklich höchst eigenartig. Erst verschwieg sie ihm Robs musikalische Begabung, und dann ließ sie es auch noch zu, dass ein anderer als sein Vater ihn unterrichtete.
Er stapfte aus dem Zimmer und verließ die Wohnung. Als er sich anschickte, die Treppe hinunter zu steigen, kam Meister Gennell aus seinen Räumlichkeiten geflitzt und fing ihn ab.
»Ah, Petiron, ich muss mit dir reden …«
Petiron blieb stehen und spähte die Treppe hinab.
Er fragte sich, wohin Merelan und sein Sohn gegangen waren. Der Meisterharfner hatte das Recht, seine Zeit zu beanspruchen, wann immer er wollte, doch im Augenblick war Petiron nicht nach einer Unterhaltung zumute, egal, wie dringlich das Thema war. Ausnahmsweise stellte Petiron seine persönlichen Belange über seine berufliche Pflicht. Er musste seine Gemahlin und seinen Sohn finden. Sofort! Ehe Robintons musikalische Ausbildung völlig in die falschen Hände geriet und noch mehr Schaden angerichtet wurde.
»Jetzt gleich, Petiron«, begann Meister Gennell. Stirnrunzelnd brach er ab, als er Petirons Zögern, sein offenkundiges Dilemma, bemerkte.
»Bei allem Respekt, Meister …« entgegnete Petiron, dem es schwer fiel, einen höflichen Ton anzuschlagen.
»Jetzt gleich, Meister Petiron!« wiederholte Gennell energisch.
»Mein Sohn …« Krampfhaft suchte Petiron nach
einer Entschuldigung.
»Ich will über deinen Sohn mit dir reden«, betonte Gennell. Seine finstere Miene erstickte Petirons Ausflüchte im Keim.
»Über Robinton?«
Gennell nickte, dirigierte den Meisterkomponisten in sein Arbeitszimmer und schloss hinter ihnen die Tür.
121
»Über Robinton!« Er bot Petiron einen Platz an, setzte sich ihm gegenüber und verschränkte die Hände in einer Weise, die die Ernsthaftigkeit dieses Gesprächs unterstrich. »Als Meisterharfner bin ich für die Bewohner der Harfnerhalle verantwortlich.« Petiron nickte, und Gennell fuhr fort. »In Wahrnehmung meiner Pflichten habe ich Merelan für das kommende Jahr nach Burg Benden versetzt.«
»Das geht doch nicht …« Überrascht und verärgert erhob sich Petiron halb von seinem Sitz.
»Es geht sehr wohl«, beschied ihm Gennell in so
barschem Ton, dass Petiron sich auf den Stuhl zu-rückfallen ließ. »Ich weiß, dass du neue Arien komponierst, die nur Merelan singen kann, doch ich
finde, dass du sie überforderst.« Mahnend hob Gennell den Finger. »Und deinen Sohn hast du völlig vernachlässigt.«
»Mein Sohn … ich muss mit dir über meinen Sohn
sprechen, Gennell. Er komponiert bereits …«
Gennell hob noch einen Finger. »Anscheinend bist du der Einzige in der Harfnerhalle, der nicht weiß, dass Robinton ein musikalisches Genie ist.«
»Ein Genie? Wegen ein paar läppischer Liedchen …«
»Petiron!« donnerte Gennell ungeduldig. »Der Jun-ge spielt auf seiner Flöte oder Gitarre jede erdenkliche Weise vom Blatt – sogar Melodien, die du geschrieben hast – ohne einen einzigen falschen Ton anzuschlagen.
Er stellt Instrumente her, die gut genug sind für das Harfnersiegel.«
»Diese Trommel, die er gebastelt hat, war nicht ausreichend«, hielt Petiron ihm entgegen.
»Seine erste Trommel war beinahe gut genug. Die
anderen, die er später gebaut hat, sind längst verkauft.
Das gleiche gilt für die Flöten …«
»Eine Flöte ist in seinem Zimmer …«
»Alle anderen Meister dieser Halle behandeln ihn, 122
als stünde er bereits im Rang eines Lehrlings, Meisterkomponist Petiron«, schnauzte Gennell. »Wir verlangen nichts von ihm, das er nicht von sich aus bietet, und seine Leistungen entsprechen denen eines Lehrlings im zweiten Ausbildungsjahr.«
Petiron zog die Mundwinkel nach unten. »Aber er
ist mein Sohn …«
»Das fällt dir reichlich spät ein, Petiron«, kanzelte Gennell ihn in einem Ton ab, den er sich normalerweise für aufmüpfige Studenten vorbehielt. Dann glättete sich seine Miene. »Du bist der beste Komponist, den es in den letzten zweihundert Planetenumdrehungen auf Pern gegeben hat, Petiron, und dafür zollen wir dir Respekt. Deine Obsession, dein totales Engage-ment, befähigen dich, diese extravagante und komplexe Musik zu schreiben. Doch gleichzeitig macht dich das blind für andere Dinge des Lebens, die mindestens genauso wichtig sind. Über deinen Kompositionen vergisst du deine Frau und dein Kind. Und als ich von Burg Benden einen Brief erhielt, in dem man mich bat, jemanden zu empfehlen, der Gesangsunterricht erteilt, dachte ich sofort an Merelan. Als ich sie fragte, ob sie bereit wäre, dorthin zu gehen, sagte sie zu. Der Burgherr von Benden hat Kinder in Robs Alter, deshalb bietet es sich an, dass er seine Mutter begleitet.«
Wütend sprang Petiron hoch. »Ich bin sein Vater –
gilt mein Wort überhaupt nichts?«
»Üblicherweise bleibt ein Junge bis zum Alter von zwölf Planetenumdrehungen in der Obhut seiner Mutter, es sei denn, er wird in eine Pflegefamilie gegeben.«
»Das alles wurde völlig überstürzt und unüberlegt entschieden«, schimpfte Petiron und ballte die Fäuste, während er vor Wut kochte. Nicht nur, dass man ihm seine väterlichen Rechte vorenthielt, plötzlich zeigte seine Frau ihm noch die kalte Schulter, ließ ihn ganz einfach abblitzen.
123
»Im Gegenteil, Petiron, dieser Entschluss wurde nach langem, reiflichem Nachdenken gefasst«, widersprach Gennell und wiegte traurig den Kopf.
»Gerade eben war meine Frau noch hier!« Mit zit—
ternder Hand deutete Petiron in die Richtung, in der sein Quartier lag. »Sie kann noch nicht weit gekommen sein.«
»Heute früh traf ein Drachenreiter von Benden bei uns ein. Er überbrachte eine weitere Nachricht von Lord Maidir. In dem Brief stand, dass er sich sehr freuen würde, wenn Merelan den Posten als Gesangslehrerin annähme. Ihre Pflichten werden sogar darüber hinaus gehen, da der in Benden fest angestellte Harfner, Evarel, aus gesundheitlichen Gründen eine längere Ruhepause einhalten muss. Merelan nahm den Brief mit in eure Wohnung, weil sie sich mit dir beraten wollte. Ich gebe zu, dass ich selbst überrascht war, als sie kurz darauf zu mir zurück kam und erklärte, sie würde die Stelle unverzüglich antreten. Sie sagte, für sie und Robinton sei es das Beste, wenn sie nach Benden gingen.«
»Weil ich nicht wusste, wie alt Robinton ist?« Vor Bestürzung klang Petirons Stimme hell wie die eines Tenors.
Gennell blinzelte so verdutzt, dass Petiron annahm, dieser Punkt sei von Merelan nicht angesprochen worden. Trotzdem war ihr Entschluss, die Harfnerhalle und ihn, ihren Gemahl, zu verlassen, so untypisch für sie, dass Petiron keine plausible Erklärung für ihr Verhalten einfiel und er sich in die Behauptung verbiss, diese Lappalie habe sie von ihm fortgetrieben.
»Dazu kann ich nichts sagen, Petiron, aber mittlerweile müssten Merelan und Rob bereits in Benden eingetroffen sein. Sie bat Betrice, das Notwendigste für sie und den Jungen einzupacken. Wahrscheinlich wirst du schon bald von ihr hören, vermutlich schreibt sie dir einen ausführlichen Brief.«
124
Petiron glotzte den Meisterharfner an; es kostete ihn große Mühe, all diese Mitteilungen zu verkraften.
»Wenn eine Mutter das Recht hat, ihren Sohn bis
zum Alter von zwölf bei sich zu behalten, dann werde ich nichts dagegen unternehmen«, zischte er so böse, dass Gennell zusammenzuckte. »Aber sowie er zwölf geworden ist, gehört er mir!« Mit diesen Worten, die ein Versprechen und eine Drohung zugleich waren, drehte sich Petiron auf dem Absatz herum und stolzierte aus Gennells Zimmer.
125