Der Frühvogel
Seine Stimme, so zart und leise sie auch sein mag, ist unverkennbar. Es ist die erste, die allererste Stimme, die tröstlich unseren Schlaf durchdringt: Wach auf, Menschenkind, die Nacht ist bald vorbei, der neue Tag streicht schon mit unsicheren Lichtfingern durch das Gestrüpp der Dunkelheit. Schlaftrunken kommt von irgendwo die Vogelstimme. Vorerst nichts als ein weicher Laut. Und doch verblassen von diesem Augenblick an die Fratzen böser Träume, zerfließen sacht im Nichts. Und von neuem, schon etwas kräftiger, erhebt sich die unbekümmerte Vogelstimme.
Du schlägst die Augen auf, und der Schrank im Zimmer wird allmählich wieder zum Schrank, der Tisch zum Tisch, die erwachenden Blumen rollen behutsam ihre Blätter auf und beginnen sacht zu duften. Vor dem Fenster schwingt sich der erste jubilierende Triller in die Lüfte empor. Der Frühvogel singt, und wir leben einen weiteren Tag.
Diese kurzen Minuten zwischen Nochnichtsein und Schonwiedersein holen manchmal etwas aus unserem Gedächtnis hervor, das ohne die unschuldige morgendliche Stimme längst von jüngeren, noch nachschwingenden Geschehnissen überdeckt wäre. Erinnerungen werden erneut zu Erlebnissen.
Die Nacht war sehr lang, dauerte eigentlich schon ein halbes Jahr. Ich zog meine Handtasche unter dem Kopf hervor und versuchte, auf verschränkten Armen weiterzudösen. Zusammenhanglos flatterten die merkwürdigsten Bilder hinter meinen geschlossenen Augenlidern vorbei. Ein grüner Hut. Eine zerzauste Wolke. Zinnoberrote Schuhe. Ein Ziegelstein, auf dem ein Schmetterling sitzt. Ein blaues Kleid mit Blütenzweigen, die auf und nieder wippen.
Seit wann können Blütenzweige auf Kleidern wippen?
Aber dieses blaue Kleid hat es irgendwo gegeben, ganz bestimmt war ich ihm einmal begegnet. Keinesfalls auf der Straße, das war ausgeschlossen bei dieser Kälte. Ich stopfte im Halbschlaf einen Mantelzipfel unter mein rechtes Bein, weil ich dort einen eisigen Luftzug verspürte.
Als ich wieder ruhig lag und halbwegs warm, erschien mir das Bild einer geöffneten Tür, hinter der nichts als fahles Dämmerlicht stand. Uferlos, bodenlos, ein milchiger Tunnel ohne Ende. Dennoch bekam ich Herzklopfen. Eine geöffnete Tür, mein Gott! Drei Schritte würden genügen, und ich könnte vielleicht hinausgelangen.
Hinaus? Wohin? Ach irgendwohin, zum Meer, auf die Berge. Vielleicht könnte ich untertauchen, verschwinden in dem Meer, das auf den Bergen liegt. Soll ich es versuchen? Wird sich mir etwas in den Weg stellen?
Kaum hakte sich dieser Gedanke in mir fest, umgab mich auch schon eine Wolke von Veilchenduft, und ich wußte, daß gerade dieses süße Nichts in der geöffneten Tür stand und hindurchzukommen nicht möglich war.
Da seufzte ich unwillkürlich. Sofort erstarrten die Blüten auf dem blauen Kleid, und Madame Folette, die harmloseste unter den Aufseherinnen, sagte mit ihrem silbrigen Stimmchen: »Wie geht es Ihnen heute, Madame? Draußen ist schrecklicher Frost, seien Sie froh, daß Sie hier drinnen sind. Ich habe übrigens daran gedacht, was Sie mir vor ein paar Tagen gesagt haben. Nur Ihretwegen habe ich heute mein bestes Kleid angezogen, damit Sie wieder einmal etwas Schönes sehen.«
Und sie knöpfte die schwarze Pelerine auf, die zur Uniform des Wachepersonals gehörte, und sichtbar wurde ein dunkelblaues Kleid, bestickt mit rosa Blütenzweigen, von den Schultern bis fast zum Rocksaum.
»Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, Madame«, sagte ich, ein wenig verblüfft und ein wenig gerührt, und verschränkte unwillkürlich die Arme vor meinem schon formlosen, seit Wochen und Monaten getragenen Kleid. »So etwas habe ich wirklich nicht erwartet.«
»Passen Sie auf«, die Aufseherin lächelte, ihr Puppengesicht schmolz dabei ein wenig, als wenn es aus Wachs geknetet wäre, und mit einemmal schien sie beinahe jemand anderes zu sein, »das ist noch nicht alles. Ich habe Ihnen auch etwas mitgebracht.« Sie machte eine bedeutungsvolle kleine Pause und fügte fast flüsternd hinzu: »Es heißt nämlich, daß Sie unschuldig sind. Aber erwähnen Sie bitte ja vor niemandem, daß ich Ihnen das gesagt habe.«
»Machen Sie sich keine Sorgen«, beruhigte ich sie, »ich werde niemandem sagen, Sie hätten mir verraten, Madame, daß ich unschuldig bin.«
Da nickte die Aufseherin zufrieden und zog aus der Innentasche ihrer Pelerine ein winziges Päckchen hervor: »Hier!«
Ich zögerte ein wenig. Madame Folette lächelte immer noch und verharrte in der geöffneten Tür, die dennoch undurchschreitbar war. Aber dann langte ich schnell nach dem Päckchen, wickelte es aus dem knisternden Papier, und wie ein heißer Atemzug schlug mir eine süße Duftwelle entgegen. »Veilchen!«
»Die ersten dieses Jahres«, sagte Madame Folette, »für Sie, weil es heißt, daß Sie unschuldig sind.«
Sie knöpfte die schwarze Pelerine zu, ihr Gesicht erstarrte, und sie schloß schnell von außen die Zellentür. Ich hörte das schwere Schloß zufallen und die Stöckelschuhe über die Steinfliesen des Korridors davonklappern. Die Veilchen lagen duftend in meiner Hand. Über Nacht verwelkten sie.
Inzwischen war auch das längst vorbei. Jetzt schmerzte mein Rücken. Schließlich ist es ja auch etwas ungewöhnlich, auf einem Bürotisch zu schlafen und das schon die sechste Nacht. Ich rekelte mich ein wenig, dabei fiel ich beinahe hinunter. Da war es doch besser, still liegenzubleiben. Obwohl das nicht so einfach war, bei diesem Lachen, das nunmehr in gekräuselten, sich überstürzenden und dann wieder klatschend davoneilenden Wellen auf mich zukam.
Wem konnte hier bloß zum Lachen zumute sein? Es kicherte und gurgelte und grölte unentwegt, mein ganzer Kopf füllte sich allmählich damit. Und bald erkannte ich auch: Diese Laute kamen von der Straße, darüber gab es keinen Zweifel. Von der Straße, aber auf ganz verrückte Weise.
War ich auf dem Kopf gestanden, als ich solchem Lachen zum erstenmal begegnet war, oder war ich damals gar auf Händen gelaufen? Vergeblich versuchte ich, mich genau daran zu erinnern. Auf jeden Fall war es auf völlig ungewohnte Weise zu mir gedrungen, das stand fest. Und es war ein gedrucktes Lachen gewesen, auch darüber gab es keinen Zweifel, das wußte ich bestimmt.
Aber halt, so etwas gibt es ja gar nicht. Lachen kann doch bloß gelacht werden. Und verboten, das natürlich auch. Verbieten kann man alles. Drucken übrigens auch. Wüßte man denn sonst, ob und wie Generäle lachen, zum Beispiel Frankreichs Kollaborations-General Marschall Pétain? (Kann ein General überhaupt noch lachen; nachdem er sein Land einem anderen, fremden General ausgeliefert hat?) Und wie Madame Pompadur gelacht hat, ohne dabei das schwarze Schönheitspflästerchen auf ihrer Wange zu verrücken, und wie der bucklige Glöckner von Notre-Dame? Wie Jeanne d’Arc und all die Könige und Kardinäle und die Inquisitoren und ihre Henkersknechte?
Nichts von alledem wüßte man, und schon deshalb mußte sie geschrieben werden, geschrieben und gedruckt, die Geschichte des Lachens, L’Histoire du Rire. So war es.
Ich war gesessen, als ich jenem gedruckten Lachen begegnet war. Jetzt erinnerte ich mich ganz genau daran, nicht auf dem Kopf gestanden oder gar auf Händen gelaufen, sondern gesessen, sogar in zweifachem Sinn, da man mich vom Justizpalais im grünen Anton – panier à salade, Salatschüssel heißt das in Frankreich – quer durch Paris zum Gefängnis Petite Roquette zurückgeschaukelt hatte. Der Krieg war damals knapp zwei Wochen alt, und das Drunter und Drüber in meinem Kopf stand durchaus im Einklang mit dem ebenso unangenehmen Drunter und Drüber, dem ich in der winzigen Autozelle physisch ausgesetzt war. Durch einen schmalen Spalt in der Autowand, der zum Atmen und keineswegs zum Hinausschauen gedacht war, hatte ich mit angestrengt zusammengekniffenen, gierig suchenden Augen einen Streifen bedruckten Papiers erblickt. Nur für einen Augenblick. Dickbäuchige, respektable Buchstaben auf der glatten Fläche eines Plakats: L’Histoire du Rire. Das war alles. Aber war das überhaupt möglich? Gedrucktes Lachen, bestimmt für andere Leute, die hingehen – wo hingehen? – konnten und sie womöglich kaufen und lachen, L’Histoire du Rire, die Geschichte des Lachens.
Warm werden konnte man in jenem Haus mit den unvorstellbar dicken Wänden, das nun in beklemmender Wucht im Nonstopfilm hinter meinen geschlossenen Augenlidern in Erscheinung trat, eigentlich nur ab und zu unter der heißen Dusche. Durchgeschüttelt und dummgefroren nach besagter Rückfahrt vom Justizpalais, bei der ich von der Geschichte des Lachens Kenntnis bekommen hatte, war ich froh gewesen, als am Nachmittag das Pergamentgesicht einer Nonne in der Zellentür auftauchte und eine Papierstimme anordnete: »Baden gehen!«
Der Gefängniskorridor war eine langgezogene, dumpfe Grotte mit Zugluft und blaugrünem Dämmerlicht. Die hölzernen Treppen krachten hohl unter den Füßen, und die wegen der ständigen Flugangriffe tiefblau bepinselten hohen Fenster klirrten dazu. Musik und Begleitakkorde in einer Kirche ohne jedes Gebet. Draußen schien vielleicht die Sonne, aber der Krieg hatte die großen Fenster nachtblau gefärbt und winselnde Sirenen auf das Dach gesetzt. Auf diese Weise wirkte das unheilvolle Gefängnisgebäude noch unheildrohender als sonst.
Die Nonne trippelte dicht hinter mir, schnelle, harte Schritte. Ab und zu streifte ihr schwarzes Gewand meine Schulter oder mein Bein. Sofort versuchte ich größeren Abstand zu halten. Aber sie atmete gleich wieder hastig dicht hinter mir.
Wollte dieses Treppenhaus überhaupt kein Ende nehmen?
Endlich standen wir vor einer schmalen Tür, hinter der Wassergeplätscher zu hören war.
»Alles muß sehr schnell gehen«, sagte die Nonne und legte mir ihre heiße Hand auf die Schulter, »Sie müssen sich ganz schnell ausziehen.«
Übergangslos traten wir aus der menschenleeren, frostigen Dämmerung in das dampfende Badehaus eines reichlich besetzten Harems. Nackte Frauenarme und beine ringsum, feuchtglänzende Schultern, Wassertropfen im Haar, Seifenschaum auf Rücken und Bauch.
»Schnell«, sagte die Nonne nochmals, »ausziehen!«
Ich schlüpfte hinter eines der zahlreichen Laken, die hier als Trennwände aufgespannt waren, entledigte mich rasch meiner Kleider und stellte mich unter den heißen Wasserstrahl. Eine farblose Hand hielt mir ein Stück Waschseife hin, berührte dabei wie zufällig meine Brust. Ich zuckte zurück. »Ich wasche mich gern ohne Zeugen.«
Das Pergamentgesicht verzog sich zu einer merkwürdigen Grimasse, die Hand blieb unschlüssig in der Luft hängen, glänzte feucht.
»Wenn du lieb bist«, flüsterte es plötzlich hastig aus dem wächsernen Gesicht, »du bist doch lieb?«
»Raus hier!«
Ich schob das Laken wütend zwischen mich und die unverschämten Augen. Aber zwischen mich und das scheppernde, fast blecherne Lachen, das nun erklang, konnte ich nichts schieben. Als ob es mit den Dampfschwaden durch den ganzen Raum zöge, kicherte und tröpfelte und quietschte es glitschig aus allen Ecken. Ein häßliches, unheimliches, nie zuvor gehörtes Lachen, das inmitten der feuchten Wärme auf dem ganzen Körper Gänsehaut hervorrief. Quel’histoire du rire! Eine feine Lachgeschichte!
Du liebe Zeit, dachte ich damals, als ich vergeblich versuchte, mich mit dem dünnen Handtuch trockenzureiben, wie wird sich jetzt bloß der Rückweg in die Zelle durch das dunkle Treppenhaus abspielen? Ich spürte, wie ich vor Angst und Unbehagen ganz steif wurde, weder Arme noch Beine bewegen konnte, vor allem die Beine nicht, die immer schwerer und schwerer wurden . . .
Ein weicher, in seiner Reinheit nahezu rührender Laut durchdrang in diesem Augenblick die Wirrnis der bedrängenden Traumbilder. Leicht, wie eine vom Wind getragene Flaumfeder, flatterte er durch die noch stille Straße, hüpfte durch den geöffneten Fensterspalt in den freudlosen Büroraum, in dem eine schlafende Frau auf dem Tisch lag.
Ich schlug die Augen auf. War wirklich schon alles vorbei?
Der Frühvogel sang.
Ach, nur die Nacht war vorbei, aber schon jede zu Ende gegangene Nacht war ein Gewinn. Der Vogel draußen in der Pariser Straße, die erste Stimme des neuen Tages, probierte zaghaft einen kleinen Triller. Wo er wohl saß? Auf einem der zahllosen, schmalen Schornsteine dieser Stadt, auf einem spitzen Dachfirst oder am Ende auf einer der steinernen Fratzen an den Türmen von Notre-Dame? Aber nein. Wenn man so heiter erwacht, hockt man nicht auf Stein. Ein solches Gezwitscher braucht Luft und Licht. Wahrscheinlich schaukelte der kleine Vogel auf dem Zweig eines Ahornbaumes oder einer Platane oder zwischen den noch fest geschlossenen, aber doch schon unübersehbar vorhandenen Knospen eines Kastanienbaums im Jardin du Luxembourg, in den Tuilerien.
Kalt war es hier.
Schon die sechste Nacht verbrachte ich auf dem Tisch in diesem Büro der Pariser Polizeipräfektur, entlassen und noch nicht wieder eingeliefert. Ein Stempel auf meinen Begleitpapieren sagte ja und ein anderer nein. Und weil sie sich nicht einigen konnten, die Stempel, die mein weiteres Schicksal bestimmen sollten, lag ich nachts auf diesem Tisch.
Tagsüber saß ich auf der Bank, die ringsum entlang der kahlen Wände lief. Jedesmal, wenn die Tür aufging und ein neuer Mensch hereingeschoben wurde, sah ich in seinen Augen dieselbe Frage: Was soll ich hier? Ich bin hier falsch. Wann läßt man mich wieder gehen?
Gestern hatte man in aller Herrgottsfrühe eine Frau gebracht, deren Kopf über und über mit Lockenwicklern bedeckt war. Sie war außer sich. »Nicht einmal zu Ende kämmen durfte ich mich zu Hause! In einem derartigen Aufzug mußte ich natürlich auf den Herrn Kommissar einen ungünstigen Eindruck machen. Glauben Sie, die haben mir wenigstens einen Spiegel geborgt, wie ich dringend, aber bitte sehr höflich, gebeten habe? Und da heißt es, daß alle Pariser galant sind! – Haben Sie nicht zufällig einen Spiegel in Ihrer Tasche, ma chère? Und können Sie mir einen Kamm borgen? Na, wunderbar! Und jetzt halten Sie mir das Spieglein vor, so ist es recht, noch ein klein wenig nach links. Vielen Dank, mon bijou, jetzt sehe ich endlich wieder wie ein Mensch aus.«
Der Frühvogel draußen im Pariser Morgen zirpte einen Gruß. Machte eine Pause. Zirpte ihn noch einmal. Dann kam von irgendwo die Antwort.
Mittags hatte ein blutjunger Polizist die Wache übernommen. Prüfend betrachtete er die vier Frauen, die sich zu jener Stunde in dem Raum befanden. Die blonde Lockenträgerin schien ihm nicht zuzusagen. Eine verweinte und eine andere, ziemlich schmutzige ältere Frau nahm er scheinbar überhaupt nicht zur Kenntnis. So blieb sein Blick an mir haften.
»Durst?« fragte er, anscheinend nur, um ins Gespräch zu kommen. »Soll ich Ihnen Wasser bringen?«
»Nein, danke.«
Nach diesem nicht gerade geglückten Versuch einer Konversation verschwand er im Dienstraum, kam aber schon nach einer Weile wieder zurück.
»Sie dort«, sagte er und wies mit der Hand auf mich, »kommen Sie mal her.«
Er war eine Amtsperson, ich war verhaftet. Ohne Eile erhob ich mich und ging auf das Bürschchen zu.
Als ich vor ihm stand, maß er mich mit einem langen, prüfenden Blick. Dann neigte er sich ein wenig zu mir hin und flüsterte: »Was ist los? Schlimm?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Wegen der Papiere?«
»Ja.«
»Ausländerin?«
»Ja.«
Er nickte zufrieden. »Heute ist Samstag«, bemerkte er und schob das runde Dienstkäppi ein wenig in den Nacken. Er war ein hübscher, blonder Junge. »Bist du am Sonntag frei?«
»Das will ich hoffen.«
»Fein«, er schien immer zufriedener zu sein. »Ich bin sonntags auch frei. Weißt du, wo die Metrostation Clichy ist?«
»Ja.«
»Schön. Um drei Uhr werde ich dort auf dich warten. Aber paß auf, in Zivil sehe ich noch besser aus.«
Ich nickte, verbiß ein Lachen und ging zu meinem Platz zurück.
Allein geblieben in der drückenden Leere des Wartens, dösten wir vier Frauen fast wortlos vor uns hin. Etwa eine Viertelstunde verging. Da tauchte der junge Polizist von neuem in der Tür auf, hatte aber diesmal eine strenge Amtsmiene aufgesetzt.
»Ihren Namen?« fragte er und pflanzte sich mit einem Notizblock in der Hand zuerst vor dem Blondkopf auf. Danach notierte er auch die Namen der beiden älteren Frauen. »Und Sie?« sagte er, als er schließlich vor mir stand. Keine Regung in seinem Gesicht verriet, daß ihn diese Verhaftete mehr interessierte als die anderen. »Aber langsam, bitte, ausländische Namen müssen wir ganz genau eintragen.«
»Jarmila . . .«, sagte ich, weil mir dieser Name gerade einfiel und seine Amtshandlung gar zu sehr vorgetäuscht war.
Er blickte mir entzückt ins Gesicht. »Noch einmal.«
»Jarmila«, wiederholte ich.
»Ist das Germaine?«
»Nein, das ist nicht Germaine.«
»Kann man ihn nicht irgendwie ins Französische übersetzen, diesen Namen?«
»Kaum. Oder vielleicht doch. Jarmila heißt wörtlich Chérie du Printemps.«
»Chérie du . . .? Das ist aber toll! Ist das auch wahr?«
»Gewiß.«
»Eine schöne Sprache, wenn die Mädchen so heißen«, bemerkte er anerkennend und kehrte würdigen Schrittes um. In der Tür blieb er stehen, wandte sich nochmals in den Raum und rief streng: »Sie dort, die Ausländerin Chérie, vergessen Sie nicht: Sonntag, pünktlich um drei Uhr, sonst ärgert sich Monsieur le Commissaire!«
Der neue Tag hinter den Fenstern der Polizeipräfektur wurde heller und heller. Ich ließ mich vom Tisch hinabgleiten. Heute war Sonntag, vielleicht wird man mich gerade heute entlassen.
Auf der Straße hupte ein Auto, jemand pfiff, irgendwo schlug eine Uhr.
Der Frühvogel sang noch immer.