Vier
Armi und Sanna
Der Wecker klingelte um halb neun. Als ich aus dem Fenster schaute, sah ich die ersten Blüten von den Traubenkirschbäumen fallen. Ich schleppte mich zur Kaffeemaschine und von da zur Toilette, wo ich entsetzt feststellte, wie verquollen meine Augen waren. Die Zeit reichte nicht mal, um Teebeutel aufzulegen.
Dank Kaffee und Make-up war ich nach einer Weile halbwegs erträglich anzusehen. Nach kurzem Überlegen hinterließ ich Antti nur eine knappe Nachricht: »Ich bin den größten Teil des Tages unterwegs. Können wir heute Abend versuchen, miteinander zu reden?«
Die Fahrt nach Nihtisilta nahm nur zwanzig Minuten in Anspruch, obwohl ich ganz gemächlich radelte. Auf dem Polizeipräsidium herrschte Totenstille, weder Pertsa noch Eki ließen sich blicken. Als sich bis zehn nach zehn noch nichts getan hatte, fragte ich beim Dienst habenden Beamten nach.
»Ja, also … der Ström hat angerufen. Er musste nach Kirkkonummi zu ’ner Messerstecherei, die Vernehmung ist erst heute Abend.«
Der tölpelhaft aussehende, picklige junge Mann schien einem der Polizistenwitze entstiegen zu sein, in denen gefragt wird, welcher der beiden Beamten lesen und welcher schreiben kann. Der Partner dieses speziellen Polizisten musste vermutlich beides beherrschen.
Als ich ihn gerade dazu bewogen hatte, mir die Nummer von Pertsas Autotelefon zu verraten und mich vom Anschluss des Präsidiums telefonieren zu lassen, kam Eki hereingestürmt.
»Tut sich hier noch gar nichts?«, polterte er. Der Penner, der sich auf einer Bank im Wartezimmer niedergelassen hatte, fuhr jäh aus seinem Schlummer auf. Ich rief Pertsa an, der meinte, vor sieben Uhr abends würde er es wohl nicht schaffen. Als ich ihn um Erlaubnis bat, vorher mit Kimmo sprechen zu dürfen, versuchte er sich quer zu stellen. Wir stritten uns über die verzwickten Formulierungen im Gesetz über das Vorverfahren, bis er schließlich nachgab. Aber nur einer von uns beiden durfte zu Kimmo, Eki oder ich.
»Hmmm, wer vertritt Kimmo nun eigentlich«, überlegte Eki, als ich ihm erklärte, worum es ging. »Vielleicht ist es besser, wenn du das übernimmst, Maria. Als Rechtsbeistand. Da kriegst du gleich ein bisschen Übung. Außerdem hast du mit Vernehmungen wahrscheinlich mehr Erfahrung als ich. Wenn wir vor Gericht müssen, sehen wir weiter.«
»Können wir uns zusammensetzen, wenn ich mit Kimmo geredet habe, und unsere Strategie besprechen? Ich komm dann ins Büro.«
Eki zog sein Handy aus der Tasche, ich ging zum Diensthabenden und bat darum, mit Kimmo sprechen zu können. Der junge Mann kratzte sich eine Weile am pickligen Kinn, bevor er zögernd erklärte:
»Ich glaub, der Hänninen schläft … Wir mussten früh um fünf den Arzt zu ihm schicken, weil er pausenlos geschrien hat. Da hat er dann ’ne ordentliche Dosis Beruhigungsmittel gekriegt. Moment mal, ich ruf im Zellentrakt an.«
Der Wärter bestätigte, dass Kimmo schlief, und ich hielt es für das Beste, ihn in Ruhe zu lassen. Der Bericht des Diensthabenden klang Besorgnis erregend, aber am Abend konnte ich den Vorfall immer noch zur Sprache bringen.
Vor dem Polizeigebäude holte ich Eki gerade noch ein. Wir luden mein Fahrrad in seinen Volvo-Kombi und fuhren nach Nord-Tapiola. Ekis Kanzlei befand sich in seinem Einfamilienhaus in einer ruhigen Wohngegend. Beim Einstellungsgespräch hatte ich mich gefragt, ob sich potenzielle Mandanten überhaupt so weit an die Peripherie verirrten, aber meine Zweifel waren unbegründet. Henttonens Viermannkanzlei hatte einen festen Stamm von Mandanten, für die Eki und seine Mitarbeiter Testamente und Nachlassaufstellungen aufsetzten, Scheidungen und Konkurse erledigten. Die meisten Mandanten wohnten in Tapiola oder der näheren Umgebung. Sie kannten Ekis eigenwillige Arbeitsweise und vertrauten ihm.
In Henttonens Kanzlei gab es keine Stechkarten. Schon in den ersten Wochen war mir klar geworden, dass alle pausenlos schufteten, wenn es etwas zu tun gab, und zu Hause blieben, wenn es ruhiger war. Mir war das recht.
Eki, Mara Jaatinen und Albert Gripenberg bildeten ein Team. Jaatinen und Gripenberg waren jeweils mit einem Anteil von fünf Prozent an der Kanzlei beteiligt. Beim Einstellungsgespräch hatten sie mir gesagt, sie suchten ausdrücklich eine Frau als Ergänzung des Teams.
»Ich stehe weder als Kaffeeköchin noch als Animierdame für die Mandanten zur Verfügung«, erklärte ich schroff. Die drei Männer schmunzelten.
»Fürs Kaffeekochen haben wir Annikki, unsere Sekretärin, und was unsere Mandanten betrifft, die muss jeder von uns gelegentlich bei Laune halten. Wir haben uns nur überlegt, weil man doch heute bei jeder Gelegenheit von der weiblichen Perspektive redet, sollten wir die in unserem Team vielleicht auch haben.«
Die Begründung klang so spaßig, dass die Kanzlei mich tatsächlich zu interessieren begann. Gleichzeitig fanden die Herren auch an mir Gefallen. Das merkte ich, und so war ich nicht allzu überrascht, als Eki am nächsten Tag anrief und fragte, wann ich anfangen könnte.
Ungeachtet der großen Reden, die ich damals geschwungen hatte, schaltete ich die Kaffeemaschine ein, als wir das Konferenzzimmer betraten. Eki ging Kuchen holen, ich hörte den Anrufbeantworter ab, nahm das Telefonbuch zur Hand und suchte Dr. Hellströms Nummer heraus.
Eki war der größte Süßschnabel, der mir je begegnet war, ständig futterte er Kuchen oder Schokolade; jetzt kam er mit einem Hefezopf zurück. Trotz dieser Leidenschaft war sein Bauchansatz nicht allzu ausgeprägt. Seine beginnende Glatze verbarg er, indem er die Seitenhaare geschickt darüber kämmte. Allerdings wirkte Eki stets ein wenig schmuddelig: Die Anzüge waren auf den Schultern immer von Schuppen gesprenkelt, sein Gesicht war eine Spur zu rot, die Stimme laut und unkultiviert. Vielleicht hatten die Leute gerade deshalb Vertrauen zu ihm, weil er nicht so geschniegelt daherkam wie die meisten Juristen.
Wir besprachen die Situation beim Kaffee. Eki schob sich das vierte Stück Hefezopf in den Mund und sagte nachdenklich:
»Ich denke, es kommt auf den Richter an, ob er die Beweise für hinlänglich hält und einen Haftbefehl ausstellt. Du meinst, sie reichen nicht aus.«
»Ja, aber das liegt zum Teil auch daran, dass ich Kimmo kenne. Er ist einfach nicht der Typ für einen Mord.«
»Es hat natürlich seine Vorteile, wenn du an die Unschuld deines Mandanten glaubst. Ich bin mir da nicht so sicher. Wie gut kennst du die Hänninens? Ich hab ziemlich viel mit Sanna zu tun gehabt. Zweimal war sie wegen Trunkenheit am Steuer angeklagt, einige Male musste ich sie aus der Ausnüchterungszelle holen, dann kam eine Anklage wegen Besitz von Haschisch. Ich hab mich ganz schön ins Zeug legen müssen, damit sie nicht im Gefängnis landet. Und als sie dann gestorben ist, da wäre beinahe der junge Ruosteenoja drangewesen. Das war eine schlimme Sache, Annamari Hänninen war völlig hysterisch und hat Markku bezichtigt, Sanna ermordet zu haben, und der Junge hat sich ganz verrückt gemacht mit seinen Schuldgefühlen, weil er zu betrunken gewesen war, um überhaupt mitzubekommen, dass Sanna ins Meer ging. Für Kimmo war das alles genauso furchtbar, ohne Armi wäre er sicher nicht darüber hinweggekommen, und Annamari war monatelang krankgeschrieben.«
»Und was hat das alles mit Kimmos Schuld zu tun?«
»Ich will damit nur sagen, dass die Hänninens psychisch nicht ganz stabil sind. Wer weiß, was so einem wie Kimmo durch den Kopf geht, wenn er« – Eki schien angestrengt nach einem möglichst unverfänglichen Ausdruck zu suchen – »sexuell erregt ist. Vielleicht hat er gar nicht begriffen, dass er Armi würgt.«
»Du meinst also, Kimmo bestreitet seine Schuld, weil er sich nicht erinnert, was passiert ist?«
»Oder weil er sich nicht erinnern will. Sollen wir eine Untersuchung seines Geisteszustands beantragen? Was schlägst du denn vor?«
»Um seine Freilassung zu erreichen, müssen wir erstens zeigen, dass die Beweise der Polizei unhaltbar sind, und zweitens nachweisen, dass jemand anders als Kimmo der Täter sein könnte«, dozierte ich wie eine Musterschülerin.
Wir einigten uns darauf, dass ich versuchen würde, bis zum nächsten Tag mit möglichst vielen Menschen aus Armis Umkreis zu reden. Eki wollte inzwischen nach Lücken in der Beweiskette gegen Kimmo suchen.
»Ich sag Erik Bescheid, dass du vorbeikommst.« Eki wählte Hellströms Nummer aus dem Gedächtnis. Ich schätzte seine zupackende Art, er überlegte nicht alles dreimal hin und her, sondern handelte.
»Erik ist zu Hause, du kannst gleich hinfahren«, sagte Eki, nachdem er aufgelegt hatte. »Nimmst du den Honda oder dein Fahrrad?«
Ich ließ das Gemeinschaftsauto der Kanzlei in der Garage stehen. Beim Radfahren konnte ich besser darüber nachdenken, was ich Hellström eigentlich fragen wollte.
Erik Hellström stand wartend auf dem Balkon seines Reihenhauses in Haukilahti, als ich ankam.
»Die Tür ist offen«, sagte er mit zittriger Stimme. Er wirkte verängstigt, keineswegs so ruhig und besonnen, wie ich angenommen hatte und wie es Laien bei Ärzten, Pfarrern und Polizisten im Zusammenhang mit dem Tod eines Menschen vermuten.
Im schattigen Flur entdeckte ich die Treppe zum Obergeschoss, ging hinauf und fand mich in einem riesigen Wohnzimmer wieder, wo der Hausherr mich erwartete.
In letzter Zeit hatte ich viele luxuriös eingerichtete Espooer Häuser gesehen, aber Hellströms Wohnzimmer übertraf alles. Obwohl ich mich mit antiken Möbeln überhaupt nicht auskenne, wusste ich instinktiv, dass diese gustavianischen Dinger wirklich wertvoll waren. Besorgt warf ich einen Blick auf meine Leinenshorts: Es war doch hoffentlich keine Fahrradschmiere dran? Ich war geradezu erleichtert, als Hellström mich auf den Balkon bat.
»Vielleicht unterhalten wir uns hier draußen. In unserer Straße ist so wenig Verkehr, da werden wir nicht gestört. Was möchtest du – wir können uns wohl duzen – denn nun eigentlich wissen?«
Hellström zündete sich eine Zigarette an. Über die Jahre hinweg hatte Nikotin den Zeigefinger und das untere Glied des Mittelfingers seiner rechten Hand gelb gefärbt. In seinem Mund blitzten Jacketkronen, die nagelneu aussahen – vielleicht hatte sich das Nikotin auch in seine Zähne gefressen, und gelbe Zähne passten natürlich nicht zum Image eines erfolgreichen Mannes. Im Übrigen sah er sehr präsentabel aus. Er war relativ groß und hatte sich einiges von der athletischen Spannkraft seiner Jugend bewahrt. Die braunen Augen mochten unter anderen Umständen verführerisch wirken, jetzt allerdings lag in ihnen pure Besorgnis. Besondere Sympathie brachte ich dem Gynäkologen nicht entgegen, dafür erinnerte ich mich zu gut an den abschätzigen Blick, mit dem er mich vorgestern Abend gemustert hatte.
»Vielleicht erzählst du erst einmal, welchen Eindruck du von Armi hattest. Wie war sie als Mensch und als Mitarbeiterin?«
Das Du wollte mir nicht recht über die Lippen gehen. Das lag nicht nur daran, dass Hellström so alt war wie mein Vater, auch nicht an der Autorität, die er ausstrahlte, oder am Charme seiner grauen Schläfen. Er hatte etwas an sich, wovor ich zurückschreckte. Natürlich ging meine Antipathie vor allem auf die beleidigende Szene bei der Geburtstagsfeier zurück, was mich ärgerte.
»Armi war ein liebenswürdiger Mensch und eine gute Mitarbeiterin«, lautete Hellströms banale Antwort. Er drehte die Zigarette zwischen den Fingern und schien gar nicht zu bemerken, dass Asche auf den Holzfußboden seines Balkons fiel.
»Wo haben Sie eigentlich Ihre Praxis?«
»Im Ärztezentrum am Heikintori. Es handelt sich um eine Aktiengesellschaft von Privatpraxen, außer mir sind dort noch andere Fachärzte.«
»Aber Armi war ausschließlich Ihre Sprechstundenhilfe?«
Nun hatte ich ihn aus Versehen doch gesiezt.
»Sprechstundenhilfe ist nicht ganz der richtige Ausdruck. Armi war ja ausgebildete Krankenschwester und hatte sich auf Frauenkrankheiten spezialisiert. Sie war meine Assistentin. Aber natürlich hat sie sich auch um Termine und dergleichen gekümmert.«
»Dann hatte sie also viel mit den Patientinnen zu tun?«
»Wir sprechen heute nicht mehr von Patienten, sondern von Klienten.« Hellström zupfte ein silbergraues Härchen von seiner flaschengrünen Baumwollhose und ließ es über das Balkongeländer auf den Rasen fallen. »Armi war fröhlich und unkompliziert, sie kam im Allgemeinen gut mit anderen Menschen aus. Mag sein, dass einige meiner Klientinnen sie etwas zu zwanglos fanden.«
»Inwiefern?«
Hellström schien zu überlegen, ob es sich schickt, Tote zu kritisieren, fuhr dann aber fort:
»Nun, man kann natürlich nicht alle Klientinnen ohne weiteres duzen … Armi fehlte das Fingerspitzengefühl, jede Klientin individuell zu behandeln … Und dann hielt sie sich über die Lebensumstände und Krankheiten meiner Klientinnen vielleicht etwas zu genau auf dem Laufenden.«
»Mit anderen Worten, Armi war neugierig?«
Hellström nickte.
»Unter meinen Klientinnen sind recht viele bekannte Persönlichkeiten, Schauspielerinnen, Geschäftsfrauen, Politikerinnen … Ich fürchte, Armi hatte die Angewohnheit, allzu offenherzig über sie zu sprechen … Davon abgesehen, war sie eine gute Mitarbeiterin, und meiner Meinung nach steckte hinter ihrem großen Interesse für die Menschen auch echte Anteilnahme.«
Hellströms letzter Satz hätte sich glatt für Armis Nachruf geeignet. Er zündete sich die nächste Zigarette an. War er Kettenraucher, oder handelte es sich um eine Reaktion auf Armis Tod?
»Welche Behandlungen führen Sie in Ihrer Praxis durch?«
»Alles Mögliche, angefangen von ganz normalen Vorsorgeuntersuchungen und dem Verschreiben von Verhütungsmitteln über die Schwangerschaftsbetreuung bis zu Tumor- und Krebskonsultationen. Ich habe eine Dozentur an der Universitätsklinik in Helsinki, sodass ich bei einer Krebsoperation oder Entbindung anwesend sein kann, wenn meine Klientin es wünscht.«
Die Antwort klang wie auswendig gelernt. Sicher hatte Hellström sie bei allen möglichen Kongressen und Werbeveranstaltungen immer wieder heruntergeleiert, womöglich in mehreren Sprachen. Mir fiel plötzlich ein, dass meine Antibabypillen fast aufgebraucht waren. Allerdings würde ich nicht in Hellströms Praxis gehen, denn ich lasse mich nur von Frauen gynäkologisch behandeln. Außerdem: Brauchte ich die Pille denn noch, da es mit Antti und mir ohnehin vorbei zu sein schien?
»Sie haben vor einiger Zeit Armis Schwester behandelt, wegen einer Fehlgeburt. Wodurch wurde die verursacht?«
»Danach musst du Marja Laaksonen selbst fragen, Patientendaten sind vertraulich«, sagte Hellström steif. Ich gab mich damit zufrieden, er hatte ja Recht.
»Ist Ihnen in letzter Zeit irgendetwas Ungewöhnliches an Armi aufgefallen? Sorgen – oder besondere Fröhlichkeit? Neue Bekannte? Mehr Geld als bisher?«
Ein Dreirad rollte klappernd vorbei. Dem etwa zweijährigen Fahrer folgte die Mutter mit einem Kinderwagen, dessen Inhalt kräftig schrie. Hellström schwieg lange, bevor er meine Frage beantwortete.
»Das liegt jetzt etwa einen Monat zurück … Kimmo war bei seinem Vater in Ecuador, und in der Zeit hat Markku Ruosteenoja Armi häufig von der Arbeit abgeholt. Ich habe sie noch gefragt, im Spaß natürlich, ob sie den Bräutigam wechseln will, aber sie behauptete, mit Ruosteenoja ginge es um etwas ganz anderes.«
Make Ruosteenoja … Was hatte er noch gleich zu mir gesagt? Immer wenn man ein nettes Mädchen kennen lernt, ist sie schon vergeben … Hatte er damit auch Armi gemeint? Sofort setzte ich auch Make auf die Liste derjenigen, mit denen ich reden musste.
»Vielleicht war Kimmo eifersüchtig auf Markku«, mutmaßte Hellström. »Oder Markku hatte sich in Armi verliebt. Man kann nie wissen, selbst bei netten Menschen.«
An Hellström hätte der Staatsanwalt mehr Freude als ich. Um das Thema zu wechseln, fragte ich ins Blaue hinein:
»Sie haben gesagt, Armi hätte sich sehr für die Angelegenheiten Ihrer Klientinnen interessiert. Halten Sie es für denkbar, dass sie ihr Wissen missbraucht hat?«
Er wurde seltsamerweise ganz blass.
»Was meinst du damit?«, fragte er. Die Zigarette in seiner Hand zitterte.
»Erpressung. Sie haben doch selber gerade gesagt, man weiß nie, selbst bei netten Menschen. Und in Ihrer Praxis gibt es genug potenzielle Anlässe für eine Erpressung: Abtreibungen, Geschlechtskrankheiten …«
»Nein!«, rief Hellström und sprang auf. »Dafür war Armi nicht der Typ! Ihr Gerechtigkeitssinn und ihre medizinische Ethik waren stark ausgeprägt. Sie war keine Erpressernatur. Entschuldigung«, fügte er hinzu und setzte sich wieder. »Das ist alles sehr erschütternd, ich bin entsetzt über den Mord an Armi, und dann kommen auch noch derartige Anschuldigungen …«
»Alle Möglichkeiten müssen überprüft werden«, schulmeisterte ich und packte meine Siebensachen zusammen.
»Steht denn nicht fest, dass Kimmo der Täter ist?« Hellström bemerkte, dass ich aufbrechen wollte, und erhob sich, ganz der wohlerzogene Gentleman.
»So ganz unstreitig ist das nicht.«
Als ich über einen kleinen Waldweg in Richtung Norden radelte, beschloss ich, auf dem Weg zu Mallus Wohnung in Tonttukumpu einen Abstecher nach Hakalehto zu machen. Vielleicht war Make zu Hause. Seine genaue Adresse kannte ich nicht, erinnerte mich aber, dass er gesagt hatte, er wohne »in einem von den Türmen«. Vermutlich hatte er damit eins der fünfstöckigen Häuser an der Hakarinne gemeint, und tatsächlich wurde ich im dritten fündig. Nachdem ich fünfmal geklingelt hatte, wollte ich gerade wieder gehen, da hörte ich schleppende Schritte aus der Wohnung.
Make sah furchtbar aus. Am Abend zuvor war es garantiert nicht bei zwei Bier geblieben.
»Maria … Was willst du denn hier? Komm rein. Hast du schon gehört, dass Armi tot ist?«
»Allerdings. Ich hab sie nämlich gefunden. Über Armi wollte ich auch mit dir sprechen, falls du nicht zu müde bist.«
»Nee, ist schon okay … Warte mal, ich putz mir nur schnell die Zähne.« Make schob sich an mir vorbei ins Bad, ich ging ins Wohnzimmer. Es war nicht zu übersehen, dass hier ein fanatischer Konditionssportler wohnte. Nach der Ausstattung zu urteilen, ging er wohl hauptsächlich der sozialen Kontakte wegen ins Fitnesscenter. Im Wohnzimmer standen außer Fernseher und Stereoanlage nur ein Standfahrrad, ein Rudergerät und eine Hantelbank. Überall lagen Hantelstangen und Hanteln herum. Im Alkoven gab es immerhin ein schmales Bett und in der Kochnische einen kleinen Tisch und Stühle. Ich nahm auf dem Rudergerät Platz, stellte die passende Sitzposition ein und legte los.
Make trainierte mit einem höllischen Kraftwiderstand. Bis er aus dem Bad kam, hatte ich zehn Ruderzüge gemacht, sehr viel mehr hätte ich auch gar nicht geschafft.
Make ging schnurstracks zum Kühlschrank und holte eine Flasche Bier heraus, schwenkte eine zweite in meine Richtung, aber ich schüttelte den Kopf. Er goss das Bier in ein Glas, warf zwei Brausetabletten hinein, steckte irgendeine Pille in den Mund und trank das Glas in einem Zug leer. Mit dem zweiten Zug vertilgte er den restlichen Inhalt der Flasche und öffnete gleich die nächste.
»Was war das denn?«, fragte ich besorgt.
Make setzte sich neben mich auf den Fußboden.
»Nichts Gefährliches. Eine Pille gegen Übelkeit und zwei Brausetabletten mit Vitamin C und Aspirin. Mit Bier einzunehmen. Markku Ruosteenojas unschlagbarer Katercocktail.«
»Fehlt bloß noch das rohe Ei«, grinste ich. »Du bist wohl gestern versumpft?«
Make fuhr sich durch das nasse Haar. Offensichtlich hatte er den Oberkörper kurz unter die Dusche gehalten, als er eben im Bad war. Seine Brustmuskeln glänzten feucht, ein paar Wassertropfen rollten exakt an der Mittellinie des Bauchmuskels entlang auf den Bund seiner ausgebleichten Jeans zu, die im Übrigen sein einziges Kleidungsstück war.
»Es stimmt also, verdammt nochmal«, stöhnte er. »Ich hab’s gestern schon gehört. Der Stögö Brandt ist kurz vor drei ins Geschäft gekommen und hat gesagt, in der Jousenkaari wimmelt’s von Bullen. Er hat vom Fenster aus gesehen, wie ’ne Leiche aus Armis Wohnung weggekarrt wird. Wir sind dann ins Balloons, um uns zu erkundigen, und da sind wir hängen geblieben … Wer hat sie umgebracht?«
»Kimmo ist festgenommen worden. Du hast gestern also gearbeitet?«
»Der Laden ist den Sommer über samstags dicht, aber ich wollte checken, wie’s mit den Turnschuhen aussieht, und Stögö ist halb zufällig reingekommen, der wollte einfach wem erzählen, was er gesehn hat. Warum interessiert dich das?« Make sah mich misstrauisch an.
»Wie oft hast du dich mit Armi getroffen?«
»Was soll denn das jetzt? Kimmo hat sie bestimmt nicht umgebracht, weil er eifersüchtig auf mich war! Armi hat sich doch einen Scheißdreck aus mir gemacht, die hält nix von Säufern …«
Make trank einen ordentlichen Schluck aus der Flasche, nahm ein Fünf-Kilo-Gewicht in die linke Hand und stemmte es mechanisch. Die Muskeln an Arm und Schulter schwollen an, je mehr Blut hineingepumpt wurde. Beim Anblick der violett pulsierenden Adern auf der Schulter musste ich plötzlich an Armis bläulich rotes, aufgedunsenes Gesicht denken.
»Der linke Schultermuskel ist ein bisschen schwächer als der rechte. Lohnt sich, mit so ’ner kleinen Hantel zu trainieren. Wir haben übrigens die Rudergeräte bald im Angebot, brauchste nicht eins? Die sind praktisch …«
»Make, hör zu!«, unterbrach ich ihn gequält. »Du hast dich in letzter Zeit mit Armi getroffen. Hast du sie gestern gesehen? Hat sie dich angerufen?«
»Getroffen? Ich hab sie manchmal besucht, nur zum Reden. Sie hat mir selbst gebackenen Kuchen serviert und versucht, mich zu trösten. Sonst konnt’ ich ja mit keinem reden … über Sanna …« Make wandte das Gesicht ab, aber ich sah an seinen Halsmuskeln, wie heftig er schluckte. »Der ganze Scheiß war meine Schuld«, erklärte er den Pappeln vor dem Fenster.
»Armis Tod?«, fragte ich aufgeregt.
»Armis? Nee, Sannas … Warum hab ich bloß nicht begriffen, dass sie diesmal keine Witze macht?« Make rückte ganz dicht an mich heran und machte keine Anstalten mehr, seine Tränen zu verbergen. »Das verzeih ich mir nie, und wenn ich hundert Jahre alt werde. Auch wenn Armi gesagt hat, es wär nicht meine Schuld.«
Ich konnte beinahe hören, wie Armi beruhigend auf ihn einsprach, in ihrer Wohnung, wo es nach frisch gebackenem Kuchen duftet. Hellström hatte von echter Anteilnahme gesprochen. Vielleicht sollte ich mir an Armi ein Beispiel nehmen, statt die trauernden Jammergestalten auch noch unter Druck zu setzen. Nach reiflicher Überlegung entschloss ich mich aber doch, meinen miesen Charakter erst morgen abzulegen, und fragte weiter.
»Du hast mit Armi also über Sanna geredet?«
»Ja, und über die Hänninens im Allgemeinen. Ich glaub, Armi hatte ziemlich Schiss vor ihren künftigen Verwandten, Annamari ist bestimmt ’ne ziemlich eklige Schwiegermutter. Mich kann die Olle nicht ausstehen, ich war ihr nicht gut genug für ihre Sanna, bloß ein mickriger Industriekaufmann. Die hätte mich fast in den Knast gebracht wegen Sannas Tod. Armi war von allen die Einzige, die mir überhaupt nix vorgeworfen hat. Am Freitag hat sie mir noch gesagt, ich soll nicht mehr traurig sein, Sanna hätte mich wirklich geliebt, und an ihrem Tod wären ganz andere schuld. Zum Beispiel Sannas Mutter, die verdammte Zicke! Die hat mir am Freitag mit Tränen in den Augen was von Versöhnung vorgefaselt, dabei hat sie sich kein Stück um Sanna gekümmert, als die noch lebte …« Make wischte sich am Handrücken die Nase ab und nahm einen Schluck aus seiner Flasche.
»Du warst nicht in Armi verliebt?«
»In Armi … Ich glaub nicht, dass ich nochmal jemanden lieben kann, nach Sanna«, schnaubte Make. »Was stellst du überhaupt für Fragen, bist du doch bei den Polypen?«
»Kimmo hat mich gebeten, ihn zu verteidigen. Ich such Beweise für seine Unschuld.«
»Von Beweisen weiß ich nix. Vielleicht war er wirklich eifersüchtig auf mich, die besten Freunde sind wir jedenfalls nicht. Wie ist Armi eigentlich umgebracht worden? Wenn sie unter irgendeiner Gummikapuze erstickt ist, dann setz ich nämlich auf Kimmo als Mörder. Seine schönste Sexphantasie ist, sich so ein Gummidings über den Kopf zu ziehen, bis er keine Luft mehr kriegt.«
Es durchfuhr mich eiskalt. Schon wieder ein Punkt für die Gegenseite.
»Du scheinst über Kimmos sexuelle Neigungen ja ziemlich gut Bescheid zu wissen. Woher?«
»Sanna hat mir davon erzählt«, sagte Make, ohne mich anzusehen. »Die waren doch alle beide Masochisten. Sanna hat’s bloß viel härter getrieben als Kimmo. Ich war bestimmt der Erste von ihren Lovern, der sie nicht verprügelt hat. Ich hab sie nicht geschlagen, obwohl sie es wollte, verflucht nochmal …«
Er trank den letzten Rest aus der Flasche. »Und Kimmo ist genauso masochistisch, der ist sogar mit Sanna in irgend so einen Klub gegangen, hinter Armis Rücken. Kimmo härmt sich, wenn Härmchen davon erfährt, hat Sanna gesagt. Sie hat Armi Härmchen genannt. Andauernd hat sie ihren Namen verdreht. O Harm und Leid, Härmchen kann nicht kommen …«
Make holte sich das dritte Bier aus der Küche. Sein weinerliches Selbstmitleid ging mir allmählich auf die Nerven. Mochte er alleine saufen, ich fuhr jetzt am besten zu Mallu.
»Du, bleib doch noch«, bat Make, als ich vom Rudergerät aufstand.
»Ich muss los, hab noch zu arbeiten. Sauf in der Kneipe weiter. Quatsch, ich meine, hast du nicht schon genug getrunken?«
»Ich komm schon klar«, schnaubte er, schwenkte die Flasche und lächelte gezwungen.
Es fiel mir irgendwie schwer, ihm das zu glauben.
Ich fuhr an den Sportanlagen vorbei nach Tonttukumpu. Ein Fasanenpaar rannte über den Fahrradweg, ich hatte Lust, ihm nachzujagen wie Einstein, der vor ein paar Wochen einen Fasan gezwungen hatte, in einen Baum zu fliegen. Dort hatte der Vogel dann mindestens eine Stunde lang gehockt und beleidigt geschrien. Entlang der Fernwärmeleitung blühte Löwenzahn. Am liebsten hätte ich die Arbeit Arbeit sein lassen, wäre vom Fahrrad gestiegen und über die Wiese gelaufen, um nach interessanten Pflanzen zu suchen. Da drüben wuchs zum Beispiel Sternkraut. Ich musste an meinen Exfreund Harri denken, der mir beigebracht hatte, die häufigsten Pflanzen und Vögel zu erkennen. Fast hatte ich vergessen, dass ich mal mit jemand anderem zusammen war als mit Antti. Neun Monate sind eine lange Zeit, genug, um sich an einen Menschen zu gewöhnen. Man kann sich gar nicht mehr vorstellen, wieder allein zu leben. Dabei war ich gern allein. Bevor ich morgens meinen Kaffee getrunken hatte, war ich kaum ansprechbar, und ich hasste es nach wie vor, angemotzt zu werden, wenn ich nach Feierabend in voller Lautstärke Musik von Popeda hörte. Aber Antti hatte Verständnis dafür, er wollte selbst oft genug in Ruhe gelassen werden.
Die verwilderte Wiese reichte bis an die Tennishalle und den Parkplatz. Wenn die Eishockeyfans sich durchsetzten, gab es sie bald gar nicht mehr, stattdessen sollte hier eine neue Eissporthalle mit Hunderten von Parkplätzen entstehen. Dem Vernehmen nach nahm das Hickhack um die Halle die Stadtverordnetenversammlung völlig in Anspruch. Über Nebensächlichkeiten wie die Einsparungen im Sozialbereich sprach keiner mehr.
Ich traf Mallu nicht an, vermutlich war sie bei ihren Eltern in Lippajärvi. Eine Telefonzelle war nirgends zu sehen, außerdem knurrte mir trotz Ekis Hefezopf der Magen. Also beschloss ich kurzerhand, nach Itäranta zu fahren. Vielleicht war Antti ja inzwischen ansprechbar. Unterwegs legte ich mir genau zurecht, was ich sagen wollte. Zum Glück brauchte ich Antti nicht bei der Arbeit zu stören, er saß lesend im Garten.
»Hallo, Antti. Ich hab’s doch geschafft, zwischendurch nach Hause zu kommen. Können wir jetzt reden?«
»Hmm«, brummte er hinter seinem Buch.
»Ich weiß, wie Armis Tod dich aufgewühlt hat, aber ich bin doch daran nicht schuld. Ich bin gebeten worden, Kimmo zu helfen, der ziemlich in der Klemme steckt, und deshalb muss ich Fragen stellen, auch wenn sie unangenehm sind.«
Das alles klang eher nach einem Lehrbuch für zwischenmenschliche Beziehungen als nach mir selbst. Trotzdem redete ich weiter.
»Ich möchte dich gern trösten, aber dazu musst du mich an dich ranlassen. Ich bin ja auch traurig, obwohl ich Armi nicht gekannt habe. Ich …«
Antti fing plötzlich an, heftig zu zucken, er wurde von Lachen und Weinen zugleich geschüttelt. Nach einer Weile setzte sich das Lachen durch, ein hysterisches Gelächter, das er nicht mehr stoppen konnte.
»Hör auf!«
Da mein Brüllen nichts nützte, nahm ich das Wasserglas, das neben Antti stand, und kippte es ihm über den Kopf. Zum Glück wirkte die kalte Dusche, ich brauchte ihm nicht auch noch ins Gesicht zu schlagen.
»Hoho«, lachte er, schüttelte heftig den Kopf und zog mich neben sich auf den Rasen. »Ich war ganz sicher, dass du wahnsinnig wütend auf mich bist, und hatte mir auch so eine affige Rede zurechtgelegt wie du. Zum Glück warst du schneller. Wie geht’s Kimmo?«
Erleichtert berichtete ich ihm über die jüngsten Ereignisse und erwähnte nebenbei, dass ich private Ermittlungen anstellen wollte.
»Könnten wir jetzt mal über diese Leute reden? Du kennst sie alle viel besser als ich.«
»Darf ich dein Watson sein?«
»Watson muss seinen Holmes über alles bewundern, die Rolle steht dir nicht, obwohl du ansonsten blöd genug wärst. Tommy und Tuppence passt auch nicht. Wir sind eben wir. Komm, lass uns was kochen. Dabei kannst du mir von Sannas Tod erzählen.«
Antti hatte das Einkaufen vergessen, aber in den Schränken fand ich Nudeln und Konserven, aus denen sich eine Soße zubereiten ließ. Ich war es gewohnt, aus den Zutaten, die ich im hintersten Winkel meines Küchenschranks aufstöberte, die abenteuerlichsten Pastasoßen zu kreieren. Mein Rekord war wohl die Pfefferschmelzkäse-Erdnussbutter-Soße. Die hatte gar nicht mal schlecht geschmeckt. Diesmal ging es konventioneller zu, ich mischte Käse, Zwiebeln, schwarzen Pfeffer und Basilikum unter den Inhalt einer Dose Tomaten.
»Was willst du denn über Sannas Tod wissen?«, fragte Antti, während er drei Möhren raspelte.
»Die ganze Geschichte, so wie du sie einem Fremden erzählen würdest, der noch nie von Sanna gehört hat.«
Und Antti erzählte. Von Sanna, die am treffendsten mit dem Adjektiv selbstzerstörerisch zu charakterisieren war. Von Sanna, die eigentlich alles hatte, was man sich wünschen kann. Eine gute Familie, der Vater Diplomingenieur, die Mutter Lehrerin, der Stiefbruder glücklich verheiratet, der nette kleine Bruder Student an der Technischen Hochschule, in den Fußstapfen des Vaters …
Sanna war schön. Ihre großen Augen waren braun wie trockene Eichenblätter, die langen Haare fast kohlrabenschwarz. Die Haut bleich von der ungesunden Lebensweise, aber sonst makellos, außer an den Stellen, an denen Sanna sich Schnitte oder Brandwunden zugefügt hatte. Eine kleine Nase, ein großer, sinnlicher Mund, um den sie sogar BB beneidet hätte. Schlank, mit großen Brüsten. Erotische Ausstrahlung gepaart mit Unsicherheit.
Überdies war Sanna begabt. Ein Einser-Abitur an einer Provinzschule bedeutete zwar nicht viel, die Zulassung zum Französisch- und Englischstudium in Helsinki aber schon. Bei Hänninens trat die Tochter in die Fußstapfen der Mutter, genau wie es in unserer Familie meine Schwestern getan hatten. Doch während des Studiums wurde Sanna in andere Dinge hineingezogen: immer mehr Alkohol, Drogen, prügelnde Männer, teils echte Kriminelle. Ein paar Abtreibungen, dann eine Anklage wegen Trunkenheit am Steuer, bei der sie gerade noch mit einer Geldstrafe davonkam.
»Zum Schluss haben Annamari und Henrik sich verhalten, als ob Sanna gar nicht existierte. Ihre Tochter war nicht mehr präsentabel. Geld haben sie ihr zwar noch gegeben, aber sonst haben sie sich nicht mehr um sie gekümmert. Henrik ist ja immer viel unterwegs gewesen, und Annamari hatte nur ab und zu mal einen Anfall von Anhänglichkeit«, fuhr Antti fort.
»Bei ihrem ersten Selbstmordversuch war Kimmo gerade in der Armee. Die Hänninens wurden dadurch schon ein bisschen aufgerüttelt, und das war es ja, was Sanna erreichen wollte. Wir alle haben uns danach große Mühe gegeben, haben sie zu unseren Feten eingeladen und so weiter. Aber sie hat sich auf sämtlichen Partys sofort sinnlos betrunken und dann rumgetobt. Einmal hab ich sie vom Turm des Wärmekraftwerks in Tapiola runterholen müssen. Wenn sie nüchtern war, hat sie viel gelesen und geschrieben, zwischendurch fleißig studiert, aber sie ist immer wieder versumpft.«
Als Make auf der Bildfläche erschien, im Herbst vor Sannas Tod, ging es ihr eine Weile besser, wie immer, wenn ein neuer Mann in ihr Leben trat. Make war anständiger als seine Vorgänger, er stand erst am Anfang seiner Säuferkarriere. Sanna glaubte, sie hätte den Mann ihres Lebens gefunden. Und das musste jeden Abend begossen werden.
An ihrem dreißigsten Geburtstag wollte sie mit Make an der Mole in Westend eine Flasche Wodka leeren. Es war ein milder Winter gewesen, das Meer war eisfrei. Make schlief irgendwann am Strand ein, und Sanna war durch das flache Wasser am Ufer immer weiter ins Meer gewatet. Es war ein Mittwochabend im März vor einem Jahr, der Strand lag leer und verlassen da. Ein Mann, der seinen Hund ausführte, hatte Make gefunden und die Polizei alarmiert, aber erst in der Ausnüchterungszelle hatte der halb erfroren aus seinem Rausch erwachende Make sich gefragt, was eigentlich aus Sanna geworden war.
Ihre Leiche war am nächsten Tag angespült worden. Auf ihrem Schreibtisch, zwischen einem Totenschädel und einer schwarzen Kerze, hatte ein Buch gelegen, aufgeschlagen bei einem von Sannas Lieblingsgedichten, in dem sie viele Stellen unterstrichen hatte: »Lady Lazarus« von Sylvia Plath. Die Zeilen »And I a smiling woman. I am only thirty. And like the cat I have nine times to die« waren für Antti und Kimmo der Beweis, dass Sanna sich das Leben genommen hatte. Der Obduktion zufolge hatte sie unter dem Einfluss von Alkohol und Beruhigungsmitteln gestanden, weshalb die Polizei ihren Tod als Unglücksfall behandelte.
»Es war also nichts faul an der Sache?«
»Annamari wollte Make wegen unterlassener Hilfeleistung anzeigen, aber Eki Henttonen und Henrik haben sie davon abbringen können. Das hätte doch keinem was genützt. Make hat Sanna nicht ins Wasser geschubst, die ist selber gegangen. Freiwillig.« Antti nahm ein Stück Brot und tunkte den letzten Rest der Spaghettisoße auf. »Irgendwie hab ich das Gefühl, dass rund um die Hänninens ständig Tragödien passieren. Erst Sanna. Dann Mallus Fehlgeburt, nach jahrelangem Hoffen auf ein Baby, schließlich die Trennung von ihrem Mann. Und jetzt Armi und Kimmo …«
»Fehlgeburt und Trennung? Erzähl mal von Mallu.«
»Ich weiß nicht viel von ihr. Armis Schwester. Arbeitslose Bauzeichnerin. Verheiratet mit Teemu Laaksonen, ich glaub, er ist Techniker. Nach dem, was Armi erzählt hat, hatten sie Probleme mit dem Kinderkriegen, aber letzten November hat’s endlich geklappt, und im März hatte Mallu dann die Fehlgeburt. Jetzt ist Laaksonen aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen.« Antti verzog das Gesicht. »Klingt furchtbar, aber das ist eine ganz normale Geschichte. Das Leben geht ganz einfach daneben.«
»Harm und Leid«, sagte ich, ohne weiter darüber nachzudenken. Wir prusteten los, obwohl mir eigentlich gar nicht danach zumute war. Aber es tat gut, mit Antti zu lachen.
Wenn ich mir in der Kanzlei den Honda holte, überlegte ich mir, würde ich es noch schaffen, die Familie Mäenpää zu besuchen. Also rief ich in Lippajärvi an, und nach einigem Sträuben war Armis Vater endlich bereit, mich zu empfangen. So ungern ich die armen Leute in ihrer Trauer behelligte, es musste sein. Schließlich kannten sie Armi am besten.