Lebenserwartung eines Menschen um Jahrzehnte
verlängern, Benden«, klärte der Captain ihn auf.
»Deshalb halte ich einen Rettungsflug nach Pern für vertretbar. Lieutenant Zane, berechnen Sie einen Kurs, der uns durch das System so nahe an Pern heranführt, daß wir mit einem Shuttle auf der Oberfläche landen können. Im Vorbeifliegen werden wir die anderen Planeten und deren Trabanten gründlich sondieren.
Mister Benden, Sie führen den Landetrupp an. Sie
nehmen einen Junior-Offizier mit und – sagen wir – vier Marines. Ich erwarte Ihre Vorschläge bezüglich der Teilnehmer und Kalkulationen über das projektierte
Rendezvous mit der Amherst während Ihres Rückflugs durch das System. Der Zeitrahmen beträgt … wie lange brauchte das EV-Team? Ah ja, fünf Tage und ein paar Stunden. Also haben Sie fünf volle Tage auf Pern, um einen Kontakt mit den Kolonisten herzustellen und deren gegenwärtige Situation einzuschätzen.«
331
»Aye, aye, Captain«, erwiderte Benden und strengte
sich an, nicht allzu euphorisch zu klingen. Lieutenant Zane am Navigationspult streifte ihn mit einem gehässigen Blick, den er jedoch ignorierte; desgleichen nahm er keine Notiz von Fähnrich Nev zu seiner Rechten, der ihn penetrant daran erinnern wollte, daß er ein Xeno-Training absolviert hatte.
»Sie sollten sich mit Lieutenant Ni Morgana beraten, Mister Benden, sowie sie ihre Untersuchungen der
Oort'schen Wolke beendet hat. Vielleicht besteht in der Tat eine Verbindung, und diese archaischen Waffen können einem manchmal böse Überraschungen be—scheren.« Mit einem knappen Kopfnicken bedeutete sie ihm, daß das Gespräch beendet war. »Sie übernehmen das Steuer, Lieutenant Zane.« Danach erhob sich der Captain aus dem Kommandosessel und verließ die
Brücke.
Als Saraidh ni Morgana ihren Platz vor dem wissenschaftlichen Terminal einnahm, zwinkerte sie Ross
Benden zu. Er faßte es als ein Zeichen auf, daß sie mit seiner Leitung des Landeunternehmens einverstanden war.
Auf der 3-D-Kuppel sah es aus, als sei das Schiff nur wenige Zentimeter vom Rand des verschwommenen
Flecks entfernt, der die Oort'sche Wolke darstellte. Als sich die Amherst in einem Winkel näherte, um Proben aus dem dichtesten Teil der Wolke zu entnehmen, schoß man aus einem Torpedorohr an der Backbordseite ein gigantisches Netz aus. Es sollte sowohl Trümmerstücke einsammeln als auch dem Schiff den Weg freimachen.
332
Niemand kurvte ungeschützt durch einen solchen
Schauer, in dem sich die Partikel bis auf zehn Meter nahekamen. Die wuchtigsten Brocken waren ungefähr
einen Kilometer voneinander entfernt. Es kam darauf an, das Netz nicht mit Trümmern kollidieren zu lassen, die mehr als eine Tonne wogen; denn wenn es riß, würden automatisch die Schilde zur Meteoritenabwehr aktiviert.
Während der nächsten zwei Wochen, derweil die
Amherst die Oort'sche Wolke umflog und Kurs auf das Rubkat-System nahm, studierte der Wissenschaftsoffizier penibel das eingefangene Material. Zuerst holte sich Ni Morgana die Erlaubnis ein, einen leeren Frachtcontainer mit Waldo-Kontrollen* zur Fernsteuerung sowie Beobachtungsmonitoren auszustatten. Ein Ar—beitstrupp schleppte den Container bis an einen Punkt, der weit genug entfernt lag, um kein Sicherheitsrisiko für das Schiff darzustellen, und dennoch häufige Ausflüge zum Netz ermöglichte.
* Eine Vorrichtung, um Gegenstände per Fernbedienung zu manipulieren. Benannt nach Waldo F. Jones, einem Erfinder in einer SF-Geschichte von Robert A. Heinlein. – Anm. d. Übers.
Zusammen mit dem Arbeitsteam düste Ni Morgana
zum Netz und fischte Fragmente heraus, die ihr interessant erschienen. Der Frachtcontainer war bereits in mehrere Sektionen unterteilt. Anfangs herrschte in ihnen derselbe Zustand wie im Vakuum, das heißt, die Temperatur betrug minus 270 Grad Celsius oder 3 Kelvin. Wieder an Bord der Amherst, schaltete Ni Morgana 333
die Monitore ein und stürzte sich in einen ihrer legendären Vierzig-Stunden-Arbeitstage.
»Ich entdecke eine Menge verschmutztes Eis«, leitete sie vier Tage später ihren Kommentar ein, nachdem sie etwas geschlafen und ihre Meßergebnisse ein zweites Mal geprüft hatte. »Die meisten Einschlüsse lassen sich leicht bestimmen, es handelt sich um Gesteins-und Metallfragmente, aber es gibt auch…« – sie machte eine längere Pause – »ein paar sehr ungewöhnliche Partikel, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe.«
Da der Wissenschaftsoffizier vier akademische Grade in unterschiedlichen Wissenszweigen erworben hatte
und bei drei oder vier Dutzend Expeditionen auf
fremden Planeten mit dabei war, erzeugte dieses Eingeständnis eine spannungsgeladene Atmosphäre. »Ehe
jemand voreilige Schlüsse zieht, möchte ich ausdrücklich betonen, daß es sich nicht um Artefakte
handelt.«
Am nächsten Morgen stieg sie wieder in den Raum—
anzug und jettete um das Netz mit den Trümmerstücken, um ihre wissenschaftliche Forschung fortzusetzen. Währenddessen genehmigte Captain Fargoe Lieutenant Bendens vorläufige Flugdaten. Ross studierte weiterhin die Protokolle des EV-Teams sowie die beiden ominösen Botschaften, die einzigen, die von der Koloniewelt Pern nach draußen gedrungen waren.
»Falls es sich um eine Lebensform handelt«, erklärte Ni Morgana vorsichtig bei dem wöchentlichen
Offizierstreffen, »so laufen seine Reaktionen dermaßen verzögert ab, daß wir sie nicht wahrnehmen. Ich habe 334
ein paar Anomalien bezüglich der Superleitfähigkeit und in der Kryochemie entdeckt, denen ich nachgehen werde. In einer Testserie möchte ich ein paar reprä-
sentative Proben langsam erwärmen und sehen, was
passiert.«
In der nächsten Woche berichtete sie: »Bei minus
zweihundert Grad Celsius treten bei einigen Partikeln relative Bewegungen auf, doch ob es sich dabei um Veränderungen der Innenstruktur handelt oder einen
Reflex auf die Wärme, vermag ich nicht zu beurteilen.«
»Vergessen Sie nie, Lieutenant«, warnte der Captain sie mit äußerster Strenge, »was mit der Roma geschehen ist.«
»Ma'am, daran denke ich unentwegt!« Das legendäre
›Schmelzen‹ der Roma, verursacht durch einen metallfressenden Organismus, den der Wissenschaftsoffizier an Bord holte, galt als abschreckendes Beispiel und wurde jedem Anwärter für einen wissenschaftlichen Posten während der Ausbildung eingehämmert.
Eine Woche später triumphierte Ni Morgana: »Captain, in einem der größeren Brocken aus der Wolke befindet sich eine echte Lebensform. Ein eiförmiger Körper mit einer extrem harten Außenkruste, und innen sind diese Ovoide mit irgendeiner Flüssigkeit gefüllt, vielleicht Helium. Ein höchst merkwürdiger Organismus, aber ich bin mir sicher, daß er lebt. In dieser Woche erhöhe ich die Temperatur auf über Null Grad Celsius.«
335
Der Captain drohte dem Wissenschaftsoffizier mit
dem Finger. »Denken Sie an die Roma!« ermahnte sie Ni Morgana abermals.
»Ma'am, die Roma wurde auch nicht in einem Tag zerstört.«
Als sie den Konferenzraum verließen, hielt der
Captain jählings inne und starrte Ni Morgana
konsterniert an. »Verfälschen Sie etwa absichtlich ein Zitat, Lieutenant?«
»Mister Benden!« Der energische Ruf des Wissenschaftsoffiziers, der aus dem Kom-Gerät gleich neben seinem Ohr ertönte, ließ Ross Vaclav Benden wie elek-trisiert aus der Koje springen.
»Ma'am?«
»Kommen Sie sofort ins Labor!«
Benden würgte sich in seinen Bordoverall, während
er den Niedergang hinunterpolterte, und strampelte die Zehen in den weichen Bordschuhen zurecht. Es war mitten in der Hundewache, und selbst der Gesell—schaftsraum auf Deck Fünf war verwaist, als er hin—
durchflitzte und in den Grav-Lift hechtete, der ihn zum Labor brachte. Schlitternd kam er vor der Tür zum Stehen und zerschrammte sich am Rahmen die Haut an
den Armen, weil er nicht schnell genug abbremste.
Dann purzelte er buchstäblich in den Laborraum und
hätte um ein Haar Lieutenant Ni Morgana umgerissen.
Sie deutete auf die Beobachtungskammer.
»Verflixt und zugenäht, was in drei Teufels Namen
ist das?« hechelte er, als er die sich windende, wie rosa 336
und gelbe Kotze aussehende Masse auf dem Bildschirm erblickte. In Wirklichkeit war der ekelhafte Schleim zehn Kilometer von der Amherst entfernt, doch er verstand, wieso jeder einen respektvollen Abstand zum Monitor hielt.
»Wenn dieses Zeug auf Pern abregnete«, meinte Ni
Morgana, »kann ich es ihnen nicht verdenken, daß sie um Hilfe schrien.«
»Lassen Sie mich durch!« Der Captain, gewandet in
einen Samtkaftan, mußte sich mit Gewalt durch die
Menschentraube zwängen, die wie gebannt das
Phänomen anstarrte. »Bei allen Göttern, welche Geister haben Sie da entfesselt, Mister?«
»Wir zeichnen die Show auf Band auf, Ma'am«, erklärte Ni Morgana. Zur Beruhigung wedelte sie affektiert mit der Hand, die sie über der DESTRUCT-Taste hielt; ein Druck auf diesen Schalter würde einen absolut tödlichen Laserbeschuß auslösen. Benden sah, wie ihre Augen in wissenschaftlichem Fanatismus glitzerten.
»Den Anzeigen zufolge ähnelt dieser komplexe
Organismus in seiner linearen Struktur gewissen
terranischen Mykorrhizen. Aber er ist riesig, verdammt noch mal!«
Plötzlich fiel der Organismus in sich zusammen und
zerlief zu einer zähflüssigen, leblosen Pfütze. Der Wissenschaftsoffizier tippte ein paar Kommandos in das Waldo-Keyboard ein; daraufhin näherte sich ein Greif-arm der Masse, schaufelte eine Probe in ein selbstdich-tendes Becherglas und zog sich wieder zurück. Lichter 337
flackerten über den entfernten Testapparat, als die Probe analysiert wurde.
»Was ist mit dem Ding passiert?« wollte Captain
Fargoe wissen, und Benden staunte, wie resolut ihre Stimme klang. Er selbst schlotterte vor Aufregung.
»Das kann ich Ihnen vielleicht erklären, sowie die
Analyse beendet ist. Aber ich schätze mal, daß die
Lebensform bei diesem rapiden Wachstum schlicht und ergreifend verhungert ist, da sich in der Kammer außer einer sehr dünnen Atmosphäre nichts weiter befand. Das ist allerdings nur eine Mutmaßung.«
»Aber«, platzte Benden heraus, »wenn das der besagte Organismus von Pern ist …«
»Bis jetzt handelt es sich lediglich um eine Hypothese«, unterbrach Ni Morgana ihn hastig. »Bewiesen ist noch gar nichts. Zuerst müssen wir herausfinden, wie er aus der Oort'schen Wolke auf die Planetenoberfläche gelangen konnte.«
»Berechtigte Frage«, murmelte der Captain. Ihr leicht amüsierter Tonfall ärgerte Benden. An dem, was sie gerade miterlebt hatten, konnte er absolut nichts
Komisches finden.
»Doch wenn er es geschafft hat und Pern attackierte, kann ich mir gut vorstellen, daß die Leute in Panik ge-rieten«, bekundete Fähnrich Nev, dessen Teint immer noch grünlich schimmerte. Der Captain maß ihn mit einem durchdringenden Blick, der ihn bis unter die Wurzeln seiner Borstenfrisur erröten ließ.
338
»Captain«, wandte sich Ni Morgana an Anise Fargoe,
während sie die DESTRUCT-Taste drückte und die
Probe vernichtete. »Ich bitte um Erlaubnis, mich zwecks Fortsetzung meiner Studien dieses Phänomens dem geplanten Landetrupp anschließen zu dürfen.«
»Erlaubnis erteilt.«
Beim Überschreiten der Türschwelle hielt der Captain inne und grinste durchtrieben. »Für Landeteams
bevorzuge ich ohnehin Freiwillige.«
Wer auch immer Lieutenant Benden um sein Kommando beneidet haben mochte, änderte rasch seine
Meinung, als sich Gerüchte über die Beschaffenheit des
›Organismus‹ verbreiteten. Um die wildesten Spe—
kulationen im Keim zu ersticken, veröffentlichte
Lieutenant Ni Morgana einen präzisen Bericht, und sie und ihr Laborteam waren als Experten in jedem Kasino an Bord hochwillkommen.
Ross Vaclav Benden wurde von Alpträumen heimgesucht, die seinen Onkel betrafen: Der Admiral, über-raschenderweise in weißer Galauniform, angetan mit der breiten purpurfarbenen Schärpe, die ihn als Helden der Cygnus-Schlacht auszeichnete und im Prunk seiner vielen anderen Orden und höchsten Dekorationen, wehrte sich dagegen, von der Monstrosität aus dem Labor verschlungen zu werden.
Entschlossen, seinem Onkel nach Kräften zu helfen,
studierte Ross die EVC-Protokolle über Pern, bis er jedes Wort auswendig wußte. Die lakonische Nachricht von der sicheren Landung, die Admiral Benden und
Gouverneurin Boll abgeschickt hatten, und Tubbermans 339
Mayday waren leicht zu behalten, wobei der Notruf
große Rätsel aufwarf. Wieso hatte der Botaniker der Kolonie um Hilfe gebeten? Warum nicht Paul Benden
oder Emily Boll oder jemand anders aus dem
Führungsgremium der Kolonie?
Obwohl Benden nicht zum ersten Mal einen Landetrupp befehligte, befaßte er sich mit jedem Aspekt des Unternehmens doppelt und dreifach. Er wollte auf alles und jedes vorbereitet sein, einschließlich gefräßiger Organismen und anderer Widrigkeiten, denen sie auf Pern vielleicht begegneten. Außerdem berechnete er einen alternativen Parkorbit für das Shuttle, falls sie gezwungen waren, den Planeten zu verlassen, ehe sich das Fluchtfenster für ihr Rendezvous mit der Amherst öffnete. Fünf Tage, drei Stunden und vierzehn Minuten blieben dem Landeteam, um auf Pern Nachforschungen anzustellen. Sehr zu Bendens Verdruß hatte Ni Morgana darum gebeten, als Junior-Offizier Fähnrich Nev mitzunehmen.
»Es ist wichtig, daß er praktische Erfahrungen sammelt, Ross«, beharrte Ni Morgana, ohne auf Bendens
ablehnende Haltung einzugehen. »Außerdem hat er ein bißchen Xeno-Training. Er ist robust und gehorcht einem Befehl, selbst wenn er grün im Gesicht wird.
Einmal muß er ja mit dem Lernen anfangen. Captain
Fargoe meint auch, daß er von einer Teilnahme an dieser Mission nur profitieren kann.«
Benden blieb gar nichts anderes übrig, als sich in das Unvermeidliche zu fügen, doch er schlug vor, daß Sergeant Greene die Marines anführte. Dieser hartgesot-340
tene, bullige Haudegen wußte mehr über sämtliche
Fährnisse, die einem Landetrupp drohen konnten, als Benden oder sonstwer an Bord jemals mitkriegen würden. Nachdem er den Organismus gesehen hatte, den Ni Morgana aus dem Kälteschlaf aufweckte, wollte Ross einen mit allen Wassern gewaschenen Kerl mit dabei haben, der Nevs Unbedarftheit – falls das der richtige Ausdruck war – ein wenig kompensierte.
»Wie waren Sie denn als Fähnrich, Lieutenant?«
fragte Ni Morgana mit einem Seitenblick.
»So tolpatschig habe ich mich jedenfalls nie angestellt«, entgegnete er bissig. Das stimmte sogar, denn in seiner Familie herrschte seit vielen Generationen eine militärische Tradition, und das korrekte Benehmen hatte er sozusagen mit der Muttermilch eingesogen. Doch dann gab er nach, als ihm ein paar dumme Patzer einfielen, die er sich seinerzeit geleistet hatte, und er grinste schief. »Aber es scheint eine der üblichen Routinemissionen zu werden – die Lage sichten,
einschätzen und bewerten.«
»Hoffentlich bleibt es dabei«, erwiderte Saraidh ni Morgana ernst.
Ross Benden war entzückt, daß der elegante Wissenschaftsoffizier zu seinem Team gehörte. Sie war älter als er, diente jedoch noch nicht so lange in der Flotte, weil sie zuerst ihre wissenschaftliche Ausbildung beendet hatte, ehe sie zum Militär ging. An Bord war sie die einzige Frau, die ihr Haar lang trug, obwohl sie es normalerweise zu kunstvollen Zöpfen flocht. Dadurch wirkte sie irgendwie hoheitsvoll und sehr feminin –was 341
im Widerspruch stand zu ihrer Geschicklichkeit in den verschiedenen Kampfsportarten, die man in der
Sporthalle auf der Amherst trainierte.
Falls sie an Bord irgendwelche Affären hatte, so war dies nicht allgemein bekannt; er hatte Gerüchte über ihre speziellen Vorlieben und Neigungen gehört, doch keiner prahlte mit persönlichen Erfahrungen. Benden fand sie sehr sympathisch und schätzte sie als einen kompetenten Offizier, obwohl sie bis jetzt nur ein paarmal gemeinsam Wache geschoben hatten.
»Haben Sie das Video von diesem Ding gesehen?«
hörte Ross Lieutenant Zane näseln, als er kurz darauf an der Offiziersmesse vorbeiging. »Da drunten gibt es nichts Lebendiges mehr. Ni Morgana hat nachgewiesen, daß die Lebensform in der Öort'schen Wolke erzeugt wurde, also kein Trick der Nathi ist. Ich halte es für Wahnsinn, auf Pern zu landen, wenn diese Dinger dort hausen. Und höchstwahrscheinlich tummeln sie sich dort in Scharen, immerhin können sie einen ganzen Planeten fressen.«
Benden blieb stehen um zu lauschen. Er wußte genau, daß Zane trotz der Gefahren mit Freuden eine Niere
geopfert hätte, nur um dem Landetrupp anzugehören.
Nev war immer noch besser als dieser sauertöpfische, hochnäsige Zane. Und als der Navigationsoffizier
gehässig bemerkte, Benden sei nur wegen seiner
Verwandtschaft mit einem der Kolonieführer
ausgewählt worden, setzte Ross eilig seinen Weg durch den Korridor fort, ehe sein Temperament mit ihm
durchging.
342
Als sich die Amherst auf ihrer majestätischen Passage durch das System dem Punkt näherte, wo das Shuttle starten konnte, berief Benden ein letztes Briefing ein.
»Wir nähern uns der Planetenoberfläche in einer spiralförmigen Bahn, die es uns erlaubt, die nördliche Hemisphäre zu erforschen, während wir den gemeldeten Landeplatz auf dem Südkontinent bei einer geographischen Länge von dreißig Grad ansteuern«, gab er bekannt, indem er die Flugbahn auf dem großen Bildschirm im Konferenzraum zeigte.
»Das EV-Team gab als Landschaftsmarkierungen
drei Vulkankegel an, die wir bei unserem Landeanflug bereits aus einiger Entfernung sehen müßten. Im Ver-messungsprotokoll steht, die dortigen Böden wären für widerstandsfähige Hybridpflanzen von der Erde und Altair geeignet, deshalb dürfen wir davon ausgehen, daß die Kolonisten dort mit dem Kultivieren des Landes begannen. Tubbermans Notruf erfolgte neun Jahre nach der Landung, und bis dahin müßten sich die Pioniere eigentlich häuslich eingerichtet haben.«
»Offensichtlich hat es nicht gereicht, um sich gegen diesen Organismus zu wehren«, warf Nev trocken ein.
»Ihre Theorie wäre wesentlich plausibler, Fähnrich«, hielt Saraidh ni Morgana ihm freundlich entgegen,
»wenn ich nur wüßte, wie der Organismus von der
Oort'schen Wolke auf die Planetenoberfläche gelangen konnte.«
»Die Nathi haben ihn in Perns Atmosphäre verteilt«, erwiderte Nev ohne zu zögern.
343
»Die Nathi bevorzugen direktere Methoden«, widersprach der Wissenschaftsoffizier.
»Wir haben sie doch gelehrt, auf der Hut zu sein,
Lieutenant«, fuhr Nev unbeirrt fort. »Und verschlagen.
Und…«
»Nev!« ermahnte Benden den Fähnrich.
Benden ließ sich nichts anmerken, doch er fragte sich, ob Ni Morgana es nicht vielleicht schon bereute, den vorwitzigen Nev mit seinen abenteuerlichen Theorien mitgenommen zu haben. Wenn der Wissenschaftsoffizier keinen Transportvektor feststellen konnte, war es höchst unwahrscheinlich, daß die Nathi Mittel und Wege entdeckt hatten. Deren Stärken lagen auf dem Gebiet der Metallurgie, nicht in der Nutzung biologischer Faktoren. Nev hielt den Mund, und die Einsatzbesprechung ging weiter.
»Wenn wir erst einmal gelandet sind, beantworten
sich möglicherweise manche Fragen von selbst. Es liegt auf der Hand, daß wir mit unserer Suche am Landeplatz der Pioniere beginnen müssen. Bis dahin haben wir uns schon einen recht guten Überblick über den Planeten verschafft und können Abstecher zu jedem Ort unternehmen, wo wir Spuren menschlicher Besiedlung vermuten. Morgen früh um 0230 Uhr gehen wir an Bord der Erica. Noch irgendwelche Fragen?«
»Und was machen wir, wenn es da drunten nur so
wimmelt von diesen Dingern?« fragte Nev und
schluckte krampfhaft.
»Was würden Sie denn tun, Nev?« wollte Benden
wissen.
344
»Türmen!«
»Na so was, Mister!« Tadelnd schnalzte Ni Morgana
mit der Zunge. »Wie wollen Sie jemals Ihr Wissen über xenobiologische Organismen erweitern, wenn Sie nicht jedes Exemplar, das Ihnen über den Weg läuft, gründlich unter die Lupe nehmen?«
Fähnrich Nev quollen beinahe die Augen aus dem
Kopf. »Ich bitte um Entschuldigung, Lieutenant, aber Sie sind der Wissenschaftsoffizier.«
»Ja, das bin ich.« Ni Morgana stand auf, und das
Scharren ihres Stuhls übertönte das dankbare Gemurmel am Ende des Tisches, wo die vier Marines saßen, die das Landeteam begleiten sollten.
Nach dem Start der Amherst flog die Gig in flottem Tempo auf die blaue Murmel im All zu, die Rubkats dritten Planeten darstellte. Allmählich füllte er den Bildschirm im Bug aus, eine helle, heitere Welt, wunderschön und harmlos.
Benden hatte den Kurs der Gig so gesetzt, daß sie den geosynchronen Orbit der drei Kolonistenschiffe
kreuzten, weil er hoffte, eventuell eine Nachricht aufzufangen. Doch als er die Kommunikationskanäle öffnete, erhielt er lediglich das Standard-Identifikations-signal, das den Namen und das Ziel der Yokohama preisgab.
»Das muß noch gar nichts bedeuten«, meinte Saraidh, als sie Bendens Enttäuschung bemerkte. »Wenn die
Kolonie sich eingerichtet hat und alles wie am
Schnürchen läuft, haben sie für diese ausgeschlachteten Schiffshüllen keine Verwendung mehr. Obwohl ich
345
finde, daß es ein trauriger Anblick ist«, fügte sie hinzu, als Rubkat plötzlich die geisterhaften Schiffe beleuchtete.
»Wieso?« fragte Nev verdutzt.
Saraidh hob ihre schmalen, eleganten Schultern.
»Machen Sie sich kundig, welche Schlachten diese
Kreuzer geschlagen haben, dann bedeutet Ihnen ihre
derzeitige Desuetude* vielleicht mehr.«
»Ihre was?« Nev schaute verständnislos drein.
»Schlagen Sie das auch im Lexikon nach«, konterte
sie und buchstabierte das Wort in einem beinahe über-drüssigen Tonfall.
»Alte Seefahrer sind nicht so leicht umzubringen«,
murmelte Benden. Während er die drei Schiffe anstarrte, schnürte sich ihm die Kehle zusammen und
seine Augen wurden feucht. Langsam driftete die Gig weiter und ließ die ausgedienten Kreuzer auf der ihnen zudiktierten Bahn zurück.
»Soldaten, nicht Seefahrer«, korrigierte Saraidh.
»Aber das Zitat paßt.« Stirnrunzelnd las sie die Daten auf ihrem Paneel ab. »Ich registriere zwei Funksignale.
Eines stammt von der ursprünglichen Landestelle, das andere ist viel weiter südlich plaziert. Vergrößern Sie mir bitte mal die südliche Hemisphäre, Ross. Bei siebzig Grad Länge und fast zwölfhundert Klicks von dem stärkeren Signal entfernt.« Ross und Saraidh tauschten * Aus dem Lateinischen desuetudo: außer Gebrauch. Gemeint ist in diesem Fall ein außer Dienst gestelltes Schiff. — Anm. d.
Übers.
346
einen Blick. »Vielleicht gibt es dort Überlebende!
Aber sehr weit im Süden, und hinter Bergketten von
beachtlicher Höhe. Die Gipfel reichen von
zweitausendvierhundert bis mehr als neuntausend Meter über Meeresniveau. Zuerst landen wir an der Stelle, die im Protokoll angegeben ist.«
Als die Gig in einem flachen Winkel die nördliche
Polkappe passierte, sahen sie, daß auf dieser Halbkugel ein stürmischer und bitterkalter Winter herrschte. Der größte Teil der Landmasse ruhte unter Schnee und Eis.
Die Instrumente entdeckten keine Energie-und
Lichtquelle, und nur sehr geringe Hitzeausstrahlungen in Gebieten, wo Menschen normalerweise siedelten, wie zum Beispiel an Flüssen, auf Ebenen oder in Meeresnähe.
Über der großen Insel, an dem Punkt, der dem
Nordkontinent am nächsten lag, flackerte die Andeu—
tung eines Blip über den Radarschirm. Doch das Echo-signal war zu schwach, um auf eine nennenswerte Zu—sammenballung von Siedlern hinzuweisen. Wenn sich
die Pioniere mit der für neugegründete Kolonien typischen Zuwachsrate vermehrt hatten, mußten jetzt an die fünfhunderttausend Menschen auf Pern leben, selbst wenn man – bedingt durch Naturkatastrophen und die Härten einer primitiven Gesellschaft – eine hohe
Sterberate berücksichtigte.
»Wenn die Zeit reicht, unternehmen wir später einen weiteren Tiefflug über die Oberfläche. Die Siedler
wollten zwar Ackerbau und Viehzucht betreiben, aber sie könnten fossile Treib-und Brennstoffe benutzen«, 347
überlegte Saraidh, als sie auf den Äquator zurasten, den schneebedeckten Kontinent hinter sich ließen und die tropischen Ozeane ansteuerten. »Hier gibt es massenhaft Meereslebewesen. Manche davon sind sehr groß«, setzte sie hinzu. »Größer, als das Erkundungsteam angab.«
»Sie nahmen Delphine von der Erde mit«, ergänzte
Nev. »Durch Mentasynthese genetisch hochgezüchtete
Delphine.«
»Ich glaube nicht, daß Captain Fargoe die Rettung
von Delphinen in Betracht zieht, selbst wenn wir die Möglichkeit dazu hätten«, erwiderte Saraidh. »Ist jemand von Ihnen geschult, mit anderen Spezies zu kommunizieren? Ich bin es nicht. Diesen Punkt sollten wir also bis auf weiteres verschieben.«
»Wie lange leben Delphine eigentlich?« fragte Ross
interessiert. »Wir dürfen dabei nicht vergessen, daß die Probleme acht, neun Jahre nach der Landung begannen.
In Ihrem Protokoll erwähnen Sie, Lieutenant, weitere Tests mit dem Organismus hätten ergeben, daß er im Wasser quasi ertrinkt und durch Feuer verbrannt werden kann. Sicher, durch Mentasynthese optimierte
Lebewesen haben ein phänomenales Gedächtnis. Aber
wie viele Generationen von Delphinen gibt es
mittlerweile? Können sie überhaupt wissen, was an
Land passiert? Können sie sich an bestimmte Ereignisse erinnern, die vor Generationen stattgefunden haben?«
»Es fragt sich, ob sie dies überhaupt wollen«, gab Saraidh zu bedenken. »Delphine sind vom Menschen unabhängig und hochintelligent. Wahrscheinlich haben sie 348
ihre Verluste abgeschrieben und allein auf sich gestellt überlebt. Ich hätte jedenfalls so gehandelt, wenn ich ein Delphin wäre.«
Dann schaltete Saraidh die Recorder im Deltaflügel
der Gig ein, um die Kapriolen der großen Meerestiere zu filmen, die ausgelassen unter der Erica hinwegtoll-ten. In einem schrägen Sinkflug näherte sich das Shuttle dem Landeplatz der Kolonisten.
»In den Protokollen steht, daß die Bahrain fünfzehn weibliche und neun männliche Delphine beförderte«, sagte Nev. »Wie oft bekommen Delphine Junge –einmal im Jahr? Das sind eine Menge terrestrischer Lebensformen, die wir im Stich lassen.«
»Im Stich lassen? Verflixt noch mal, Cahill, sie sind in ihrem Element! Schauen Sie doch nur, wie sie sich anstrengen, um uns zu begleiten!«
»Vielleicht möchten sie uns etwas mitteilen«, mutmaßte Nev.
»Zuerst halten wir nach Menschen Ausschau, Fähnrich«, beschied ihn der Wissenschaftsoffizier resolut.
»Danach kümmern wir uns um die Delphine. Ross, ich
kriege kein Signal von dem Boden/Bord-Interface, das hier angeblich installiert sein soll. Es ist außer Betrieb.«
»Alle mal herhören! Anschnallen zur Landung!« befahl Ross, der einen Kom-Kanal zum Quartier der
Marines geöffnet hatte.
»Großer Gott!« hauchte Saraidh erschüttert, als sie die beiden gesprengten Vulkankrater sahen und den
rauchenden Kegel des dritten Vulkans.
349
Ross verschlug es glatt die Sprache; das Ausmaß der Eruption entsetzte ihn. Eine solche Katastrophe hatte er nicht erwartet. Oder war die Verwüstung entstanden, nachdem der Organismus Pern heimgesucht hatte?
Während er sich im Grunde damit abgefunden hatte,
seinen Onkel nicht mehr lebend anzutreffen, so hatte er doch gehofft, mit eventuellen Nachfahren des Admirals Kontakt aufnehmen zu können. Mit einem Desaster dieser Größenordnung hatte er nicht gerechnet. Sie überflogen den Tower des Landeplatzes, dessen
Signalfeuer nun blinkte, aktiviert durch die Nähe der Gig.
»Sehen Sie diese Hügel, die backbord auftauchen?«
Saraidh deutete in die Richtung. »Sie haben die Umrisse von Shuttles. Wie viele nahmen die Kolonisten damals mit?«
»In den Protokollen ist von sechs Shuttles die Rede«, antwortete Nev. »Die Bahrain führte eines mit, die Buenos Aires zwei und die Yoko drei. Hinzu kam eine Captain's Gig.«
»Da drunten parken nur drei. Ich frage mich, wo die anderen geblieben sind«, überlegte Saraidh.
»Vielleicht benutzte man sie, um diesen Ort zu verlassen, als der Vulkan ausbrach«, spekulierte Nev.
»Aber wohin flüchteten die Leute? Auf dem Nordkontinent gab es keine Anzeichen für menschliche Besiedlung«, sinnierte Benden, der darum kämpfte, seine Bestürzung zu unterdrücken.
Saraidh stieß einen dünnen, hohen Pfiff aus. »Und
diese anderen symmetrischen Hügel sind – waren – die 350
Niederlassung. Die Häuser hatte man akkurat – wenn
auch nicht gerade ästhetisch – angeordnet. Die Bauweise muß stabil gewesen sein, denn offenbar ist nichts unter dem Gewicht von Asche und vulkanischem Auswurfmaterial eingestürzt. Die Lava ist erstarrt. Ross, können Sie feststellen, bis zu welcher Höhe sich die Asche aufgetürmt hat?«
»Ja. Einen halben Meter unter der Ascheschicht befindet sich ein Metallgitter. Die Landung dürfte kein Problem sein – sie wird sehr weich ausfallen.«
Er sollte recht behalten. Während sie darauf warteten, daß sich die aufgewirbelte Asche wieder zu Boden senkte, legten Offiziere und Marines Schutzanzüge an.
Sie checkten die Sauerstoffgeräte, die Atemmasken, und schnallten zum Schluß die Liftgürtel an, die es ihnen ermöglichten, über die Aschedecke hinweg zur Siedlung zu fliegen.
»Was ist das denn?« fragte einer der Marines, als sich der Landetrupp draußen vor der Erica sammelte, einen Meter über der Asche schwebend. Er zeigte auf eine Reihe von langen, halbkreisförmigen Erhebungen, die sich aus der Ascheschicht hochwölbten. »Tunnel?«
»Unwahrscheinlich. Dazu sind diese Formen nicht
groß genug, und sie scheinen nirgendwohin zu führen«, erwiderte Ni Morgana und justierte die Steuerdüsen ihres Liftgürtels. Neben dem nächsten Hügel hielt sie an und trat mit dem Fuß dagegen. Das Gebilde kollabierte in einer staubgeschwängerten Implosion und setzte einen bestialischen Gestank frei, den die Filter der Atemmasken kaum neutralisieren konnten.
351
»Puh! Ein toter Organismus. Aber wieso hat er sich
nicht in Matsch verwandelt?« Sie nahm einen Präpara-tenzylinder, sammelte eine Probe ein und verstaute das versiegelte Röhrchen in einen gepolsterten Container.
»Wovon hat sich das Ding denn ernährt, von Asche
oder Gras oder was?« wunderte sich Fähnrich Nev.
»Das erforschen wir später. Zuerst sehen wir uns die Gebäude an. Scag, Sie bleiben bei der Gig«, befahl Benden einem der Marines. Dann bedeutete er den
anderen, ihm zu der verwaisten Niederlassung zu
folgen.
»Die Ortschaft wurde leergeräumt«, verkündete Ross
eine Stunde später, wobei er allmählich von der
Vorstellung Abschied nahm, noch Überlebende anzutreffen. Und er hatte sich so darauf gefreut, nach Hause berichten zu können, er sei irgendwelchen Cousins oder Cousinen begegnet. Schließlich klammerte er sich an eine vage Hoffnung. »Also haben die Siedler sie freiwillig verlassen und alles mitgenommen, was sie eventuell woanders wieder gebrauchen konnten. Einen Überfall der Nathi können wir wohl ausschließen. Die hätten jede Spur einer menschlichen Niederlassung vernichtet.«
»Das ist wohl wahr«, pflichtete Saraidh ihm bei. »Im übrigen gibt es nirgendwo einen Hinweis auf die Nathi.
Was wir hier haben, ist eine evakuierte Gemeinde. Im Südwesten befindet sich der zweite Sender, der ein Funksignal ausstrahlt. Hier finden wir bestimmt nichts, was uns Aufschluß über die Vorkommnisse geben
könnte. Mit Ihrer Beobachtung, die Kolonisten hätten 352
alles, was nicht niet-und nageltest war, ausgeräumt, haben Sie natürlich recht, Benden. Die Leute haben den Laden hier dichtgemacht, doch das heißt noch lange nicht, daß sie an einem anderen Ort nicht wieder Fuß fassen konnten.«
»Und die drei Shuttles, die wir vermissen, benutzten sie zur Flucht«, ergänzte Nev.
Zurück in der Erica, nahmen sie direkten Kurs auf das Funksignal. Sie überflogen den Rest der Siedlung und filmten den qualmenden Vulkankrater sowie die verwüstete Umgebung darunter. Sowie sie den Fluß überquerten, zeigte die Landschaft eine andere Form von Verheerung. Die vorherrschenden Winde hatten
verhindert, daß sich zuviel Asche ausbreitete, doch seltsamerweise sah man lediglich vereinzelte Flecken, die Pflanzenbewuchs trugen, dafür riesenhafte Kreise aus verbrannter Erde.
»Als sei das Land mit gigantischen Tropfen irgendeiner stark ätzenden Säure besprenkelt worden«, äußerte Cahill Nev, erstaunt über die gewaltige Dimension des Musters aus kahlen Flecken.
»Eine Säure war das auf gar keinen Fall«, widersprach Benden. Er rief die entsprechende Passage des Protokolls ab, das er so gut kannte. »Das EV-Team entdeckte ähnliche runde Flecken, aber sie vermerkten auch, daß eine botanische Sukzession bereits im Gange war.«
»Das muß der Organismus aus der Oort'schen Wolke
gewesen sein«, sagte Nev erregt. »Unter Vakuumbe—
353
dingungen ist er verhungert, aber hier fand er Nahrung in Hülle und Fülle.«
»Zuerst muß der Organismus hierher gelangt sein,
Mister«, hielt Ni Morgana ihm ungeduldig entgegen.
»Und noch wissen wir nicht, wie er es geschafft haben soll, sechshunderttausend Meilen durchs Weltall zu reisen, um dann auf diesem Planeten abzuregnen.« An ihrer gespannten Miene merkte Ross, daß sie in Gedanken selbst die unwahrscheinlichsten Transport-möglichkeiten abwog. »Das Gelände ist hier ziemlich flach, Mister Benden. Gehen Sie in den Tiefflug, damit wir uns den – kranken Boden näher ansehen können.«
Benden gehorchte und spürte wieder einmal, wie gut
die Erica auf das Steuer reagierte, während sie mühelos über das leicht gewellte Terrain dahinglitt. Zwar erwartete er nicht, daß plötzlich etwas aus diesen seltsamen Tupfern hochgeschossen kam, aber auf fremden Welten mußte man auf alles gefaßt sein, selbst wenn Erkundungsund Vermessungsteams diesen Planeten aufs gewissenhafteste ausgekundschaftet hatten.
Raubtiere hatte man nicht aufgespürt, doch irgendeine Gefahr war neun Jahre nach der Landung über die Menschen hereingebrochen. Und von vulkanischen Eruptionen war in Tubbermans Notruf keine Rede.
Meilenweit flogen sie über die von kahlen runden
Flecken zerfressene Landschaft, die gesprenkelt war von einzelnen Ringen, einander überlappenden Zwil-lingsringen und Dreifachkreisen. Ni Morgana bemerkte, daß man an den Rändern so etwas wie eine Pflanzensukzession wahrnehmen könne. Sie bat Benden 354
zu landen, damit sie Proben einsammeln konnte, unter anderem Exemplare der sich regenerierenden
Vegetation.
Jenseits eines breiten Stroms gediehen völlig gesunde Bäume und großblättrige, unversehrte Gewächse. Über einer ausgedehnten Grassteppe erblickten sie eine Staubwolke, doch was immer diese erzeugt haben mochte, verbarg sich in einem dichten Waldgürtel.
Spuren menschlicher Besiedlung suchten sie vergebens.
Sie entdeckten nicht einmal einen mit Erdkrume
bedeckten Hügel, unter dem sie die Überreste eines
Gebäudes oder einer Mauer hätten vermuten können.
Das zweite Funksignal verstärkte sich, als sie sich den Vorbergen eines gewaltigen Gebirgsmassivs nä-
herten; die Gipfel lagen unter Schneemassen, obschon in diesem Teil der Hemisphäre gerade Hochsommer
herrschen mußte. Während sie sich dem Signalgeber
näherten, verwandelten sich die einzelnen rhythmischen Piepser allmählich in einen Dauerton.
»Dort gibt es nichts außer einer lotrecht abfallenden Felswand«, meinte Ross gereizt, während die Gig im Schwebeflug über ihrem Zielort verharrte; der pene—trante Alarmton ging ihm auf die Nerven.
»Das mag ja sein, Ross«, entgegnete Saraidh, »aber
ich lese Meßwerte ab, die auf Körperwärme hindeuten.«
Aufgeregt zeigte Nev mit dem Finger. »Das Plateau
da unten ist viel zu eben, um natürlichen Ursprungs zu sein. Sehen Sie? Und was ist mit diesem Pfad, der ins Tal hinabführt? Und – heh – in die Klippe sind ja Fenster eingelassen!«
355
»Der Felsen ist eindeutig bewohnt!« rief Saraidh und deutete nach steuerbord, wo eine Türöffnung in die Steilwand eingesenkt war. »Landen Sie, Ross!«
Als die Erica auf der glatt eingeebneten Fläche zum Stehen gekommen war, rannte bereits eine Gruppe von Leuten auf das Plateau. Ihr nahezu hysterisches Be-grüßungsgeschrei wurde über die Außensensoren ins Cockpit übertragen. Das Alter der sich einfindenden Menschen lag zwischen Anfang zwanzig bis Ende vierzig – mit Ausnahme eines weißhaarigen Mannes,
dessen Mähne auf Schulterlänge gestutzt war; sein tief zerfurchtes Gesicht und die langsamen Bewegungen deuteten darauf hin, daß er weit über achtzig, wenn nicht gar neunzig Jahre alt sein mußte. Sein Auftauchen dämpfte die Willkommensbekundungen, man trat beiseite und erlaubte ihm, ungehindert die Einstiegsluke der Gig zu erreichen.
»Der Patriarch«, murmelte Saraidh, während sie ihre Uniformjacke geraderückte und sich das Käppi mitten auf die originelle Zopffrisur pflanzte.
»Patriarch?« wiederholte Nev in fragendem Ton.
»Schlagen Sie später nach, was dieser Ausdruck bedeutet – falls Sie es nicht von allein spitzkriegen«, blaff-te Benden ihn über die Schulter an und aktivierte den Entriegelungsmechanismus der Luftschleuse. Dann schoß er den Marines einen warnenden Blick zu, die ihre bereits gezückten Handfeuerwaffen wieder
einsteckten.
Sowie die Luftschleuse aufging und die Rampe aus—
fuhr, verstummte die kleine Menge. Aller Augen rich-356
teten sich auf den Greis, der die Schultern durchdrückte und ein herablassendes Lächeln aufsetzte.
»Endlich sind Sie hier!«
»Das Hauptquartier der Konföderation erhielt eine
Nachricht«, begann Ross Benden. »Unterschrieben von einem gewissen Theodore Tubberman. Sind Sie derjenige?«
Der Alte schnaubte angewidert durch die Nase. »Ich
bin Stev Kimmer.« Seine Hand schnellte an die Stirn, einen zackigen militärischen Gruß parodierend. »Tubberman ist seit langem tot. Im übrigen habe ich die Peilkapsel konstruiert.«
»Sehr gute Arbeit«, erwiderte Benden. Aus unerfindlichen Gründen scheute er plötzlich davor zurück, seinen Namen zu nennen. Statt dessen stellte er Saraidh ni Morgana und Fähnrich Nev vor. »Aber weshalb schickten Sie die Kapsel an das Hauptquartier der Konföderation, Kimmer?«
»Es war nicht meine Idee. Tubberman bestand darauf.« Kimmer zuckte die Achseln. »Er bezahlte mich für meine Tätigkeit als Konstrukteur, nicht, weil er von mir einen guten Rat wollte. Wie es aussieht, sind Sie ohnehin viel zu spät gekommen.« Ärgerlich furchte er die Stirn.
»Seit Eintreffen der Nachricht ist die Amherst das erste Schiff, das in den Sagittarius-Sektor flog«, erklärte Saraidh ni Morgana, unbeeindruckt von der Kritik. Ihr war aufgefallen, daß Ross seinen Namen verschwieg, und sie konnte sich denken, daß es dafür einen triftigen Grund gab. Sie hoffte nur, daß Fähnrich Nev die
357
Unterlassung gleichfalls bemerkt hatte. »Wir kommen gerade von dem ursprünglichen Landeplatz der
Kolonisten.«
»Dann ist also niemand nach Landing zurückgekehrt?« hakte Kimmer nach. Benden fand seine Gewohnheit, andauernd den Flottenoffizieren ins Wort zu fallen, höchst anmaßend. »Nachdem der Fädenfall aufgehört hatte, hätten sie eigentlich die alte Niederlassung wieder besiedeln müssen. Denn dort befindet sich das Boden/Bord-Interface.«
»Das Interface funktioniert nicht mehr«, erwiderte
Benden und gab sich Mühe, seine Verärgerung über den arroganten alten Mann zu vertuschen.
»Dann sind alle tot«, behauptete Kimmer rundweg.
»Die Fäden haben sie erwischt!«
»Fäden?«
»Ja, Fäden.« Kimmers schwelender Zorn war durchsetzt mit tief empfundenen, kreatürlichen Emotionen, nicht zuletzt einer schrecklichen Angst. »So nannten sie den Organismus, der den Planeten angriff. Weil er wie ein Regen aus todbringenden Fäden vom Himmel fiel, alles auffraß, mit dem er in Berührung kam, ob Mensch, Tier oder Pflanze. Wir verbrannten die Fäden in der Luft, am Boden, tagaus, tagein. Nicht, daß es etwas genützt hätte. Wir sind die letzten, die von der Kolonie übrigblieben. Elf Personen, und wir überlebten nur, weil wir uns in einer Felswand verschanzten, Vorräte horteten und auf Hilfe warteten.«
»Sind Sie sicher, daß es keine weiteren Überlebenden gibt?« vergewisserte sich Ni Morgana. »Während der 358
acht oder neun Jahre vor dem Angriff muß die Kolonie doch gewachsen sein.«
»Ehe die Fäden vom Himmel fielen, lebten hier beinahe zwanzigtausend Menschen, doch wir sind der
kümmerliche Rest«, antwortete Kimmer. »Zum Glück
haben Sie doch noch den Weg hierher gefunden. Mit
einem so kleinen Genpool konnte ich keine weiteren
Generationen mehr riskieren.« Eine der Frauen, die
Kimmer sehr ähnlich sah, zupfte ihn am Ärmel. »Meine Tochter erinnert mich daran, daß wir unsere heiß-
ersehnten Retter gebührend empfangen sollten. Kommen Sie mit. In Erwartung dieses Tages habe ich etwas aufgespart.«
Lieutenant Benden bedeutete Sergeant Greene und
einem weiteren Marine, den Landetrupp zu begleiten, dann folgte er Ni Morgana die Rampe hinunter, wobei Nev ihm in seinem Übereifer auf die Hacken trat.
Kimmers kleine Schar, die sich schweigend zurück—
gehalten hatte, während der Greis sich mit den Neuankömmlingen unterhielt, erging sich nun in allerhand freundlichen Gesten. Jeder lächelte. Doch Benden entging nicht, daß die drei ältesten Männer irgendwie verkrampft wirkten. Sie hielten sich ein wenig abseits von den Frauen und Jugendlichen, so daß Ross schlußfolgerte, sie wollten absichtlich auf Distanz gehen.
Vom Typ her waren sie Asiaten. Das pechschwarze
Haar trugen sie so kurz, daß die Ohrläppchen freiblieben. Sie waren schlank und schienen in körperlich bester Verfassung zu sein.
359
Die älteste Frau, die den dreien sehr ähnlich sah, ging immer einen Schritt hinter Kimmer, und das in einer Haltung, die Unterwürfigkeit ausdrückte. Benden konnte sie beobachten, als er und sein Trupp den Leuten zu dem Einlaß im Felsen folgten, und das demütige Gebaren der Frau widerte ihn an.
Die drei jüngeren Frauen wiesen die Züge von
Mischlingen auf, eine hatte braunes Haar. Alle waren zierlich, und in ihrem Bemühen, ihre Aufregung zu
unterdrücken, machten sie einen sehr anmutigen Eindruck. Sie tuschelten miteinander, derweil sie Greene und den anderen Marine mit Blicken verschlangen. Auf einen barschen Befehl des alten Kimmer hin eilten sie voraus in die Steilwand.
Den drei jüngsten Mitgliedern der Gruppe, zwei
Jungen und ein Mädchen, sah man die Vermischung der ethnischen Gruppen am deutlichsten an. Benden fragte sich, wie eng die Blutsverwandtschaft wohl sein mochte. Kimmer war doch hoffentlich nicht so idiotisch gewesen, mit seinen eigenen Töchtern Kinder zu zeugen – oder?
Die Offiziere ergingen sich in überraschten Ausrufen, als sie einen weitläufigen Raum mit einer hohen,
gewölbten Decke betraten – eine Halle, beinahe so groß wie der Hangar der Gig auf der Amherst. Nev hielt Maulaffen feil wie ein Einfaltspinsel, der noch nichts von der Welt gesehen hatte, während Ni Morgana vor Entzücken geradezu übersprudelte.
Der Hauptwohnraum dieser Felsenfestung war unterteilt in einzelne Bereiche, in denen studiert, gegessen 360
und gearbeitet werden konnte. Die Einrichtung setzte sich aus den unterschiedlichsten Materialien zusammen, man sah sogar Dinge aus grellbuntem Plastik. An den Wänden hingen dicht an dicht eigenartige Tierfelle und handgewebte, ungewöhnlich gemusterte Decken.
Über die Reihe aus Wandbehängen hatte man ein
lebhaftes Panoramabild gemalt. Die erste Szene zeigte stilisierte Gestalten, die vor Monitoren und Keyboards saßen oder standen. Andere Flächen gaben wieder, wie Äcker kultiviert und alle möglichen Tiere versorgt wurden. Die Illustrationen führten schließlich zu der am tiefsten in der Höhle gelegenen Felswand, die mit Darstellungen bedeckt war, die Benden nur allzu gut kannte.
Abgebildet waren Städte von der Erde und Altair,
sowie drei Raumschiffe inmitten fremder Sternkonstel-lationen. Am Scheitelpunkt der konkaven Decke sah er das Rubkat-System und einen Planeten auf einer stark elliptischen und vermutlich erratischen Umlaufbahn, die im Aphel den äußersten Rand der Oort'schen Wolke streifte.
Ni Morgana versetzte Benden einen Rippenstoß und
wisperte ihm zu: »So unglaublich es klingen mag, aber ich habe gerade herausgefunden, auf welchem Weg der Organismus Pern erreicht haben könnte. Doch zuerst muß ich meine Theorie untermauern, ehe ich damit an die Öffentlichkeit gehe.«
»Die Wandmalereien«, erklärte Kimmer mit lauter
Stimme, in der eine gehörige Portion Eitelkeit mit—
schwang, »sollten uns an unsere Ursprünge erinnern.«
361
»Standen Ihnen Steinschneider zur Verfügung?«
fragte Nev und strich mit einer Hand über die glasglatten Wände.
Einer der älteren schwarzhaarigen Männer trat vor.
»Meine Eltern, Kenjo und Ito Fusaiyuki, entwarfen und gestalteten die Haupträume. Ich bin Shensu. Das sind meine Brüder, Jiro und Kimo; unsere Schwester, Chio.«
Er deutete auf die Frau, die mit andächtiger Miene eine Flasche vom Regal einer breiten Anrichte nahm.
Nach einem vernichtenden Blick auf Shensu ergriff
Kimmer hastig erneut die Initiative. »Ich möchte Sie mit meinen Töchtern bekanntmachen, Faith und Hope; Charity ist gerade dabei, den Tisch zu decken.« Finger-schnippend gab er Shensu einen Wink. »Und jetzt darfst du meine Enkelkinder vorstellen.«
»Aufgeblasener alter Bock«, raunte Ni Morgana
Benden zu, doch sie lächelte, als ihnen die Enkel prä-
sentiert wurden, Meishun, Alun und Pat. Die beiden
Knaben waren im Teenager-Alter, schätzungsweise
sechzehn und vierzehn Jahre alt.
»Diese Niederlassung hätte noch viel mehr Familien
aufnehmen können, wenn diejenigen, die sich uns anschließen wollten, ihr Versprechen gehalten hätten«, fuhr Kimmer erbittert fort. Dann dirigierte er mit einer herrischen Geste seine Besucher an den Tisch und bot jedem ein Glas starken, fruchtigen Rotwein an.
»Willkommen, Männer von der Amherst, willkommen, werte Dame«, lautete sein Trinkspruch, und dann stieß er mit jedem einzelnen von ihnen an.
362
Benden und Ni Morgana merkten, daß Meishun den
anderen einen helleren Rotwein servierte. Verwässert, dachte Benden. Wenigstens an einem Freudentag wie diesem hätten alle gleich behandelt werden müssen.
Shensu überspielte seinen Unmut besser als seine beiden Brüder. Die Frauen schienen nichts von der aufkommenden Mißstimmung zu bemerken. In völliger Ausgeglichenheit reichten sie Platten mit Käsehäppchen und kleinen Küchlein herum.
Schließlich bedeutete Kimmer seinen Gästen, sie
sollten Platz nehmen. Benden gab den beiden Marines einen diskreten Wink, worauf sie sich ans Ende der
langen Tafel setzten und wachsam blieben, wobei sie nur gelegentlich an ihren Weingläsern nippten.
»Wo soll ich beginnen?« fragte Kimmer, sein Weinglas bedächtig absetzend.
»Am Anfang«, entgegnete Ross Benden trocken und
hoffte zu erfahren, was mit seinem Onkel passiert war, ehe er seine Identität preisgab. Etwas an Kimmer –nicht dessen Groll oder seine selbstherrliche Art, sondern etwas nicht Faßbares, Latentes – veranlaßte Benden instinktiv, diesem Mann zu mißtrauen. Doch vielleicht mußte man einem Menschen, der so lange in einer feindseligen Umgebung überlebt hatte, ein paar
Schrullen zugestehen.
»Wollen Sie hören, was der Anfang vom Ende war?«
Kimmers gehässige Miene verstärkte Bendens Abneigung.
»Sprechen Sie von dem Zeitpunkt, als Sie und der
Botaniker Tubberman die Peilkapsel losschickten?«
363
»Allerdings! Damals war unsere Lage hoffnungslos,
obwohl nur wenige realistisch genug waren, das ein—
zusehen. Vor allen Dingen Benden und Boll wollten es partout nicht zugeben.«
»Hätten Sie damals nicht auf die Kolonistenschiffe
zurückgehen können?« fragte Ni Morgana und stubste
Ross Benden unauffällig in die Seite, als sie merkte, wie er ergrimmt auf seinem Stuhl hin und her rutschte.
»Auf gar keinen Fall.« Kimmer stieß einen verächtlichen Schnaufer aus. »Mit dem letzten Treibstoff schickten sie Fusaiyuki in der Gig hoch, um die Situation einzuschätzen. Sie glaubten, sie könnten das, was auch immer die Fäden hierher brachte, von seiner Bahn ab-lenken. Es passierte, ehe sie erkannten, daß der Wan-derplanet einen Schweif mitgerissen hatte, der diesen vermaledeiten Planeten fünfzig höllische Jahre lang mit Fäden eindeckte. Zu allem Überfluß ließen sie es auch noch zu, daß Avril die Gig stahl. Nun war jede Chance vertan, Hilfe von außerhalb zu holen.« Das Wiedergeben dieser vierzig Jahre alten Erinnerungen wühlte Kimmer zutiefst auf, und sein Gesicht lief rot an.
»Hat man eindeutig festgestellt, daß der Organismus aus der Oort'schen Wolke bis hierher geschleppt worden war?« fragte Ni Morgana; ihre sonst so ruhige Stimme klang eine Spur aufgeregt.
Kimmer bedachte sie mit einem spöttischen Blick.
»Letzten Endes war das alles, was sie herausfanden, trotz der Verschwendung von Treibstoff und des Auf-gebots an Arbeitskraft.«
364
»Am Landeplatz stehen nur noch drei Shuttles.
Glauben Sie, ein paar Leute hätten es geschafft, mit den übrigen Fähren zu entkommen?« erkundigte sich Ni Morgana betont gelassen. Doch Benden sah das Glitzern in ihren Augen, während sie gleichmütig von ihrem Wein nippte.
Kimmer funkelte sie voller Verachtung an. »Wohin
hätten sie denn fliehen können? Der Treibstoff war
ausgegangen. Und Energiezellen für Schlitten und Flitzer waren Mangelware.«
»Angenommen, man hätte noch Treibstoff gehabt,
waren die Schlitten denn funktionsfähig?«
»Ich sagte doch, es gab keinen Treibstoff mehr. Es
gab keinen Treibstoff!« Er schlug mit der Faust auf den Tisch.
Benden, der den Blick von dem verbitterten Mann
abwandte, bemerkte den leicht amüsierten Ausdruck auf Shensus Gesicht.
»Es gab keinen Treibstoff mehr«, wiederholte Kimmer weniger heftig. »Und ohne Treibstoff waren die
Shuttles nicht mehr wert als Schrott. Ich habe keine Ahnung, warum sich nur drei Fähren in Landing befinden. Kurz nachdem dieses verdammte Luder die Gig in die Luft sprengte, verließ ich die Siedlung.« Un-befangen blickte er die Offiziere der Amherst an. »Es stand mir frei, fortzugehen und meine eigene Gemeinschaft zu gründen. Jeder mußte zusehen, wie er seine eigene Haut rettete. Alle, die nur einen Funken Verstand besaßen, hätten sich damals aus dem Staub machen müssen, die Konzessionäre wie die Kontraktoren.
365
Vielleicht sind sie ja auch geflüchtet und bunkerten sich irgendwo ein, um die kommenden fünfzig Jahre
abzuwarten. Oder sie segelten auf und davon, der
Morgensonne entgegen. Es gab ja Schiffe, müssen Sie wissen. Doch, so wird es gewesen sein. Der alte Jim Tillek segelte mit ihnen aus der Monaco-Bucht hinaus, in die aufgehende Sonne hinein.« Er lachte rauh.
»Schlugen die Leute eine westliche Richtung ein?«
fragte Benden.
Kimmer bedachte ihn mit einem abfälligen Blick und
fuchtelte wild mit einem Arm durch die Luft. »Woher soll ich das wissen? Ich war ja nicht mal in der Nähe der ursprünglichen Siedlung.«
»Und hier ließen Sie sich nieder«, ergänzte Ni
Morgana freundlich. »In der Felsenfestung, die Kenjo und Ito Fusaiyuki gebaut hatten.«
Benden fand, sie habe sich ein wenig unglücklich
ausgedrückt, denn bei der Feststellung schien Kimmers Groll zu wachsen. Die Adern in seinen Schläfen
schwollen an, und sein Gesicht verzerrte sich.
»Jawohl, ich ließ mich hier nieder, als Ito mich bat zu bleiben. Kenjo war tot. Avril tötete ihn, um sich die Gig unter den Nagel zu reißen. Ito war durch die Geburt von Chio sehr mitgenommen, und die anderen Kinder waren noch zu jung, um eine echte Hilfe zu sein. Deshalb wollte sie, daß ich mich ihrer Familie annahm.« Jemand sog zischend den Atem ein, und Kimmer glotzte die drei Brüder wütend an, ohne indessen den Schuldigen zu ermitteln. »Ohne mich wäret ihr alle krepiert«, erklärte er trotzig.
366
»Ganz bestimmt«, bekräftigte Shensu, dessen aufgesetzte Höflichkeit eine intensive Abneigung nicht zu kaschieren vermochte.
»Immerhin seid ihr am Leben geblieben, oder? Und
mein Funksignal hat Hilfe herbeigeholt, ist es nicht so?«
Kimmer ließ beide Fäuste auf die Tischplatte niedersausen und sprang auf die Füße. »Gebt es zu! Meine Peilkapsel und mein Funksignal brachten uns die Rettung!«
»Das ist nicht zu bestreiten, Mr. Kimmer«, mischte
sich Benden in einem Tonfall ein, den er von Captain Fargoe gelernt hatte. Genauso klang sie, wenn sie einen aufmüpfigen Kadetten zur Räson brachte. »Allerdings lautet mein Auftrag, alle Überlebenden auf diesem Planeten ausfindig zu machen. Vielleicht sind Sie nicht die einzigen.«
»O doch, das sind wir. Bei allen Göttern, wir sind die einzigen«, beharrte Kimmer mit einem Anflug von Panik. »Und Sie können uns nicht hier zurücklassen!«
»Der Lieutenant will damit nur sagen, Mr. Kimmer«,
erklärte Ni Morgana beschwichtigend, »daß wir verpflichtet sind, nach weiteren Überlebenden zu suchen.«
»Außer uns hat keiner überlebt«, beteuerte Kimmer.
»Das kann ich Ihnen versichern.« Er schüttete Wein in sein Glas, trank es halb leer und wischte sich den Mund mit einer zitternden Hand ab.
Weil Ross Benden in diesem Moment nicht den alten
Mann anschaute, sondern die drei Brüder, die ihm am Tisch gegenübersaßen, bemerkte er das Aufblitzen in den Augen von Shensu und Jiro. Er wartete darauf, daß 367
sie aussprechen würden, was sie auf dem Herzen hatten, doch sie hüllten sich in Schweigen.
Offensichtlich wußten sie etwas, das sie ihren Rettern nicht im Beisein von Stev Kimmer anvertrauen wollten.
Nun ja, Benden nahm sich vor, sie sich später unter vier Augen vorzuknöpfen. Mittlerweile hatte er Kimmer als einen unzuverlässigen Opportunisten eingestuft. Und wenn er noch so hartnäckig darauf bestand, daß er das Recht gehabt hatte, sich abzusetzen und eine eigene Gemeinde zu gründen, konnte sich Benden nicht des Eindrucks erwehren, daß Kimmer einfach feige gekniffen hatte. War es bloßer Zufall, daß er damals wußte, wo Itos und Kenjos Felsenfestung
lag?
»Mein Schlitten besaß ein Kom-Gerät mit großer
Reichweite«, fuhr Kimmer, von Wein gestärkt, fort.
»Und sowie ich die Anlage auf diesem Plateau installiert hatte, hörte ich den gesamten Funkverkehr ab.
Wichtige Informationen gab es nicht, bis auf die Vor-hersage, wo der nächste Fädenfall stattfinden würde.
Und wie viele Energiezellen frisch aufgeladen waren.
Ob genug Schlitten zur Verfügung standen, um den
nächsten Fädenschauer zu bekämpfen.
Mittlerweile waren viele Leute, die sich irgendwo
außerhalb angesiedelt hatten, nach Landing zurückgekehrt, um ihre Kräfte und Ressourcen zu bündeln. Spä-
ter, nach dem verheerenden Vulkanausbruch, hörte ich über Funk, daß sie Landing fluchtartig verließen. Das statische Rauschen übertönte fast alles, und die Über-tragungen waren so zerstückelt, daß ich das meiste nicht 368
verstehen konnte. Als die Evakuierung einsetzte, waren die Menschen in heller Panik. Danach wurden die
Signale so schwach, daß ich sie nicht mehr auffangen konnte. Wohin sich die Kolonisten flüchteten, bekam ich nicht mit. Vielleicht gingen sie nach Westen, vielleicht aber auch nach Osten.«
Hilflos wedelte er mit der Hand. »Oho, als das letzte Signal verstummte, hätte ich gern geholfen. Doch ich besaß nur noch eine einzige aufgeladene Energiezelle, und die konnte ich doch nicht für eine nutzlose Suche verplempern, oder? Ich mußte mich um Ito und vier kleine Kinder kümmern. Als Ito dann schwer erkrankte, flog ich nach Landing, um zu sehen, ob sie irgendwelche Medikamente zurückgelassen hatten.
Aber der Ort lag unter Asche und Lava, noch immer
flossen mächtige Magmaströme die Bergflanken herab, rotglühend und unglaublich heiß. Um ein Haar wäre die Plastikummantelung des Schlittens geschmolzen.
Ich kontrollierte sämtliche Niederlassungen am Unterlauf des Jordan. Ich überflog den Paradies-Fluß, Malay und sogar Boca, wo Benden gewohnt hatte. Ich sah keine lebende Seele. Dafür entdeckte ich an einer Stelle der Küste jede Menge zertrümmerte Gegenstände, als hätte dort ein Sturm getobt und den ganzen Müll angeschwemmt. Ich vermute, daß Frachtschiffe in einem Orkan untergingen – vom Meer her kann es hier ganz schön wehen! Möglicherweise war auch ein Tsunami daran schuld. Es gab hier welche, als irgendwo im Osten ein unterseeischer Vulkan ausbrach. Die, die damals auf der Insel Bitkim siedelten, hatten Glück, daß sie von der Flutwelle nicht weggeschwemmt wurden.
369
Die letzte Nachricht, die ich auffing, das heißt, ich bekam nur Bruchstücke davon mit, stammte von
Benden. Er wies alle an, Energie zu sparen, in den
Häusern zu bleiben und sich vor dem Fädenfall zu
schützen. Den alten Knaben hat es wohl auch erwischt.«
Ni Morgana drückte ihr Bein gegen das von Benden,
der diese Geste als Anteilnahme interpretierte. Obwohl der alte Mann teilweise wirres Zeug schwafelte und sich manchmal selbst widersprach, schien er im großen und ganzen dennoch die Wahrheit zu sagen.
Eine Weile saß Kimmer schweigend da und stierte in
sein Weinglas. Schließlich raffte er sich auf und winkte mit erhobenem Finger Chio zu sich. Sie füllte sein Glas nach. Dann bot sie schüchtern lächelnd den Gästen Wein an, die ihre Getränke kaum angerührt hatten.
»Wir verbrachten acht gute Jahre auf Pern, ehe das
Unheil über uns hereinbrach«, schwadronierte Kimmer, auf seine Erinnerungen zurückgreifend. »Ich hörte, wie Benden und Boll Stein und Bein schworen, sie könnten die Fäden ausrotten. Bis auf Ted Tubberman und ein paar andere stand die gesamte Kolonie treu zu ihnen.
Die Leute waren so verblendet vom Rang und Ansehen
des Admirals und der – Gouverneurin …« – er spuckte die Titel geringschätzig aus, »daß sie ihnen schlechtweg alles glaubten. Tubberman wollte einen Notruf absetzen.
Aber die Kolonie stimmte fast geschlossen dagegen.
Bei uns auf der Insel Bitkim regnete es nur selten
Fäden, aber ich hörte, was diese Pest anrichtete. Ganze Ortschaften wurden buchstäblich kahlgefressen, bis auf die Metallteile. Die Fäden griffen alles an. Sie 370
schlangen organische Materie in sich hinein, bis sie sich aufblähten und platzten – aber sie konnten sich in den Boden eingraben, wo die nächste Generation heranwuchs. Feuer konnte sie vernichten, und Metall war gegen sie resistent. Im Wasser ersoffen sie. Die Fische, und auch die Delphine, taten sich an ihnen gütlich, jedenfalls erzählten das die Delphineure. Hm.
Das verdammte Zeug verflüchtigte sich erst vor ein paar Jahren. Davor regnete die Seuche ungefähr alle zehn Tage auf uns ab, und das fünfzig verfluchte jähre lang.«
»Doch Ihnen ist es gelungen, trotz der Gefahr fünfzig Jahre lang zu überleben, Mr. Kimmer. Das ist eine außergewöhnliche Leistung«, schnurrte Saraidh in
schmeichelndem Tonfall, während sie sich vorbeugte, um ihm weitere Vertraulichkeiten zu entlocken. »Wie haben Sie das nur geschafft? Es muß doch eine unglaubliche Anstrengung gekostet haben.«
»Kenjo hatte hydroponische Anlagen installiert.
Dumm war er nicht, dieser Kerl, auch wenn er von der Fliegerei besessen war. Die Raumfahrt hatte es ihm angetan, er fühlte sich nur glücklich, wenn er sich in der Luft oder im All befand. Ich hingegen hatte ein Händchen fürs Praktische. Ich brachte der ganzen Bande hier bei, was ich wußte – nicht, daß sie es mir gedankt hätten.« Sein haßerfüllter Blick ruhte auf den drei Fusaiyukis. »Wir brachten Pferde, Schafe, Rinder und Geflügel in Sicherheit, bevor die Fäden sämtliche Herden vernichteten. Ich hatte einen der alten Gras-Prozessoren gerettet, die man im ersten Jahr benutzte, bevor man Gräser von der Erde und diese Hybridpflanze von Altair aussäte.« Er legte eine Pause ein und kniff 371
leicht die Augen zusammen. »Ehe sie Tubberman ver—
stießen, hatte er einen anderen Gräsertyp entwickelt.
Den Samen davon konnte ich nicht mitnehmen, aber
andere Futtermittel reichten aus, bis wir selbst eine Weide anlegen konnten. Solange die Energiezellen
meines Schlittens Saft hatten, hamsterte ich Nahrungsmittel und alles Verwertbare, das ich aufstöbern konnte.
Auf diese Weise blieben wir am Leben, und das ohne zu darben.«
»Wenn es Ihnen gelang, könnten es andere gleichfalls geschafft haben«, meinte Saraidh.
»Nein!« donnerte Kimmer und hieb auf den Tisch, um seiner Behauptung den nötigen Nachdruck zu verleihen. »Keiner außer uns hat überlebt. Sie glauben mir nicht? Sag du es ihnen, Shensu!«
Shensu betrachtete zuerst Kimmer, dann die drei Offiziere, wie wenn er sich erst zu einer Entscheidung durchringen müßte. Schließlich zuckte er die Achseln.
»Der Fädenfall hatte bereits seit drei Monaten aufge-hört, da schickte Kimmer uns los, um nachzuforschen, ob jemand noch lebte. Vom Jordan aus flogen wir nach Westen zur Großen Wüste. Wo sich früher Siedlungen befunden hatten, entdeckten wir nur noch Ruinen unter dichtem Pflanzenbewuchs. Überall streunten Haustiere herum. Ich staunte, wieviel Vieh überlebt hatte, denn ein großer Teil des einstmals fruchtbaren Landes war total verwüstet. Acht Monate lang reisten wir kreuz und quer. Wir sahen weder einen Menschen noch entdeckten wir Hinweise auf menschliches Wirken. Also kehrten wir hierher zurück.« Er warf Kimmer einen
372
herausfordernden Blick zu, ehe er wieder seine
maskenhaft starre Miene aufsetzte.
Benden beschlich ein vager Verdacht. Kimmer hatte
die drei nicht losgeschickt, um nach Überlebenden zu suchen, sondern weil er hoffte, sie würden nicht mehr heimkehren.
»Wir sind auch Bergleute«, verkündete Shenso. Kimmer erstarrte und brachte vor Zorn über diese Enthüllung anfangs kein Wort heraus. Shensu belächelte seine Reaktion. »Wir haben Erze und Edelsteine gefördert, sobald wir stark genug waren, um Schaufel und Spitzhacke zu schwingen. Wir alle arbeiten im Bergbau, auch meine Halbschwestern und unsere Kinder.
Kimmer brachte uns bei, wie man Edelsteine schleift. Er wollte, daß wir Reichtümer anhäuften, um uns den Rückweg in irgendeine zivilisierte Welt zu erkaufen.«
»Ihr Idioten! Ihr Vollidioten! Das hättet ihr ihnen nicht sagen dürfen. Sie werden uns töten und uns berauben. Alles werden sie mitnehmen.«
»Das sind Flottenoffiziere, Kimmer«, entgegnete
Shensu und verbeugte sich höflich vor Ross, Ni
Morgana und dem verdatterten Nev. »Wie Admiral
Benden.« Aus zusammengekniffenen Augen musterte er
Ross eine Zeitlang. »Sie besitzen nicht diese niedrige Gesinnung, uns zu bestehlen und dann im Stich zu lassen. Ihr Befehl lautet, die Überlebenden zu retten.«
»Sie werden uns doch retten, nicht wahr?« rief Kimmer, plötzlich ein verängstigter alter Mann. »Sie müssen uns von hier fortbringen. Sie müssen!« Zu Bendens Verlegenheit fing er an zu weinen. »Sie müssen, Sie 373
müssen«, wiederholte er beharrlich, während seine
Hände sich in Bendens Jacke verkrallten.
»Stev, du wirst wieder krank werden«, mischte sich
Chio ein und löste seine Finger von dem Uniformrock.
Sie blickte Benden an, stumm um Vergebung bittend,
weil ein alter Mann schwach geworden war und sich
hatte gehen lassen. Die anderen Frauen fixierten die Mitglieder des Landeteams mit gespannten Mienen.
»Unser Auftrag sieht vor, Kontakt mit Überlebenden
aufzunehmen …« flüchtete sich Benden ins Protokoll.
»Lieutenant«, fiel Nev ihm besorgt ins Wort, »wenn
wir elf zusätzliche Personen an Bord der Erica nähmen, wären wir überladen.«
Kimmer stöhnte.
»Darüber reden wir später, Fähnrich«, wies Benden
ihn scharf zurecht. Typisch Nev, daß er sein loses
Mundwerk nicht im Zaum halten konnte. »Es wird Zeit für eine Wachablösung.« Er warf Nev einen einschüchternden Blick zu und gab Greene einen Wink, er möge ihn begleiten. Greene blickte angewidert drein, als er dem gerüffelten Fähnrich folgte, der puterrot anlief, als er seinen schlimmen Schnitzer einsah.
Derweil Kimmer unentwegt schluchzte: »Sie müssen
mich mitnehmen, Sie müssen mich mitnehmen«, wandte
sich Benden an Shensu und seine Brüder.
»Wir haben unsere Befehle, aber eines kann ich Ihnen jetzt schon versichern. Falls wir keine weiteren
Überlebenden finden, nehmen wir Sie entweder in der 374
Erica mit oder sorgen dafür, daß Sie den Planeten auf andere Weise verlassen können.«
»Mir ist klar, daß Sie nur Ihre Pflicht tun«, erwiderte Shensu, dessen Gefaßtheit in krassem Kontrast zu Kimmers jämmerlichem Zusammenbruch stand. Er
verneigte sich leicht aus er Hüfte heraus. »Allerdings«, fuhr er mit dem Hauch eines Lächelns fort, »haben meine Brüder und ich bereits sämtliche ehemaligen
Niederlassungen abgesucht, ohne jeden Erfolg. Möchten Sie sich denn nicht auf die Ergebnisse unserer
Nachforschungen verlassen?« Seine würdevoll vorge—
tragene Bitte war viel schwerer zu ignorieren als Kimmers Geflenne.
Benden bemühte sich um eine unverbindliche Haltung. »Selbstverständlich werde ich Ihre Auskünfte be-rücksichtigen, Shensu.« Gleichzeitig versuchte er einen Plan auszutüfteln, wie man elf zusätzliche Passagiere auf der Erica unterbringen konnte. Der Tank war zu Dreivierteln voll. Wenn sie alles zurückließen, was sie nicht unbedingt für den Flug brauchten, würde der Treibstoff dann ausreichen, um zu starten und eventuell erforderliche Kurskorrekturen einzuleiten, damit das Katapult-Manöver klappte?
Insgeheim verwünschte er Nev. Der Befehl lautete,
nach Überlebenden zu suchen, nicht, sie zu evakuieren.
Eines stand jedoch bereits fest: Shensu vertraute er weit mehr als diesem Kimmer.
»Unsere Mission hat noch ein weiteres Ziel, Mr.
Fusaiyuki«, sagte Ni Morgana. »Vielleicht könnten Sie uns behilflich sein.«
375
»Ich helfe gern, wenn ich kann.« Abermals verneigte sich Shensu vor ihr.
»Gibt es Beweise dafür, daß die Fäden tatsächlich
von diesem exzentrischen Planeten stammen, wie Mr.
Kimmer andeutete?« fragte sie, auf die Höhlendecke
und die Zeichnung zeigend. »Oder handelt es sich lediglich um eine Hypothese?«
»Zumindest mein Vater glaubte an diese Theorie,
denn er flog bis hinauf in die Stratosphäre und studierte das Material, das der Irrläufer aus der Oort'schen Wolke herausgerissen und in dieses System befördert hatte.
Außerdem beobachtete er die Bahn dieser Wolke. Ich
weiß noch, wie er zu mir sagte, er hätte dem Phänomen viel mehr Beachtung geschenkt, wenn er damals geahnt hätte, welche Bedrohung es für Pern darstellte.«
Shensus feingeschwungener Mund verzog sich zu einem halbherzigen Lächeln. »Offenbar wurde dieser
erratische Planet im EVC-Bericht nur flüchtig erwähnt.
Die Notizen meines Vaters habe ich gut aufbewahrt.«
»Ich würde sie gern sehen«, erwiderte Saraidh mit
einem Anflug von Erregung. »So bizarr es anmuten
mag«, wandte sie sich an Benden, »aber es ist plausibel und – einzigartig. Natürlich könnte dieser exzentrische Planet auch ein großer Asteroid sein, sogar ein Komet.
Sein Orbit gleicht eher dem eines Kometen.«
»Nein.« Benden schüttelte den Kopf. »Im EVC—
Report steht ausdrücklich, daß es sich um einen
Planeten handelt, obwohl er vermutlich erst vor nicht allzu langer Zeit in das Rubkat-System hineingezogen wurde. Seine Bahn verläuft quer zur Ekliptik.«
376
»Unser Vater war ein viel zu erfahrener Flieger, um einen Fehler zu begehen.« Zum ersten Mal ergriff Jiro das Wort. Er sprach mit einer Leidenschaftlichkeit, die Shensu völlig abging. »Er besaß eine gründliche Pilo-tenausbildung und galt allgemein als kritischer und objektiver Beobachter, wenn er in einer Mission unterwegs war. Wir besitzen Dankschreiben von Admiral Benden, Gouverneurin Boll und Kapitän Keroon, in denen er für seine Tüchtigkeit und sein selbstloses Engagement gelobt wird.« Jiro blickte verächtlich auf Kimmer, der immer noch schluchzte, das Gesicht auf die Arme gebettet, während Chio ihn zu trösten und zu beruhigen versuchte. »Unser Vater starb, weil er sich bemühte, die Wahrheit herauszufinden.«
Saraidh murmelt: »Jede Information über dieses
Phänomen, die Sie uns geben können, wäre von unschätzbarem Wert.«
»Wieso eigentlich?« fragte Shensu rundheraus. »Es
kann doch keine weiteren Planeten geben, die von einer solchen Plage heimgesucht werden, oder?«
»Bis jetzt haben wir darüber keine Kenntnis, Mr.
Fusaiyuki, doch Informationen haben immer einen Sinn.
Irgend jemand kann vielleicht etwas mit diesen Auskünften anfangen. Und ich bin beauftragt, mehr über diesen Organismus herauszufinden.«
Shensu zuckte die Achseln. »Wären Sie ein paar
Jahre früher hier eingetroffen, hätten Sie ihn aus erster Hand studieren können«, versetzte er trocken.
»Wir sahen einige …« Saraidh suchte nach einer
exakten Beschreibung für die ›Tunnel‹, die sie in
377
Landing entdeckt hatten. »Überreste, tote Hüllen dieser Fäden. Gibt es hier irgendwelche Rückstände, die ich untersuchen könnte?«
Abermals zuckte Shensu die Achseln. »Ja, auf der
Ebene unterhalb dieser Steilwand.«
»Wie lange würde es dauern, um dorthin zu gelangen?« fragte sie.
»Einen Tag.«
»Führen Sie mich hin?«
»Sie?« Shensu war überrascht.
»Lieutenant Ni Morgana ist der Wissenschaftsoffizier der Amherst«, betonte Benden. »Wenn Sie uns bei der Erforschung des Phänomens mit den Fäden unterstützen wollen, müssen Sie mit ihr zusammenarbeiten, Mr.
Fusaiyuki.«
Shensu vollführte mit den Händen eine zustimmende
Geste.
»Jiro, Kimo«, meldete sich Chio. Kimmer schien eingenickt zu sein. »Helft mir, ihn in sein Zimmer zu tragen.«
Mit ausdruckslosen Mienen standen die beiden
Männer auf, packten sich Kimmer, wie man einen Sack transportieren würde, und schleppten ihn durch einen mit einem Vorhang versehenen Torbogen. Chio beeilte sich, ihnen zu folgen.
»Ich sehe mal nach, was Nev macht«, verkündete
Benden und erhob sich von seinem Platz. »Derweil besprechen Sie mit Shensu die für morgen geplante Expedition, Lieutenant.«
378
»Eine gute Idee, Lieutenant.«
Benden bedeutete dem Marine, auf seinem Posten zu
bleiben, während er den prächtig ausgestatteten Raum verließ. Sein Blick wanderte über die herrlichen
Wandmalereien, die vom Triumph der Menschen über
mannigfache Widrigkeiten des Schicksals kündeten.
»Ich wünsche mir, Fähnrich Nev, daß Sie endlich lernen nachzudenken, ehe Sie den Mund aufmachen«, ta—
delte Benden den zerknirschten Junior-Offizier, als er sich in der Erica einfand.
»Es tut mir wirklich leid, Lieutenant.« Nevs Gesicht spiegelte seine Besorgnis wider. »Aber wir können
diese Leute doch nicht einfach zurücklassen, oder?
Nicht, wenn die Möglichkeit besteht, sie zu retten …«
»Haben Sie diesbezüglich Kalkulationen angestellt?«
»Aye, Sir. Ich fing an zu rechnen, sowie ich wieder an Bord war.« Eifrig holte Nev seine Zahlen auf den Bildschirm. »Ihr Körpergewicht kann ich natürlich nur grob schätzen, aber soviel können sie auch nicht wiegen, und auf dem Hinflug haben wir nur ein Viertel des Treibstoffs verbraucht.«
»Wir müssen noch einen ganzen Planeten absuchen,
Mister«, wandte Benden scharf ein, während er sich
vorbeugte und die Zahlen prüfte. Die Entscheidung lag bei ihm. Entweder sie verzichteten auf die Suche, wobei sie sich auf die Aussagen einiger lokaler Zeugen verließen, oder er führte den ursprünglichen Befehl buchstabengetreu aus.
379
»Wir haben nicht damit gerechnet, Überlebende anzutreffen, nicht wahr?« tastete sich Nev behutsam vor.
Benden zog die Stirn kraus. »Was genau wollen Sie
damit sagen, Mister?«
»Nun ja, Lieutenant, wenn Captain Fargoe ernsthaft
davon ausgegangen wäre, daß es auf Pern Überlebende gibt, hätte sie doch sicher einen Truppentransporter angeordnet, oder? Damit kann man Hunderte von Menschen befördern.«
Gereizt sah Benden den Fähnrich an. »Sie kennen
unseren Auftrag ebensogut wie ich. Wir sind angewiesen, nach Überlebenden zu suchen und ihre derzeitige Lage einzuschätzen. Dabei gingen wir keineswegs davon aus, niemanden anzutreffen oder eine derart dezimierte Gemeinschaft, daß ihre Mitglieder sich nicht mehr imstande sähen, das Kolonisationsprojekt fortzu-führen.«
»Und diese Gruppe ist auf jeden Fall zum Untergang
verdammt. Sie sind ja nur eine Handvoll Menschen.
Dem alten Knacker trau ich nicht über den Weg, aber dieser Shensu ist in Ordnung.«
»Wenn ich Ihre Meinung zu hören wünsche, Mister,
dann frage ich Sie danach«, versetzte Benden ruppig.
Nev versank in mürrisches Schweigen, während Benden weiterhin die Zahlen auf dem Monitor prüfte, in der irrationalen Hoffnung, sie mochten sich wie durch ein Wunder so zusammenfügen, daß sich eine Lösung für sein Dilemma ergäbe.
»Rechnen Sie aus, Mister, wieviel Ballast wir zurücklassen müßten, ohne unsere Sicherheit bei dem Kata—
380
pultManöver zu gefährden. Stellen Sie außerdem fest, wo wir elf weitere Passagiere unterbringen könnten, und vergessen Sie nicht, das Gewicht für die Abpolsterung und die Sicherheitsgurte zu berücksichtigen. Wir müssen provisorische Andrucksitze schaffen, damit die Leute den Start heil überstehen.«
»Aye, aye, Sir.« Nevs Begeisterung und der bewundernde Blick, den er Benden zuwarf, waren beinahe
schwerer zu ertragen als seine Arme-Sünder-Miene.
Durch die Luftschleuse verließ Benden das Schiff;
draußen atmete er tief die frische, würzige Luft ein, als würde ihm dies beim Nachdenken helfen. In gewissem Sinn hatte Nev recht – der Captain hatte in der Tat nicht einkalkuliert, daß sie Überlebende finden würden, die auf Rettung hofften. Anise Fargoe hatte angenommen, daß die Siedler die Situation entweder gemeistert hätten, oder daß sie samt und sonders daran zugrunde gegangen waren. Aber diese elf Menschen konnte man allein schon aus humanitären Gründen nicht auf diesem Planeten lassen.
Der Treibstoff der Erica würde knapp reichen, um die Leute zu befördern. Auf gar keinen Fall durfte man den Pernesern erlauben, etwas mitzunehmen, um andernorts eine neue Existenz zu gründen. Metall käme selbstverständlich nicht als Fracht in Frage, höchstens ein paar dieser Edelsteine, die Shensu erwähnt hatte. Ausgestattet mit Gepäck, das dem entsprach, was man Schiffbrüchigen zugestand, wären diese Leute nicht in der Lage, sich in den High-Tech-Gesellschaften der meisten Konföderations-Planeten zu behaupten; und um 381
sich in einer landwirtschaftlich orientierten Gemeinschaft niederzulassen, fehlte ihnen das Kapital. Irgend etwas brauchten sie, um ihre Zukunft abzusichern.
Falls man Kimmer glauben konnte – und da die drei von ihm entfremdeten jungen Männer seine Behauptung unterstützten, sprach er anscheinend die Wahrheit –, stellten diese Menschen tatsächlich den kompletten Rest der ursprünglichen Kolonie dar; dann wäre eine Suche nach weiteren Überlebenden nicht nur sinnlos, sondern auch eine Verschwendung von Treibstoff, den man anderweitig gut gebrauchen konnte. Hatten die Brüder einen Grund zu lügen? Nein, fand Benden, dazu haßten sie Kimmer zu sehr. Allerdings wollten sie unbedingt von diesem Planeten fortgebracht werden, und um dieses Ziel zu erreichen, würden sie vermutlich einen Meineid schwören.
Ein ungewöhnliches Geräusch erregte seine Aufmerksamkeit; um nachzusehen, woher der Lärm
stammte, trat er an den Rand des Plateaus. Ungefähr zwanzig Meter tiefer entdeckte er vier Leute, Jiro und die drei jüngsten Familienmitglieder. Sie ritten auf Pferden, wie man sie auf der Erde kannte, und trieben eine Viehherde durch einen breiten Spalt in der Klippe.
Als er einen seltsamen Schrei hörte, blickte er hoch und sah ein braunes geflügeltes Wesen, das der Schar von Reitern und Tieren hinterherflatterte. Noch während er schaute, schwenkte ein schweres Metalltor an gut geölten Angeln herum und verschloß den Durchlaß im Fels.
382
Die abendliche Brise fächelte ihm die eigenartigsten Düfte zu. Er mußte niesen, als er das Plateau überquerte und auf die Tür zu diesem ungewöhnlichen Domizil zusteuerte. Die Tiere würde man freilassen müssen. Für Vieh gab es auf der Erica ganz gewiß keinen Platz.
Als Benden die große Halle betrat, beugten sich Ni
Morgana und Shensu über Landkarten, die sie auf einem kleinen Tisch zur Linken der Eingangstür ausgebreitet hatten. In diesem Bereich der Höhle verwahrte man unter anderem Videobänder und eine Fülle von dokumentarischem Material.
»Lieutenant, wir haben hier sowohl die Original-
Übersichtskarten als auch die Blätter, die die Kolonisten selbst erstellten und mit ihren eigenen For-schungsergebnissen versahen«, rief Saraidh ihm zu.
»Ein Jammer, daß diesem Projekt ein so brutales Ende beschieden war. Auf Pern ließe es sich herrlich und in Freuden leben. Sehen Sie …« – sie tippte auf mehrere Punkte des Südlichen Kontinents – »vor dem Desaster gab es hier eine blühende Landwirtschaft, die die Kolonie mit allem Notwendigen versorgte, eine ergiebige Fischerei-Industrie und Bergbau, wobei die Erze gleich an Ort und Stelle verhüttet und weiterverarbeitet wurden. Doch dann …« Beredt hob sie die Schultern.
»Admiral Benden verhielt sich in dieser Krise vorbildlich«, erzählte Shensu. Der Glanz in seinen Augen veränderte seine gesamte Person und machte ihn gleich viel sympathischer. »Er rief dazu auf, der Bedrohung mit vereinten Kräften entgegenzutreten. Mein Vater hatte das Kommando über die Luftverteidigung. Er ließ 383
Flammenwerfer auf Schlitten montieren, zwei am Bug
und einen am Heck. Dann arbeitete er Flugmanöver aus, mit deren Hilfe man ein möglichst großes Areal
verteidigen und die Fäden noch in der Luft verbrennen konnte. Am Boden schickten sich Leute mit tragbaren Flammenwerfern an, die Fäden zu vernichten, ehe sie sich eingraben und vermehren konnten. Die Menschen wuchsen über sich selbst hinaus.«
In Shensus Stimme schwang eine Begeisterung mit,
die Bendens Herz höher schlagen ließ. Er merkte, daß auch Saraidh nicht unbeeindruckt blieb. Shensus gesamte Haltung drückte Bewunderung und Respekt aus.
»Wir waren noch Knaben, aber so oft es ging, kam
unser Vater heim und schilderte uns, was passierte. Mit unserer Mutter stand er dauernd in Kontakt. Er redete noch mit ihr, kurz bevor er zu seiner letzten Mission aufbrach.« All die Lebhaftigkeit schien aus dem jungen Mann zu weichen, und er setzte wieder seine übliche verdrossene Miene auf. »Er wurde brutal ermordet, ironischerweise vielleicht genau in dem Moment, als er ein Mittel entdeckte, das dem Fädenfall ein für allemal ein Ende setzen und die Kolonie vor dem Aussterben bewahren konnte.«
»Hat diese Avril ihn umgebracht?« fragte Saraidh
sanft.
Shensu nickte einmal, ohne sich eine innere Regung
anmerken zu lassen. »Und dann kam er!«
»Aber jetzt sind wir hier«, ergänzte Saraidh und legte eine Pause ein, ehe sie einen forscheren Ton anschlug.
»Und wir müssen so viele Informationen wie möglich
384
zusammentragen. Es gibt jede Menge Theorien über
Oort'sche Wolken und aus welchem Material sie
bestehen. Uns bietet sich hier die einmalige Gelegenheit, ein Lebewesen zu erforschen, das sich im
Weltraum entwickelt hat, und welche katastrophalen
Auswirkungen es auf Planeten ausübt. Sie sagten, der Organismus würde sich in den Boden eingraben und
dort reproduzieren? Ich möchte mir gern die späteren Entwicklungsstadien ansehen. Können Sie mir Stellen zeigen, an denen Nachweise für den Lebenszyklus dieser Kreatur zu finden sind?« fragte sie. Benden fand, in ihrem Tatendrang sähe sie ungemein attraktiv aus.
Shensu blickte angewidert drein. »Das Ding ist in
jeder seiner Lebensphasen ekelhaft«, entgegnete er.
»Meine Mutter meinte, es bestünde nur aus Gefräßigkeit. Und wehe dem, der ihm ungeschützt begegnete.«
»Irgendein Rest, ein Anzeichen, egal welches, würde mir schon nützen«, beharrte sie und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Wir brauchen Ihre Hilfe, Shensu.«
»Und wir hätten Ihre Unterstützung schon vor langer Zeit gebraucht«, konterte er so bitter, daß Saraidh errötete und die Hand hastig zurückzog.
»Diese Expedition wurde anberaumt, sowie wir Ihren
Notruf erhielten, Shensu. Die lange Verzögerung ist nicht unsere Schuld«, beschied ihn Benden mit
Nachdruck. »Doch jetzt sind wir eingetroffen und bitten Sie um Kooperation.«
Shensu schnaubte verächtlich durch die Nase. »Wenn
ich Ihnen helfe, garantieren Sie mir dann, daß ich diesen Planeten verlasse?«
385
Benden sah ihm fest in die Augen. »Guten Gewissens
kann ich Sie nicht hierlassen«, erwiderte er, während er im selben Moment einen Entschluß faßte. »Vor allen Dingen, weil ich nicht weiß, ob in naher Zukunft ein weiteres Schiff diesen Raumsektor ansteuern wird.
Allerdings benötigen wir das exakte Körpergewicht von Ihnen allen, und um Sie mitnehmen zu können, müssen wir die Erica quasi ausschlachten.«
Benden spürte Ni Morganas unausgesprochene Zustimmung. Shensu behielt den Blickkontakt bei, gab
indessen keinerlei Gemütsregung zu erkennen.
»Sie sind knapp an Treibstoff?«
»Ja, wenn wir nicht eingeplante Passagiere aufnehmen.«
»Auch wenn Sie die Erica ausschlachten, um uns be-fördern zu können?« Shensu schien sich über Bendens Reaktion zu amüsieren. »Angenommen, Sie hätten einen vollen Tank, würden Sie uns dann erlauben, Kleinodien einzupacken, damit wir woanders unser
Auskommen finden? Gerettet zu werden, um dann irgendwo mein Dasein als Bettler zu fristen, hat für mich keinen besonderen Reiz.«
Benden nickte verstehend. »Aber Kimmer sagte doch,
es gäbe keinen Treibstoff mehr. Er schien sich dessen hundertprozentig sicher zu sein.«
Shensu beugte sich über den Tisch. In seinen schwarzen Augen glitzerte so etwas wie Genugtuung. Kaum
hörbar flüsterte er: »Kimmer weiß auch nicht alles, Lieutenant. Er bildet es sich nur ein.« Er kicherte.
386
»Was wissen Sie denn, das Kimmer offenbar entgangen ist?« erkundigte sich Benden genauso leise.
»Der Treibstoff für Raumschiffe hat sich während der letzten sechzig Jahre doch nicht verändert, oder?«
zischelte Shensu.
»Nicht für Schiffe wie die Amherst und die Yoko«, entgegnete Saraidh aufgeregt.
»Wenn es Sie interessiert«, fuhr Shensu in vernehm—
lichem Plauderton fort, gleichzeitig vom Tisch aufstehend, »zeige ich Ihnen gern die ganze Festung. Bei uns gibt es Platz in Hülle und Fülle. Ich glaube, mein ver-ehrter Vater wollte eine Dynastie gründen. Meine Mutter meinte, wenn die Fäden nicht gewesen wären, hätten sich noch mehr Leute unseres ethnischen Typs hierher nach Honshu begeben.« Er führte sie zu einem Vorhang, den er beiseite zog; dann bedeutete er ihnen, durch den Bogengang zu gehen. »Vor der Katastrophe hatten die Kolonisten ja soviel erreicht.«
Er schloß den Vorhang und gesellte sich zu Benden
und Saraidh, die auf einem schmalen Felssims standen, von dem aus sich in Stein gehauene Stufen nach oben und unten schraubten. Shensu gab ihnen zu verstehen, daß es aufwärts ging.
Saraidh machte den Anfang. »Meine Güte! Ist das
eine Treppe!« rief sie nach der ersten Biegung.
»Ich möchte Sie warnen, daß der Hauptraum gewisse
Eigentümlichkeiten besitzt – unter anderem einen Echo-Effekt«, flüsterte Shensu. »Von verschiedenen Gängen aus kann man Gespräche belauschen. Ich glaube zwar nicht, daß er sich von seiner – Unpäßlichkeit – bereits 387
wieder erholt hat, aber Chio oder eine seiner Töchter spionieren ständig für ihn herum. Wir sollten lieber kein Risiko eingehen. Setzen Sie ruhig den Weg fort. Ich weiß, ab hier werden die Stufen ungleichmäßig. Stützen Sie sich an der Wand ab.«
Die einzelnen Tritte waren grob in den Fels geschlagene Kerben, und viele boten nur Platz für die Zehenspitzen.
»Hat man die Treppe absichtlich so angelegt?« wunderte sich Saraidh, bei der sich die Strapazen des Anstiegs bereits bemerkbar machten. »Was gäbe ich nicht für einen Grav-Lift!«
Insgeheim gab Benden ihr recht, denn auch seine
Beinmuskeln verkrampften sich schmerzhaft. Dabei
hatte er angenommen, durch regelmäßige sportliche
Betätigung sei er fit genug, um jeder Anstrengung zu trotzen.
»Und wohin jetzt?« fragte Saraidh, als sie ein gefährlich schmales Felsband erreichten. In dem trüben Licht, das durch einen schmalen Spalt in den Schacht fiel, konnten sie keine Einzelheiten in den kahlen Felswänden entdecken.
Mit einer Entschuldigung drängte sich Shensu an den beiden Offizieren vorbei, immer noch dieses hin-tergründige Lächeln auf dem Gesicht. Zu Bendens und Ni Morganas Verdruß zeigte er keine Spur von Erschöpfung. Er legte seine Hand in eine scheinbar natürliche Gesteinsmulde, und plötzlich drehte sich ein Teil der Wand nach innen. Licht ging an, und sie blickten in eine tiefe Höhle mit niedriger Decke. Ver-388
blüfft pfiff Benden durch die Zähne. In der Kaverne stapelten sich massenhaft Kanister, alle mit einem codierten Etikett versehen. Treibstoff!
»Das ist mehr als wir brauchen«, kommentierte
Saraidh nach einer über den Daumen gepeilten Berechnung. »So viel können die Tanks der Erica gar nicht aufnehmen. Aber …« – mit ernster Miene wandte sie sich an Shensu – »ich kann verstehen, warum Sie dieses Versteck vor Kimmer geheimhielten, aber mit dem Treibstoff hätte man doch die Shuttles betanken können.
Oder war das bereits geschehen?« fügte sie hinzu, als ihr auffiel, daß die ersten Reihen Kanister ausgedünnt waren, als hätte man welche entfernt.
Shensu hob die Hand. »Mein Vater war ein Ehrenmann. Als man Treibstoff brauchte, gab er Admiral
Benden bereitwillig so viel, wie dieser benötigte. Er tat alles in seiner Macht Stehende, um die Gefahr zu ban-nen, die vom Himmel auf uns herabregnete. Wenn mein Vater nicht ermordet worden wäre …« Shensu brach mitten im Satz ab. Seine Kiefermuskel spannten sich, und in seine Augen trat ein finsterer Blick. »Ich habe keine Ahnung, wohin die drei Shuttles flogen, aber von Landing konnten sie nur starten, weil mein Vater Admiral Benden mit Treibstoff versorgt hatte. Und nun verschenke ich den Rest an einen Mann, der ebenfalls den Namen Benden trägt.« Shensu faßte den Lieutenant lauernd ins Auge.
»Paul Benden war mein Onkel«, gab dieser überrumpelt zu. »Und die Erica ist im Treibstoffverbrauch sehr ökonomisch. Mit einem vollen Tank können wir
389
Sie alle mitnehmen und Ihnen sogar ein wenig Gepäck erlauben. Aber wieso lagert der Treibstoff hier?«
»Mein Vater hat ihn nicht gestohlen!« ging Shensu
verärgert in die Defensive.
»Das wollte ich auch nicht andeuten, Shensu«, lenkte Benden ein.
»Mein Vater hortete den Treibstoff, während er zwischen den Kolonistenschiffen und der Planetenoberfläche hin und her pendelte. Immerhin galt er als der beste Shuttlepilot von allen. Und er war der sparsamste.
Er nahm sich nur, was er durch umsichtiges
Manövrieren bei jedem Flug einsparte, und durch seine Knauserigkeit kam niemand zu Schaden. Manchmal
erzählte er mir, wieviel Sprit die anderen Piloten durch Achtlosigkeit verschwendeten. Außerdem war er ein Konzessionär und hatte auf gewisse Dinge einen
verbrieften Anspruch. Im Grunde sorgte er nur dafür, daß immer eine Treibstoffreserve zur Verfügung stand.«
»Aber …« setzte Benden an, in dem Wunsch, Shensu
zu beschwichtigen.
»Er sparte den Treibstoff, um fliegen zu können. Er mußte fliegen.« Shensus Blick wanderte ins Leere, als er seinen leidenschaftlichen Nachruf fortsetzte. »Es war sein Leben. Als er auf den Weltraum verzichten mußte, konstruierte er ein kleines Atmosphärenflugzeug. Ich kann es Ihnen zeigen. Hier in Honshu flog er damit, wo niemand außer uns ihn sah. Doch jeden von uns nahm er abwechselnd mit in die Luft.« Während Shensu in Erinnerungen schwelgte, wurden seine Züge weich.
»Auf diese Belohnung arbeiteten wir alle hin. Und ich 390
verstand, was ihn am Fliegen so faszinierte.« Er holte tief Luft und betrachtete dann die beiden
Flottenoffiziere mit seinem üblichen verschleierten Blick.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich glücklich wäre, wenn ich nie wieder fliegen dürfte«, räumten Benden ein.
»Danke, daß Sie uns ins Vertrauen gezogen haben,
Shensu.«
»Mein Vater wäre entzückt, wenn er wüßte, daß ein
Benden durch seine Treibstoffvorräte in die Lage versetzt wird, Menschen zu retten«, entgegnete Shensu mit einem listigen Seitenblick auf den Lieutenant. »Ich schlage vor, wir warten bis spät nachts, wenn uns niemand beobachten kann. Die Marines, die Sie mitgebracht haben, scheinen recht stämmige Kerle zu sein.
Aber diesen Fähnrich lassen Sie am besten beim Shuttle zurück. Er quasselt zuviel. Kimmer darf nichts von unserer Transaktion erfahren. Es genügt, wenn er von Pern fortgebracht wird.«
»Haben Sie den Inhalt der Kanister kürzlich gecheckt, Shensu?« fragte Saraidh. Als er den Kopf schüttelte, ging sie geduckt in die Höhle hinein und inspizierte ein paar von den Containern. »Ihr Vater hat an alles gedacht, Shensu«, sagte sie über die Schulter, während sie in den Kanister hineinspähte, den sie auf den Kopf gestellt hatte. »Ich hatte Angst, nach über fünfzig Jahren könnte der Treibstoff vom Plastik verschmutzt sein, aber die Flüssigkeit ist klar; es gibt keine Spur von Ablagerungen.«
391
»Welche Edelsteine sollten wir Ihrer Ansicht nach
mitnehmen?« erkundigte sich Shensu beiläufig.
»In der Industrie ist man ganz scharf auf Saphire,
reinen Quarz und Diamanten«, erklärte Saraidh, nachdem sie die niedrige Höhle wieder verlassen hatte. Sie streckte den Rücken, der von der halbgebückten Haltung schmerzte. »Doch hauptsächlich benutzt man Edelsteine nach wie vor, um sich damit zu schmücken.
Abnehmer sind reiche Frauen, eitle Stutzer und Leute, die ihre Kuscheltiere damit behängen.«
»Schwarze Diamanten?« fragte Shensu und blickte
erwartungsvoll drein.
»Schwarze Diamanten!« wiederholte Saraidh verblüfft.
»Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen welche«, forderte
Shensu sie mit freudigem Lächeln auf. »Zuerst verschließen wir die Höhle, und dann steigen wir zu
unseren Werkstätten hinunter. Danach führe ich Sie
durch die ganze Festung, wie versprochen.« Er grinste.
Benden wußte nicht, was schlimmer war, der Anstieg
oder der Abstieg. Auf der engen Wendeltreppe wurde
ihm schwindlig, und er hatte das Gefühl, er könne jeden Augenblick diese endlose Spirale hinunterstürzen.
Weltraumspaziergänge
oder Manöver in
Schwerelosigkeit machten ihm nichts aus, doch an diese Form von Aktivität war er nicht gewöhnt. Ein wenig beruhigte es ihn, daß Shensu voranging. Doch wenn
Saraidh die Stufen hinuntersegelte und ihn mitriß,
konnte Shensu sie beide vermutlich auch nicht
abfangen.
392
Sie passierten etliche Treppenabsätze, die Shensu indessen links liegen ließ. Nach einer halben Ewigkeit erreichten sie eine sehr große Halle, die sich unter dem Hauptwohnraum befinden mußte. Die Decke war nicht so hoch, und die Wände waren nicht so perfekt bearbeitet, doch diese Kaverne diente eindeutig den verschiedensten handwerklichen Betätigungen. Ross sah einen großen Brennofen, eine Schmiede-Esse und drei Webstühle. Arbeitstische standen neben Regalen voller Werkzeug. Überall herrschte akribische Ordnung.
Benden fiel auf, daß kein einziges Elektrogerät zu sehen war.
Shensu führte sie zu einer Kunststoffkommode, einen Meter breit und genauso hoch, die mit lauter kleinen Schubfächern ausgestattet war. Zwei zog er auf und kippte deren Inhalt auf den Tisch. In der Decken—