Er zog sein Jackett aus und hängte es über die Stuhllehne. Verräterische Make-

up-Spuren würden so nicht zu finden sein. Sein Hemd würde vermutlich ein paar

Flecken bekommen, aber die konnte er mit der Jacke verdecken. Zurück im Hotel

konnte er das Hemd wegwerfen. Als letzte Vorsichtsmaßnahme holte er sein

Taschentuch aus der Jacke und steckte es sich in die Hosentasche. Die Erregung

pulsierte durch seinen Körper, während er vor ihr stand und den engen Schlauch

ihres Kleides bis zur Taille hochschob. Sie trug, wie er es erwartet hatte, keinerlei

Unterwäsche. Er hob sie auf den Schreibtisch, und sie lehnte sich zurück, bis sie

ganz auf der polierten Oberfläche lag. Ihnen war beiden bewusst, was sie hier

machten. Mit Liebe jedenfalls hatte es nichts zu tun. Sie schützte keinerlei

romantischen Gefühle vor, noch erwartete sie ein Vorspiel. Dies hier war Sex

pur, ein Spiel der Körper. Sie hatte jedoch das Ausmaß des Spiels weder erkannt,

noch ahnte sie, dass sie es nicht überleben würde.

Er öffnete seine Hose, platzierte sich zwischen ihre geöffneten Schenkel und

drang glatt und tief in sie ein, so dass sie vor Wonne stöhnte. Gut, dachte er, als

er sie zu stoßen begann. Es wäre schön, wenn sie ihr letztes Mal genießen

könnte.

Callas langes Haar war auf dem Tisch ausgebreitet. Parrish schloss die Augen

und dachte an Grace und an ihren sinnlichen Mund. Er stellte sich vor, dass die

ihn umschließende Wärme die von Grace sei, und pumpte weiter in sie hinein.

Auch sie würde hinterher sterben müssen. Vielleicht nicht sofort, vielleicht würde

er noch ein Weilchen mit ihr spielen.

Calla keuchte und bäumte sich auf. Die Reaktion erschien ihm ein wenig zu

theatralisch, und er betrachtete sie aufmerksam. Ihre Augen waren halb

geschlossen, ihr Kopf nach hinten gebogen, ihre Lippen geöffnet und feucht. Sie

gab ein herrliches Bild ab, und ein herrlich falsches dazu. Verflucht, sie täuschte

ihm etwas vor, um seinem Ego zu schmeicheln. Vermutlich täuschte sie es bei all

ihren reichen Liebhabern vor, wand sich und stöhnte, so dass sie glaubten, sie

seien ganz tolle Hechte, während sie innerlich lachte und außer Verachtung für

die Männer, die sich vom Sex so manipulieren ließen, gar nichts empfand.

Diesmal jedoch würde sie damit nicht durchkommen. Er zog einen ihrer Schuhe

aus, legte die Hand zwischen ihre Körper und rieb mit dem Daumen immer

wieder über ihre Klitoris. Sie stöhnte erneut auf und wollte sich von ihm

wegwinden. Parrish riss sie zurück und drang bis zum Anschlag in sie ein, wobei

er sie weiter streichelte. »Was ist denn? « neckte er sie leise. Seine Stimme kam

in den gleichen rhythmischen Stößen, die er ihr versetzte. »Sag jetzt nur nicht,

dass du es mir lieber vorspielst, als dass du wirklich kommst. Kannst du dich

dann nicht mehr überlegen fühlen, wenn du es genießt, genommen zu werden? «

»Mistkerl«, zischte sie ihn an und grub ihre Fingernägel in seine Ärmel. Ihr Atem

ging schneller, ihre wütenden Augen funkelten ihn in der Dunkelheit an.

»Dir gefällt es, Macht über Männer auszuüben, nicht wahr? Du aalst dich in der

Gewissheit, dass du sie in ein paar keuchende Wilde verwandeln kannst. Sind

deine Knospen deswegen so steif, oder täuschst du auch das vor und kneifst sie,

wenn dich gerade niemand beobachtet? «

Das Leuchten ihrer Augen war fast ebenso funkelnd wie das ihrer Juwelen. »Ich

kneife sie. Oder glaubst du etwa, dass ein Mann mich anmachen könnte? «

»Was macht dich denn an? Frauen? « Er behielt seinen Rhythmus bei und ließ

seinen Daumen ununterbrochen kreisen, während er in sie stieß. Ihr Widerstand

war viel erregender, als es ihre Bereitwilligkeit gewesen war. Wenn sie nicht

oberflächlich betrachtet Grace ähnlich gesehen hätte, dann hätte er sie gleich

über Bord katapultiert, ohne vorher noch mit ihr zu schlafen. Aber ihr Gift und

ihre Verachtung gefielen ihm. Das jedenfalls täuschte sie nicht vor.

»Das würde deinem Ego gut tun, nicht wahr, wenn ich lesbisch wäre? Kein

Wunder, dass du mich nicht erregen konntest, denn ich hasse Männer! Pech

gehabt! « höhnte sie. »Ich befriedige mich selbst viel besser, als es ein Mann je

tun könnte. «

»Bis heute stimmt das. « Er grinste zufrieden, als er spürte, wie feucht sie

geworden war. Ihre Atem keuchte, ihre Knospen standen aufrecht, ohne dass

man sie hätte berühren müssen. Er erkannte die Zeichen und drang noch

heftiger und tiefer in sie ein. Mit einem erstickten Aufschrei begann sie zu

kommen. Triumphierend ritt er sie bis zum Höhepunkt, kurz danach spürte er

seinen eigenen Höhepunkt in sich aufsteigen. Er holte das Taschentuch aus der

Tasche, zog sich aus ihr zurück und ergoss sich auf das seidene Dreieck, womit

er die normalerweise ihr zugedachte Rolle Männern gegenüber zynisch umkehrte.

Lässig faltete Parrish sein Taschentuch zusammen und steckte es in seine Hose

zurück, um es später an einem sicheren Ort wegzuwerfen. Er strich seine

Kleidung glatt, zog den Reißverschluss zu und half ihr vom Tisch herunter. Sie

stand regungslos, während er ihr Kleid wieder in den alten Zustand versetzte.

»Sei nicht eingeschnappt«, meinte er. »Es steht dir nicht. Du solltest lernen,

meine Liebe, ein besserer Verlierer zu werden. Und die Männer besser

einschätzen lernen, mit denen du deine Machtspielchen treibst. Denn dieses Mal,

fürchte ich, hast du die Situation ganz und gar verkannt. «

Sie starrte ihn an, unwillig, ihn irgendeinen Sieg davontragen zu lassen. Dann

bückte sie sich, um ihren Schuh anzuziehen. Parrish hielt sie mit einer Hand am

Ellenbogen fest. »Noch nicht«, sagte er lächelnd und versetzte ihr einen

Kinnhaken.

Erwartungsgemäß sank sie nach vorn, und er hob sie in seine Arme. Sie war

nicht bewusstlos, nur erstaunt und sah ihn verblüfft an, während er sie auf den

Balkon hinaustrug. »Ich würde mich ja für den kleinen blauen Fleck

entschuldigen wollen, den du bekommen wirst«, sagte er und stellte sie auf die

bauchhohe Mauer. »Aber glaube mir, meine Liebe, es wird ohnehin keiner

bemerken. « Dann bückte er sich, ergriff ihre Fußgelenke und warf sie hinunter.

Sie gab keinerlei Schreie von sich, und wenn sie es hätte tun wollen, so hätte

ihre Angst sie im Keim erstickt. Parrish blieb nicht länger stehen. Schließlich

würde sie aus dem sechsundfünfzigsten Stockwerk ein paar Sekunden brauchen,

bis sie auf der Straße aufprallte. Er ging in das Zimmer zurück, hob ihren Schuh

auf und trat wieder auf den Balkon. Sich bückend, drückte er den Schuh so lange

gegen den polierten Marmor, bis der hohe, scharfe Absatz abbrach. Er dachte

kurz darüber nach, ob er den Schuh auch noch hinunterwerfen sollte. Aber es

könnte jemandem auffallen, dass er erst einige Sekunden später als sein Träger

auf der Straße landete, also ließ er ihn einfach auf dem Marmor liegen. Jetzt

musste er nur noch seine Jacke holen, sich wieder unter die Gäste mischen und

auf die Ankunft der Polizei warten, die Skip die Nachricht überbringen würde,

dass sich seine Frau vom Balkon gestürzt hatte. Bis das geschehen würde, würde

man sich nicht mehr so genau erinnern, wann er wieder zurückgekommen war,

wobei der Umstand, dass seit mehr als einer Stunde Wein und Cocktails

ausgegeben wurden, sicherlich hilfreich wirkte.

Der einzige Wermutstropfen war, dass er sein Taschentuch hatte beschmutzen

müssen.

Kapitel 10

Die gälische Sprache war wirklich eine Herausforderung. Grace hatte bereits zwei

Wochen mit dem auf gälisch abgefassten Teil verbracht, war aber immer noch

nicht sehr weit damit gekommen. Die Sprache war in ihren

Computerprogrammen nicht vorhanden, sie hatte also keinerlei elektronische

Hilfe bei der Entzifferung der Krakelschrift. Wer auch immer die Kopien gemacht

hatte, hatte den Hintergrund dunkel gestaltet, um so die Buchstaben deutlicher

hervortreten zu lassen. Das hatte sich als vergebliche Mühe erwiesen. Sie konnte

die abgerissenen Ecken an den gälischen Blättern erkennen. Sie hatten demnach

ihre jahrhundertelange Lagerung nicht so gut wie die lateinischen Teile

überstanden. Vielleicht war das Papier ja von minderer Qualität gewesen, oder es

war irgendwann einmal feucht geworden. Aber selbst eine gute Kopie wäre keine

große Hilfe gewesen. Sie hatte sich ein gälisch-englisches Lexikon gekauft und

einige Bücher über die gälische Aussprache, die ihr mit der Syntax helfen

würden. Sie hatte jedoch nichts auftreiben können, das ihr mit dem Idiom dieser

Sprache im vierzehnten Jahrhundert weitergeholfen hätte. Sie war vollkommen

entnervt. Die gälische Sprache verfügte über lediglich achtzehn Buchstaben, aber

die Schotten und die Iren hatten sich von dieser Einschränkung freigemacht und

die Rechtschreibung äußerst freizügig gehandhabt. Erschwerend kamen die

archaischen Handschriften und die eigenwillige Wortwahl hinzu. Sie brauchte

doppelt so lange, um einen einzigen Satz auf gälisch zu übersetzen wie eine

ganze Seite auf altenglisch oder lateinisch.

Trotz aller Schwierigkeiten jedoch konnte sie einige Sätze entziffern, die dann

auch einen Sinn ergaben. Der gälische Teil befasste sich mit einem gewissen

Schwarzen Niall, einem Abtrünnigen aus dem schottischen Hochland. Obwohl der

Zusammenhang mit den anderen Dokumenten die Schlussfolgerung nahe legte,

ging Grace doch nicht automatisch davon aus, dass es sich hier um denselben

Mann wie um Niall von Schottland handelte. Sie kannte bereits das Phänomen,

dass ein und derselbe Name unterschiedlich geschrieben wurde, also war es

umgekehrt auch möglich, dass es sich bei gleicher Schreibweise um

unterschiedliche Leute handelte. Schließlich hatte es in Schottland viele

Menschen namens Niall gegeben. Ihr Niall aber war der Niall von Schottland und

von königlichem Blut. Welche Verbindung aber konnte jemand aus dem

königlichen Geschlecht mit einem Abtrünnigen im Hochland haben? Diese

Dokumente unterschieden sich von den anderen, sie hatten eine andere

Handschrift und waren auf einem anderen Papier festgehalten. Vielleicht hatte

man sie ja auch nur versehentlich oder lediglich aufgrund des Namens mit den

anderen vermischt.

Der Schwarze Niall war aber dennoch ein sehr unterhaltsamer Rabauke. Sie

verbrachte fast ihre gesamte Freizeit mit der Entzifferung der Dokumente. Den

Rest ihrer »Mußestunden« verbrachte sie mit einem von Harmonys »wirklich

ekelhaften kleinen Ludern«, einem gewissen Matteo Boyatzis, einem

zartgebauten jungen Mann polnischer und mexikanischer Herkunft. Matty kannte

mehr gemeine Tricks als ein Politiker. Als Gefälligkeit gegenüber Harmony hatte

er sich bereit erklärt, »Julia« ein paar Verteidigungstaktiken beizubringen. Grace

jedoch gab sich keinerlei Illusionen über ihre langsamen Fortschritte hin. Aus ihr

würde wohl nie ein wirklicher Profi werden. Sie hoffte allerdings, die Taktik des

Überraschungsangriffs zu erlernen, um sich und ihre Dokumente zu schützen.

Eigentlich sollte sie sich darüber gar keine Sorgen machen, dachte sie und rieb

sich die Augen. Stundenlanges Lesen unverständlicher Rechtschreibung und

merkwürdiger Betonungen hatte sie so verrückt gemacht, dass sie jeden

Augenblick irre werden konnte. Dann wäre ohnehin gleichgültig, was danach

geschah.

Um sich eine Pause zu gönnen, legte sie die gälischen Papiere beiseite, schaltete

ihren Computer an und fuhr mit dem Cursor bis zu einem Text auf altfranzösisch.

Die Dokumente waren nicht chronologisch geordnet. Die Geschichte

zusammenzufügen war so, als ob man ein Puzzle aus vielen verschiedenen

Altsprachen zusammensetzte. Sofort fiel ihr Blick auf den Namen. Sie war so

darauf fixiert, dass sie das gewohnte Schriftbild schon bemerkt hatte, noch ehe

sie es klar vor Augen hatte. Schwarzer Niall.

»Ist ja wohl nicht möglich«, murmelte sie und lehnte sich vor. Es schien

tatsächlich so, als ob der Schwarze Niall und Niall von Schottland ein und

dieselbe Person gewesen waren. Warum sonst sollten französische Dokumente

sich mit einem fragwürdigen Schotten beschäftigen, außer eben, dass er gar

nicht so sonderlich fragwürdig war? Ein Mitglied des Tempelordens von

königlichem Blut, der aus dem Orden ausgeschlossen wurde und dem der Tod

drohte, sollte er sich jemals aus Schottland fortwagen. In der Obhut dieses

Mannes lag der Schatz - möglicherweise war das etwas abwegig, aber sicherlich

nicht unwichtig. Es hatte damals Leute gegeben, vielleicht ehemalige

Ordensmitglieder, die wussten, wer und was der Schwarze Niall war, und die

seinen Aufenthaltsort vermerkten. Aber königlich? In der Bibliothek von

Newberry hatte sie sich wieder und wieder die Stammbäume angesehen, ein Niall

war in jener Zeitspanne jedoch nicht verzeichnet. »Wer warst du? « flüsterte sie,

als ob sie die Seele eines Mannes berühren könnte, der bereits seit

Jahrhunderten tot war. Sie war sich ihrer blühenden Phantasie wohl bewusst, das

Gefühl einer tatsächlichen Verbindung beruhigte sie jedoch. Keinen ließ sie zu

nah an sich heran, noch nicht einmal Harmony, aber mit dem Mann, der in ihren

Träumen erschien, schien es keine Grenzen zu geben. Mit ihm musste sie nicht

vorsichtig sein, ihm gegenüber musste sie ihre Identität nicht verbergen und sich

nicht tarnen.

Die Dokumente waren ein weiterer Beweis seiner Taten. Er hatte eine

Räuberbande aufgespürt und sie vernichtet. Kein Mann hatte den Angriff

überlebt. Niall war offensichtlich sehr um den Schutz seiner Festung bemüht.

Jeglicher Bedrohung begegnete er schnell und unbarmherzig. In den gälischen

Dokumenten wurde er als Abtrünniger bezeichnet, als ein Mann, der gewaltsam

eine abgelegene Burg in den westlichen Highlands eroberte und sie, ohne einen

Anspruch darauf zu haben, ebenso gewaltsam verteidigte. Konnte denn ein

Mitglied der königlichen Familie gleichzeitig ein Abtrünniger sein? Wenn er

tatsächlich so vollkommen aus der Familie ausgestoßen worden war, dass jede

Erwähnung seines Namens aus allen Dokumenten verbannt wurde, hätte dann

einer vom Schlage Roberts der Bruce eine solche Unverschämtheit innerhalb

seines eigenen Landes toleriert?

Vermutlich würde sie in den gälischen Dokumenten Aufschluss darüber finden,

aber ihr Gehirn konnte heute nichts mehr aufnehmen. Sie legte die

altfranzösischen Dokumente beiseite und suchte sich die in altem englisch

hervor.

Wieder sprang ihr der Name von der Seite entgegen: der Schwarze Niall, ein

rücksichtsloser schottischer Krieger, der im gesamten Hochland gefürchtet war.

Seine Hochburg, Creag Dhu, war vollkommen abgeriegelt. Nur einmal gelang es

einer »Dirne mit einer üblen List« die Burg zu betreten. Grace schmunzelte.

Natürlich hatte eine Frau das schier Unmögliche nicht schaffen können, ohne eine

»üble List« anzuwenden.

»Sie hat dich reingelegt, nicht wahr, mein Junge? « murmelte sie Niall zu.

Lächelnd stellte sie sich seinen ungläubigen Gesichtsausdruck vor, als er erfuhr,

dass die Abwehr seiner Festung von einer einzelnen Frau durchbrochen worden

war. Sicherlich hatte er einen schrecklichen Wutanfall bekommen, so dass sich

sogar seine eigenen Wachposten vor ihm versteckten. Grace verzog unwirsch das

Gesicht, als sie sich ihrer überbordenden Phantasie bewusst wurde. Sie mochte

von ihm träumen, und er mochte ihr so wirklich erscheinen, dass sie glaubte, sie

könne ihn sehen. Tatsächlich aber war er bereits sechshundert Jahre vor ihrer

Geburt zu Staub verfallen. Grace erfuhr aus dem Text, dass Niall die Frau

gefangen genommen hatte, so dass die List ihr, außer vielleicht seiner

Aufmerksamkeit, nicht viel gebracht hatte. Vielleicht hatte die Frau ja auch nur

genau das bezwecken wollen. Die Dokumente erwähnten nicht, was er mit ihr

nach ihrer Gefangennahme gemacht hatte. Er wird sie mit in sein Bett

genommen haben, dachte Grace. Er war ein sehr lustbetonter Mann gewesen,

der sich schlecht für das Klosterleben geeignet hatte.

Ein weiterer Eintrag begann mit den Worten: »Der Schwarze Niall, ein

MacRobert... « Grace richtete sich steil auf. Plötzlich fügte sich alles zu einem

Ganzen zusammen. Niel Robertsoune, ein Sohn von Robert und ein

herausragender Krieger in einem Orden, der für seine Krieger berühmt war. Niall

MacRobert, wiederum ein Sohn von Robert und noch dazu ein so herausragender

Krieger, dass seine Burg von niemandem eingenommen wurde - mit Ausnahme

einer ungenannten wagemutigen Dame. »Ein Schotte königlichen Blutes... ein

Sohn von Robert« - ein Sohn von Robert dem Bruce?

Vollkommen elektrisiert verglich sie die Daten und sank enttäuscht zusammen.

Sie konnte das Alter vom Schwarzen Niall nur raten, da sie weder sein Geburts-

noch sein Sterbedatum kannte. Aber er war bereits erwachsen gewesen, als man

den Orden im Jahre 1307 zwangsweise geschlossen hatte. König Robert I. von

Schottland, der berühmteste der Bruces, war zu jung gewesen, um Nialls Vater

sein zu können. Grace ging noch einmal ihre Aufzeichnungen über den

königlichen Stammbaum Schottlands durch. Der Vater von Robert dem Bruce,

ein gewisser Graf von Carrick, hatte auch Robert geheißen.

War der Schwarze Niall etwa der Bruder von Robert dem Bruce? Wie das denn?

Roberts vier Brüder, Edward, Nigel, Thomas und Alexander, waren alle gut

dokumentiert, denn sie hatten Seite an Seite mit ihrem Bruder und König

gekämpft, um die Engländer aus Schottland zu vertreiben. Die einzige

Möglichkeit, wie Niall einerseits verwandt und andererseits abtrünnig sein

konnte, war die, dass er ein uneheliches Kind war.

»So muss es gewesen sein«, sagte Grace und lehnte sich heftig atmend zurück.

Die Bedeutung dieser Feststellung und der sich daraus ergebenden Möglichkeiten

ließen sie nicht stillsitzen. Sie sprang auf und rannte in ihrem engen Zimmer auf

und ab, während sie die vielen Details überdachte und das Puzzle sich Stück um

Stück zusammenfügte. Ein unehelicher Halbbruder war im Mittelalter nichts

Ungewöhnliches - es sei denn, der eheliche Thronfolger strebte die Thronfolge

an. In Schottland wurden Verwandtschaftsbande seit jeher anders gehandhabt

als im restlichen Europa. Während anderswo Nialls unehelicher Status ihm die

Krone von vornherein verwehrt hätte, stand in Schottland demjenigen die Krone

zu, der die Macht hatte, sie sich auf den Kopf zu setzen. Die kriegerischen

Fähigkeiten der Bruces waren zweifelsohne bemerkenswert gewesen, die von

Niall jedoch mussten außergewöhnlich gewesen sein. Seine bloße Existenz hätte

für Robert eine Bedrohung bedeutet.

Erstaunlich war jedoch, dass man sich dieser Bedrohung nicht dadurch entledigt

hatte, den Schwarzen Niall einfach umzubringen. Daraus ließ sich schließen, dass

er in gewisser Weise geachtet und geschätzt wurde. Später war er dem

Tempelorden beigetreten, vielleicht waren seine Bestrebungen also eher

kirchlicher, denn politischer Art gewesen. Aber nach dem, was sie bisher über

den Schwarzen Niall gelesen hatte, war er ganz und gar nicht von der religiösen

Sorte gewesen. Warum also war er dann dem Orden beigetreten? Abenteuerlust?

Reichtum? Sie konnte die Anziehung dieser Dinge auf Niall nachvollziehen, aber

sein Charakter schien viel zu wild und bodenständig zu sein, als dass er sich

bereitwillig irgendwelchen Einschränkungen unterworfen hätte.

Was auch immer die Beweggründe für seinen Beitritt zum Orden gewesen sein

mochten, die Tatsache, dass er es getan hatte, war für den zukünftigen

schottischen König nur von Vorteil. Der Bruce würde sich keine Sorgen darum

machen müssen, dass ein Mönch den Thron besteigen wollte, denn sein

Keuschheitsgelübde hätte zukünftige Thronfolger ausgeschlossen.

Wenn sie die Dokumente richtig deutete, war sein Keuschheitsgelübde mit dem

Zusammenbruch des Ordens hinfällig geworden. Die Andeutungen hinsichtlich

seines bewegten Liebeslebens waren zwar nicht überdeutlich, aber dennoch

kaum falsch zu interpretieren. Als Mönch jedoch hatte Niall sein Gelübde

gehalten. Nach der Zerstörung des Ordens jedoch hatte er sich dem Leben - und

den Frauen - ganz und gar hingegeben. Aber selbst da war er dem Thronfolger

nicht bedrohlich geworden, denn als ehemaliges Mitglied des Tempelordens

musste er jegliche Öffentlichkeit vermeiden.

Dennoch erklärte es vieles: warum Niall Creag Dhu erobern und besetzen

konnte, ohne dass der König einschritt; auch warum Robert der Bruce der einzige

König in ganz Europa war, der die vom Papst geforderte Todesstrafe gegen die

Ordensbrüder nicht in die Tat umsetzte und warum dessen Land für alle

möglichen Verfolgten ein Zufluchtsort geworden war. Robert hatte sich

geweigert, das Todesurteil für seinen Halbbruder zu unterzeichnen. Es erklärte

auch, warum man Niall mit der Wahrung des Schatzes beauftragt hatte: Die

Ordensvorsteher kannten seine Blutsbande und wussten, dass der Schatz

nirgendwo sicherer als in Schottland sein würde.

Sie atmete tief ein. Das Zimmer um sie herum versank in Dunkelheit, als sie sich

der Bedeutung ihrer Entdeckung klar wurde. Der Schatz. Ford und Bryant hatten

sterben müssen, weil in diesen Dokumenten das Versteck des legendären,

verlorenen Schatzes verborgen war. Creag Dhu.

Geld, nichts als Geld stand dahinter. Sie hatten wegen Geld sterben müssen,

wegen Geld, auf das Parrish Sawyer seine Hand legen wollte. Weil sie die

Dokumente besaß, hatte er entweder angenommen, dass sie und damit auch

Ford und Bryant informiert waren, oder er wollte einfach jedes Wissen darüber

vollkommen auslöschen.

Sie hatte geglaubt, die Trauer sei leichter zu ertragen, wenn sie den Grund

kennen würde.

Das aber sollte sich nun als ein Irrtum erweisen.

Conrad lag im fast Dunkeln auf seinem Bett. Die Stadt war niemals vollkommen

dunkel, und über die kargen Hotelwände huschten bunte Neonfarben. Der

neueste Computerausdruck lag auf seinem Tisch, aber er hatte ihn für den

Augenblick beiseite gelegt. Manche Dinge hob man sich am besten für die Nacht

auf, andere mussten das hektische Tagestreiben abwarten. Die Verzögerung

beunruhigte ihn nicht, denn er war ein geduldiger Mann. Grace würde nirgendwo

hingehen, jedenfalls im Augenblick noch nicht. Irgendwo in dem städtischen

Dschungel war sie untergetaucht. Sie würde so lange bleiben, wie sie sich sicher

fühlte. Sie war eine Gelehrte, sie würde recherchieren. Chicagos Bibliotheken

waren ausgezeichnet. Er war sich ganz sicher, dass sie eine Weile in Chicago

bleiben würde. In dieser Zeit konnte er nach ihr fahnden. Erst wenn er sie an der

Angel hatte, würde sie wissen, wie dicht er ihr die ganze Zeit über auf den

Fersen gewesen war.

Parrish Sawyer hatte jede Menge Männer, die die Straßenzüge durchkämmten,

Conrad jedoch lehnte diese Vorgehensweise ab. Die Leute im Untergrund

beantworteten Fragen ohnehin nicht ehrlich, außerdem hatte Grace sich bereits

mehrmals erfolgreich tarnen können. Inzwischen konnte sie sich den Schädel

rasiert haben und eine schwarze Ledermontur tragen. Sich also auf eine

äußerliche Beschreibung zu verlassen war reine Zeitverschwendung.

Conrad verließ sich lieber auf seine eigenen Methoden. Für ihn stellte sich die

Angelegenheit ganz einfach dar: Wenn jemand untergetaucht war und länger an

einem Ort bleiben wollte, dann musste er oder sie sich irgendeine Art von

Identität zulegen. Manche würden sich einfach einen anderen Namen wählen.

Das funktionierte so lange, wie man weder Kredite noch Führerschein brauchte

noch irgendwo arbeitete, wo eine Sozialversicherungsnummer gefordert war. Auf

lange Sicht war es schlauer, sich eine verbürgte Identität zuzulegen. Und Grace

St. John hatte ihn durch ihre Schlauheit bereits beeindruckt.

Die Vorgehensweise war einfach, erforderte jedoch etwas Zeit. Um eine Identität

nachzuweisen, brauchte man eine Geburtsurkunde. Um eine Geburtsurkunde zu

bekommen, brauchte man einen wirklichen Namen. Den Namen einer lebenden

Person anzunehmen würde die Sache in dem Moment komplizieren, wo die

beiden Identitäten zwangsläufig irgendwann miteinander kollidierten. Am

schlausten war es also, auf einen Friedhof zu gehen und die Grabsteine zu

studieren. Man musste jemanden ungefähr in seinem eigenen Alter finden, der

früh verstorben war. Manchmal standen auch die Namen der Eltern mit auf dem

Grabstein, beispielsweise »Die innig geliebte Tochter von John und Jane Doe«.

Volltreffer. Denn damit hatte man jegliche Information, die für die Ausstellung

einer Geburtsurkunde vonnöten war.

Die Anfrage wegen einer Geburtsurkunde würde an die Landeshauptstadt, in

diesem Fall also nach Springfield gehen. Eine Geburtsurkunde zu bekommen war

relativ einfach, der dazugehörige Ausweis dauerte meist etwa länger. Dann

würde sie sich eine Sozialversicherungsnummer beschaffen müssen, und die

staatlichen Behörden arbeiteten nur langsam. Er hatte also Zeit, sich auf die

Anfragen nach einer Geburtsurkunde zu konzentrieren.

Mit Hilfe der Kontakte der Stiftung hatte es lediglich eines Anrufs bedurft, um in

das staatliche Computersystem von Illinois Einsicht zu nehmen. Die Menge der

Anträge hatte ihn jedoch verblüfft. Es war unglaublich, wie viele Menschen ihre

Existenz bezeugen mussten, sei es nun der Sozialversicherung wegen oder aber

um einen Pass zu beantragen oder aus sonst irgendeinem Grund. Allein die zu

bewältigende Anzahl der Anträge hatte ihn Zeit gekostet. Anträge von Männern

konnte er von vornherein beiseite schieben, aber es gab doch einige Menschen,

deren Name nicht eindeutig auf ihr Geschlecht schließen ließ, beispielsweise der

Name Shelley. Männlich oder weiblich? Und wie stand es mit Lynn oder Marion

oder Terry? Diese Namen musste er weiterhin auf seiner Liste behalten, bis er sie

einer Überprüfung unterzogen hatte. Außerdem kannte er nicht das genaue

Datum, an dem der Antrag gestellt worden war. Das wieder erschwerte die

Angelegenheit zusätzlich. Sie hatte den Antrag unmöglich vor dem Tag stellen

können, als er sie in Eau Claire fast geschnappt hätte. Aber wenn sie nun noch

ein paar Tage gewartet hatte, vielleicht eine Woche, möglicherweise sogar

mehrere Wochen? Diese Unsicherheit brachte noch unzählige weitere Namen aus

allen Teilen des Bundesstaates auf die Liste. Er beschränkte sein Augenmerk auf

Chicago und Umgebung, was nicht sonderlich hilfreich war, denn seiner

Schätzung zufolge lebte etwa ein Viertel der Bevölkerung in oder in der

Umgebung der Großstadt.

So viele Menschen zu überprüfen war zeitaufwendig, und die Liste wurde von Tag

zu Tag länger. Manche der Leute, die einen Antrag gestellt hatten, waren

mittlerweile umgezogen. Er musste ihren Aufenthaltsort herausfinden. Manche

waren sogar in ein anderes Bundesland gezogen. Andere wiederum waren

verreist, aber ehe er sie nicht ausfindig gemacht hatte, konnte er sie nicht von

der Liste streichen. Hinter jedem dieser Namen, auch hinter dem

unwahrscheinlichsten, konnte sich Grace versteckt haben. Sie noch einmal zu

unterschätzen durfte er sich nicht erlauben.

»Mädchen, du siehst ja furchtbar aus«, bemerkte Matty geradeheraus, während

er seinen geschmeidigen Körper von dem zerschlissenen Sofa in seiner Wohnung

entfaltete.

»Vielen Dank auch«, murmelte Grace. Sie war von der nächtelangen Entzifferung

gälischer Texte erschöpft. Ihre Augen waren trocken, die Kräfte hatten sie

verlassen, und sie hatte sich die Hand verbrannt, als sie eine Pfanne zum

Abwaschen hatte hochheben wollen, die eben noch auf dem Feuer gestanden

hatte. Harmony hatte fluchend die Wunde versorgt. Danach hatte sie darauf

bestanden, Grace zu einer weiteren »Unterrichtsstunde« bei Matty zu begleiten,

damit ihr wenigstens nicht noch etwas zustieße.

»Nur noch Haut und Knochen«, bemerkte Harmony unwirsch. »Ganz gleich, was

ich ihr auch vorsetze, sie isst einfach nicht. Seit sie bei mir im Haus wohnt, hat

sie fünf Kilo verloren. Nicht gerade ein Aushängeschild für mich. « Grace sah an

ihrem Körper hinunter. Sie war Harmonys Beschwerden gewohnt, dass sie nicht

genügend essen würde. Dennoch war sie überrascht, ihre knochigen

Handgelenke zu sehen und die Falten in ihrer viel zu weiten Kleidung, die einmal

genau ihrer Größe entsprochen hatte. Ihr war durchaus bewusst, dass sie in der

ersten Woche nach den schrecklichen Morden viel Gewicht verloren hatte. Aber

sie hatte nicht bemerkt, dass sie immer noch weiter abmagerte. Sie war dünn,

fast hätte man schon sagen können mager. Ihre Jeans musste sie mit einer

Sicherheitsnadel zumachen, sonst wären sie einfach an ihr heruntergerutscht.

Sogar ihre Unterwäsche war viel zu groß geworden, und locker sitzende

Unterhosen waren wirklich unangenehm.

»Ich habe ihr oft genug gesagt, dass sie diese weite Kleidung nicht zu tragen

braucht«, fuhr Harmony fort, ließ sich geschmeidig auf die Couch fallen und

überkreuzte ihre langen Beine. »Aber hört sie auf mich? Sag du es ihr doch auch

einmal. «

»Harmony hat recht«, bestätigte Matty und blickte Grace stirnrunzelnd an. »An

dir hat ja kein Mann mehr etwas in der Hand. Du hast einfach keine Substanz

mehr, Julia. Und außerdem bist du viel zu gutmütig. Du wehrst dich zwar, wenn

du in die Enge getrieben wirst. Aber dein Ziel muss es sein, gar nicht erst in die

Enge getrieben zu werden, denn dort sind deine Bewegungsmöglichkeiten bereits

sehr stark eingeschränkt. Hörst du mir eigentlich überhaupt zu? « Es entsprach

eigentlich nicht seinen Gepflogenheiten, sich um andere Menschen Sorgen zu

machen. Um Julia aber machte er sich Sorgen. Irgend etwas Fürchterliches war

ihr zugestoßen, und sie war immer noch auf der Flucht. Zwar hatte sie noch kein

Wort darüber verloren, aber er konnte es an ihren Augen ablesen. Himmel noch

mal, er war an alles mögliche gewohnt, an Schießereien und Stechereien, an

Drogenüberdosen, an Bandenkriminalität, an kleine Kinder mit großen,

verängstigten, verständnislosen Augen. In anderen Worten, er konnte sich

eigentlich nicht erklären, warum er ausgerechnet Julia gegenüber etwas

empfand, aber so war es nun mal. Vielleicht, weil sie so zerbrechlich wirkte, dass

er manchmal glaubte, sie sei durchsichtig. Oder aber es war die Traurigkeit, die

sie wie ein Mantel umhüllte. Sie lächelte nie, und ihre großen blauen Augen

sahen irgendwie... leer aus. Ihr Blick versetzte ihm immer einen schmerzhaften

Stich. Matty achtete sehr darauf, dass ihm niemand so nahe kam, dass es ihn

schmerzen würde, wenn demjenigen etwas zustoßen sollte. Bei Julia allerdings

war ihm die Abwehr nicht gelungen.

»Ja, ich höre zu«, erwiderte Grace höflich. »Auch Harmony habe ich zugehört.

Aber ich kann mir keine neue Kleidung leisten. «

»Hast du schon mal etwas von Flohmärkten gehört? « fragte Harmony. »Anstatt

deine Nase ständig in Bücher zu stecken, solltest du dich ab und an einmal in der

Gegend umsehen. Die Leute verkaufen ihre alten Jeans für vier oder fünf Dollar.

Meistens kannst du sie sogar für nur einen Dollar abstauben, wenn du nur lange

genug ausharrst und ihnen erzählst, dass fünf Dollar einfach zu viel wären. «

»Ich werde mich mal drum kümmern«, versprach Grace. Flohmärkte. In ihrem

ganzen Leben war sie noch nie auf einem Flohmarkt gewesen, aber wenn man

dort Jeans in ihrer Größe für einen Dollar bekommen konnte, dann würde sie sich

wohl bald zu einem Flohmarktfanatiker entwickeln. Sie hatte es langsam satt,

ihre Jeans mit einer Sicherheitsnadel zusammenzuhalten, ihre schlabberigen

Unterhosen war sie ebenso leid. »Okay, jetzt ist aber Schluss mit einkaufen«,

sagte Matty ungeduldig. »Ich versuche dir beizubringen, wie man am Leben

bleibt. Pass gut auf. «

Matty unterrichtete nicht in einer Turnhalle, weil das kein wahrscheinlicher Tatort

eines Überfalls war. Auf Straßen und in Häusern jedoch, wo die Menschen ihre

tagtäglichen Verrichtungen erledigten, passierte so etwas schon. Ein paar Mal

hatte er sie zum Unterricht in eine schmale Straße mitgenommen, wo er sie von

mehreren Richtungen aus angegriffen hatte. Entweder er hatte sich auf sie

geworfen, oder er hatte einfach nur seine Arme um sie geschlungen und sie zu

Boden geworfen, wo sie sich dann befreien musste. Er hatte ihr beigebracht,

wohin sie treten und an welchen Stellen sie zuschlagen musste. Außerdem hatte

er sie auf ganz gewöhnliche, in jeder Straße aufzutreibende Waffen aufmerksam

gemacht, beispielsweise einen Holzstock oder eine zersprungene Flasche. Er

hatte ihr beigebracht, wie man ein Messer in der Hand hielt und wie man es

einsetzte.

Matty erblickte überall Waffen. In seiner Hand verwandelte sich ein Bleistift zu

einer tödlichen Waffe, ein Buch konnte ernsthafte Verletzungen beibringen, und

ein Pfeffer- oder Salzstreuer räumte einem unverhoffte Möglichkeiten ein.

Taschenlampen, Briefbeschwerer, Streichhölzer, Kopfkissen, ein Laken, eine

Jacke - all diese Dinge konnte man einsetzen. Eine so absurde Idee wie ein fairer

Kampf kam ihm gar nicht erst in den Kopf. Stühle waren Schlagstöcke. Eine

Baseballkeule oder ein Golfschläger eigneten sich, um Menschen damit auf den

Kopf zu hauen, Schlittschuhe dazu, Köpfe zu spalten. Die Möglichkeiten waren

einfach unbegrenzt. Grace würde wohl nie wieder die Gegenstände in einem

Zimmer mit ihrer gewohnten Unschuld betrachten können. Früher waren Zimmer

ganz einfach nur Zimmer gewesen. Jetzt aber hatten sie sich zu Waffenarsenalen

verwandelt.

Ohne Vorwarnung fiel Matty über sie her, schlang seine überraschend kräftigen

Arme um sie und riss sie zu Boden. Der Fall brachte sie vollkommen aus dem

Konzept. Dann aber erinnerte sie sich an ihre früheren Lektionen und trat ihm

mit dem Fuß gegen sein Schienbein, gleichzeitig verschaffte sie sich genügend

Spielraum, um ihm mit der Faust einen Kinnhaken zu versetzen. Seine Zähne

knallten hörbar aufeinander, und er schüttelte sich. Grace ließ nicht locker. Sie

wand sich und kickte ihn mit ihrem Kopf, dann versuchte sie ihm in die

Geschlechtsteile zu boxen und die Finger in seine Augen zu bohren.

Matty ließ sie nicht einfach gewähren, denn dabei würde sie seiner Meinung nach

nicht viel lernen. Sie musste sich richtig anstrengen, um ihn zu besiegen. Die

meisten ihrer Angriffe konnte er rechtzeitig abwehren. Er erklärte ihr jedoch,

dass er ihren Angriff ja bereits erwartete und deshalb ziemlich genau ihre Griffe

abschätzen konnte. Ein Fremder hingegen konnte von diesem Vorteil nicht

profitieren. Dennoch kam sie mit einigen ihrer Angriffstaktiken durch. Manchmal

grunzte oder fluchte Matty sogar, wenn sie ihm wieder einmal einen Kinnhaken

versetzt hatte und er sich auf die Zunge biss. Harmony saß derweil auf der

Couch und machte einen äußerst zufriedenen Eindruck.

Schon bald war Grace von der Anstrengung vollkommen erschöpft. Matty stand

auf und runzelte die Stirn. »Du bist zu schwach«, stellte er fest. »Schwächer als

letzte Woche noch. Ich weiß ja nicht, was dich innerlich auffrisst, Julia, aber du

musst essen. Denn wenn du nicht isst, dann hast du einfach keine Ausdauer

mehr. « Er wischte sich die Lippen ab und begutachtete interessiert seinen

blutverschmierten Handrücken. »Mut schon, aber keine Ausdauer. «

Grace kam taumelnd auf die Beine. Ihr war tatsächlich nicht bewusst gewesen,

wie schwächlich sie geworden war. Sie hatte ihre Müdigkeit darauf geschoben,

dass sie jeden Tag bis tief in die Nacht die Dokumente zu entziffern versuchte.

Früher hatte sie Essen sehr genossen, aber jetzt interessierte es sie einfach nicht

mehr. Alles schien ihr fad, als ob ihre Geschmacksnerven von dem Schock immer

noch betäubt wären.

»Ich werde mehr essen«, versprach sie einsichtig. Weil es ihr jedoch so schwer

fiel, überhaupt etwas herunterzubekommen, würde das wenige, das sie aß, sehr

nahrhaft sein müssen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie sich noch in diesem

sicheren Hafen aufhalten konnte. Sie musste jeden Augenblick zur Flucht bereit

sein, und dazu musste sie gesund und fit sein. Plötzlich fühlte sie Unsicherheit in

sich aufsteigen. Vielleicht sollte sie nicht so lange warten, bis ihr etwas zustieß,

sondern jetzt schon weiterziehen und woanders einen kurzzeitigen Unterschlupf

finden. Sie hatte Julia Wynnes Geburtsurkunde erhalten, sie hatte eine

Sozialversicherungsnummer beantragt. Wenn sie die erst einmal hatte, würde sie

einen Führerschein beantragen können. Mit einem Führerschein konnte sie ein

Auto fahren, ohne Angst haben zu müssen, wenn sie von der Polizei wegen einer

Geschwindigkeitsüberschreitung oder eines defekten Scheinwerfers angehalten

wurde. Sie konnte sich ein billiges Auto kaufen und überallhin fahren, auch

dorthin, wohin es keinerlei Busverbindungen gab. Harmony stand auf und

streckte sich. »Ich werde gleich heute Abend anfangen, sie zu mästen«, sagte sie

an Matty gewandt. »Vielleicht auch ein paar kräftigende Gymnastikübungen, was

meinst du? «

»Erst das Essen«, erwiderte Matty. »Stopf sie mit Fleisch voll. Erst muss man

den Ziegelstein haben, ehe man eine Wand mauern kann. Ein gutes Steak oder

Spaghetti mit Fleischsoße wären auch gut. «

Grace versuchte das in ihr aufsteigende Würgen bei der Vorstellung von

Spaghetti zu unterdrücken. Seit sie in dem Restaurant arbeitete, konnte sie den

Geruch von Knoblauch und Tomatensoße nicht mehr ertragen.

»Ich werde mir schon etwas ausdenken«, versprach Harmony, der Graces

angewiderter Gesichtsausdruck nicht entgangen war. Sie konnte es gut

nachvollziehen, denn sie hatte auch einmal drei Monte lang in einem

Fischrestaurant im Süden gearbeitet. Heute noch konnte sie den Geruch von

einer bestimmten Sorte gebratenen Fischs nicht ertragen, aber Gott sei Dank war

ihr der in Chicago auch niemals untergekommen. Die Erinnerung ärgerte sie,

denn sie hatte diesen Fisch früher immer sehr gern gegessen. Diese Vorliebe war

ihr jedoch gründlich verdorben worden. Grace und Harmony gingen gemeinsam

die drei Blocks bis zur Bushaltestelle. Grace hatte sich angewöhnt, sich ständig

aufmerksam umzusehen, und Harmony beobachtete zufrieden, wie sie ihre

Umgebung beobachtete.

»Du lernst dazu«, sagte sie. »Sag mal, was hat dich eigentlich dort oben bei

Matty plötzlich so verstört? «

Harmony war die aufmerksamste Beobachterin, der Grace jemals begegnet war.

Sie versuchte erst gar nicht, sie abzulenken. »Ich habe daran gedacht zu gehen.

«

Harmonys Augenbrauen wanderten langsam bis zu ihrem weißblonden

Haaransatz hinauf. »Hat es denn etwas mit meinen Bemerkungen zu tun?

Vielleicht magst du meine Küche nicht? Oder vielleicht hat dir irgend etwas Angst

eingejagt? «

»Es ist nichts vorgefallen, was mich beunruhigen sollte«, versuchte sich Grace zu

erklären. »Es ist nur... ach, ich weiß nicht so recht. Vielleicht so eine Art

Eingebung. «

»Dann solltest du vielleicht lieber packen,«, erwiderte Harmony ruhig. »Man

sollte nie etwas gegen sein eigenes Gefühl tun. « Sie blickte die Straße entlang.

»Da kommt unser Bus. «

Grace biss sich auf die Unterlippe. Obwohl Harmony sie nicht gebeten hatte zu

bleiben, spürte sie doch mit einem Mal deren Einsamkeit. Richtige

Busenfreundinnen waren sie nicht geworden, dazu hatten sie beide zu viel zu

verbergen. Aber sie waren dennoch befreundet, und Grace spürte, dass sie

Harmonys Bodenständigkeit vermissen würde.

»Wenn möglich, müsstest du allerdings noch ein paar Tage bleiben«, fuhr

Harmony mit auf den Bus gerichtetem Blick fort. »Lass mich dich etwas

aufpäppeln, damit du Kräfte sammeln kannst. Und dann musst du dir noch

Kleidung in deiner Größe beschaffen, verdammt noch eins. Außerdem gibt es

noch so ein, zwei Dinge, die ich dir zeigen könnte und die dir eines Tages

nützlich werden könnten. « Das Gefühl der Unsicherheit würde sie noch ein, zwei

Tage lang aushalten können, dachte Grace. Was auch immer Harmony ihr

beibringen wollte, wäre den Stress sicherlich wert. »Also gut, dann bleibe ich

noch bis zum Wochenende. «

Harmony nickte nur knapp, aber Grace spürte, wie zufrieden sie über ihre

Entscheidung war. Am Abend blätterte Grace gelangweilt durch einen Stapel

Zeitungen, während Harmony in ihrem Wok Köstlichkeiten zubereitete. Harmony

trank morgens am Küchentisch eine große Tasse Kaffee und las dabei die

Zeitung. Danach warf sie sie nicht in den Mülleimer, sondern ließ sie auf einem

Küchenstuhl liegen.

Grace hatte so lange keine Zeitung mehr gelesen oder Nachrichten gehört, dass

sie über die Ereignisse gar nicht mehr auf dem laufenden war. Die Überschriften

kamen ihr merkwürdig vor, als ob sie in eine unbekannte Vergangenheit spähte.

Sie hatte vielleicht den halben Stapel durchgeblättert, als eine grobkörnige

Fotografie ihre Aufmerksamkeit erregte. Ihr stockte der Atem, ihre Lungen

krampften sich zusammen, und ihre Ohren begannen zu rauschen. Parrish.

Parrish war einer der Männer, die auf dem Foto abgebildet waren.

Weit entfernt hörte sie jemanden etwas sagen, dann spürte sie eine Hand im

Nacken, die ihren Kopf bis auf die Knie nach unten drückte. Langsam

verflüchtigte sich das Rauschen, und ihre Lungen konnten wieder pumpen. »Ist

schon wieder alles in Ordnung«, presste sie gegen den Stoff ihrer Hosen hervor.

»Ach ja? Da hättest du mich aber glatt hereinlegen können«, erwiderte Harmony

spöttisch. Dennoch lockerte sie ihren Griff und zog die Zeitung aus Graces

vollkommen tauben Fingern. »Lass mal sehen. Was hast du denn gelesen, das

dich so aus der Bahn geworfen hat? >Friedensgespräche wieder aufgenommen<

? Wohl kaum. Wie wäre es hiermit: >Schmiergelder im öffentlichen Haushalt

kosten die Stadt Millionen<. Gut, das bringt mich auch auf die Palme, aber

deswegen würde ich nicht in Ohnmacht fallen. Vielleicht dieses: >Ehefrau eines

Industriellen umgekommen<. Ein Foto von dem trauernden Ehemann ist auch

abgebildet, damit die Leser sich angesprochen fühlen. Ja, das sieht schon eher

nach einer Nachricht aus, die dir so zusetzen würde. « Sie knallte die Zeitung auf

den Küchentisch. »Nun sag schon, welchen der Typen kennst du denn? «

Schwer atmend blickte Grace auf das Foto. Parrishs gutaussehendes Gesicht zu

sehen erschütterte sie noch immer. Jetzt erst bemerkte sie, dass auch noch

andere Menschen darauf abgebildet waren. Zunächst einmal der vom Schmerz

gezeichnete Ehemann. Neben ihm stand ein Mann, der ihr auch irgendwie

bekannt vorkam. Ein Blick auf die Bildunterschrift identifizierte den Mann als

Bayard »Skip« Saunders, einen wohlhabenden Industriellen, daneben Senator

Trikoris. Drei Männer waren im Hintergrund zu sehen, unter anderem eben

Parrish. Von ihnen wurde jedoch keiner namentlich erwähnt. Parrishs

Gesichtsausdruck war angemessen erschüttert. So wie sie ihn jedoch kennen

gelernt hatte, traute sie dem Schein nicht.

Hastig überflog sie die kurze Nachricht. Calla Saunders war offenbar vom Balkon

ihres Penthauses in den Tod gestürzt. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass

noch weitere Personen ihre Finger im Spiel gehabt hatten. Einer von Frau

Saunders hochhackigen Schuhen, bei dem der Absatz abgebrochen war, hatte

man auf dem Balkon gefunden. Die Polizei vermutete, dass sie das Gleichgewicht

verloren hatte, als der Absatz abgebrochen war, und dann über die Brüstung

gefallen war. Auf ihrem Abendkleid hatte man ein paar Farbspuren der weißen

Brüstung gefunden. Allem Anschein nach war sie ganz allein auf dem Balkon

gewesen.

Die Polizei kannte Parrish Sawyer aber nicht so, wie sie ihn kennen gelernt hatte,

dachte Grace zitternd. Wenn er sich auch nur im Umkreis eines Todesfalls

befand, dann glaubte sie nicht länger an ein Versehen.

Sie hatte ganz vergessen, wie gut er aussah. In ihrer Vorstellung hatte er etwas

Diabolisches, etwas, das seinen bösen Kern widerspiegelte. Das Foto zeigte seine

ebenmäßigen, scharf gemeißelten Gesichtszüge und seinen schlanken,

sportlichen Körper. Wie gewohnt war er tadellos gekleidet. Er machte den

äußerst gewandten und gediegenen Eindruck eines bis zu den Fingerspitzen

gepflegten Mannes.

Genauso freundlich hatte er auch in dem Moment ausgesehen, als er Ford in den

Kopf geschossen hatte. Er war in Chicago. Sie schaute noch mal auf das

Erscheinungsdatum und stellte fest, dass die Zeitung bereits zwei Wochen alt

war. Parrish war hier. Sie war nicht halb so sicher, wie sie angenommen hatte.

Ihr Gefühl hatte sie nicht betrogen: Es war an der Zeit zu gehen.

»Lass mich mal nachdenken«, meinte Harmony, als Grace nicht antwortete. »Der

Senator kann es nicht sein, er ist ohnehin ein Depp. Und diesen Saunders kannst

du auch vergessen, er ist ein ziemlicher Wirrkopf, schau ihn dir nur mal genauer

an. Und die anderen drei, lass mal sehen. Einer sieht wie ein Polizist aus. Ist dir

sein schlecht sitzender Anzug aufgefallen? «

Harmony musterte systematisch und mit einer irritierenden Genauigkeit die auf

dem Foto abgebildeten Menschen. In wenigen Augenblicken würde sie die

richtige Schlussfolgerung gezogen haben. Um ihr die Mühe zu ersparen, deutete

Grace mit dem Fingernagel auf Parrishs Gesicht.

»Und jetzt vergisst du am besten, dass du ihn jemals gesehen hast«, sagte sie

mir gepresster Stimme und verzerrtem Gesicht. »Wenn er auch nur die vage

Vermutung hat, dass du etwas über mich weißt, wird er dich umbringen. «

Harmonys Augen waren unter ihren langen Wimpern verborgen, während sie das

Foto eingehend studierte. Als sie schließlich zu Grace aufblickte, waren ihre

grünen Augen hart und klar. »Der Mann ist teuflisch«, sagte sie tonlos. »Du

musst sofort gehen. «

Die nächsten beiden Tage waren sehr hektisch. Grace versuchte, soviel wie

möglich von den in gälisch abgefassten Dokumenten zu übersetzen, denn

während ihrer Weiterreise würde sie dazu keine Gelegenheit haben. Harmony

kümmerte sich um die Flohmärkte und fand ein Paar Jeans, die Grace tatsächlich

passten, dazu einige enge Stricktops und feste Wanderschuhe. Wenn sie

zusammen saßen, redeten sie. Grace glaubte einer Märchenerzählerin zu

lauschen, aber statt mystischer Weisheit erklärte ihr Harmony, wie man seine

Spuren verwischt, wie man sich einen gefälschten Führerschein, ja, sogar einen

Pass besorgt, falls die Beantragung eines Originals zu gefährlich oder zu

zeitaufwendig war. Harmony kannte viele Tricks, wie man auf der Straße und auf

der Flucht überlebte. Dieses Wissen bot sie Grace als Geschenk an.

Ihr Abschiedsgeschenk bestand darin, Grace mit einem geliehenen Auto nach

Michigan City im Bundesstaat Indiana zu fahren, von wo aus sie mit dem Bus

weiterfahren konnte.

Grace hatte Harmony nichts von ihrem Reiseziel verraten. Harmony andererseits

hatte auch nicht danach gefragt, denn so war es für beide sicherer.

»Halt dir den Rücken immer frei«, riet ihr Harmony mit rauer Stimme und

umarmte Grace. »Und erinnere dich an alles, was Matty und ich dir beigebracht

haben. «

»Das werde ich tun«, erwiderte Grace. »Das tue ich jetzt schon. « Sie umarmte

Harmony ebenfalls, dann trug sie ihr Gepäck in den Busbahnhof. Harmony sah

die zierliche Person verschwinden und musste zweimal stark blinzeln, um die

aufsteigenden Tränen zu unterdrücken.

»Lieber Gott, du musst sie beschützen«, wies sie den Allmächtigen flüsternd an.

Dann stieg Harmony in den geliehenen Pontiac und fuhr ab.

Grace sah ihr durch das Fenster hindurch nach. Ihre Augen waren trotz ihrer

zusammengeschnürten Kehle trocken geblieben. Wie viele Abschiede würde sie

wohl noch ertragen können? Vielleicht sollte sie immer Weiterreisen und

nirgendwo lange genug bleiben, um persönliche Bindungen einzugehen.

Aber sie hatte noch jede Menge Arbeit mit den Dokumenten, und für diese Arbeit

brauchte sie einen sicheren Ort. Sie schaute sich die Liste der Busrouten an,

dann kaufte sie sich einen Fahrschein nach Indianapolis. Dort würde sie sich

dann für ihr nächstes Ziel entscheiden, aber es musste etwas vollkommen

Überraschendes sein. Sie war sich sicher, dass Parrish nicht nur zufällig in

Chicago gewesen war. Er musste von ihrer Anwesenheit dort gewusst haben.

Seine Männer hatten nach ihr gesucht. Sie hatte sich offenbar vollkommen

voraussehbar verhalten, und schon bald wäre sie seinen Männern in die Falle

gegangen. Das würde ihr nicht ein zweites Mal passieren. Sie würde sich an

einem Ort verschanzen, wo sie keiner vermutete. Plötzlich wusste sie, wohin sie

reisen würde. Es war der einzige Ort, den sie übersehen würden und gleichzeitig

der einzige Ort, von wo aus sie Parrishs Schachzüge genau beobachten konnte.

Minneapolis.

Kapitel 11

Grace wählte sich den Namen Louisa Patricia Croley von einem Friedhof in

Minneapolis. Diesmal allerdings beantragte sie keine Geburtsurkunde. Dank

Harmonys unschätzbar wertvollen Ratschlägen hatte sie bereits am Nachmittag

eine Sozialversicherungsnummer, eine Anschrift und einen Führerschein.

Anschrift und Führerschein allerdings waren Fälschungen. Die

Sozialversicherungsnummer dagegen war echt, sie hatte tatsächlich einmal

Louisa Patricia Croley gehört. Die Nummer war kinderleicht zu bekommen

gewesen, da sie lediglich eine Nummer, nicht aber die dazugehörige Karte

benötigte.

Bereits am darauf folgenden Tag war sie die Besitzerin eines beigefarbenen,

rostigen Pick-up-Lasters, dessen Gänge sich jedoch problemlos schalten ließen

und der weder verräterische Geräusche noch ebensolche Rauchsignale abgab. Da

sie in bar bezahlt hatte, hatte sie den Preis um vierhundert Dollar

herunterhandeln können. Mit dem Fahrzeugschein in der Hand hatte sie sich

dann eingereiht, um den Wagen auf ihren Namen zuzulassen - oder vielmehr auf

den Namen Louisa Croley.

Grace verspürte eine trotzige Zufriedenheit, als sie wieder zu ihrem Auto

zurückkehrte. Endlich hatte sie einen fahrbaren Untersatz und konnte sich

jederzeit aus dem Staub machen. Sie brauchte keinen Fahrschein mehr zu lösen,

sie brauchte sich auch nicht mehr für den Fall zu verkleiden, dass der

Fahrscheinverkäufer sich an ihr Gesicht erinnern würde, falls ihn jemand

diesbezüglich befragen sollte. Das Auto bedeutete Freiheit.

Im Stadtzentrum mietete sie sich ein preiswerteres Zimmer, und nach ein paar

Erkundigungen bewarb sie sich um eine Stelle bei einer Reinigungsfirma, die

einige der luxuriösen Wohnungen in Wayzata unter Vertrag hatten. Es gab keine

bessere Informationsmöglichkeit als die durch eine Reinigungsfirma, weil

niemand dem Reinigungspersonal irgendwelche Aufmerksamkeit schenkte. Ihr

war bekannt, dass Parrish, genau wie einige andere in seiner Gegend, eine

Haushälterin beschäftigte. Dennoch schlossen viele Anwohner dort mit einer

Reinigungsfirma einen Vertrag. Die Einkünfte der Firmen machten sich in aller

Regel jedoch nicht in den Taschen der Putzkräfte bemerkbar, weshalb das

Personal ständig wechselte. Grace wurde vom Fleck weg unter Vertrag

genommen.

An jenem Abend lag sie in ihrem trostlosen kleinen Zimmer auf ihrem klapprigen

Bett und dachte an die Dokumente, die sie eben gerade übersetzt hatte. Im

Jahre 1321 hatte ein Mann namens Morvan von Hay versucht, den Schwarzen

Niall umzubringen, hatte dabei allerdings seinen eigenen Kopf verloren. Sein

Vater, Clanoberhaupt des östlich gelegenen Landes, hatte daraufhin seinen

gesamten Clan dazu verpflichtet, gegen die Abtrünnigen von Creag Dhu in den

Krieg zu ziehen. In dieser Schlacht war Niall gefangen genommen und in Hays

Verlies verschleppt worden. Er hatte sich jedoch unter ungeklärten Umständen

noch in derselben Nacht befreien können.

Niall. Grace musste immer wieder an ihn denken. Wieder in Minneapolis zu sein

war schwieriger, als sie es sich vorgestellt hatte. Allerdings nicht wegen der

Gefahr, sondern weil sie in dieser Stadt mit Ford zusammengelebt hatte. In

dieser Stadt lagen ihr Ehemann und ihr Bruder begraben. Sie hätte zu gern ihre

Gräber besucht, traute sich aber nicht dorthin.

Es wäre nicht nur ein äußerst riskantes Unterfangen, es ging vermutlich auch

einfach über ihre Kräfte hinaus. Ihre Gräber zu sehen würde sie tief erschüttern

und die papierdünne Wand zerstören, die sie sich um ihre Gefühle herum

aufgebaut hatte. Wie lange lag das jetzt zurück? Zwei Monate? Es waren fast auf

die Stunde genau zwei Monate und drei Tage vergangen. Nicht lang genug. Noch

lange nicht lang genug. Sie dachte lieber an Niall. Wenn sie sich auf ihn

konzentrierte, konnte sie ihr seelisches Gleichgewicht bewahren.

Niall und sie liebten sich.

Grace ahnte zwar, dass sie träumte. Aber diese Ahnung war nicht stark genug,

als dass sie die Traumbilder hätte unterdrücken können. In früheren Träumen

von Niall war sie immer eine Beobachtende gewesen, jetzt aber beteiligte sie sich

zum ersten Mal an dem Geschehen.

Die Traumbilder waren unscharf und flüchtig, dennoch wusste sie, dass sie mit

ihm zusammen im Bett lag. Auf dem riesigen Bett lagen Felle drapiert.

Normalerweise wäre sie sich auf einem solchen Bett verloren vorgekommen, an

seiner Seite jedoch bemerkte sie kaum die enorme Größe der Schlafstätte, auf

der sie gemeinsam lagen. Er bestieg sie, und die unerwartete Hitze seines

Körpers erschreckte sie. Überrascht stellte sie fest, dass sie beide nackt waren

und seine nackte Haut ihren Körper versengte. Er war schwer, sein Gewicht

drohte sie beinahe zu erdrücken. Aber es fühlte sich so wunderbar an, wieder

einen Mann auf sich liegen zu spüren, dass sie ihn fest an sich presste. Das

Gewicht eines Mannes auf ihrem Körper hatte sie so schmerzhaft vermisst, seine

starken, sie umschlingenden Arme, seinen Geruch in ihrer Nase, seinen

Geschmack auf ihren Lippen.

Sie ließ ihre Hände über seinen Rücken gleiten und spürte die harten

Muskelberge unter seiner straffen Haut. Sein Körper glänzte schweißbedeckt, und

seine schwarze Mähne war ganz feucht. Sein Geruch war heiß und wild, der

Geruch eines Mannes, dessen Erregung seiner Kontrolle entglitten war. Sie war

es, die diese Wildheit in ihm ausgelöst hatte, und sie genoss sie in vollen Zügen

und wollte sie ganz und gar auskosten.

Dann drang er in sie ein. Im Traum schrie sie von einer unglaublichen Wonne

erfasst laut auf. Er war so groß, dass sie sich bis zum Äußersten gedehnt fühlte,

so heiß, dass er sie verbrannte. Ihre Muskeln zogen sich zusammen, und sie war

kurz vor dem Höhepunkt.

Sie erwachte von ihren eigenen Zuckungen. Erst lag sie nur da und genoss ihre

Wollust. Dann atmete sie tief durch und spürte, wie das Zittern nachließ. Niall

musste aus ihr geglitten sein, aber sie spürte noch immer ein Pulsieren in ihren

Lenden, das von seinen Stößen herrührte. Sie wollte sich in seine Arme rollen.

Sie streckte die Hand aus und berührte...

Nichts.

Grace fuhr keuchend aus dem Schlaf hoch. Sie setzte sich auf, ihr Blick raste

durch das dunkle, leere Zimmer. Sie erschrak über das, was sie getan hatte. Sie

biss die Zähne aufeinander, um einen Schrei der Wut, der Verzweiflung und der

Zurückweisung zu unterdrücken.

Nein!

Sie verachtete sich. Sie verachtete ihren gierigen Körper, dass er sich durch eine

solche Phantasie zur Lust hatte verleiten lassen. Wie konnte sie es nur wagen,

von Niall zu träumen, wie konnte sie dieser Traumgestalt gestatten, sie zu

befriedigen? Er war nicht Ford. Nur Ford hatte sie jemals berührt, hatte sie

geliebt, und nur mit ihm hatte sie ihre volle Sinnlichkeit ausgekostet. Sie hatte

nur mit Ford jemals nackt im Bett gelegen, nur ihn hatte sie jemals geliebt. Und

dennoch träumte sie nur zwei Monate nach seinem Tod von einem anderen

Mann, einem toten Mann, und ließ sich von ihm in ihrem Traum körperlich

befriedigen.

Sie saß mit umschlungenen Armen wehklagend auf dem Bett. Es spielte keine

Rolle, dass sie es nur im Traum, im Unterbewusstsein getan hatte. Betrug war

Betrug. Von Ford hätte sie träumen sollen. Ford, der gestorben war, weil er sie

beschützt hatte.

Aber wenn sie tatsächlich jetzt von Ford träumen sollte, dann würde sie daran

irre werden. Sein Tod und der von Bryant klafften wie eine große innerliche

Wunde, die sie nicht zu berühren wagte, da sie noch stark blutete und furchtbar

schmerzte. Statt dessen hatte sie sich auf die Dokumente konzentriert, denn nur

so konnte sie überhaupt fortfahren zu leben. Ihr Unterbewusstsein hatte ihr ein

Schnippchen geschlagen, dass sie sogar noch im Schlaf an ihn dachte.

Sie verdammte ihren Körper und sein Verlangen. Tagsüber schien ihre

Sinnlichkeit zusammen mit Ford gestorben zu sein. Sie spürte weder Verlangen

noch Frustration noch Anziehung. Aber im Schlaf erinnerte sich ihr Körper und

zeigte Verlangen. Sie hatten sich unendlich gerne geliebt, alles am Liebesakt

hatte ihr Vergnügen bereitet - die Gerüche, die Laute, das wunderbare Gefühl,

wenn sich sein Körper an ihrem rieb, die Art und Weise, wie er sie streichelte,

während sie sich wohlig aufbäumte, den süßen, immer wieder überraschenden

Moment, wenn er in sie eindrang und sie miteinander verschmolzen. Wenn Ford

auf einer Exkursion gewesen war, hatte sie häufig körperlich unter seiner

Abwesenheit gelitten. Nach seiner Rückkehr hatte er das Haus immer mit einem

breiten Grinsen auf dem Gesicht betreten, weil er genau wusste, dass sie sich

innerhalb weniger Minuten in ihrem Schlafzimmer einschließen würden.

Grace schlang ihre Arme um die Knie und starrte ins Leere. Jetzt, als sie sich

etwas beruhigt hatte, konnte sie ihren Traum von Niall nachvollziehen, wollte

nicht, dass er sich noch einmal wiederholte. Sie würde einfach nicht länger an die

Dokumente denken, wenn sie im Bett lag. Sie sollte lieber an Parrish denken.

Das wäre vollkommen unverfänglich, denn sie fand ihn überhaupt nicht

anziehend. Sie sah das Böse, das hinter seiner schönen Fassade lauerte.

Irgendwie würde sie sich schon noch an ihm rächen. Sein Tod allein reichte ihr

nicht, sie wollte Gerechtigkeit. Sie wollte, dass die ganze Welt die Wahrheit über

ihn erfuhr. Es sollte allen bewusst sein, dass und aus welchen Gründen er zwei

solch bewundernswerte Menschen umgebracht hatte. Aber wenn sie

Gerechtigkeit nicht erlangen konnte, dann würde sie auch nur mit ihrer Rache

vorlieb nehmen.

Schließlich legte sie sich wieder hin. Ihr bangte etwas vor dem Einschlafen, aber

sie musste Schlaf finden. Ihre Arbeit begann um sieben Uhr morgens, und

putzen war eine sehr anstrengende Tätigkeit. Sie musste schlafen, sie musste

essen, sie musste... o Gott, sie brauchte Ford, sie brauchte Bryant, sie wollte

alles wieder so haben, wie es vorher gewesen war.

In Wirklichkeit aber lag sie auf einer schmalen, holprigen Matratze. Die Zeit

verging, während sie darüber nachgrübelte, wie sie die Dokumente gegen Parrish

einsetzen konnte.

Niall fuhr aus dem Schlaf hoch. Fluchend rollte er sich auf den Rücken und schob

die Bettdecke von seinem aufstrebenden Penis weg, denn schon die kleinste

Berührung hätte ihn seinen Samen auf das Bett spritzen lassen. So etwas war

ihm seit damals als unerfahrener Teenager nicht wieder passiert, noch nicht

einmal während seiner acht enthaltsamen Jahre als Ordensritter. Er hatte von

einer Frau geträumt, in die er bis zum Anschlag tief eingedrungen war. Er konnte

sich einen solchen Traum nicht erklären, zumal er doch erst wenige Stunden

zuvor die lustvolle Vereinigung mit Jean genossen hatte. Jean war eine Witwe,

die in die Sicherheit des Schlosses geflüchtet war. Sie bot ihre Fähigkeiten in der

Küche als Gegenleistung für einen Strohsack in Creag Dhu. Er hatte aber weder

von Jean geträumt noch von irgendeiner anderen Frau, die er kannte. Dennoch

war ihm die Frau im Traum bekannt vorgekommen, obwohl sie sich im Dunklen

geliebt hatten und er ihr Gesicht nicht hatte erkennen können. In seinen Armen

war sie ihm klein erschienen, so wie die meisten anderen Frauen auch. Sie hatte

einen beinahe zerbrechlichen Eindruck gemacht und seine Schutzinstinkte

geweckt. Sie aber hatte weder Vorsicht noch Zärtlichkeit verlangt, sondern sie

war heiß und bereit gewesen, hatte sich mit ebensolch heißem Verlangen wie

seines an ihn geschmiegt. Sowie er in sie eingedrungen war, hatte sie sich ihm

entgegengestreckt. Ihre perfekte, ihn wie ein Handtuch umspannende Straffheit

hatte ihn aufstöhnen lassen, während sie sich genussvoll aufgebäumt hatte. Ihre

heftige Reaktion hatte ihn erregter und heftiger als jemals zuvor werden lassen.

Beinahe wäre er mit ihr zusammen gekommen, aber dann war er abrupt in

seinem leeren Bett mit niemandem im Arm vollkommen frustriert aufgewacht.

Er schätzte die Zeit kurz vor dem Morgengrauen, zu spät, um nochmals

einzuschlafen. Behutsam griff er nach einem Feuerstein, um die Kerze

anzuzünden. Dann ging er zum Kamin hinüber, stocherte in der Glut herum und

legte noch ein paar kleine Zweige auf das Feuer. Die kalte Luft umfing seinen

nackten Körper, aber er fröstelte nicht, denn ihm war heiß, beinahe dampfte er,

so heftig war seine Erregung. Sein Penis ragte immer noch steif und aufrecht in

die Luft und verlangte nach der engen Umklammerung. Er konnte sie noch

genauso intensiv spüren, als ob er eben gerade ihren Körper verlassen hätte.

Sie hatte einen süßlichen Geruch verströmt. Die Erinnerung daran verflüchtigte

sich bereits, aber seine schmalen Nasenlöcher blähten sich, als er ihn nochmals

einzufangen suchte. Sauer und süß, aber nicht die erschlagende Süße eines

blumigen Parfüms, sondern ganz leicht und verstörend. Unter diesem Geruch lag

eine herbe, aufregende Note, die von ihrer Erregung herrührte.

Trotz des enttäuschenden Endes war es ein wunderbarer Traum gewesen.

Angesichts seines bitteren Lebens lachte er nur selten, aber jetzt lächelte er, als

er auf seine rebellische Männlichkeit hinunterblickte. Die Traumfrau hatte ihn

mehr erregt, als es irgendeiner wirklichen Frau je gelungen war. Und er hatte

bereits eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Frauen genossen. Sollte er jemals

eine Frau wie die im Traum in die Hände bekommen, dann würde ihn der Ritt auf

ihr sicherlich fast sein Leben kosten. Sogar jetzt noch, als er sich an das Gefühl

seines Eindringens in ihre perfekte, heiße, feuchte... Seine Lenden begannen zu

pulsieren, und sein Lächeln wurde so intensiv, wie es seine Umgebung nicht von

ihm kannte. Es war ein unbeschwertes, herzliches Lächeln, das er seit seinem

achtzehnten Lebensjahr nicht mehr aufgesetzt hatte. Er musste über seine

eigene Torheit lachen, als er sich an das nur eingebildete Vergnügen erinnerte.

Die Erinnerung war einerseits zu schmerzhaft, andererseits zu erregend, als dass

er sie hätte vergessen können.

Schmale Feuerzünglein loderten aus den Zweigen hervor, und er legte ein paar

dickere Holzscheite nach. Dann streifte er sich ein Hemd über den Kopf.

Nachdem er seinen Schottenrock umgewickelt und mit einem Gürtel befestigt

hatte, schlang er sich die restliche Stoffbahn über die Schulter. Dann zog er sich

dicke Wollsocken an und steckte die Füße in ein paar weiche Lederstiefel, die er

den gröberen Schuhen seiner Umgebung vorzog. Er war niemals unbewaffnet,

noch nicht einmal auf seiner eigenen Burg. Er ließ einen schmalen Dolch in

seinen Schuh gleiten, steckte sich einen größeren in den Gürtel, dann hängte er

sein Schwert ein. Er war gerade fertig, als es laut an die Tür klopfte.

Seine dunklen Augenbrauen zogen sich zusammen. Der Tag war noch nicht

angebrochen. Ein Klopfen zu dieser Stunde konnte nur Ärger bedeuten. »Herein!

«, bellte er.

Die Tür ging auf, und Eilig Wishart, der Chef der Nachtwächter, steckte seinen

hässlichen Kopf herein. Er schien erleichtert, dass Niall bereits angezogen war.

»Überfall«, sagte er knapp in schottischem Akzent. Er entstammte dem Keithclan

und hatte sich von seinem Clan entweder aus freien Stücken oder

gezwungenermaßen getrennt. Die Leute aus dem Flachland sprachen

normalerweise eher schottisch als gälisch. Wenn Eilig aufgeregt war, sprach er

immer schottisch.

»Wo? «

»Im Osten. Es werden wohl die Haysleute sein. «

Brummend verließ Niall sein Gemach. »Weck die Männer«, ordnete er an. Er

stimmte Eilig zu. Seit mehreren Jahren hatte Huwe vom Hayclan gegen die

Abtrünnigen von Creag Dhu einen bitteren Hass entwickelt, denn letzteren

gehörte ein breiter Landstrich, den Huwe vormals als seinen Besitz betrachtet

hatte. Er hatte sich lauthals bei dem Bruce beschwert, denn eine solch große

Ansammlung gebrochener Männer aus allen Ecken und Enden Schottlands konnte

nur Ärger bedeuten. Robert hatte seinen Bruder während einer seiner

mitternächtlichen Besuche gewarnt, gegenüber seinem im Osten lebenden

Nachbarn wachsam zu sein. Die Warnung wäre nicht notwendig gewesen, denn

Niall war allen gegenüber wachsam.

Er selbst überwachte das Satteln der Pferde und ging in die Küchen, um für sich

und seine Männer Proviant anzuordnen. Riesige Brote backten bereits für die

Abendmahlzeit in den Öfen, und ein großer Topf Haferschleim fing über dem

Feuer zu köcheln an. Er brach sich ein altbackenes Stück Brot vom Vortag ab und

spülte es mit etwas Bier die Kehle herunter. Zwischendurch gab er seine

Anordnungen.

Jean und die anderen hasteten herum, holten säckeweise Haferflocken und

schlugen Brot, Käse und geräucherten Fisch in Stofflaken ein. Die großen Augen

der Frauen blickten ängstlich, obwohl sie ihm zutrauten, die Sache in Ordnung zu

bringen, wie er es die letzten vierzehn Jahre über auch immer getan hatte. Als er

den Burghof betrat, fand er dort bereits lauter verängstigte Kleinbauern und

Verwundete vor, denen man innerhalb der Burgmauern Schutz gewährt hatte.

Große Fackeln beleuchteten die Szene. Die Pferde wurden aus den Ställen geholt,

die Männer gingen ihre Essvorräte holen und widmeten sich den vielen kleinen

Vorrichtungen, um in den Kampf zu ziehen. Die Verletzten blieben dort liegen,

wo sie hingefallen waren, und die anderen eilten um sie herum, manchmal traten

sie versehentlich auch auf sie. Eine kräftige ältere Frau bemühte sich, alle

Verwundeten in eine Ecke zu bekommen, wo sie versorgt werden konnten.

Männer fluchten, und manche Frauen weinten untröstlich über den Verlust ihrer

Nächsten, ihrer Männer und Kinder oder auch über das, was ihnen die Angreifer

angetan hatten. Manche Frauen saßen wortlos herum, ihre zerrissenen Kleider

zeugten von Dingen, die sie nicht aussprechen wollten. Kinder drängten sich

dicht an ihre Mütter oder aber standen einsam weinend herum. Es war Krieg.

Niall hatte ihn schon oft gesehen und hatte sich daran gewöhnt. Einen Überfall

auf sein Eigentum würde er aber dennoch nicht dulden. Er ging zu der alten Frau

hinüber, die Ordnung in das Chaos zu bringen versuchte, denn er hatte ihre

Führungsqualitäten sofort erkannt. Er legte seine Hand auf ihren plumpen Arm

und zog sie beiseite. »Wie viele Stunden sind schon vergangen? « fragte er

knapp. »Wie viele Leute sind es? «

Sie starrte den großen Mann an, der sich zu ihr herabbeugte. Seine schwarze

Mähne hing ihm über die breiten Schultern, seine Augen waren kalt und düster

wie die Tore zur Hölle. Sie wusste sofort, wer er war. »Mehr als ein oder zwei

Stunden kann es nicht her sein. Es war eine große Gruppe, dreißig oder mehr

vielleicht. «

Dreißig, das war tatsächlich eine ganz schön große Truppe, um plündern zu

gehen. Denn Plündern machte man am besten heimlich. Seit vierzehn Jahren

hatte er Creag Dhu nie mit weniger als der Hälfte seiner bewaffneten Männer

verlassen. Wenn er aber so viele Leute verfolgen musste, dann musste er mehr

Männer als gewöhnlich mitnehmen. Eine solche große Zahl von Plünderern stellte

eine Herausforderung dar, die er nicht unterschätzen durfte. Huwe von Hay

wusste, dass Niall sich sofort verteidigen würde, also würde er für diesen Fall

vorgesorgt haben. Vielleicht bedrohte er ihn absichtlich, um damit Niall und seine

Leute aus der Burg zu locken.

Niall rief nach Artair, der sein Pferd einem Stallknecht überließ und sofort zur

Stelle war. Die beiden Männer entfernten sich etwas von dem lärmenden

Durcheinander. Artair war der einzige Mann in Creag Dhu, der vormals auch im

Tempelorden gewesen war. Er war ein einsamer und ehrerbietiger Mann, der

niemals vom Glauben abgefallen war, auch dann nicht, als der Großmeister vor

sieben Jahren einen grausigen Tod erlitten hatte. Artair war achtundvierzig Jahre

alt und hatte graue Haare. Seine Schultern aber hielt er noch aufrecht.

Außerdem trainierte er, genau wie Niall, jeden Tag mit seinen Männern. Keine

der Angriffsstrategien, die er im Orden gelernt hatte, hatte er vergessen.

»Meiner Meinung nach ist das nur eine Finte, um die meisten Männer aus der

Burg wegzulocken«, sagte Niall leise. Sein Mund bildete nur noch eine schmale,

grimmige Linie, seine schwarzen Augen waren zusammengekniffen und kalt.

»Vermutlich wird der Hay angreifen, sobald er uns weit genug entfernt glaubt.

Ich glaube nicht, dass er nah genug an der Burg ist, um uns zu beobachten.

Außerdem halte ich den Tölpel nicht für so gerissen. Ich werde fünfzehn Mann

mitnehmen. Die anderen bleiben unter deinem Kommando hier. Sei wachsam. «

Artair nickte besorgt. »Nur fünfzehn willst du mitnehmen? Ich habe eine Frau

von dreißig reden hören... «

»Schon richtig, aber unsere Leute sind schließlich sehr gut ausgebildet. Bei zwei

Mann zu einem sind wir immer noch im Vorteil. «

Artair lächelte müde. Der Hayclan würde gegen die ihm noch unbekannten

Männer des Tempelordens kämpfen, denn Niall hatte sie mit seiner Hilfe

ausgezeichnet ausgebildet. Die meisten Schotten rannten in den Kampf und

hatten dabei nur das Ziel, denjenigen abzustechen oder zu verletzen, der ihnen

vor die Augen trat. Die clanlosen Männer von Creag Dhu aber griffen mit einer

Disziplin an, auf die sogar eine römische Heereseinheit stolz gewesen wäre.

Ihnen waren Angriffsstrategien und Techniken von dem gefürchtetsten Krieger

der gesamten christlichen Welt beigebracht worden. Natürlich wussten sie nicht,

mit wem sie es zu tun hatten. Sie wussten lediglich, dass seit dem Erscheinen

vom Schwarzen Niall im schottischen Hochland ihn noch niemals jemand

besiegen konnte, und sie waren stolz darauf, ihm zu dienen. Ihre ganze

Clanloyalität, ihr Gefühl für Verwandtschaft und Verwurzelung hatten sie jetzt auf

ihn fixiert, und sie würden ohne zu zögern ihr eigenes Leben im Kampf für ihn

einsetzen.

Niall vergewisserte sich, dass Creag Dhu gut verteidigt war, suchte sich fünfzehn

Leute aus, geleitete sie aus dem Tor und ritt mit ihnen in das Morgengrauen

hinein. Er trieb sowohl Pferde als auch Reiter hart an, denn er vermutete, dass

die Plünderer ihn so weit wie nur möglich von Creag Dhu weglocken wollten. Sein

Gesicht war beim Reiten vollkommen versteinert. Der Hayclan hatte einen

unverzeihlichen Fehler begangen, seine Leute auf einem Landstrich stehlen,

vergewaltigen und morden zu lassen, den er als unter seinem Schutz

betrachtete. Er hatte Creag Dhu erobert und es seinen Bedürfnissen

entsprechend verändert. Dort war der Schatz sicher, und kein Mensch würde ihm

ihn wieder entreißen können.

Huwe war ein Tölpel, allerdings ein gefährlicher. Er war ein aufgeblasener,

bulliger Mann, der sich schnell herausgefordert fühlte, jedoch viel zu stur war,

um zu erkennen, wann die Gegenseite überlegen war. Niall war sowohl aus

Neigung als auch von der Ausbildung her durch und durch Soldat. Er hasste

unvorsichtige Entschlüsse, die unnötig Leben forderten. Normalerweise versuchte

er im Hochland jene Unruhe zu vermeiden, bei der er Robert um dessen

Intervention hätte bitten müssen. Er wusste nur zu gut, dass es seinem Bruder

Schwierigkeiten machen konnte, da der die Abtrünnigen von Creag Dhu nicht

vertreiben wollte. Dennoch war Niall jetzt am Ende seiner Geduld angelangt.

Denn mit der Bedrohung von Creag Dhu bedrohte der Hayclan gleichzeitig auch

den Schatz - und musste seine Unbesonnenheit mit dem Leben bezahlen.

Ein gutes Pferd konnte für den Ausgang einer Schlacht ausschlaggebend sein.

Deshalb hatte sich Niall bereits seit Jahren darum bemüht, seinen Männern nur

die allerbesten Pferde zukommen zu lassen. Unterbrechungen gestatteten sie

sich nur, um den kräftigen Tieren Wasser zu geben und ihnen eine kurze Pause

zu gönnen. Noch am Vormittag überholten sie die Plünderer.

Die Plünderer befanden sich mitten in einer engen Schlucht, voll gepackt mit all

den geraubten Dingen und eine Herde gestohlener Kühe vor sich hertreibend. Die

Morgensonne glitzerte in dem Nebel, der wie ein Schleier über ihren Köpfen hing.

Jeder Fluchtweg war ihnen versperrt. Als Niall und seine Leute aus dem Wald

heraus auf sie zurasten, standen sie einen Augenblick unschlüssig herum, dann

wurden sie von einer panischen Verwirrung ergriffen.

Die alte Frau hatte recht gehabt, der Feind zählte tatsächlich an die vierzig Mann.

Das bedeutete fast drei Mann zu einem, aber fast die Hälfte der vierzig war zu

Fuß unterwegs. Nialls Lippen verzogen sich zu einem bösen Grinsen. Die

Plünderer würden, nachdem sie sich von der relativ kleinen Anzahl ihrer Gegner

überzeugt hatten, ihnen sicherlich entgegentreten - eine Entscheidung, die sie

schon bald bereuen sollten.

Wie Niall erwartet hatte, hörte man Rufe, dann sammelte sich die Gegenseite

und raste mit allen möglichen Waffen wie Schwertern, Äxten, Hämmern, ja sogar

einer Sense, laut rufend auf sie zu.

»Wir halten uns zurück«, ordnete Niall an. »Lasst sie auf uns zukommen. «

Seine Männer verteilten sich etwas, so dass sie nicht auf einem Haufen waren

und nicht beidseitig flankiert werden konnten. Sie hielten still, während die

stampfenden, nervösen Pferde ihre Köpfe hin und her warfen, als die schreienden

Angreifer durch die neblige, von der Sonne beschienene Schlucht stürzten.

Gute dreihundert Meter trennten die beiden Parteien. Dreihundert Meter sind für

einen müden, angreifenden Mann ein weiter Weg, besonders dann, wenn er

wegen des anstrengenden Plünderns die letzte Nacht nicht geschlafen hatte und

nun schnell vorwärts kommen musste, um eventuellen Verfolgern zu entrinnen.

Die ohne Pferde verlangsamten schnell, einige blieben sogar stehen. Und die, die

immer noch stur weiterliefen, stießen keine Kampfesparolen mehr aus.

Die den Läufern vorausjagenden Reiter waren kaum mehr an der Zahl als Nialls

Leute. Nialls Blick fixierte einen bulligen jungen Mann, der mit wehendem

sandfarbenem Haar ganz an der Spitze ritt. Das musste Morvan sein, der

jähzornige, brutale Sohn des Hays, ein Ebenbild seines Vaters.

Morvans kleine, gemeine Augen waren im Gegenzug ebenfalls auf Niall gerichtet.

Niall hob sein Schwert. Ein Schwert konnte von den meisten Männern nur mit

beiden Händen gehandhabt werden. Nialls Kraft und Größe aber erlaubten es

ihm, es mit nur einer Hand zu bedienen, während seine andere für eine Keule

oder auch eine Axt frei war. Er nahm die Zügel zwischen die Zähne und hob die

Axt auf. Sein gut ausgebildetes Pferd bebte unter ihm. Als Morvan und seine

Leute nur noch dreißig Meter entfernt waren, griffen Niall und seine Männer an.

Der Zusammenstoß verlief blitzschnell. Früher hatte Niall mit Rüstung und Schild

gekämpft, hundert Pfund Metall hatten auf ihm gelastet. Aber heute kämpfte er

frei und wild. In seinen Augen brannte ein leidenschaftliches Feuer, als er mit

seiner Axt ein Schwert abwehrte, um dann unter der Abwehr des Mannes mit

seinem eigenen Schwert vorzudringen und ihn zu zerspalten. Er kämpfte immer

lautlos, nicht grunzend oder brüllend wie die anderen Männer, und spürte so

instinktiv während seines Kampfes, wo der nächste Feind ihm auflauerte.

Noch bevor er sein Schwert wieder zurückgezogen hatte, schwang er die Axt, um

einen weiteren Angreifer abzuwehren. Metall klirrte, als das Schwert auf die Axt

traf. Der Aufprall ließ seinen Arm erstarren. Sein kräftiges Bein presste dem

Pferd in die Flanke und ließ ihn zu seinem neuen Herausforderer herumschnellen.

Morvan von Hay warf sich auf ihn und benutzte sein nicht geringes Gewicht, um

Niall vom Pferd zu stürzen.

Niall jedoch hatte sein Pferd vor Morvans gewichtigem Körper zurückgezogen.

Fluchend richtete sich der junge Mann wieder auf. Zähnefletschend riss er das

Schwert zu einer erneuten Attacke nach hinten zurück. »Unehelicher! « zischte

Morvan.

Niall zuckte bei dieser Bezeichnung nicht einmal mit der Wimper. Er schwang

einfach nur sein Schwert abwehrend herum und schlug mit der Axt den Schädel

des Tölpels entzwei. Mit einem Ruck zog er seine Waffe hervor und wollte sich

dem nächsten Angreifer zuwenden, aber es war keiner mehr da. Seine Männer

hatten ebenso hart gekämpft wie er. Diejenigen aus dem Hayclan, die zu Pferde

geritten waren, lagen nun tot übereinander. Ihr Blut verwandelte die Erde zu

Schlamm. Der altbekannte Geruch von Blut begleitete ihr Sterben. Nialls dunkler

Blick überflog seine Leute. Zwei waren verwundet, einer davon schwer.

»Clennan«, wandte er sich scharf an den Mann, der am Schenkel verwundet

worden war. »Kümmere dich um Leod. « Dann raste er mit seinen verbleibenden

dreizehn Mann auf diejenigen des Hayclans zu, die zu Fuß gekommen waren.

Ihre Flucht war sinnlos, denn ein Reiter hatte gegenüber einem zu Fuß gehenden

Mann unschätzbare Vorteile. Die Tiere als solche waren schon eine Art Waffe,

denn ihre mit Stahl beschlagenen Hufe und ihr enormes Gewicht trampelten all

die einfach nieder, die nicht mehr ausweichen konnten. Niall wölbte sich über

den Pferderücken, der Blutrausch hatte ihn ergriffen, als er das Schwert und die

Axt schwang und abwechselnd angriff und sich verteidigte. Er war wie eine

dunkle Todesklinge, unglaublich elegant in seinem todbringenden Tanz. Fünf

Männer fielen unter ihm, einer davon wurde von dem schweren Schwert geköpft.

Niall spürte noch nicht einmal den Widerstand, als sich seine Klinge durch den

Knochen schlug.

Das Blutbad dauerte nicht länger als zwei Minuten. Dann wurde es wieder still in

der Schlucht, das Klirren der Klingen wich einem gelegentlich hörbaren Stöhnen.

Niall blickte sich um. Er erwartete nicht, dass seine Männer alle unverletzt

davongekommen waren. Der junge Ödar war tot und lag ausgestreckt unter dem

Körper eines Hayclanmannes. Seine blauen Augen starrten blind in die Luft. Sim

war von einem Schwert an der Seite verletzt worden und fluchte wild, während

er das Blut zu stillen versuchte. Niall entschied, dass er mit nach Hause reiten

konnte.

Goraidh dagegen lag mit blutender Stirn bewusstlos auf dem Boden. Alle hatten

kleine Schnitte oder blaue Flecken abbekommen, er miteinbezogen, aber das

zählte nicht. Mit zwei Verwundeten nach dem ersten Angriff hatte er noch zehn

gesunde übrig, denn zwei würden zurückbleiben, den verwundeten Männern

helfen und die Viehherden nach Creag Dhu zurücktreiben müssen.

»Muir und Crannog bleiben bei den Verwundeten, Sim und Clennan treiben das

Vieh zurück. « Die zwei Männer schienen über seinen Befehl nicht glücklich, aber

sie fügten sich in die Notwendigkeit.

Sie konnten nicht ebenso schnell, wie sie gekommen waren, wieder zurückreiten.

Jetzt waren die Pferde erschöpft. Niall ließ sie gemächlich traben, während sein

Kriegerherz auf dem Weg zu seinem nächsten Kampf wild schlug. Der Wind fuhr

ihm durch das lange Haar und trocknete den Schweiß des Kampfes. Seine

Schenkel umspannten das kräftige Tier unter ihm. Der dicke Schottenstoff um

seine Taille gab ihm ein Gefühl der Freiheit, die ihm Kutte, Gürtel und das warme

Unterzeug aus Schafsfell verwehrt hatten, und er ergötzte sich an seiner

unbehinderten Freiheit.

Er hatte die körperlichen Einschränkungen des Mönchslebens schnell abgelegt,

hatte sein Haar lang wachsen lassen, seinen Bart rasiert und das verhasste

Schafsfell abgelegt. Obwohl er einer der ihren geworden war, hatte doch immer

ein Teil von ihm noch der Wildheit und Freiheit Schottlands nachgetrauert, den

Bergen und dem Nebel, der wunderbaren Lust, jung zu sein. Das Leben als

Krieger, das ihm der Ritterorden geboten hatte, hatte ihm sehr zugesagt. Mit den

Jahren hatte er dort viel lernen können und die Bürde, den Glauben akzeptiert.

Dennoch hatte Schottland in ihm weitergelebt.

Jetzt war er wieder zu Hause. Aber obwohl er seine körperlichen Freiheiten in

vollen Zügen genoss, war er doch eigentlich mit einer noch größeren Bürde

belastet worden. Einer Bürde, die sein Leben in weitaus größerem Maße

bestimmte als vorher. Warum hatte Valcour ihn auserwählt, einen

widerspenstigen, wenngleich treuen Ritter? Hatte Valcour angenommen, er

würde gerne wieder in sein Heimatland zurückkehren und sein früheres Leben

bereitwillig wiederaufnehmen? Hatte Valcour die heimliche Erleichterung Nialls

geahnt, als er ihn von allen Gelübden mit Ausnahme eines einzigen befreite?

Aber dieses letzte war das größte und das bitterste gewesen, denn es schützte

jene, die den Orden zerstört hatten. Warum hatte man nicht Artair gewählt?

Gezwungenerweise hatte der seine Haare wieder wachsen lassen, da er sonst

seinen eigenen Tod heraufbeschworen hätte, aber abgesehen davon hielt er sich

immer noch an seine Gelübde, nämlich Enthaltsamkeit und Dienstbarkeit. Artair

zweifelte nie, niemals verfluchte er Gott für das Geschehene. Niemals hatte er

seinem Glauben abgeschworen. Falls er anfangs voller Hass gewesen war, so

hatte er über die Jahre Frieden gefunden und seinen Hass begraben. Trost fand

er im Gebet und im Kampf. Artair war ein guter Krieger und ein guter Kamerad.

Ein guter Hüter des Schatzes jedoch wäre er nicht gewesen.

Niall hatte weder der Kirche noch Gott jemals vergeben. Er hasste, er zweifelte,

und er verfluchte sich selbst und Valcour und sein geleistetes Gelübde. Am

Schluss jedoch kam er immer wieder auf dieselbe Wahrheit zurück: Er war der

Schatzhüter. Valcour hatte gut gewählt.

Um den Schatz zu beschützen, zog Niall gegen Huwe von Hay in den Krieg und

wusste, dass er damit eine Blutfehde angezettelt hatte. Er schwor sich, dass das

meiste Blut auf der Seite des Hayclans fließen sollte. Huwe wollte Krieg haben?

Nun denn, dann sollte er Krieg bekommen.

Zweiter Teil – Niall - Kapitel 12

»Fear-gleidhidh«, murmelte Grace. Sie bewegte das Wort über den Bildschirm

und versuchte, den Sinn eines Satzes zu erfassen. Fear-gleidhidh heißt >Hüter<.

Dieses Wort war ihr so oft begegnet, dass sie es beim ersten Lesen sofort

erkannte. In den letzten paar Monaten hatte sie so viel Zeit mit diesen gälischen

Dokumenten verbracht, dass sie eine ganze Reihe von Subjektiven erkannte,

obwohl sie sich in ihrer Schreibweise oft unterschieden. Vergeblich hatte sie

gehofft, mit einer zweihundert Dollar teuren Kassettensammlung Gälisch zu

lernen und so den mittelalterlichen Satzbau leichter entziffern zu können. Doch

immer noch brauchte sie für ein paar Sätze mehrere Stunden.

Aber was in aller Welt bedeutete cunhachd? Ihre Fingerspitze fuhr die Seite des

gälischen Wörterbuchs hinunter, aber das Wort konnte sie nicht finden. Könnte

es vielleicht cunbhalach sein, was »fortwährend« bedeutete, oder cunbhalachd,

das Wort für »Urteil« ? Nein, ersteres konnte nicht sein, denn wenn sie den Satz

richtig las, dann stand da: »Der Hüter war der Cunhachd. « Die Großschreibung

musste als solches nicht unbedingt etwas bedeuten, aber der Satz konnte nicht

heißen »Der Hüter war der fortwährend«.

Aber »Der Hüter hat das Urteil«? Wieder ordnete Grace die Wörter neu auf dem

Bildschirm und überprüfte zum x-ten Mal, ob sie das Verb vielleicht falsch

gelesen oder die Satzstellung nicht korrekt arrangiert hatte. Ohne Unterricht

brauchte sie mehr Zeit, um Gälisch zu lernen, als sie jemals für irgendeine

andere Sprache hatte aufwenden müssen.

Trotzdem konnte sie nach und nach kleine Fortschritte verzeichnen.

Noch einmal las sie das Dokument. Sie benutzte eine Lupe, um die verblichenen

Buchstaben lesen zu können. Nein, das Verb war ganz sicher »hat«. Das Wort

Cunhachd war das Problem. Als sie es sich näher betrachtete, bemerkte sie, dass

das »n« verschmiert war. Könnte es also auch ein »m« sein? Sie konsultierte das

Lexikon, und ein Gefühl des Triumphes durchströmte sie. Cumhachd bedeutete

»Macht«. »Der Hüter hat die Macht. «

Sie fuhr sich mit den Händen durch das Haar und ließ die langen Strähnen durch

ihre Finger gleiten. Welche Synonyme gab es für das Wort »Macht«? Autorität,

Recht, Wille, Gewalt. All die Wörter hätte man hier einsetzen können, aber sie

hatten eine unterschiedliche Bedeutung. Wenn sie den Satz wörtlich übersetzte,

welche Macht hatte dann der Hüter? Die Macht über den Schatz, die absolute

Kontrolle darüber? Geld war Macht, wie das Sprichwort schon besagt, aber in den

alten Dokumenten war festgehalten, dass der Schatz »mehr als Gold« wert sei.

Daraus folgte also, dass der Schatz zwar durchaus einen monetären Wert hatte,

sein eigentlicher Wert jedoch darüber hinausging.

Woraus also hatte der Schatz bestanden, und welche Macht hatte der Hüter

ausüben können? Wenn der Schwarze Niall wirklich so unglaublich mächtig

gewesen war, warum hatte er dann sein Leben als Abtrünniger im abgelegenen

westlichen Hochland verbracht? Wie hatte ein Angehöriger des Tempelordens, ein

religiöser Mann also, sich einen solchen Ruf als Frauenheld einhandeln können,

der seinem Ruf als Krieger in nichts nachstand?

Auch nach weiteren zwei Stunden Arbeit tappte sie immer noch im dunkeln. Der

Schatz war entweder »ein Wissen um die Macht Gottes«, was nicht sehr

einleuchtend schien, oder aber »ein Zeugnis von Gottes Willen«, was der Sache

allerdings auch nicht näher kam. Er besaß die Fähigkeit, dass »Könige und

fremde Länder« sich vor ihm verneigten, und er konnte »das Böse tilgen«.

Sie las die Wörter auf dem Bildschirm laut vor. »Der Hüter wird die Grenzen der

Zeit überschreiten, ebenso wie unser Heiland Jesus Christus es getan hat, um

seinen Kampf mit der Schlange auszufechten. « Das hörte sich eher so an, als

sollte der Hüter Jesus' Kampf mit dem Teufel nacheifern. Das wiederum deutete

aber nicht auf irgendeine große Macht hin, sondern eher auf das Bemühen, ein

anständiges Leben zu führen - ein ohnehin schwieriges Unterfangen. Und nach

dem, was sie bisher über den Schwarzen Niall erfahren hatte, hatte dieser noch

nicht einmal einen Versuch in diese Richtung unternommen. Worin bestand also

der Schatz, und was bedeutete die Macht? War es ein religiöser Mythos? Parrish

glaubte allem Anschein nach, dass das Gold tatsächlich existierte. Oberflächlich

betrachtet war das bereits ein ausreichender Grund, aber Grace kam immer

wieder darauf zurück, dass der Schatz mehr als Gold sei und fragte sich, ob sich

nicht mehr als nur großer Reichtum dahinter verbarg. Wenn ja, woraus bestand

dieses »Mehr«? Kein Ordensbruder hatte jemals das Geheimnis preisgegeben,

obwohl einige von ihnen schwer gefoltert worden waren. Vielleicht waren die

meisten ja auch gar nicht eingeweiht, der Großmeister jedoch hatte ganz sicher

davon gewusst. Dennoch war er auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden, ohne

dass er das Geheimnis preisgegeben hätte. Statt dessen hatte er König Philipp

von Frankreich und den Papst verflucht, und innerhalb der nächsten zwölf

Monate hatten sowohl Philipp als auch Clemens das Zeitliche gesegnet. Dies

wiederum belebte den Aberglauben, dass die Tempelbrüder mit dem Teufel im

Bunde standen.

Behutsam setzte Grace den unergiebigen Satz in neue Worte. »Der Hüter soll die

Grenzen der Zeit überschreiten, um das Böse zu tilgen. « Manchmal half es,

wenn sie die Sätze in die heutige Umgangssprache übersetzte, um so die

vergangenen Jahrhunderte zu überbrücken. Sie versuchte es noch einmal. »Der

Hüter soll die Zeit damit verbringen, gegen das Böse zu kämpfen. « Welche Zeit?

Die Jahre unmittelbar nach der Zerstörung des Ordens? Wenn dem so war, so

hatte der Schwarze Niall seine Kämpfe bereits einerseits im Bett und

andererseits in den Bergen und Mooren Schottlands ausgetragen.

Das schien ihr wenig sinnvoll, und außerdem war sie zu müde, um mit ihrer

Arbeit fortzufahren. Grace speicherte ihre Datei ab und schaltete den Computer

aus. In den letzten sechs Monaten hatte sie alle Niederschriften zu den Kämpfen

und Eroberungen des Schwarzen Niall auf lateinisch, französisch und englisch

übersetzt, aber manche gälische Passagen hatte sie immer noch nicht entziffern

können. Ja, sogar einige der lateinischen Passagen bereiteten ihr

Schwierigkeiten, weil aus irgendeinem Grund das Wort »Diät« auftauchte. Was

hatte denn die sparsame Aufnahme von Salz mit der Geschichte des

Tempelordens zu tun? Und warum legten sie bei der täglich konsumierten

Wassermenge das Gewicht des einzelnen zugrunde? Dennoch stand mitten in

einer langen Passage über die Pflichten des Hüters: Victus Rationem Temporis,

die Ernährung der Zeit oder für die Zeit. Mitten beim Ausziehen ihres T-Shirts

hielt sie inne. Zeit. Warum tauchte dieses Wort sowohl im lateinischen als auch

im gälischen Text auf? Wenn sie sich recht erinnerte, so war eine Anspielung

darauf auch in den französischen Dokumenten aufgetaucht. Hastig drehte sie

sich zu dem wackeligen Tisch um, den sie als Schreibtisch benutzte, und suchte

in den Dokumenten ebendiese Seite. »Von den Ketten der Zeit soll er

unbehindert sein. « Die Zeit überschreiten. Von den Ketten der Zeit befreit sein.

Die Ernährung der Zeit. Irgendwie hingen diese Dinge alle zusammen, auch

wenn sie sich noch keinen Reim darauf machen konnte. Alle erwähnten die Zeit.

War es jedoch wörtlich oder im übertragenen Sinn gemeint? Und was hatte die

Zeit mit dem Tempelorden zu tun? Diese Rätsel würde sie wohl kaum lösen,

indem sie darüber nachgrübelte. Sie würde die Dokumente zu Ende übersetzen

müssen, eine Arbeit, bei der sie das Ende allmählich absehen konnte. Noch drei,

vielleicht auch vier Wochen, und sie hätte den gälischen Teil abgeschlossen.

Gälisch war so schwierig, dass sie es bis zum Schluss aufgeschoben hatte. Sie

konnte sich ihrer Übersetzung dennoch nicht ganz sicher sein, aber sie hatte ihr

Bestes gegeben. Ob die Dokumente ihr noch mehr außer den Ort des Schatzes

verraten würden, musste sie erst noch herausfinden.

Nachdem sie sich für die Nacht zurechtgemacht hatte, packte sie all ihre Papiere

und ihren Computer in die Tasche zurück und legte sie in Reichweite ihres

Bettes. Falls sie überraschend wieder aufbrechen musste, dann wollte sie mit

dem Zusammensuchen ihrer Sachen keine wertvolle Zeit vertrödeln.

Sie machte das Licht aus. Von dem schmalen, holprigen Bett aus betrachtete sie

durch das Fenster hindurch die sanft herunterfallenden Schneeflocken. Die

Jahreszeiten hatten gewechselt, der Sommer war dem Herbst gewichen, die

kräftigen Farben hatten der Eintönigkeit des Winters Platz gemacht. Acht Monate

waren vergangen, seit ihr altes Leben geendet hatte. Sie hatte überlebt, aber sie

hätte nicht behaupten können, dass sie wirklich lebte. Ihr Herz fühlte sich so

blass und karg wie der Winter selbst an. Ihr Hass gegen Parrish hatte ihren

Schmerz etwas verdrängen können, aber eigentlich hatte seine Heftigkeit nicht

nachgelassen. Sie wusste, dass er noch da war, und dass sie ihm eines Tages

nachgeben würde. Diesen Preis würde sie allerdings erst zahlen, wenn die Zeit

dazu reif war.

Jeden Tag wieder dankte sie Harmony. Sie hatte einen Pass auf den Namen

Louisa Croley, so dass sie notfalls das Land blitzschnell verlassen konnte.

Nachdem ihr das gelungen war, hatte sie zusätzlich noch andere Namen

angenommen und neue Arbeit. Zwei Monate lang hatte sie Majorie Flynn

geheißen, dann hatte sie zu Paulette Bottoms gewechselt. Wieder eine schlecht

bezahlte Arbeit, wieder ein neues billiges Zimmer. Das Viertel St. Paul in

Minneapolis war groß genug, um darin unterzutauchen. Da sie niemals jemanden

aus ihrem früheren Bekanntenkreis traf, hatte sie auch keine Schwierigkeiten,

ihren Namen häufig zu ändern. Sie folgte Harmonys Ratschlag und befreundete

sich mit niemandem. Sie hatte jeden Pfennig beiseite gelegt und trotz des

Autokaufs beinahe viertausend Dollar zusammengespart. Niemals wieder würde

sie so hilflos sein wie unmittelbar nach den Morden.

Selbst ohne Geld und Auto wäre sie gar nicht mehr dazu imstande. Denn

teilweise beruhte ihre damalige Hilflosigkeit auf ihrem Unwissen, wie man auf der

Straße überleben konnte. Ihre Miene war kühl und ausdruckslos, und sie lief mit

einer Wachsamkeit, die jedem potentiellen Angreifer signalisierte, dass sie keine

leichte Beute abgeben würde. Zu Hause übte sie Abends die Bewegungsabläufe

und Griffe, die ihr Matty beigebracht hatte. Ihre kargen Zimmer richtete sie sich

so ein, dass sie sich geschützt fühlte und gut arbeiten konnte. Zu keiner Zeit war

sie unbewaffnet. Sie hatte sich eine billige Pistole gekauft und trug sie ständig

bei sich. Zusätzlich besaß sie noch ein Messer, das unsichtbar unter ihrem Hemd

versteckt war. In ihrem Stiefel trug sie einen gespitzten Schraubenzieher, in

ihrem Hemdsärmel war eine Hutnadel eingenäht, und in ihrer Tasche lag ein

Bleistift. Es war nicht einfach gewesen, einen geeigneten Ort für ihre

Schießübungen zu finden. Dazu hatte sie weit ins Land hinausfahren müssen. Bis

zur Meisterschaft hatte sie es vielleicht noch nicht gebracht, aber sie hatte doch

eine gewisse Routine in der Handhabung der Waffe erlangt. Jetzt jedenfalls

konnte sie sie mit einiger Selbstverständlichkeit tragen.

Sie bezweifelte, dass irgend jemand aus ihrem früheren Bekanntenkreis sie

heute noch erkennen würde, selbst wenn sie ihr direkt gegenüberstünden. Ihr

langes, dichtes Haar ließ sie nur noch innerhalb ihrer vier Wände offen

herunterfallen. Zur Arbeit trug sie eine billige, hellbraune Perücke, ansonsten

zwirbelte sie ihre Haare zu einem Knoten auf ihrem Kopf zusammen und stülpte

eine Baseballmütze darüber. Mit knapp fünfzig Kilo war sie dünn. Ihre

Wangenknochen stachen deutlich über ihren eingefallenen Wangen hervor. Sie

hatte es geschafft, nicht noch mehr abzunehmen. Dennoch musste sie sich das

Essen ganz bewusst vornehmen, außerdem trainierte sie regelmäßig, um ihre

Kräfte zu erhalten. Sie trug enge Jeans und festes, schwarzes Schuhwerk, dazu

eine pelzgefütterte Leinenjacke, um sich gegen den kalten Winter in Minnesota

zu schützen. Harmonys ausgezeichnetem Ratschlag folgend, hatte sie sich etwas

preiswerte Kosmetika gekauft und gelernt, Lippenstift, Wimperntusche und

Rouge aufzutragen, damit sie nicht wie eine Nonne aussah.

Ein paar Männer hatten sich zu ihr hingezogen gefühlt, aber ein ausdrucksloser,

eiskalter Blick und eine feste Absage hatten sie sofort wieder vergrault. Sie

konnte sich nicht einmal vorstellen, mit einem Mann überhaupt eine Tasse Kaffee

zusammen zu trinken. Nur in ihren Träumen konnte sie das Erwachen ihrer

Sexualität nicht verhindern. Der Schwarze Niall war so oft in ihren Gedanken und

beschäftigte sie so viele Stunden ihres Tages, dass sie ihn nicht aus ihrem

Unterbewusstsein hatte verbannen können. Er war ganz einfach da, er lebte in

ihren Träumen, er kämpfte und liebte, er war unerschrocken, schön, bestürzend

männlich und so bedrohlich, dass sie manchmal vor Angst zitternd aufschreckte.

Sie hatte noch niemals geträumt, dass er sie bedrohte, aber der Schwarze Niall

ihrer Einbildung war kein Mann, den man ungestraft betrügen konnte. Wenn sie

von ihm träumte, fühlte sie sich fast schmerzhaft lebendig. Sie konnte die

endlose, sie den Tag über schützende Leere nicht beibehalten. Bebend sehnte sie

sich nach seiner Berührung. Nur zweimal hatte sie sich mit ihm im Traum geliebt,

aber beide Male waren einfach umwerfend gewesen.

Es war natürlich ein Fehler, sich ausgerechnet jetzt, wo sie schlafen wollte, an

diese Träume zu erinnern. Sie drehte sich unruhig auf die Seite, da sie eine

Wiederholung nicht heraufbeschwören wollte. Die erotischen Träume waren ihr

allerdings lieber als die von irgendwelchen kriegerischen Auseinandersetzungen,

die während der letzten vier Monate ständig vorgekommen waren. In ihren

Träumen watete er durch menschliche Gliedmaßen und durch Blut. Sie konnte

das Klirren der Schwerter hören, sie spürte die Männer ausrutschen und zu

Boden sinken, sie hörte sie mühsam keuchen, sie hörte die qualvollen Schreie

und sah, wie ihre Gesichter sich angesichts des Todes verzerrten. Wenn sie die

Wahl zwischen Krieg und Sex hatte, dann hätte sie, ohne zu zögern, letzteres

gewählt, wenn sie nur nicht hinterher immer von Schuldgefühlen geplagt worden

wäre. Nachdem sie eine volle Stunde so gelegen hatte, setzte sie sich seufzend

auf und richtete sich auf eine schlaflose Nacht ein. Sie war vollkommen

übermüdet, aber ihre Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Wieder und wieder ging

sie ihre Dokumente durch, grübelte über Niall nach und versuchte, irgendeine

Form der Rache gegenüber Parrish auszuhecken. Sie hatte gehofft, etwas aus

den Dokumenten gegen ihn verwenden zu können. Bei genauerem Nachdenken

jedoch musste sie sich eingestehen, dass er in siebenhundert Jahren alten

Dokumenten natürlich nicht erwähnt sein konnte. Wenn sie sich tatsächlich an

Parrish rächen wollte, dann musste sie etwas viel naheliegenderes tun,

beispielsweise ihn eigenhändig ermorden.

Sie stand vom Bett auf und knipste das Licht an. Ihre Augen blickten starr

geradeaus, ihr weicher Mund hatte sich zu einer grimmigen Linie verzogen.

Während der letzten acht Monate hatte sie gelernt, sich selbst zu verteidigen,

vielleicht hätte sie auch aus Notwehr jemanden umbringen können. Ob sie

allerdings einen geplanten Mord durchführen konnte, erschien ihr fraglich. Sie lief

mit um den Körper geschlungenen Armen auf und ab. Könnte sie Parrish

umbringen? Würde sie auf ihn zugehen können, ihm die Pistole an die Schläfe

setzen und abdrücken können?

Sie schloss die Augen. Das Bild in ihrem Kopf war jedoch nicht das, wie sie

Parrish erschoss, sondern vielmehr mit welcher absoluten Beiläufigkeit, fast

schon Langeweile, er Ford und Bryant erschossen hatte. Sie erinnerte sich an die

plötzliche Ausdruckslosigkeit von Fords Gesicht, bevor er nach vorne

zusammengebrochen war.

Sie biss die Zähne aufeinander und ballte die Hände zu Fäusten. Und ob sie

Parrish umbringen könnte!

Warum aber tat sie es dann nicht?

Als sie noch für die Reinigungsfirma gearbeitet hatte, war sie mehrmals an

seinem Haus vorbeigefahren, hatte aber erwartungsgemäß weder ihn noch sein

Auto gesehen. Wenn er zu Hause gewesen wäre, dann hätte er sein Auto in der

Garage abgestellt. Außerdem war Parrish kein Mann, der gerne im Garten

arbeitete. Sie wusste nichts über seinen Tagesablauf, sie hatte keine Zeit darauf

verwandt, ihn auszuspionieren. Sich selbst hatte sie zwar durchgebracht, ihre

Familie jedoch hatte sie nicht gerächt, sondern sich auf die Dokumente gestürzt

und sich eingeredet, dass sie dort etwas Nützliches finden würde. Sie hatte sich

etwas vorgemacht, so dass sie ihre Flucht in die Übersetzungen vor sich selbst

rechtfertigen konnte.

Mit diesem Selbstbetrug aber war es jetzt vorbei. Entweder musste sie nun etwas

gegen Parrish tun, oder sie musste für den Rest ihres Lebens untertauchen und

trauern.

Sie würde es tun. Sie würde Parrish aufstöbern und ihn umbringen.

Grace spürte, wie ihre Entscheidung sie belastete. Ihr war nur zu klar, dass sie

nicht aus dem Holz eines Killers geschnitzt war. Andererseits hatte sie diese

Sache nicht angezettelt, sondern Parrish hatte den Reigen eröffnet. Im Alten

Testament steht »Du sollst nicht töten. « Aber »Auge um Auge, Zahn um Zahn«

ist dort ebenfalls zu lesen. Vielleicht versuchte sie sich damit nur zu beruhigen,

aber sie interpretierte die Bibel so, dass die Gesellschaft oder die betroffene

Familie das Recht hatte, das Leben des Mörders auszulöschen. Morgen würde sie

mit der Hetzjagd beginnen. Sie würde ihn hetzen wie ein mörderisches,

verschlagenes Tier, denn genau das war er.

Am nächsten Morgen aber hatte sie erst einmal eine andere Sorge: Sie musste

zur Arbeit. Sie konnte nicht den ganzen Tag damit verbringen, aus einem

versteckten Winkel heraus Parrishs Haus zu beobachten. Ihr alter Transporter

würde in der Gegend auffallen. Ihn persönlich zu beobachten, ihn zu verfolgen

und eine günstige Gelegenheit abzuwarten war nicht machbar. Sie musste schon

im voraus wissen, wo er sich aufhalten würde, und bereits vor ihm an diesem Ort

sein.

Soweit sie das von früher wusste, hielt er sich momentan in der Stadt auf. Im

Winter machte er oftmals vier Wochen in einer wärmeren Klimazone Urlaub.

Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Während ihrer Mittagspause bei

einer anderen Reinigungsfirma hielt sie bei einem Schnellrestaurant an und rief

von einem Münzfernsprecher aus die Stiftung an. Ihre Finger tippten wie

ferngesteuert die wohlbekannte Nummer ein. Erst als das erste Klingelzeichen zu

hören war, wurde sie sich ihres Tuns richtig bewusst, und ihr Herz raste. Noch

bevor sie den Hörer auflegen konnte, meldete sich die unpersönliche Stimme der

Empfangsdame. »Amaranthine Potere Stiftung, mit wem darf ich Sie verbinden?

«

Grace schluckte. »Ist Herr Sawyer heute im Büro? «

»Einen Augenblick bitte. «

»Nein, stellen Sie mich bitte nicht... «, stammelte sie, aber sie hörte bereits ein

weiteres Klingeln. Sie atmete tief durch und bereitete sich darauf vor, dieselbe

Frage noch einmal gegenüber Parrishs Sekretärin zu wiederholen. Sie würde ihre

Stimme ein wenig verändern müssen, weil sie und Annalise sich früher gekannt

hatten...

»Parrish Sawyer. «

Die sanfte und kultivierte Stimme erschreckte sie. Sie erstarrte. Sie konnte

keinen klaren Gedanken mehr fassen, als sie seine verhasste Stimme hörte.

»Hallo? « fragte er schon etwas schärfer.

Grace rang nach Atem.

»Handelt es sich hier um einen obszönen Anruf? « fragte er und schien

gleichzeitig gelangweilt und verärgert. »Ich möchte wirklich nicht... « Plötzlich

hielt er inne. Ein paar endlos erscheinende Sekunden lang konnte sie seinen

Atem hören. »Grace«, sagte er mit schnurrender Stimme. »Wie nett von dir,

dass du anrufst. «

Sie fühlte sich wie in einem Eisschrank. Es war eine Kälte, die nichts mit der

kalten Wetterlage zu tun hatte. Sie brachte kein Wort über die Lippen, sie konnte

sich nicht bewegen, sie konnte lediglich den Telefonhörer mit bereits vor

Anstrengung weißen, blutleeren Gelenken umklammern.

»Kannst du denn nicht reden, mein Schatz? Ich möchte gern mit dir sprechen

und dieses schreckliche Missverständnis zwischen uns bereinigen. Du weißt doch,

ich würde nicht zulassen, dass dir etwas passiert. Ich habe schon immer gespürt,

dass zwischen uns etwas ist. Wie stark jedoch diese Gefühle sind, habe ich erst

bemerkt, als du weggelaufen bist. Lass dir von mir helfen, mein Liebling. Ich

werde mich um alles kümmern. «

Was für ein guter Lügner er doch ist, dachte sie benebelt. Seine warme,

verführerische Stimme klang vertrauenswürdig und sympathisch. Wenn sie die

Morde nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, dann hätte sie jedes seiner Worte

für bare Münze genommen.

»Grace« flüsterte er mit schmeichelnder Stimme. »Sag mir, wo wir uns treffen

können. Ich werde mit dir irgendwohin gehen, nur wir beide, wo du sicher bist.

Du musst dir überhaupt keine Sorgen mehr machen. «

Er log nicht. Sie hörte den lüsternen Unterton seiner Stimme. Entsetzt und

angeekelt hängte sie den Telefonhörer auf und ging wie vor den Kopf geschlagen

wieder zu ihrem Transporter zurück. Sie fühlte sich beschmutzt, als ob er sie

belästigt hätte.

Mein Gott, wie konnte er nur soviel Frechheit besitzen, wie konnte er nur

glauben, dass sie sich von ihm anfassen lassen würde! Sie ließ das Auto an und

fuhr vorsichtig und ohne Aufsehen zu erregen los. Ihr Herz aber schlug so heftig,

dass sie glaubte, ohnmächtig zu werden. Er konnte nicht mit Sicherheit wissen,

ob sie ihn in jener Nacht wirklich gesehen hatte. Also hatte er sie von seiner

Unschuld überzeugen und sie zu einem Treffen überreden wollen. Sie hatte

niemals daran gezweifelt, dass er sie umbringen würde. Jetzt aber wusste sie,

dass er sie vorher vergewaltigen würde.

Federleichte Schneeflocken tanzten über die Windschutzscheibe. Erst waren es

nur vereinzelte Flocken, aber als sie an ihrem nächsten Haus angekommen war,

lag bereits eine Haube auf den Autodächern. Das Haus gehörte zu jenen

Häusern, in denen sie nur sehr ungern putzte. Frau Eriksson war immer zu Hause

und verfolgte jede von Graces Bewegungen. Sie schien zu befürchten, dass

Grace mit einem Fernseher unter dem Arm das Haus verlassen könnte.

Andererseits quatschte sie nicht, wie andere Leute es taten, und heute war Grace

für die Stille wirklich dankbar. Ihre Gedanken waren vollkommen durcheinander,

während sie wie betäubt Staub wischte und staubsaugte. Frau Eriksson ließ einen

Stapel Wäsche auf das Sofa fallen. »Meine Bridgerunde kommt heute Abend, und

ich muss einen Kuchen backen. Es wäre mir eine große Hilfe, wenn Sie die

Wäsche legen würden. Dann könnte ich schon mit dem Backen anfangen. «

Die Frau war unermüdlich, wenn es darum ging, dem Reinigungspersonal noch

zusätzlich unbezahlte Aufträge zu erteilen. Grace blickte auf ihre Uhr. »Tut mir

leid«, sagte sie. »Ich kann gerade noch die Böden machen. « Das war gelogen,

denn heute hatte sie einen leichten Tag. Sie musste erst um vier Uhr beim

nächsten Kunden sein. Aber der Bridgeclub war vermutlich auch eine Lüge

seitens Frau Eriksson, vielleicht war sogar das Kuchenbacken eine Finte.

»Sie sind aber ausgesprochen unwillig«, entgegnete die Frau scharf. »Mehrmals

schon sind Sie meinen Aufforderungen nicht nachgekommen, und ich überlege

mir, ob ich nicht die Firma wechsle. Wenn Sie Ihre Einstellung nicht ändern,

werde ich wohl mit Ihrem Vorgesetzten sprechen müssen. «

»Meine Chefin wird Ihnen sicherlich gerne unseren Wäscheservice

vorbeischicken. «

»Warum sollte ich Ihren Wäschedienst in Anspruch nehmen, wenn Sie sich

insgesamt als vollkommen unzureichend erwiesen haben? «

»Sie könnte Ihnen ja jemand anderes zuteilen, wenn Ihnen das lieber ist. « Ohne

aufzusehen stopfte Grace das Staubtuch in ihren Leinenbeutel, in dem sie all ihr

Putzzeug aufbewahrte. Dann steckte sie schwungvoll den Stecker des

Staubsaugers in die Dose und begann zu saugen. Der Lärm übertönte alles, was

Frau Eriksson unter Umständen noch gerne gesagt hätte. Grace schob die Düse

gewissenhaft über den Teppichboden. Die Reinigungsfirma würde vielleicht Frau

Eriksson jemand anderes zuteilen, aber sie würde auch dann nicht ihre Wäsche

gelegt oder ihren Abwasch erledigt bekommen, es sei denn, sie bezahlte diese

Arbeiten extra.

Frau Eriksson setzte sich auf das Sofa und begann die Wäsche zu legen. Sie

schleuderte die Kleidungsstücke hoch und machte ein missmutiges Gesicht,

Graces Gedanken aber kehrten zu Parrish zurück.

Jeder Muskel ihres Körpers verkrampfte sich. Das Entsetzen, ihm in die Hände zu

geraten, überstieg ihre Vorstellungskraft. Er musste sie gar nicht mehr

umbringen, denn allein durch seine Berührung würde sie dem Wahnsinn

verfallen.

Wie hatte er das wissen können? Woher hatte er geahnt, dass sie es war, die ihn

angerufen hatte? Welche barbarischen Instinkte verrieten ihm mit dieser

traumwandlerischen Sicherheit ihre Identität? Hatte er die Polizei von

Minneapolis verständigt, dass sie wieder in der Gegend war?

Parrish telefonierte tatsächlich sofort, allerdings mit Conrad und nicht mit der

Polizei. »Frau St. John hat mich gerade angerufen«, sagte er sanft, wobei sich

Freude und Erregung in seine Stimme mischten. »Vermutlich wollte sie nur

herausfinden, ob ich hier bin. Wahrscheinlich hat sie Annalise am Telefon

erwartet. Nimm sofort Kontakt mit unserem U-Boot in der Telefongesellschaft auf

und finde heraus, von wo sie telefoniert hat. « Er blickte auf seine Rolex. »Der

Anruf kam genau dreiundzwanzig Minuten nach zwölf. «

Ohne Conrads Antwort abzuwarten, legte er auf und lehnte sich in seinem

riesigen Ledersessel zurück. Er atmete schwer, denn die Erregung war ihm in alle

Glieder gefahren. Grace! Wer hätte nach sechs verdammt frustrierenden

Monaten, in denen sie in Chicago einfach nicht mehr aufzutreiben gewesen war,

angenommen, dass sie selbst den Kontakt aufnehmen würde?

Conrad war sich sicher gewesen, dass er ihren Arbeitsplatz in Chicago ausfindig

gemacht hatte. Es war ein billiges italienisches Restaurant, in dem die Bedienung

schwarz bezahlt wurde. Die Frau war dünner gewesen, aber sie hatte

gelegentlich eine kleine Tragetasche mit dabeigehabt, hatte sich sehr

zurückgehalten und hatte blonde Locken gehabt. Eine ähnliche Frisur hatte man

ihm auch aus der Newberry-Bibliothek gemeldet. Newberry war eine der besten

Recherchebibliotheken im ganzen Land. Das wiederum wusste Grace. Sie

brauchte die dort untergebrachten Nachschlagewerke. Parrish war sich sicher,

dass sie noch an den Dokumenten arbeitete, und Grace war sehr gut in ihrer

Arbeit. Sie würde sehr wohl wissen, warum er die Dokumente unbedingt haben

wollte. Aber dann war sie wieder verschwunden. Niemand dort hatte ihre Adresse

gekannt. Conrad hatte Buslinien, Züge und Flüge überprüft, aber niemand mit

Blondgelockten Haaren und einer Computertragetasche war dort gesehen

worden. Noch nicht einmal Conrad hatte einen Hinweis auf ihre Spur finden

können.

Wo war sie jetzt? In Minneapolis - oder versteckte sie sich in irgendeiner kleinen

Ortschaft? Sie hatte zwar kein Wort gesagt, aber das verräterische Einatmen

überzeugte ihn davon, dass sie die Anruferin gewesen sein musste.

Schon bald würde er vielleicht nicht ihren jetzigen Aufenthaltsort wissen, aber

doch den Ort, von wo aus sie den Anruf gemacht hatte. Die Polizei brauchte eine

gesetzliche Verfügung, um solche Details von der Telefonbehörde zu erfahren, er

dagegen war durch solch lachhafte Einschränkungen nicht behindert. Conrad

würde also wissen, wo er mit der Suche beginnen musste. Jetzt hatte er

zusätzlich seinen Stolz mit in die Waagschale geworfen, denn er krankte immer

noch an der Tatsache, dass eine kleine, unscheinbare Person wie Grace St. John

ihn an der Nase herumgeführt hatte.

Warum aber hatte sie herausfinden wollen, ob er im Büro war? Er lachte leise.

Hatte die kleine Grace vor, sich an ihm zu rächen? Hielt sie sich etwa für fähig, in