Wie Tau auf

meiner Haut

1998

Roman

Linda Howard

Aus dem Amerikanischen von Inez Meyer

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Son of the Morning« 1997

Buch

In einem Wust von alten Manuskripten entdeckt die junge Wissenschaftlerin Grace St. John die Spur zu einem legendären keltischen Schatz. Bis sie die Geschichte im Detail entziffert hat, weiß sie jedoch nicht, dass sie damit auch den Schlüssel zu unbegrenzter Macht in den Händen hält. Doch der sensationelle Fund bleibt nicht lange ein Geheimnis. Bald schon wird Grace von einem skrupel osen Kil er gejagt, der den Schatz um jeden Preis an sich reißen wil . Nur ein Mensch kann Grace helfen - Niall, ein sagenumwobener Krieger, der einst das Gelübde abgelegt hat, den Schatz für alle Ewigkeit zu hüten. Aber Niall lebte im schottischen Hochland des 14.

Jahrhunderts... So zelebriert Grace ein magisches Ritual und steht schon bald einem furchterregenden Ritter von archaischer Wildheit und unbeherrschtem Verlangen gegenüber. Etwas Unwiderstehliches, Unglaubliches entwickelt sich zwischen Grace und Nial - eine zeitlose, unverbrüchliche Liebe über alle Jahrhunderte hinweg.

Doch wird sie auch stark genug sein, den mörderischen Gefahren zu trotzen?

Autorin

Linda Howard erhielt für ihre historischen und modernen Liebesromane bereits mehrere Auszeichnungen, u. a.

den »Silver Pen« der Zeitschrift Affaire de Coeur und den von den Leserinnen der Romantic Times verliehenen Preis für den besten erotischen Roman. Linda Howards Bücher haben in der Zwischenzeit eine Gesamtauflage von über fünf Mil ionen Exemplaren erreicht!

Wie Tau auf meiner Haut ..................................................................... 3

Erster Teil – Grace - Prolog .............................................................. 5

Kapitel 1 .......................................................................................... 18

Kapitel 2 .......................................................................................... 37

Kapitel 3 .......................................................................................... 52

Kapitel 4 .......................................................................................... 63

Kapitel 5 .......................................................................................... 74

Kapitel 6 .......................................................................................... 88

Kapitel 7 .......................................................................................... 91

Kapitel 8 ........................................................................................ 102

Kapitel 9 ........................................................................................ 110

Kapitel 10 ...................................................................................... 138

Kapitel 11 ...................................................................................... 154

Zweiter Teil – Niall - Kapitel 12................................................... 168

Kapitel 13 ...................................................................................... 180

Kapitel 14 ...................................................................................... 191

Kapitel 15 ...................................................................................... 202

Kapitel 16 ...................................................................................... 217

Kapitel 17 ...................................................................................... 230

Kapitel 18 ...................................................................................... 238

Kapitel 19 ...................................................................................... 249

Kapitel 20 ...................................................................................... 257

Kapitel 21 ...................................................................................... 274

Kapitel 22 ...................................................................................... 289

Kapitel 23 ...................................................................................... 296

Kapitel 24 ...................................................................................... 305

Kapitel 25 ...................................................................................... 323

Kapitel 26 ...................................................................................... 331

Kapitel 27 ...................................................................................... 350

~~ Ende ~~ .................................................................................... 356

Für Susan Bailey, meine liebenswürdige Bankerin, die mir alle Fragen über Computer

beantwortete -

und die mich nicht wegen Planung eines Banküberfalls verdächtigte. Danke!

»Wie bist du vom Himmel gefallen, du schöner Morgenstern! Wie bist du zur Erde gefällt, der du die Heiden schwächtest! «

Jesaja 14, Vers 12

Erster Teil - Grace - Prolog

Dezember 1307 Frankreich

Innerhalb der feuchtkalten Felswände des unterirdischen Verlieses drang die

Kälte durch Wolle und Leinen hindurch bis auf die Knochen. Die rußenden

Fackeln gaben als einzige Lichtquelle zu wenig Wärme ab, als dass man sie

bemerkt hätte. Die beiden vom flackernden Licht angestrahlten Männer

schenkten der Kälte ohnehin keinerlei Beachtung. Derart nebensächliche

Beeinträchtigungen ihrer Bequemlichkeit war ihnen keiner Erwähnung wert.

Der eine Mann stand, während der andere vor ihm in einer Haltung kniete, die

unterwürfig hätte sein sollen, wäre es nicht offensichtlich gewesen, dass eine

solche Geisteshaltung dem großen Kopf auf den breiten Schultern vollkommen

fremd war. Der stehende Mann sah gegenüber dem vitalen anderen Mann

geradezu zerbrechlich aus. Der Kopf des knienden Mannes ging dem anderen bis

zur Brust. Valcour wirkte im Vergleich mit dem Krieger, der er einmal gewesen

war, und im Vergleich mit dem vor ihm knienden Mann tatsächlich schmächtig,

aber Alter und Verzweiflung hatten ihre Spuren hinterlassen. Er war

einundfünfzig Jahre alt und hatte die Blütezeit seiner Kräfte hinter sich. Kopfhaar

und Bart waren bereits mehr grau denn braun, und sein schmales Gesicht war

von der Last seiner Bürden zerfurcht. Jetzt war es an der Zeit, die

Verantwortung, die er so viele Jahre lang geschultert hatte, einem anderen zu

übertragen. Bei diesem jungen Löwen glaubte er sie in guten Händen. Im Orden

gab es keinen besseren Krieger als ihn. Das wiederum bedeutete, dass es keinen

besseren im gesamten Christentum gab. Denn seit ihrer Entstehung waren sie

eine Bruderschaft von Rittern gewesen, die Besten der Besten, die von allen

Schlachtfeldern Europas auserlesen wurden. Unvermittelt war es damit jedoch zu

Ende gewesen.

Vor zwei Monaten, am Freitag, dem dreizehnten Oktober des Jahres 1307 - ein

Tag, der sicherlich in aller Zukunft als verhängnisvoll in Erinnerung bleiben würde

-, hatten Philipp IV. von Frankreich und sein Lakai, Papst Clemens V, ihrer

Begierde nachgegeben und in einem Schlag das größte damals existierende Heer

besiegt: die Ritter des Tempelordens. Einige konnten entkommen, die anderen

starben auf grausame Weise. Ein noch qualvollerer Tod stand jenen bevor, die

sich als Gefangene weigerten, ihren Glauben zu widerrufen.

Der Großmeister war erst sehr spät gewarnt worden und hatte die knappe Zeit

lieber darauf verwandt, den Schatz zu verbergen, als sich selbst in Sicherheit zu

bringen. Vielleicht hatte Jacques de Molay das Herannahen einer Katastrophe

geahnt, denn er hatte mehrmals Valcour bedrängt, die riesige Seeflotte Philipps

Zugriff zu entziehen. Aber sein eigenes und auch des geschätzten Kriegers

Geoffroy de Charnays Hauptanliegen war es gewesen, den Schatz in Sicherheit

zu bringen. Nach langer Beratung wurde der Schatz einem Schutzpatron

unterstellt, nämlich Niall von Schottland. Er war sehr umsichtig ausgewählt

worden, nicht nur wegen seiner einzigartigen Schwertfähigkeit, sondern auch

wegen des Schutzes, den allein schon sein Name gewährte. In Schottland würde

der Schatz sicher sein.

Der Großmeister war sich trotz Nialls Verbindungen nicht ganz klar, ob er die

richtige Wahl getroffen hatte. In gewisser Weise war der Schotte trotz seiner

ungebrochenen Treue und den beiden gegenüber Gott und dem Orden

geleisteten Gelübden von einer ungezähmten Wildheit. Manche seiner Gelübde,

insbesondere das der Keuschheit, hatte er nur unwillig geleistet. Niall wurde in

den Orden gezwungen, weil ein Mönch niemals mehr König werden kann. Ein

König muss Kinder haben können, um sein Königreich auch für die Zukunft zu

sichern. Seine außereheliche Geburt hätte eigentlich eine unüberwindliche Hürde

dargestellt, aber bereits in jungen Jahren war Niall groß und aufgeschossen,

schlau und draufgängerisch gewesen. Kurz, er vereinte alle Eigenschaften eines

großen Herrschers und Königs. Die Alternativen waren klar gewesen: entweder

ihn umzubringen oder es ihm unmöglich zu machen, die Thronfolge anzutreten.

Niall wurde von seinem Vater und seinem Halbbruder geliebt, also hatte es

bezüglich der anstehenden Entscheidung überhaupt keinen Zweifel gegeben. Der

junge Mann würde in den Dienst Gottes treten müssen.

Das war ein ausgesprochen kluger Schachzug gewesen. Denn sollte Niall seine

Gelübde gegenüber dem Tempelorden jemals widerrufen, würde er sich

gleichzeitig für die Krone untragbar machen, denn er wäre entehrt. Den jungen

Niall dem Schutz des Tempels zu unterstellen hatte ihm das Leben gerettet.

Gleichzeitig konnte er nicht mehr als schottischer Thronfolger gehandelt werden -

jedenfalls nicht unter den gegebenen Umständen.

Wenn Niall schon nicht für den Thron vorgesehen war, so eignete er sich doch

vorzüglich zum Krieger. Er hatte seine Fleischeslust in Tapferkeit auf dem

Schlachtfeld verwandelt. Wenn sein Blick auch manches Mal an etwas

Verbotenem hängen blieb, so war sich der Großmeister doch sicher, dass er seine

Gelübde niemals gebrochen hatte, denn er war ein Mann, der zu seinem Wort

stand. Dieser Charakterzug zusammen mit seinen kämpferischen Fähigkeiten

hatten de Charnay schließlich dazu bewogen, Niall als den nächsten Schutzpatron

auszuwählen. Wenn auch der Großmeister dem Orden vorstand, so war doch de

Charnay unbestritten der einflussreichste Ritter. Außerdem hatte de Charnay die

Verantwortung für den Schatz viele Jahre lang getragen, weshalb er in dieser

Angelegenheit denn auch das letzte Wort haben sollte. Seine Wahl fiel auf Niall

von Schottland, und Valcour hatte dem von ganzem Herzen zugestimmt. Der

Schotte würde den Schatz unter Einsatz seines Lebens verteidigen.

»Schwöre«, flüsterte Valcour dem gebückten schwarzen Schopf zu. Er spürte die

Wut des jungen Mannes, wusste aber nicht, wie er sie hätte mildern können.

»Ganz gleich, was auch passiert, der Schatz darf niemals in fremde Hände fallen.

Der Orden hat sich dem Schütze unseres Gottes anvertraut, und seine Anhänger

dürfen in ihrer Pflicht niemals versagen. «

Den kalten harten Steinfußboden unter seinen Knien bemerkte Niall kaum. Auf

seinem dichten, schwarzen und vorschriftsmäßig geschnittenem Haar glitzerte

trotz der Kälte der Schweiß. Dampf stieg von seinem Körper auf. Langsam hob er

den Kopf. Seine Augen hatten einen bitteren Glanz. »Auch heute noch? « fragte

er mit tiefer, samtiger Stimme.

Valcour lächelte kaum merklich. »Gerade heute. Wir dienen Gott, nicht Rom. Mir

scheint, der Heilige Vater hat vergessen, dass es da zu unterscheiden gilt. «

»Der zugrunde liegende Gedanke sollte ihm leicht verständlich sein«, erwiderte

Niall verächtlich. »Er dient nicht Gott, sondern leckt lieber Philipps Hinterteil,

wann immer der König ihm dieses entgegenstreckt. « Nialls Nachtschwarzer Blick

wanderte über die Sammlung der Kultgegenstände, die die Ritter vor mehr als

hundert Jahren aus dem Tempel in Jerusalem mitgebracht hatten. Er betrachtete

sie mit wachsender Verbitterung. Gute Männer waren eines grausamen Todes

gestorben, um diese... Dinge zu beschützen. Der König von Frankreich war ganz

erpicht darauf, den Orden seiner irdischen Güter, wie Gold und Silber, zu

berauben. Aber das Geheimnis des Ordens beruhte eben gerade auf diesen

Dingen und nicht nur auf Gold. Sicher, Gold war reichlich vorhanden - und es lag

bei Niall. Seine eigentliche Aufgabe aber war die, die Sicherheit des tatsächlichen

Schatzes zu gewährleisten, diese irritierende und magische Ansammlung von...

Dingen. Ein ganz einfacher, zerkratzter Kelch. Ein Tuch, dem ein Geheimnis in

den Stoff gewebt war. Ein Thron, verstörend und heidnisch - war das wirklich nur

ein Thron? Eine Art Fahne, trotz ihres Alters dicht und schön, die laut

Überlieferung eine merkwürdige Kraft in ihren alten Fasern verborgen halten

sollte. Und eine altertümliche Schriftrolle, halb hebräisch, halb griechisch, die von

einem Geheimnis und einer jenseits aller Vorstellung liegenden Macht kündete.

»Ich könnte noch einmal in den Kampf zurückkehren«, sagte Niall und dachte

dabei an das Schriftstück. Er hob seinen unerbittlichen Kämpferblick zu Valcour

empor. »Sowohl Philipp als auch Clemens könnten unter meinem Schwert fallen.

Die ganze Sache könnte sich in Wohlgefallen auflösen, und unsere Brüder

müssten nicht sterben. «

»Nein«, entgegnete Valcour. Sein Gesichtsausdruck war stumpf, wie bei

jemandem, der bereits jeden Schrecken und alle Müdigkeit hinter sich gelassen

hatte. »Wir dürfen nicht um unsretwillen die Entdeckung des Geheimnisses

riskieren. Nur um Gottes willen darf das Geheimnis benutzt werden. «

»Gibt es denn einen Gott? « fragte Niall bitter. »Oder sind wir ganz einfach nur

Narren? «

Valcours magere, blutleere Hand hob sich und berührte Nialls Kopf in einer

sowohl segnenden als auch verhaltenen Geste. Er fühlte die dampfende Hitze, die

von dem muskulösen Körper des Kriegers aufstieg, denn Niall hatte gerade

seinen Helm abgelegt und trug immer noch die schwere Rüstung. Hätte er doch

einen Bruchteil von Nialls außergewöhnlicher Kraft, dachte Valcour müde. Der

Schotte war wie aus Stahl, weder brach er zusammen, noch wurde er müde,

ganz gleich, welchen Umständen er auch trotzen musste. Seine Schwerthand war

unermüdlich, sein Wille schwankte nie. Es gab keinen größeren Krieger im

Dienste Gottes als diesen vorbildlichen Schotten, in dessen Mischlingsvenen

königliches Blut floss. Er war nicht nur adlig, sondern königlich. Es war

ebendieses Blut, das ihm den Eintritt in den Orden überhaupt erst verschafft

hatte, denn eigentlich wäre das mit unehelicher Abstammung nicht möglich

gewesen. Der Großmeister hatte weise entschieden und in diesem Fall die

Blutsbande für wichtiger erklärt als die Vorschriften. Diese Blutsbande waren es

auch, die Niall Schutz gewährten. Clemens konnte seine blutigen, gierigen Hände

nicht auf den Schotten legen, denn er würde in seiner Heimat, den Zacken

gekrönten Bergen der Highlands, in Sicherheit sein.

»Wir glauben«, beantwortete Valcour schließlich Nialls Frage. »Du bist von allen

anderen Gelübden befreit, aber bei dem Blut deiner Brüder musst du schwören,

dass du dein Leben dem Schutz dieser heiligen Reliquien widmen wirst. «

»Ich schwöre«, wiederholte Niall inbrünstig. »Aber ihretwegen. Niemals wieder

nur für Ihn. «

Valcour blickte ihn betrübt an. Der Abfall vom Glauben war eine schreckliche

Sache - und keine Seltenheit in dieser furchterregenden Zeit. Noch mehr Männer

würden ihren Glauben oder ihr Leben verlieren. Nicht alle Brüder waren ihm treu

geblieben. Manche hatten sowohl dem Orden als auch dem Gott den Rücken

gekehrt, der ihnen solch teuflische Dinge hatte widerfahren lassen. Freunde und

Brüder waren gefoltert worden. Der Orden war auseinander gefallen - und alles

nur aus Gier nach dem Gold. Es war schwer, außer an Verrat und Rache noch an

etwas Gutes zu glauben.

Und doch versuchte Valcour, eine kleine, aber entscheidende Ecke seiner Seele

rein zuhalten. Dort bettete er seinen Glauben, denn ohne Glauben erschien ihm

alles bedeutungslos. Wenn er nicht glaubte, dann müsste er einsehen, dass so

viele tapfere Männer umsonst gestorben waren. Mit diesem Gedanken hätte er

nicht leben können. Er glaubte also, weil die Alternative unerträglich war. Er

wünschte, dass Niall auch diesen Trost besäße, aber der Schotte war zu

kompromisslos, sein Kriegerherz kannte nur schwarz oder weiß. Er war auf zu

vielen Schlachtfeldern gewesen, wo die Wahl eine ganz einfache gewesen war:

töten oder getötet werden.

Valcour hatte für den Herrn gekämpft, aber er war nie ein Krieger wie Niall

gewesen. Die Hitze des Gefechts macht den Kopf in aller Regel klar, weil sie das

Leben auf die einfachsten Wahlmöglichkeiten beschränkt.

Der Orden brauchte Niall, um seinem wichtigsten und geheimsten Gelübde

nachzukommen. Die Bruderschaft war am Ende, jedenfalls in ihrer jetzigen Form.

Ihre heilige Pflicht jedoch bestand fort. Und Niall war als ihr Hüter auserwählt

worden.

»Gut, aus welchem Grund auch immer«, murmelte Valcour. »Beschütze sie gut,

denn sie sind die wahren Schätze unseres Herrn. Sollten sie in die Hände des

Bösen fallen, so wäre das Blut unserer Brüder vergeblich geflossen. So soll es

denn sein: wenn nicht für Ihn, dann für sie. «

»Bei meinem Leben«, schwor Niall von Schottland.

Dezember 1309 Creag Dhu, Schottland

»Seit deinem letzten Besuch haben noch drei weitere Ritter den Weg hierher

gefunden«, murmelte Niall an seinen Bruder Robert gewandt, während die

beiden in Nialls Kammer vor dem knisternden Feuer saßen. Eine große, dicke

Talgkerze stand auf dem Tisch, an dem sie eben ihre Bäuche gefüllt hatten. Ihre

Flamme verstärkte den goldenen Schimmer des Feuers. Abgesehen davon lag

das angenehm warme Gemach im Dunkeln. Keine Zugluft drang durch die

Mauern, um die Luft mit ihrem eisigen Atem zu bewegen. Die Ritzen waren

sorgfältig mit Ton verschmiert und die Wände mit schweren Behängen verkleidet

worden. Die massive Tür zu Nialls Kammer war fest verriegelt. Trotzdem

sprachen die beiden Männer nur leise und auf französisch miteinander. Sollten

sie dennoch von jemandem belauscht werden, würde man sie nicht verstehen

können. Anders als die meisten Adligen sprach keiner der schottischen Diener

französisch. Und hier draußen, in dieser alles abweisenden Festung in einem der

entlegensten Winkel der schottischen Highlands, mussten sie sich ohnehin nur

um die Dienerschaft und die bewaffneten Männer Gedanken machen.

Beide hielten schwere Kelche mit französischem Wein in den Händen. Robert

nippte nachdenklich daran. Er hatte sich auf einem riesigen, geschnitzten Stuhl

niedergelassen, während Niall eine schwere Bank herangezogen und sie so vor

das Feuer gerückt hatte, dass er mehr den Besucher als die Flammen ansah.

Robert beobachtete die tanzenden Flammen und trank von dem Wein. Als er sich

wieder Niall zuwandte, brauchte er einen Augenblick, ehe sich seine Augen

wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass Niall

seine Bank aus diesem Grund so gestellt hatte. Sogar hier, in seiner eigenen

Burg, in seiner eigenen Kammer und mit seinem eigenen Bruder war Nialls

Instinkt der eines Kriegers. Er hatte sichergestellt, dass nichts seine Sicht

behindern würde. Sollte er unvermutet von einem Feind überrascht werden,

dann würde er jedenfalls nicht durch mangelndes Licht behindert sein.

Bei dieser Erkenntnis musste Robert leicht lächeln. Nach jahrelangen Kämpfen

gegen die Engländer hatte auch er gelernt, seine nächtliche Sicht durch nichts zu

beeinträchtigen. An diesem sicheren Ort jedoch hatte er sich etwas Entspannung

gegönnt. Nicht so Niall. Der entspannte sich niemals, sondern war zu jeder Zeit

wachsam.

»Haben denn manche der Ritter auch woanders Unterschlupf gesucht? «

»Nein. Sie bleiben hier, weil es kein anderes sicheres Refugium gibt. Aber sie

wissen, dass sie bald weiterziehen müssen, denn allein ihre Zahl würde die

Aufmerksamkeit auf Creag Dhu lenken, was sie ja selbst vermeiden wollen. «

Niall blickte seinen Bruder mit bohrendem dunklem Blick an. »Ich frage nicht um

meinetwillen, um ihretwillen aber muss ich es fragen: Beabsichtigst du, Clemens'

Edikt gegen uns anzuwenden? «

Robert wich entsetzt zurück. »Wie kannst du das fragen! « knurrte er. Er war

wütend genug, um dabei ins Keltische zurückzufallen. Nialls Blick aber war

unnachgiebig, und nach einem Augenblick hatte Robert sich wieder unter

Kontrolle.

»Du brauchst eine Allianz mit Frankreich«, erläuterte Niall ruhig. »Sollte Philipp

meine Identität herausfinden, würde ihn nichts davon abhalten können, mich zu

seinem Gefangenen zu machen. Dafür würde er sogar seine Kräfte mit denen

von Edward vereinen. Das aber kannst du nicht riskieren. « Niall hatte es

unerwähnt gelassen, dass Schottland die Allianz brauchte. Die Unterscheidung

war allerdings überflüssig, denn sein Bruder war Schottland, die Personifizierung

all seiner Hoffnungen und Träume.

Robert atmete tief und sich beruhigend ein. »Nun ja«, gab er zu. »Das wäre eine

empfindliche Schlappe. Aber ich habe bereits drei Brüder an Englands Barbarei

verloren. Meine Frau, meine Tochter und unsere Schwestern sind bereits seit drei

Jahren dort gefangen, und ich weiß nicht, ob ich sie jemals lebend wieder sehen

werde. Dich will ich nicht auch noch verlieren. «

»Du kennst mich doch kaum. «

»Es ist wahr, dass wir nicht viel zusammen gewesen sind. Aber ich kenne dich«,

widersprach Robert. Er kannte und liebte ihn, so einfach war das. Keiner der

anderen Brüder hätte ihm die Krone streitig machen können. Seit der Zeit aber,

als Niall ein groß gewachsener, kräftiger Zehnjähriger gewesen war, waren sich

sein Vater und Robert darüber im klaren gewesen, dass der uneheliche

Halbbruder das Zeug zum König hatte und dass er ungewöhnlich großen Mut und

Verstand besaß, zwei Eigenschaften, die auch zu Roberts Charaktereigenschaften

zählten. Um Schottlands willen durften sie keinen Kampf zwischen den beiden

Brüdern entstehen lassen. Selbst wenn Niall erwachsen sein würde und ihm treu

ergeben bliebe, besaß er eine jener Persönlichkeiten, denen die Menschen gerne

folgten. Die Umstände seiner Geburt waren ein Geheimnis. Geheimnisse aber

haben die Angewohnheit, irgendwann einmal gelüftet zu werden. Niall selbst

hatte das bestätigt, als er Robert mit der Frage überrascht hatte, ob es denn

stimme, dass sie Brüder wären.

Im Kampf um die Thronfolge war es nicht ungewöhnlich, dass man mögliche

Konkurrenten durch Mord ausschaltete. Aber weder Robert noch seinem Vater,

dem Grafen von Carrick, war auch nur der Gedanke an so etwas erträglich. Es

wäre geradeso, als ob man eine lodernde Flamme löschen würde und alle im

Dunkeln zurückließe. Niall sprühte vor Lebenskraft, er war frohgelaunt und zu

Scherzen aufgelegt, und er zog Menschen magnetisch an. Er hatte unter den

Jüngeren immer schon die Führerrolle übernommen, hatte seine Kameraden in

irgendwelche Blödeleien hineingezogen, die Strafe aber stets ganz allein auf

seine Kappe genommen.

Als er vierzehn war, rannten ihm die Jungs mit leuchtenden Augen und

geschmeidigen Körpern hinterher. Seine Stimme war schon früh tief, Schultern

und Brust bereits ausgeprägt. In seiner aufgeschossenen Länge hätte er gut und

gerne den Körper eines Erwachsenen unterbringen können. Besonders talentiert

hatte er sich im Umgang mit Waffen gezeigt, die ständige Übung mit Streitäxten

und Schwertern hatte ihn weiter gestählt. Robert bezweifelte, dass er seine

Nächte allein verbrachte, denn nicht nur die jungen Männer rannten ihm

hinterher, sondern auch die Frauen, von denen einige sogar verheiratet waren.

Niall hatte sich jedoch verändert. Angesichts des Verrats, durch den der

Tempelorden besiegt worden war, überraschte Robert das nicht. Nialls

Anziehungskraft hatte nicht nachgelassen, aber er war jetzt härter, und seine

schwarzen Augen hatten etwas Stählernes, wenn er lächelte. Als Junge war seine

Kraft unerschöpflich gewesen. Jetzt war er erwachsen und ein gefürchteter

Krieger. Er hatte die Kunst der Geduld erlernt. Seine Ruhe aber war die eines

Jägers, der seiner nächsten Beute auflauert.

Betont deutlich sagte Robert: »Schottland wird sich nicht der Verfolgung des

Tempelordens anschließen. «

Wieder bohrte sich Nialls Blick wie ein scharfes Schwert in ihn hinein. »Dafür hast

du meine Dankbarkeit... und mehr, solltest du Gebrauch davon machen wollen. «

Was Niall unausgesprochen gelassen hatte, hing jetzt wie ein dunkler Schatten

im Raum. Die wachsamen Augen blieben auf Robert gerichtet, der die Brauen

hochzog. »Mehr? « hakte er nach und nippte an seinem Wein. Er war neugierig

zu erfahren, was »mehr« denn bedeuten mochte. Er wagte es kaum zu hoffen...

vielleicht bot ihm Niall Gold an. Mehr als alles andere brauchte Schottland Gold,

um gegen die englische Krone Widerstand leisten zu können.

»Die Krieger sind die besten der Welt. Sie dürfen sich zwar nicht hier

versammeln, aber ich sehe keinen Grund, warum ihre Fähigkeiten ungenutzt

bleiben sollen. «

»Ich verstehe. « Robert blickte nachdenklich in die Flammen. Jetzt kannte er

Nialls Ziel, und in der Tat war es sehr verlockend. Nicht Gold bot er ihm an, dafür

aber etwas beinahe ebenso Wertvolles: Ausbildung und Erfahrung. Die

verstoßenen Ritter trugen zwar nicht mehr ihre roten Kreuze, aber sie waren

noch genau dieselben, die sie auch vor der Zeit waren, als der Papst gemeinsam

mit dem König von Frankreich sie zu zerstören suchte: nämlich die besten

Kämpfer der Welt. Der endlose Krieg mit England hatte Schottlands Rücklagen so

weit aufgebraucht, dass die Leute sich manchmal mit ihren bloßen Händen

verteidigen mussten. Aber so tapfer seine Leute, besonders die rauen Hochländer

waren, so wusste Robert nur zu gut, dass sie mehr brauchten: mehr Geld, mehr

Waffen und eine bessere Ausbildung.

»Misch sie doch unter dein Heer«, murmelte Niall. »Überlasse ihnen die

Ausbildung deiner Leute. Suche ihren strategischen Rat. Nutze sie. Im Gegenzug

werden sie Schotten werden und werden bis zum letzten Mann für dich und für

Schottland kämpfen. «

Die Krieger des Tempelordens! Allein der Gedanke war bereits Schwindel

erregend. Roberts Kriegerblut wärmte sich angesichts der Vorstellung, solche

Leute unter seiner Führung zu wissen. Was aber konnte eine Handvoll Männer

ausrichten, ganz gleich, wie gut sie auch ausgebildet sein mochten? »Wie viele

Männer sind es denn? « fragte er zweifelnd. »Fünf? «

»Fünf sind zur Zeit hier auf der Burg«, erwiderte Niall. »Aber Hunderte sind noch

auf der Suche nach einem Unterschlupf. «

Hunderte. Niall schlug ihm vor, Schottland zu einem Refugium für die

entkommenen Ritter zu machen, die über ganz Europa verteilt nach Verstecken

suchten. Wenn man sie festnahm, so hatten sie die Wahl, entweder die ihrigen

zu verraten oder nach vorangegangener Folter auf dem Scheiterhaufen verbrannt

zu werden. Einige unter ihnen hatten sogar trotz ihrer Gefügigkeit ihr Leben

lassen müssen.

»Kannst du sie denn hierher bringen? «

»Das kann ich. « Niall erhob sich von der Bank und stand mit seinem breiten

Rücken dem Feuer zugewandt. Seine mächtigen Schultern warfen einen riesigen

Schatten auf den Fußboden. Sein dichtes schwarzes Haar fiel auf seine Schultern

herab. Nach keltischem Brauch hatte er zu beiden Seiten des Gesichts zwei

kleine Zöpfchen geflochten. In seinem Jagdschottenrock, dem weißen Hemd und

mit dem Schwert in seinem breiten Gürtel sah er durch und durch wie ein

ungestümer Hochländer aus. Mit grimmigem Gesichtsausdruck meinte er: »Ich

kann sie allerdings nicht bis zu dir hin begleiten. «

»Das ist mir klar«, erwiderte Robert leise. »Das würde ich auch nicht von dir

verlangen. Ich möchte keine Details erfahren, aber ich weiß, dass du dich in

größerer Gefahr befindest als jene, denen du helfen möchtest. Und das nicht nur,

weil du mein Bruder bist. Mit welcher Aufgabe auch immer dich der Orden

beauftragt hat, sie könnte von keinem geringeren Mann als dir erfüllt werden.

Wenn du meine Hilfe brauchst oder die der Ritter, die du mir unterstellen

möchtest, so musst du mich nur benachrichtigen. «

Niall machte eine knappe Kopfbewegung, die seine Zustimmung ausdrücken

sollte. Und doch wusste Robert, dass das niemals geschehen würde. Niall hatte

sich hier, in dem wildesten, entlegensten Teil der Highlands, den nordwestlichen

Gebirgen, eine Burg errichtet, die er gegen jede Bedrohung verteidigen würde. Er

hatte eine starke Truppe disziplinierter Ritter und Bewaffneter, die Creag Dhu in

eine gefürchtete Festung verwandelt hatten.

Die Leute auf dem Land tuschelten bereits darüber, und viele zogen näher an

Creag Dhu heran, um so unter seinem Schutz zu stehen. Sie nannten ihn den

Schwarzen Niall. In Schottland bezeichnete man jeden mit dunklen Haaren als

schwarz. Den Gerüchten zufolge wurde Niall aber nicht nur seiner schwarzen

Augen und Haare wegen so genannt, sondern auch wegen seines Herzens.

Robert, der von Nialls Herkunft wusste, erkannte die Ähnlichkeit zwischen seinem

Halbbruder und seinem eigenen besten Freund, Jamie Douglas, dem berühmten

Schwarzen Douglas.

Die zufälligen Übereinstimmungen sowohl des Namens als auch der Haarfarbe

hatten ihn stutzig gemacht. Nialls Mutter war eine Douglas gewesen, und er und

Jamie waren Cousins. Jamie war groß und breitschultrig, allerdings nicht ganz so

kräftig gebaut wie Niall. Wenn man sie zusammen sehen würde, würde die

Ähnlichkeit auffallen? Würde man dann sehen, dass Niall die körperliche Stärke

eines Bruce besaß und zusätzlich noch die Schönheit von Nigel, einem weiteren

Halbbruder Nialls?

Das Blut der Bruces und der Douglas' hatte sich in Niall zu einem Mann

ungewöhnlichen Aussehens und ungewöhnlicher Kraft vereinigt. Er war die Art

von Mann, die nur alle hundert oder zweihundert Jahre einmal geboren wurde.

Zu seiner eigenen Sicherheit und für das Gelingen der von dem zerbrochenen

Orden auferlegten Mission durfte niemand erfahren, dass der berüchtigte

Schwarze Niall einerseits der geliebte Halbbruder des Königs von Schottland und

andererseits der uneheliche Sohn der wunderschönen Catriona Douglas war.

Denn Catrionas Mann lebte noch und würde nichts unversucht lassen, den

lebenden Beweis der Untreue seiner Frau zu ermorden.

Außerdem war Niall Mitglied des Tempelordens, somit von der Kirche

ausgeschlossen und vom Papst mit dem Tod bedroht, sollte er jemals gefangen

werden. Oberflächlich betrachtet war seine Existenz durchaus gefährdet.

Auf der anderen Seite würde nur ein Dummkopf versuchen, Creag Dhus Abwehr

zu durchbrechen. Der Orden hatte eine gute Wahl getroffen.

Robert seufzte. Er musste die Zurückgezogenheit seines Bruders akzeptieren und

sein eigenes Königreich den vielen verstreuten Rittern als sicheren Hafen

anbieten. Angesichts des Gewinns, den Schottland daraus ziehen würde, war das

wenig genug.

»Zeit für mich zu gehen«, meinte Robert, leerte seinen Kelch und stellte ihn

beiseite. »Die Stunde rückt voran. Und der wunderschönen Dirne, die unten auf

dich wartet, könnte es langweilig werden. Möglich, dass sie sich dann einen

anderen sucht. «

Niall stand nicht mehr unter den Gelübden des Tempelordens, nämlich Armut,

Keuschheit und Gehorsam. Robert fragte sich insgeheim, wie er die acht Jahre

ohne Frau als Mönch hatte verbringen können. Er selbst war zwar auch ein Mann,

aber er kannte nur zu gut die feurige sexuelle Komponente in Nialls Naturell.

Robert hätte sich niemanden vorstellen können, der sich so wenig zum Mönch

eignete wie Niall.

Niall lächelte. »Möglich«, meinte er ohne einen Anflug von Eifersucht oder den

geringsten Zweifel. Denn es war äußerst unwahrscheinlich, dass Meg sich

verzogen haben könnte. Sie erfreute sich ihres derzeitigen bevorzugten Status,

wenngleich sie nicht seine alleinige Bettgenossin war. Robert lachte und klopfte

ihm mit der Hand auf die breiten Schultern. »Während ich durch die kalte Nacht

reite, werde ich dich um deinen Ritt zwischen ihren warmen Schenkeln beneiden.

Gott sei mit dir. «

Nialls Gesichtsausdruck zeigte keinerlei Regung, aber Robert wusste sofort, dass

seine letzte Bemerkung die Erstarrung hervorgerufen hatte. Besorgt legte er

seinen Arm um die Schulter seines Bruders. Es gab Zeiten, in denen der Glaube

das einzige Gut der Menschen war, ob nun adlig oder nicht, um sie am Leben zu

erhalten. Niall aber hatte diesem Glauben abgeschworen, als die Kirche ihm den

Rücken gekehrt hatte.

Robert hatte jedoch nichts sagen oder versprechen können, außer dem, was er

bereits gesagt und versprochen hatte. »Bring sie hierher«, murmelte er. »Ich

werde sie willkommen heißen. « Mit diesen Worten drückte Robert der Bruce,

König der Schotten, auf einen Stein neben der Feuerstelle, woraufhin sich eine

ganze Wand auftat. Er hob die Fackel hoch, die er dort abgelegt hatte, und

zündete sie am Feuer wieder an. Dann verließ er Creag Dhu genauso, wie er

gekommen war, nämlich heimlich.

Niall beobachtete, wie sich die Tür, ohne eine sichtbare Spur zu hinterlassen,

wieder in das Mauerwerk einfügte. Mit regungsloser Miene nahm er den Kelch

seines Bruders, wischte den Rand sauber und füllte ihn erneut mit gutem Wein.

Sein eigener Kelch war noch fast voll. Er stellte beide Gefäße neben das Bett,

dann entriegelte er die Tür und suchte nach Meg. Seine Laune hatte sich trotz

des Refugiums, das Robert den flüchtigen Tempelbrüdern gewähren würde,

verfinstert. Seine Wut war allgegenwärtig. Während der letzten beiden Jahre

hatte er sie zwar zu kontrollieren gelernt, aber im Grunde hatte sie kein bisschen

nachgelassen.

Verfluchter Clemens, verfluchter Philipp, und vor allen Dingen verfluchter Gott,

dem die Ritter so treu gedient hatten und der sie gerade in dem Augenblick

verlassen hatte, als sie Seiner am meisten bedurft hätten. Wenn er wegen

solcher Blasphemien in die Hölle kommen sollte, auch gut. Aber Niall glaubte

nicht länger an eine Hölle, denn er hatte jeglichen Glauben verloren. Er würde

seine düsteren Gedanken an Megs üppigem, willigem Körper auslassen, eng von

ihren Armen und Beinen umklammert. Je heftiger das Liebesspiel, um so besser

gefiel es ihr.

Meg zu finden war nicht schwierig. Sie hielt bereits am Fuß der breiten

Steintreppe nach ihm Ausschau und kam ihm lächelnd entgegen, als er sich oben

in der Tür zeigte. Niall blieb stehen und wartete. Meg hob ihre Röcke an und eilte

die Stufen hinauf, wobei das lodernde Fackellicht ihre geröteten Wangen

beleuchtete. Noch ehe sie oben angekommen war, wandte sich Niall um und ging

wieder in seine Kammer zurück. Ihre schnellen, leichten Schritte folgten ihm. Er

konnte ihren sowohl vom Laufen als auch von der Erwartung beschleunigten

Atem hören.

Sie zog bereits ihren Schal aus und zerrte an den Bändern ihres Leibchens, als

sie ihm durch die Tür in seine Kammer folgte. Er schloss hinter ihr zu und

beobachtete sie dabei, wie sie fieberhaft ihre Kleidung abstreifte und ihm ihren

üppigen Körper darbot. Sein pulsierender Schaft wurde hart und hob seinen

Schottenrock wie ein Zelt an.

Sie entdeckte die beiden Weinkelche und lächelte zufrieden. Er hatte gewusst,

dass sie es als ein weiteres Zeichen seiner Vernarrtheit in sie deuten würde. Aber

sollte sie denken, was sie wollte, wenn sie nur nicht dahinter kam, dass er einen

heimlichen Besucher empfangen hatte und dass dieser Besucher niemand

anderes als der König selbst gewesen war. Obwohl er ihr gerne schmeichelte und

sie liebkoste, war doch sein einziges Interesse an ihr die Lust und die körperliche

Erleichterung, die er bei ihr finden konnte. Sie stand nackt da, hob den Kelch an

und nippte an dem Wein. Sie war doppelt zufrieden, als sie statt des gewohnten

säuerlich verwässerten Weins einen edlen Tropfen kostete. Der Schein des

Feuers umspielte die vollen Kurven ihrer Brüste, färbte ihre Knospen dunkelrot

ein und vertiefte ihren Nabel und die wirren Locken zwischen ihren Schenkeln.

Niall wollte nicht warten. Er trat auf sie zu, nahm ihr den Kelch aus der Hand und

setzte ihn so heftig ab, dass ein paar Tropfen der roten Flüssigkeit über den Rand

schwappten. Sie quiekste erschrocken auf, als er sie hochhob und auf das breite

Bett warf. Schnell verwandelte sich ihr Schreien in Lachen, als er auf ihr landete.

Mit den Knien drückte er ihre Schenkel auseinander. »Willst du dir nicht

wenigstens die Stiefel ausziehen? « fragte sie kichernd und griff nach einem

Hemdzipfel.

Ihr Duft war betörend weiblich. Seine schmalen Nasenlöcher blähten sich, als er

ihren Geruch einzog. »Warum? « fragte er sachlich. »Ich trage sie doch an

meinen Füßen und nicht über meinem Schwanz. « Nun konnte sich Meg vor

Lachen nicht mehr halten. Nialls Hand rutschte unter seinen Rock, umschloss

sein steifes Glied und führte es auf ihre feuchte Spalte zu.

Er beugte sich vor und drang erwartungsvoll bebend in sie ein. Megs Lachen

erstarb augenblicklich, als ihr Körper die volle Wucht seines Stoßes in sich

aufnahm. Die Dunkelheit in ihm wich seinem Vergnügen. Solange er eine Frau in

seinen Armen halten konnte, konnte er den Verrat und die erdrückende Last

seiner Verantwortung wenigstens eine Weile vollkommen vergessen.

Kapitel 1

27. April 1996

Ein hustendes Rattern verkündete der gesamten Nachbarschaft, dass Kristian

Sieber von der Schule nach Hause gekommen war. Er fuhr eine Chevelle aus

dem Jahre 1966, die mitsamt ihren gurgelnden acht Zylindern liebevoll

restauriert worden war. Die Karosserie war ein mehrfarbiges Stückwerk, da die

Teile verschiedenen anderen Chevelles entnommen worden waren. Bemängelte

jemand das äußere Erscheinungsbild in irgendeiner Weise, brummte Kristian nur,

er werde sich schon noch darum kümmern. In Wahrheit aber scherte ihn das

Äußere seines Autos nicht. Vielmehr begeisterte ihn, dass das Auto lief wie

damals, als es nagelneu gewesen war und ein Mann jedes Mädchen mit seiner

schnurrenden Kraft hätte einfangen können. In der Männern eigenen

instinktiven, urwüchsigen Art glaubte Kristian, dass die Kraft des Autos sein

eigenes Image als Außenseiter verbessern konnte, und dass die Mädchen sich

dann darum reißen würden, mit ihm in seinem tollen Auto mitfahren zu dürfen.

Bisher war zwar nichts dergleichen geschehen, aber noch hatte Kristian die

Hoffnung nicht aufgegeben. Als das ratternde Auto an ihrem Haus vorbeifuhr und

um die Ecke bog, kostete Grace St. John an ihrem eben gekochten Gulasch.

»Kristian ist gekommen«, sagte sie und sprang auf. »Nicht möglich«, neckte sie

Ford. Er zwinkerte ihr zu, als sie die Aktentasche mit ihrem Laptopcomputer und

den zahlreichen Seiten ihrer Übersetzung aufhob. Die weiche Ledertasche beulte

sich nach außen aus, weil sie mit Disketten und Notizen voll gestopft war. Sie

hatte schon vorher ihr Modem abgeschaltet, die Kabel aufgewickelt und es auf

die Tasche gelegt. Sie hielt Tasche und Modem vor ihrem Körper und beugte sich

zu Ford hinunter. Ihr Kuss war kurz, aber herzlich.

»Ein paar Stunden wird es wohl dauern«, meinte sie. »Wenn er den Fehler

gefunden hat, will er mir noch ein paar seiner neuen Programme zeigen. «

»Früher waren es die Briefmarkensammlungen«, murmelte ihr Bruder Bryant.

»Jetzt sind es die neuen Programme. « Die drei nahmen die meisten ihrer

Mahlzeiten gemeinsam ein, eine Bequemlichkeit, die sie alle gleichermaßen

schätzten. Als Bryant und Grace das Haus von ihren Eltern geerbt hatten, hatten

sie daraus ein Doppelhaus gemacht. Grace und Ford lebten auf der einen Seite,

Bryant auf der anderen. Die drei arbeiteten nicht nur für dieselbe archäologische

Stiftung, Bryant und Ford waren obendrein bereits seit ihrer Studienzeit

miteinander befreundet. Bryant hatte Ford mit Grace bekannt gemacht und

klopfte sich angesichts des Resultats heute noch ständig anerkennend auf die

Schulter.

»Du bist ja nur neidisch, dass du mir den Computer nicht reparieren kannst«,

erwiderte Grace ungerührt, und Bryant stöhnte. Da sie beide Hände voll hatte,

stand Ford auf und öffnete ihr die Küchentür. Er beugte sich nochmals zu ihr

hinunter, um sie zu küssen. »Verliere dich nicht in Kristians Programmen, und

vergiss die Zeit nicht darüber«, mahnte er, und seine blauen Augen blitzten sie

auf eine Art und Weise an, die sie nach acht Ehejahren immer noch bis in die

Fingerspitzen elektrisierte.

»Werde ich nicht tun«, versprach sie. Als sie fast schon draußen war, hielt sie auf

der obersten Stufe inne. »Ich habe meine Handtasche vergessen. «

Ford holte sie aus der Abstellkammer und hing ihr den Riemen über die Schulter.

»Wozu brauchst du denn die Handtasche? «

»Da sind die Schecks drin«, erwiderte sie und pustete sich eine Haarsträhne aus

ihren Augen. Sie bezahlte Kristian für seine Reparaturen, obwohl der es auch

umsonst getan hätte, da er leidenschaftlich gerne mit fremden Computern

herumspielte. Seine eigenen Computer waren teuer, und er wusste besser mit

ihnen umzugehen als die meisten anderen Fachleute, die sie kannte. Er hatte

sich das Geld redlich verdient. »Außerdem lade ich ihn wahrscheinlich zu einer

Pizza ein. «

»Soviel wie der Junge isst, sollte er eigentlich zweihundert Kilo wiegen«,

bemerkte Bryant.

»Er ist neunzehn. Natürlich isst er da eine Menge. «

»Ich glaube nicht, dass ich jemals in meinem Leben so viel gegessen habe. Was

meinst du, Ford? Als wir auf der Uni waren, haben wir da so viel wie Kristian

verschlungen? « Ford warf ihm einen ungläubigen Blick zu. »Fragst du wirklich

mich, nachdem du dreizehn Pfannkuchen und ein Pfund Würstchen zum

Frühstück verdrücken konntest? «

»Ist das wahr? « erkundigte sich Bryant stirnrunzelnd. »Daran kann ich mich

aber gar nicht mehr erinnern. Und wie war das mit dir? Ich habe dich vier Big

Macs und vier große Tüten Fritten hintereinander herunter schlingen sehen. «

»Ihr habt beide so viel gegessen, als hättet ihr Bandwürmer«, entschied Grace

die Auseinandersetzung und ging die Stufen hinunter. Ford schloss hinter ihr die

Tür. Sein Lachen klang ihr noch in den Ohren.

Dichtes, widerstandsfähiges Gras federte ihre Schritte ab, als sie durch den

rückseitigen Garten lief und über den langen Rasen der Murchinsons eine

Abkürzung nahm. Die Nachbarn waren auf einem vierwöchigen Urlaub in South

Carolina und würden erst gegen Ende der Woche wieder zurück sein. Es war

wirklich schade: Sie waren dem schönen Wetter und dem Frühling

hinterhergefahren und hatten ihn so zu Hause verpasst.

Es war ein ungewöhnlich warmer April gewesen, und der Frühling war in

Minneapolis ausgebrochen. Der Rasen war grün und üppig, das Laub brach an

den Bäumen aus, die Blumen blühten. Obwohl die Sonne bereits untergegangen

und nur noch ein letzter Lichtschimmer geblieben war, duftete die warme

Abendluft. Grace atmete wohlig ein. Sie liebte den Frühling. Eigentlich mochte sie

jede Jahreszeit, denn sie hatten jede ihre Vorzüge.

Kristian stand am Hintereingang der Siebers und wartete bereits auf sie. »Hallo«,

grüßte er sie fröhlich. Er war immer bester Laune, wenn er mit ihrem Laptop

herumspielen durfte. Er hatte kein Licht gemacht. Grace ging durch den dunklen

Waschkeller hindurch in die Küche. Audra Sieber, Kristians Mutter, schob gerade

ein Blech Brötchen in den Ofen. Sie blickte lächelnd auf. »Hallo, Grace. Wir essen

heute Abend Lammkoteletts. Isst du mit uns mit? «

»Danke, aber ich habe gerade gegessen. « Grace mochte Audra, die gute fünfzig

Jahre alt war, ein wenig übergewichtig, und die die Obsession ihres Sohnes mit

Gigabytes und Festplatten voll und ganz unterstützte. Äußerlich ähnelte Kristian

ganz seinem Vater Errol: groß, dünn, mit dunklem Haar und kurzsichtigen blauen

Augen und einem unauffälligen Adamsapfel, der in seinem Hals auf und ab

hüpfte. Selbst wenn man es Kristian auf die Stirn tätowiert hätte, er hätte einem

Computerfreak nicht noch mehr ähneln können.

Grace erinnerte sich an seinen Appetit und meinte: »Kris, das hier kann warten,

bis du fertig gegessen hast. «

»Ich mache mir einen Teller und komme damit nach oben«, erwiderte er, nahm

ihr die Computertasche ab und wiegte sie liebevoll in seinen Armen. »Das ist dir

doch recht, Mama? «

»Aber sicher doch. Geh nur und amüsiere dich. « Audra lächelte die beiden an,

und Kristian verschwand sofort mit seiner Trophäe aus der Küche die Treppe

nach oben in sein elektronisch voll gestopftes Zimmer.

Grace folgte ihm etwas langsamer nach und dachte, dass es jetzt wirklich an der

Zeit wäre, die zwanzig Pfund wieder abzuspecken, die sie seit ihrer Hochzeit mit

Ford zugenommen hatte. Das Problem war allerdings, dass sie sich bei ihrer

Arbeit nicht bewegen konnte. Als Spezialistin und Übersetzerin alter Sprachen

verbrachte sie viel Zeit mit einer Lupe über alte Fotos und Dokumente gebeugt.

Selten mal las sie auch Originale, denn meistens waren diese zu empfindlich, als

dass man sie hätte berühren dürfen. Den Rest der Zeit arbeitete sie an ihrem

Computer, wo sie das Übersetzungsprogramm benutzte, das sie zusammen mit

Kristian ausgetüftelt hatte. Mit dieser Art von Gehirnarbeit fiel es allerdings

schwer, Kalorien zu verbrennen. An diesem Tag hatte sie sich auch wieder in die

Universitätsbibliothek einklinken und Informationen herunterladen wollen, aber

der Computer war nicht ihren Anweisungen gefolgt. Sie war sich nicht sicher, ob

es direkt am Computer oder aber am Modem lag. Sie hatte Kristian mittags zu

Hause abgefangen und sich nach der Schule mit ihm verabredet.

Die Warterei hatte sie beinahe verrückt gemacht. Sie war von dem

Übersetzungsauftrag absolut fasziniert, den sie für ihren Arbeitgeber, die

Amaranthine Potere Stiftung, ein riesiges archäologisches Forschungsinstitut,

bearbeitete. Sie liebte ihre Arbeit auch sonst, aber dieser Auftrag war etwas

Besonderes. Er war sogar so besonders, dass es ihr schwer fiel, ihrer eigenen

Übersetzung Glauben zu schenken. Sie fühlte sich auf eine Weise in die

Dokumente hineingezogen, wie sie es noch niemals vorher erlebt hatte. Ford

hatte sie gefragt, worum es in den Dokumenten ging, und sie hatte ihm nur

zögernd ein wenig davon erzählt, sich dabei allerdings auf das Thema

beschränkt. Normalerweise erzählte sie Ford immer von ihrer Arbeit, diesmal

jedoch war es anders. Ihre Gefühle gegenüber den merkwürdigen alten

Dokumenten waren so stark, dass sie es kaum in Worte fassen konnte. Also

hatte sie nur sehr beiläufig über die Angelegenheit gesprochen, so als ob sie

nicht weiter interessant wäre.

In gewisser, ihr noch unbegreiflicher Hinsicht waren sie jedoch... sehr

interessant. Sie hatte bislang kaum ein Zehntel der Arbeit übersetzt. Und doch

spannten die sich daraus ergebenden Möglichkeiten sie buchstäblich auf die

Folter. Sie konnte es noch nicht richtig begreifen, wie bei einem Puzzle, bei dem

man erst den Rand fertig hat. In diesem Fall jedoch hatte sie keine Ahnung, wie

das fertige Produkt aussehen würde. Sie wusste lediglich, dass sie nicht eher

aufhören würde, bis sie es herausgefunden hatte.

Sie war oben auf dem Treppenabsatz angekommen und betrat Kristians Zimmer,

ein einziges Kabelgewirr, zwischen dem gerade ausreichend Platz für sein Bett

war. Er besaß vier Telefonanschlüsse, einen für den Laptop, zwei für die

Computer und einen für das Faxgerät. Einer der großen Computer war angestellt,

auf seinem Monitor war ein Schachspiel zu sehen. Kristian betrachtete es,

seufzte und bewegte mit der Maus einen Läufer. Er dachte einen Augenblick lang

über das Resultat nach, ehe er die Maus ein weiteres Mal betätigte, um auf das

anstehende Problem zurückzukommen. Dann schob er einen Stapel Papiere zur

Seite und legte einen weiteren auf dem Bett ab. »Was ist denn nicht in Ordnung?

« fragte er, während er die Tragetasche öffnete und ihren Laptop hervorholte.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Grace, zog sich einen Stuhl heran und

beobachtete, wie er geschickt die Verbindungskabel von dem zweiten Computer

und dem Modem löste und damit ihren Laptop verkabelte. Er schaltete ihn ein,

und der Monitor leuchtete blassblau auf. »Ich habe heute morgen versucht, in

die Universitätsbibliothek zu kommen, aber nichts passierte. Ich weiß nicht, ob

es am Computer oder am Modem liegt. «

»Das werden wir gleich herausfinden. « Kristian kannte sich in ihrem

Bedienungsmenü genauso gut aus wie sie selbst. Er klickte das gewünschte

Programm an, klickte zweimal auf das Telefonsymbol, wählte die Nummer der

elektronischen Abteilung der Universitätsbibliothek und war keine zehn Sekunden

später damit verbunden. »Modem«, diagnostizierte er. Seine Finger flogen über

die Tastatur. »Was hattest du suchen wollen? «

Sie beugte sich näher zu ihm hinüber. »Mittelalterliche Geschichte. Genauer

gesagt, die Kreuzritter. «

Er fuhr die Angebotsliste nach unten. »Das da«, sagte Grace und klickte mit der

Maus. Die sangabe füllte den Monitor.

Er rutschte etwas beiseite. »Hier, übernimm du das hier. Ich versuche derweil

herauszufinden, was mit dem Modem nicht in Ordnung ist. «

Sie nahm seinen Platz vor dem Computer ein. Er knipste die Schreibtischlampe

an, schob automatisch seine Brille die Nase hoch und fing an, das Modem

auseinander zunehmen.

Es gab mehrere Hinweise auf die kriegerischen religiösen Orden von damals, die

Hospitalritter und den Orden des Tempels. Letzterer war es, den sie suchte. Sie

klickte auf das gewünschte Kapitel, und der Monitor füllte sich mit Informationen.

Sie las aufmerksam, denn sie suchte einen ganz bestimmten Namen, den sie

allerdings nicht finden konnte. Der Text fasste den Beitrag des Ordens zu den

Kreuzritterzügen zusammen, aber abgesehen von ein paar großen Meistern war

niemand weiter namentlich erwähnt.

Sie wurden kurz unterbrochen, als Audra den gefüllten Teller für Kristian

hereinbrachte. Kristian stellte ihn neben das auseinander gebaute Modem und

kaute zufrieden, während er arbeitete. Grace ging wieder zu der allgemeinen

Auflistung zurück und suchte sich einen anderen Text heraus.

Etwas später merkte sie, dass Kristian entweder ihr Modem bereits repariert oder

aber die Reparatur aufgegeben hatte, denn er beugte sich über ihre Schulter und

las mit. Es fiel ihr schwer, sich aus der mittelalterlichen Welt der Intrigen und der

Bedrohung in die moderne Computerwelt zurückzureißen. Sie blinzelte, um sich

zu orientieren und war sich dabei der merkwürdig starken Anziehungskraft der

längst vergangenen Zeit bewusst. »Hast du es reparieren können? «

»Klar doch«, erwiderte er abwesend, da er immer noch las. »Es war nur ein loses

Kabel. Was war denn dieser Tempelorden? «

»Ein kriegerischer religiöser Orden des Mittelalters. Habt ihr das denn nicht im

Geschichtsunterricht durchgenommen? «

Er schob seine Brille die Nase hoch und grinste sie ungerührt an. »Unsere

Zeitrechnung beginnt mit dem Jahr 1946. «

»Es gab auch schon Leben vor den Computern. «

»Analoges Leben, willst du wohl sagen. Vorgeschichtlich. «

»Was für ein Tachometer hast du denn in diesem verrückten Ding, das du als

Auto bezeichnest? «

Er blickte sie entsetzt an, als ihm bewusst wurde, dass sein geliebtes Gefährt

hoffnungslos veraltet war. Es hatte ein analoges Tachometer anstelle einer

digitalen Messanzeige. »Ich feile bereits daran«, murmelte er und hob seine

schmalen Schultern. »Aber dieser Tempelorden, wenn sie wirklich so religiös

waren, warum wurden sie dann wie Hexen auf dem Scheiterhaufen verbrannt? «

»Ketzerei«, murmelte sie und wandte sich wieder dem Monitor zu. »Feuer war

die Strafe für vielerlei Verbrechen, nicht nur für Hexerei. «

»Damals nahmen die Leute ihre Religion offenbar sehr ernst. « Kristians Nase

kräuselte sich angesichts einer Darstellung von drei an einen Pfahl gebundenen

Männern, unter denen die Flammen bis zu ihren Knien aufloderten. Alle drei

waren in weiße Tuniken gekleidet und hatten Kreuze vorne eingebrannt. Ihre

Münder erschienen als schwarze Löcher, die gepeinigt aufschrieen.

»Auch heute noch werden Menschen ihrer Religion wegen gehenkt«, erklärte

Grace. Sie zuckte beim Anblick der Darstellung, als sie sich die grenzenlosen

Qualen vorstellte, bei lebendigem Leib verbrannt zu werden. »Im Mittelalter war

die Religion der Mittelpunkt menschlichen Lebens. Jeder, der sich dagegen

auflehnte, bedeutete eine Bedrohung. Religion gab einerseits die Regeln des

zivilisierten Zusammenlebens vor, bedeutete darüber hinaus aber noch mehr.

Damals gab es zu vieles, was noch unbekannt und unverstanden war. Die

Menschen wurden durch Kometen erschreckt oder ohne Vorwarnung von

Krankheiten befallen. Heute wissen wir, dass das ganz normale Ereignisse sind,

aber damals hatten die Menschen keine Möglichkeit, solche Phänomene zu

begreifen. Stell dir nur mal vor, wie beängstigend ein Herzinfarkt gewirkt haben

musste. Sie wussten ja nicht, was ihnen da zustieß, welche Ursachen es hatte

oder wie man es hätte verhindern können. Die Zauberei war ihnen ganz geläufig.

Die Religion gab ihnen einen gewissen Schutz vor diesen unbekannten und

beängstigenden Kräften. Selbst wenn sie sterben mussten, so stand ihnen doch

Gott bei, und die bösen Geister konnten nicht die Oberhand gewinnen. «

Kristians Augenbrauen zogen sich angesichts der Vorstellung zusammen, in einer

Zeit solcher Ignoranz leben zu müssen. Das war für ihn als ein Kind der

Computergeneration kaum vorstellbar. »Fernsehen hätte sie vermutlich

vollkommen durcheinander gebracht, was? «

»Besonders dann, wenn sie sich eine Talk-Show angesehen hätten«, feixte

Grace. »Denn dort gibt es tatsächlich böse Geister. «

Kristian kicherte, wobei ihm seine Brille die Nase hinunterrutschte. Er schob sie

wieder hoch und blinzelte den Monitor an. »Hast du denn gefunden, was du

gesucht hast? «

»Nein, ich suche die Erwähnung eines ganz bestimmten Mannes aus dem

Tempelorden. Jedenfalls glaube ich, dass er dem Orden angehörte. «

»Gibt es denn nicht irgendwelche anderen Anhaltspunkte, unter denen du ihn

finden könntest? «

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie er mit Nachnamen hieß. « Niall von

Schottland. Mehrmals war sie bereits auf seinen Namen gestoßen, als sie die in

altem Französisch abgefassten Dokumente bearbeitet hatte. Warum wurde sein

Nachname nicht erwähnt, wo doch damals Familie und Tradition eine so wichtige

Rolle gespielt hatten? Soweit sie aus den Dokumenten bisher hatte in Erfahrung

bringen können, war er innerhalb des Ordens der Tempelbrüder ausgesprochen

einflussreich gewesen. Er selbst war Ritter, kam also aus adliger Familie und war

kein Leibeigener. Ein Teil der Dokumente war auf gälisch geschrieben, was auf

eine nicht bekannte Verbindung mit Schottland schließen ließ. Sie hatte den

schottischen Teil der Geschichte in ihrer Enzyklopädie nachgelesen. Dort

allerdings fand der geheimnisvolle Niall nirgendwo Erwähnung, schon gar nicht

zu Zeiten des Tempelordens. »Ist wohl eine Sackgasse«, meinte Kristian

gutgelaunt. Offenbar war er der Ansicht, dass sie nun bereits genügend Zeit für

einen Mann vergeudet hatten, der schon lange vor dem analogen Zeitalter

gestorben war. Kristians blaue Augen leuchteten, als er seinen Stuhl etwas näher

heranrückte. »Willst du mal in dieses coole Buchhaltungsprogramm

hereinschauen, das ich ausgetüftelt habe? «

»Ich glaube nicht, dass das Wort >cool< und Buchhaltung gut

zusammenpassen«, bemerkte Grace, ohne mit der Wimper zu zucken.

Kristian sah sie empört an. Er blinzelte mehrmals und sah dabei aus wie ein

kurzsichtiger Kranich. »Du machst wohl Witze, was? « brachte er schließlich

hervor. »Es ist das allererste Programm seiner Art! Warte, bis du es gesehen

hast. Du machst dich nur lustig, ich weiß es. «

Graces Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Sie drückte auf die Tasten und

kappte die Verbindung zur Universitätsbibliothek. »Ach ja? Woher willst du das

denn wissen? «

»Du presst immer die Lippen zusammen, damit du nicht lachen musst. « Er sah

auf ihre Lippen, dann wandte er schnell den Blick ab und errötete ein wenig.

Grace spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen, und heftete ihren Blick auf

den Monitor. Kristian war ein klein wenig verliebt in sie, hauptsächlich wegen

seiner Begeisterung für ihren teuren, sehr leistungsstarken Laptop. Aber ein paar

Mal hatte er auch etwas gesagt oder getan, was bezeugte, dass er auch

körperlich von ihr Notiz genommen hatte.

Das hatte sie ein bisschen beunruhigt. Sie war immerhin dreißig Jahre alt und

weiß Gott keine Femme fatale. Sie schätzte sich selbst als vollkommen

durchschnittlich ein und besaß nichts, was die Lust eines Neunzehnjährigen

ansprechen könnte. Andererseits konnte jedes beliebige weibliche Wesen bei

Männern dieses Alters romantische Gefühle auslösen. Wo Kristian der typische

Computerfreak war, sah sie sich selbst als typisch akademischen Menschen:

glattes dunkelbraunes Haar, bei dem sie Lockenfrisuren bereits seit langem

aufgegeben hatte. Jetzt trug sie es zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden.

Hellblaue, fast schon graue Augen, die gewöhnlich von einer Brille umrandet

wurden, kein Make-up, weil sie damit nicht umgehen konnte, praktische

Kleidung, meist Cordhosen oder Jeansröcke. Sie war wohl kaum das Material,

aus dem erotische Träume entstehen.

Ford allerdings hatte seit jeher behauptet, sie hätte den schönsten Kussmund

aller Zeiten. Es beunruhigte sie, dass Kristian gerade ihre Lippen so aufmerksam

betrachtet hatte. Um ihn abzulenken sagte sie: »Also gut, schauen wir uns dein

irres Programm doch einmal an. « Sie konnte nur hoffen, dass schon bald ein

schickes Mädchen dem Zauber der Chevelle erlag und sowohl die PS-Stärke als

auch Kristians Computerprogramme schätzen würde.

Für den Themenwechsel dankbar, öffnete Kristian eine Plastikhülle, entnahm eine

Diskette und legte sie ein. Grace rückte etwas beiseite, so dass er die Tastatur

besser bedienen konnte. Er instruierte den Computer, das Diskettenlaufwerk zu

lesen, dann hörte man ein elektronisches Surren, bevor das Menü auf dem

Bildschirm erschien.

»Wie heißt denn deine Hausbank? « fragte Kristian.

Grace sagte es ihm und runzelte die Stirn, als er die Liste absuchte. Kristian

lenkte den Pfeil auf das gesuchte Wort, klickte, und wieder veränderte sich der

Bildschirm. »Volltreffer! « gurrte er, als ein neues Menü erschien, diesmal das

aller Bankdienstleistungen. »Ich bin doch super, findest du nicht? «

»Du bist illegal, und sonst gar nichts! « Grace beobachtete, wie er ein weiteres

Wort eintippte. Sofort wurden alle ihre Transaktionen auf dem Girokonto

angezeigt. »Du hast dich in das Computernetz einer Bank eingeschlichen! Geh da

lieber wieder raus, ehe du richtigen Ärger bekommst. Ich meine das ernst, Kris!

Das ist ein schweres Verbrechen. Du hast mir erzählt, du hättest ein

Buchhaltungsprogramm und nicht einen Hintereingang zu allen Banken in der

Umgebung. «

»Willst du denn gar nicht wissen, wie ich es geschafft habe? « fragte er,

offensichtlich enttäuscht darüber, dass sie seine Begeisterung nicht teilte. »Ich

stehle ja nichts. Hiermit kann man nur sehen, wie lange es dauert, ehe ein

Scheck gebucht wird. Daraus kann man dann ein Muster ableiten. Manche

Banken buchen nur ein einziges Mal in der Woche. Du hast deine

Geldtransaktionen besser in der Hand, wenn du das weißt. Auf diese Weise

kannst du deine Zinserträge erhöhen, du kannst deine Zahlungen zeitlich genau

zu deinen eigenen Gunsten platzieren, so dass dein Guthaben nie unter das dafür

notwendige Minimum fällt. «

Grace starrte ihn völlig verwundert über die Art und Weise seines Denkens an.

Geldangelegenheiten waren für sie eine ganz einfache Sache: eine bestimmte

Summe kommt aufs Konto, und dann muss man zusehen, dass die Ausgaben

diese Summe nicht überschreiten. Ganz einfach also. Seit langem bereits teilte

sie die Menschen in zwei Arten ein: mathematische Menschen und

nichtmathematische Menschen. Sie war eine intelligente Frau, sie hatte einen

Doktortitel. Aber mathematische Details, ob sie nun finanzieller Art waren oder

ob es sich um Probleme der Quantenphysik handelte, hatten sie noch nie

begeistern können. In Wörter dagegen konnte sie sich vollkommen versenken.

Dort konnte sie fast besinnungslos die feinen Unterschiede in deren Bedeutung

erkennen und ihren Zauber auf sich wirken lassen. Ford interessierte sich sogar

noch weniger für Mathematik als sie, weshalb sie sich um die finanziellen Dinge

kümmerte. Bryant gab sich Mühe, er las den Wirtschaftsteil der Zeitungen und

abonnierte Anlageberatungszeitschriften - falls er jemals Geld haben sollte, das

er anlegen könnte -, aber eigentlich hatte er auch keine Ahnung davon. Nachdem

er eine Viertelstunde eine Investmentzeitschrift durchgeblättert hatte, schmiss er

sie beiseite und griff nach irgendeiner beliebigen Veröffentlichung über

Archäologie.

Kristian aber war ein mathematischer Mensch. Grace hegte nicht den geringsten

Zweifel, dass er mit dreißig bereits Millionär sein würde. Er würde ein brillantes

Computerprogramm aushecken, die Profite daraus klug anlegen und sich dann

zurückziehen, um seine Zeit mit noch viel innovativeren Programmen zu

verbringen.

»Ich bin mir ganz sicher, dass es für Anleger eine wirklich phantastische Sache

ist, aber es ist illegal. Du kannst es also nicht vermarkten. «

»Es ist doch nicht für die Öffentlichkeit, ich spiele nur gerne damit herum. Man

würde annehmen, dass die Banken bessere Sicherheitsvorkehrungen getroffen

hätten. Mir ist aber nicht eine einzige untergekommen, bei der ich ernstliche

Probleme gehabt hätte. «

»Mein liebes Kind, entweder du wirst berühmt werden oder aber im Gefängnis

landen. «

Er zog den Kopf ein wenig ein und grinste. »Ich habe noch etwas, was ich dir

zeigen möchte«, sagte er aufgeregt, während seine Finger über die Tastatur

huschten, um das Bankprogramm wieder zu verlassen.

Grace beobachtete, wie sich die Monitoroberfläche ständig veränderte, während

er von dem einen in das nächste Programm schaltete. »Werden sie denn nicht

merken, dass du in ihren Unterlagen warst? «

»Nicht mit diesem Programm hier. Ich gehe nämlich mit einem vollkommen

legalen Codewort in ihr Programm. Ich ziehe mir sozusagen einen elektronischen

Schafspelz über. So wissen sie nicht, dass sich ein Wolf in ihrer Gegend

umgesehen hat. «

»Wie bist du denn an das Codewort gekommen? «

»Ich habe herumgeschnüffelt. Ganz gleich, wie kodiert die Information auch ist,

es gibt doch immer eine Hintertür. Deine Bank hat für ihre Sicherheit nicht

gerade den besten Computer«, stellte er mit offensichtlichem Missfallen fest.

»Ich an deiner Stelle würde die Bank wechseln. «

»Ich werde es mir mal durch den Kopf gehen lassen«, versicherte sie ihm mit

diesem etwas unglücklichen Lächeln, das ihn immer zum Lachen brachte.

»Das ist ja nur ein Teil des Programms. Hier ist das Buchhaltungsprogramm. « Er

holte eine neue Oberfläche hervor und bedeutete Grace, näher heranzurutschen.

Gehorsam rückte sie ihren Stuhl etwas näher, während er ihr die vielen Aspekte

seiner digitalen Erfindungen erläuterte. Grace hörte aufmerksam zu, denn sie

erkannte, dass es tatsächlich ein gutes und vor allen Dingen unglaublich einfach

zu bedienendes System war. Er hatte es so programmiert, dass man einen

Neuzugang mit den bereits auf diesem Konto getätigten Eingängen vergleichen

konnte. Wenn also jemand versehentlich 115 Dollar statt 15 Dollar eintippte,

dann machte das Programm den Benutzer darauf aufmerksam, dass sich die

Summe nicht mit der anderen deckte und forderte ihn auf, nachzusehen, ob ihm

ein Eingabefehler unterlaufen war.

»Das gefällt mir«, sagte sie nachdenklich. Sie hatte ihre Rechnungen und ihre

Buchhaltung immer auf ganz altmodische Art und Weise getätigt, nämlich mit

Papier und Stift. Da sie sich aber mit Computern sehr sicher fühlte, gab es

eigentlich keinen Grund, weswegen sie nicht ihre Haushaltsfinanzen elektronisch

abwickeln sollte.

Kristians Gesicht leuchtete auf. »Das hatte ich mir schon gedacht. « Seine langen

Finger berührten die Tastatur und luden das Programm auf ihren Computer. »Es

heißt Gehe zu zahlen. «

Bei dem lächerlichen Namen stöhnte sie auf, musste aber dann doch lachen. »Tu

mir einen Gefallen. Wenn sie dich schnappen, weil du dich in die Bankcomputer

einschleichst, dann verrate ihnen bitte nicht, dass ich auch eine Kopie besitze,

okay? «

»Ich habe dir doch gesagt, es ist vollkommen sicher, solange die Banken ihre

Codewörter nicht ändern. Dann wirst du einfach nicht mehr einsteigen können.

Ich könnte aber immer noch reinkommen«, brüstete er sich. »Aber den meisten

würde es dann nicht mehr gelingen. Ich gebe dir auch eine Liste der Codewörter

mit. «

»Die will ich gar nicht haben«, wehrte sie eilig ab, aber Kristian beachtete sie gar

nicht. Er durchwühlte einen Haufen Papiere und zog drei eng bedruckte Seiten

hervor, die er in ihre Computertasche steckte.

»Hier. Dann hast du sie wenigstens, falls du sie mal brauchen solltest. « Er hielt

kurz inne und starrte auf den Monitor, auf dem immer noch das Schachspiel zu

sehen war. Sein Gegner hatte einen Zug gemacht. Kristian legte den Kopf zur

Seite und blickte das Schachbrett an, dann frohlockte er. »Ach so! Den Zug

kenne ich, aber er wird dir nichts bringen! « Zufrieden bewegte er einen Bauern

und klickte die Maus.

»Gegen wen spielst du denn? «

»Keine Ahnung«, erwiderte er abwesend. »Er nennt sich der Fischermann. «

Grace starrte blinzelnd auf den Bildschirm. Nein, das konnte nicht wahr sein.

Kristian spielte gegen jemanden, der sich den Namen vermutlich mit einem

Hintergedanken ausgesucht hatte. Der richtige Bobby Fischer würde nicht auf der

Suche nach einem Schachpartner durch das Internet surfen. Er konnte überall

gegen jeden seiner Wahl spielen und dafür auch noch hohe Geldsummen

erhalten.

»Wer gewinnt denn normalerweise? «

»Wir sind ziemlich ausgeglichen. Er ist gut«, gab Kristian zu und schloss derweil

den zweiten Computer wieder an.

Grace öffnete ihre Handtasche und zog ihr Scheckheft hervor. »Möchtest du denn

eine Pizza essen? « fragte sie.

Er legte den Kopf zur Seite, als er sich von der Cyberwelt zurückzog und den

Zustand seines Magens begutachtete. »Klar doch, immer«, erklärte er. »Ich bin

kurz vorm Hungertod. «

»Dann bestell dir eine, ich lade dich ein. «

»Wirst du denn noch bleiben und sie mit mir teilen? «

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Ich habe zu Hause noch so viel zu

erledigen. « Sie konnte gerade noch ein Erröten verhindern. Ford hätte lauthals

aufgelacht, wenn er sie hätte hören können.

Sie stellte einen Scheck über fünfzig Dollar aus, dann zog sie einen

Zwanzigdollarschein hervor, um für die Pizza zu zahlen. »Danke, mein Lieber. Du

hast mir das Leben gerettet. «

Kristian nahm den Scheck und das Trinkgeld entgegen und betrachtete beides

zufrieden. »Das wird eine steile Karriere werden, nicht wahr? « fragte er stolz.

Grace musste lachen. »Wenn du nicht ins Gefängnis kommst, schon. « Sie stellte

den Laptop wieder in die Tasche zurück und legte das reparierte Modem auf ihre

offene Handtasche. Kristian nahm ihr galant die Computertasche ab und trug sie

ihr die Treppe hinunter. Beide Eltern waren nicht zu sehen, aber das Geräusch

von Pistolenschüssen aus dem Wohnzimmer verriet ihren Aufenthaltsort. Beide

Siebers liebten vorbehaltlos alle Actionfilme mit Arnold Schwarzenegger.

Kristians Zuvorkommendheit hielt nur bis zur Küche vor, wo er sich an die noch

nicht telefonisch bestellte Pizza erinnerte. Grace nahm ihm die Computertasche

ab, und Kristian blieb vor dem Wandtelefon stehen. »Danke, Kris«, sagte sie und

verließ das Haus ebenso, wie sie gekommen war, erst durch den dunklen

Waschraum und dann durch die Hintertür.

Sie hielt einen Augenblick inne, damit sich ihre Augen an die Dunkelheit

gewöhnen konnten. Während sie bei Kristian gewesen war, hatte es sich stark

bewölkt. Die Sterne waren fast verdeckt, obwohl man hier und da ein Stück

klaren Himmels erkennen konnte. Heimchen zirpten, und eine kühle, nach Regen

duftende Brise wehte.

Das Licht aus ihrem Küchenfenster keine fünfzig Meter vor ihr wirkte auf sie wie

ein Lockmittel. Ford war da und wartete auf sie. Bei dem Gedanken an ihn wurde

ihr warm. Vorsichtig ging sie auf ihr Zuhause zu, um in der Dunkelheit nicht über

eine Unebenheit zu stolpern. Die weiche Grasnarbe federte ihre Bewegungen

lautlos ab. Sie durchquerte bereits Murchinsons Garten, als sie jemanden in ihrer

Küche bemerkte, der für kurze Zeit am Fenster aufgetaucht war. Grace blieb

stehen und legte die Stirn in Falten, denn bei dem Mann handelte es sich weder

um Ford noch um Bryant.

Himmel, sie hatten Besuch. Ihre Stirnrunzeln vertieften sich. Vermutlich war es

jemand, der sich für Archäologie interessierte und etwas mit der Stiftung zu tun

hatte. Gelegentlich besuchten sie Jugendliche aus der Oberstufe, die sich für

Archäologie interessierten. Manche von ihnen wollten Grace sprechen, wenn sie

ein Problem mit einem griechischen oder lateinischen Begriff hatten. Wie auch

immer, sie wollte jetzt mit niemandem reden, denn sie wollte mit ihrem Mann ins

Bett gehen.

Sie zögerte, das Haus zu betreten, obwohl es irgendwann ohnehin nicht länger

zu umgehen war. Sie konnte unmöglich draußen in der Dunkelheit warten, bis

wer auch immer wieder ging. Unter Umständen konnte das nämlich Stunden

dauern. Sie ging etwas nach rechts, um zu sehen, ob sie das Auto des Besuchers

kannte und hoffte, dass es einem von Bryants Freunden gehörte. Wenn das der

Fall war, könnte sie ihrem Bruder ein Zeichen geben, dass er seinen Besuch mit

in seine Hälfte des Hauses hinüber nahm.

Ihr Buick stand auf dem Parkplatz, daneben parkte Bryants schwarzer Cherokee

Jeep. Fords zerkratzter und zerdellter Chevrolet Vierradantrieb, den sie für ihre

Feldarbeit benutzten, stand ein wenig abseits. Ansonsten blockierte kein Auto die

Auffahrt.

Das war merkwürdig. Sie wusste, dass sie Besuch hatten, denn der Mann, den

sie kurz gesichtet hatte, hatte sandblonde Haare gehabt. Ford und Bryant aber

waren beide dunkelhaarig. Wenn es kein Nachbar war, dann hatte sie keine

Ahnung, wer es sein könnte. Sie kannte fast alle Nachbarn, und keiner sah so

aus wie der Mann, den sie eben kurz gesehen hatte.

Wenn sie aber nicht ins Haus ging, würde sie nie herausfinden, um wen es sich

handelte. Sie machte einen Schritt auf das Haus zu, hielt jedoch plötzlich inne

und blinzelte in die Dunkelheit. Etwas zwischen ihr und dem Haus hatte sich

bewegt, etwas Dunkles und Bedrohliches. Ein Schauer rann ihr über den Rücken.

Eisiger Alarm schoss durch ihre Venen und ließ sie erstarren. Unglaubliche

Möglichkeiten fuhren ihr durch den Kopf: ein Gorilla war aus dem Zoo

ausgebrochen, oder ein wirklich sehr, sehr großer Hund strolchte durch ihren

Garten.

Dann bewegte es sich wieder, diesmal schlich es sich langsam auf ihre Tür zu. Es

war ein Mann. Sie kniff erstaunt die Augen zusammen und fragte sich, warum

jemand in ihrem Garten herumschlich und statt der Eingangstür die Hintertür

benutzte. Ein Raubüberfall? Warum sollte ein Einbrecher, der noch halbwegs bei

Verstand war, in ein hell erleuchtetes Haus einbrechen, in dem die Bewohner

ganz offensichtlich zu Hause waren?

Dann wurde die Hintertür geöffnet. Sie mutmaßte, dass der Mann geklopft haben

musste, wenn auch nur sehr leise, denn sie hatte nichts gehört. Ein anderer

Mann stand im Türrahmen, ein Mann, den sie kannte. In seiner Hand hielt er eine

Pistole mit einem merkwürdig verdickten Lauf.

»Nichts«, sagte der erste Mann mit leiser Stimme, die aber in der Stille der Nacht

gut zu hören war.

»Verflucht noch mal«, murmelte der andere Mann und ließ ersteren eintreten.

»Jetzt kann ich nicht mehr zurück. Wir müssen die Sache einfach durchziehen. «

Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Grace starrte über den dunklen Garten auf die

breite Hintertür. Warum war Parrish Sawyer in ihrem Haus, und warum trug er

eine Pistole? Parrish Sawyer war ihr Chef. Wenn er sein Kommen angekündigt

hätte, dann hätte Ford sie angerufen und nach Hause gerufen. Sie standen sich

gut mit Parrish, obwohl sie privat nicht mit ihm verkehrten. Parrish bewegte sich

eher in der Stratosphäre der Reichen und gut situierten Menschen. Diese

Qualifikation konnte Graces Familie nicht bieten.

»Einfach durchziehen«, hatte der Mann gesagt. Was denn durchziehen? Und

warum konnten sie jetzt nicht mehr zurück? Verwirrt und unsicher trat Grace aus

dem Schatten des Nachbargartens und durchquerte ihren eigenen Garten. Sie

wusste nicht, was hier gespielt wurde, aber sie würde es herausfinden.

Beim Kochen vorhin hatte sie das Fenster geöffnet, um die frische Frühlingsluft

hereinzulassen. Das Fenster stand auch jetzt noch halb offen. Deutlich hörte sie

Ford sagen: »Verflucht, Parrish, was soll denn das? « Fords Stimme war rau und

wütend und hatte einen Unterton, den sie an ihm nicht kannte. Grace erstarrte

wieder, als sie gerade einen Fuß auf die Treppe setzte.

»Wo ist sie? « fragte Parrish, Fords Frage ignorierend. Seine Stimme war

gleichgültig und kalt. Grace bekam eine Gänsehaut.

»Ich hab' dir doch schon gesagt, in der Bibliothek. «

Eine Lüge. Ford log ganz bewusst. Grace stand regungslos, starrte das Fenster

an und versuchte, sich vorzustellen, was hinter der Mauer gerade vor sich ging.

Sie konnte niemanden sehen, aber sie wusste, dass mindestens vier Menschen in

der Küche waren. Wo waren Bryant und der Mann, den sie in die Küche hatte

gehen sehen?

»Erzähl mir keinen Unsinn. Ihr Wagen steht vor der Tür. «

»Sie ist mit einer Freundin gefahren. «

»Wie heißt die Freundin? «

»Serena, Sabrina oder so ähnlich. Ich habe sie heute Abend zum ersten Mal

gesehen. «

Ford war immer schon ein schneller Denker gewesen. Die Namen waren

außergewöhnlich genug, um seiner Lüge die Glaubwürdigkeit zu verleihen, wie es

mit einem gewöhnliche Namen wie Sally nicht gelungen wäre. Sie wusste nicht,

warum Ford log. Aber allein schon die Tatsache, dass er es tat, war ihr Hinweis

genug. Parrish hatte eine Pistole, und Ford wollte nicht, dass er erfuhr, wo Grace

war. Irgend etwas stimmte hier überhaupt nicht.

»Also gut. « Es hörte sich so an, als ob Parrish durch seine geschlossenen Zähne

hindurch ausatmete. »Wann wird sie zurück sein? «

»Sie sagte, sie wisse es nicht und dass sie viel zu tun hätten. Ich nehme an,

wenn die Bibliothek schließt. «

»Und sie hat alle ihre Dokumente mitgenommen? «

»Sie waren in ihrer Computertasche. «

»Weiß denn diese Serena-Sabrina von den Dokumenten? «

»Keine Ahnung. «

»Tut auch nichts zur Sache. « Parrish klang jetzt geradezu gelangweilt. »Ich

kann kein Risiko eingehen. Steht auf, alle beide. «

Sie hörte die Stühle auf dem Fußboden scharren und trat einen Schritt zur Seite,

um so durch das Fenster zu blicken, wobei sie auf einen ausreichenden Abstand

achtete. Sollte jemand aus dem Fenster sehen, so würde sie nicht in dessen

Lichtkegel stehen.

Sie sah Bryant mit nacktem Oberkörper und noch feuchten Haaren. Er musste

eben erst aus der Dusche gekommen sein, was wiederum bedeutete, dass

Parrish und der andere Mann gerade erst gekommen waren. Das Gesicht ihres

Bruders war angestrengt und blass, seine Augen merkwürdig ausdruckslos.

Grace trat einen Schritt vor und zählte noch vier weitere Leute.

Zunächst war da Ford, ebenso blass wie Bryant. Seine Augen aber funkelten vor

Wut, so wie sie es noch nie bei ihm gesehen hatte. Parrish stand, groß und edel,

mit seinen teuer gestylten blonden Haaren mit dem Rücken zum Fenster. Der

Mann, den sie vorhin schon gesehen hatte, stand neben ihm, ein weiterer lehnte

bewaffnet im Türrahmen. Seine Pistole hatte ebenso wie die von Parrish eine

Schalldämpfung. Der dritte Mann würde sicherlich genau wie die beiden anderen

auch bewaffnet sein. Sie konnte sich keinen Reim auf die Situation machen. Aber

eines war ihr vollkommen klar: Sie musste die Polizei holen. Sie konnte von den

Siebers aus anrufen. Vorsichtig trat sie einen Schritt zurück.

»Geht jetzt ins Schlafzimmer, alle beide«, hörte sie Parrish sagen. »Und macht

keine Dummheiten, beispielsweise uns überrumpeln zu wollen. Ich habe keine

Ahnung, wie weh es tut, erschossen zu werden. Aber ich werde es demonstrieren

müssen, falls ihr nicht tut, was wir verlangen. «

Warum wollte er sie im Schlafzimmer haben? Sie hatte genügend mitbekommen,

um zu wissen, dass sie eigentlich hinter ihr her waren. Er schien sich wegen der

Dokumente, die sie dabei hatte, Sorgen zu machen. Wenn Parrish jedoch die

Dokumente haben wollte, dann brauchte er es ihr lediglich zu sagen. Schließlich

war er ihr Chef, und sie bearbeitete die Aufgaben, die sie von ihm aufgetragen

bekam. Es würde ihr das Herz brechen, die geheimnisvollen Dokumente wieder

abzugeben, aber sie hätte ihn nicht daran hindern können. Warum also hatte er

sie nicht einfach angerufen und sie aufgefordert, sie am nächsten Morgen

abzugeben? Warum war er mit einer Pistole bewaffnet zu ihr gekommen und

hatte auch noch zwei bewaffnete Kerle mit dabei? Darauf konnte sie sich einfach

keinen Reim machen.

Sie wollte schnell zu den Siebers rennen, ging aber so um das Haus, dass sie in

das Schlafzimmer blicken konnte. Sie wartete darauf, dass das Licht anging und

sie die Stimmen aus dem Schlafzimmer hören konnte. Dann erst merkte sie,

dass Parrish die beiden zu Bryants Schlafzimmer führte, das auf der anderen

Hausseite lag. Sie hatten das Haus so geteilt, dass Bryants Schlafzimmer

zusammen mit der Küche im hinteren Teil des Hauses lag. Parrish musste sie

also erst den vorderen Flur entlangführen, um zu der Verbindungstür zu Bryants

Teil zu gelangen. Erst dann konnten sie das Schlafzimmer erreichen.

So schnell sie konnte, lief Grace zurück, achtete allerdings darauf, vollkommen

im Schatten zu bleiben. Der Wasserschlauch lag wie eine dünne Schlange

zusammengerollt unter dem hervorstehenden Wasserhahn. Sie wich ihm aus,

ebenso einem großen Siebgitter, das einer der Männer gegen die Hauswand

gelehnt hatte. Dies war ihr Zuhause. Sie kannte alle seine Eigenheiten, die

kleinen Fallen für den Unaufmerksamen. Sie wusste, welche der Dielen knarrten,

sie kannte die Risse in der Decke und die Wurzelknollen im Garten.

Aus Bryants Schlafzimmer schien bereits Licht. Mit an die Wand gepresstem

Rücken ging sie seitlich weiter, bis sie direkt neben seinem Fenster stand.

Langsam drehte sie ihren Kopf gerade so weit, dass sie in das Zimmer

hineinsehen konnte.

Einer der Männer trat auf das Fenster zu. Grace riss ihren Kopf zurück und blieb

regungslos stehen. Sie wagte noch nicht einmal Luft zu holen. Er zog die

Gardinen vor das Fenster, so dass jetzt weniger Licht nach draußen drang. Das

Blut pulsierte in ihren Ohren, und panische Angst schwächte sie. Sie konnte nicht

atmen, ihr Herz fühlte sich an, als ob es tatsächlich in ihrem Hals schlagen und

sie ersticken würde. Wenn der Mann sie gesehen hätte, wäre sie gefangen

gewesen, denn sie hätte sich unmöglich bewegen können.

»Setz dich auf das Bett«, hörte sie Parrish durch ihren heftigen Herzschlag

hindurch.

Endlich begannen Graces Lungen wieder zu arbeiten. Sie atmete tief ein, um ihre

Nerven zu beruhigen, dann wechselte sie erneut ihre Haltung.

Die Gardine war nicht ganz zugezogen. Sie platzierte sich so, dass sie durch den

Schlitz hindurch Ford und Bryant sehen konnte...

Parrish hob ganz ruhig seine Pistole und schoss Ford in den Kopf, dann wechselte

er blitzschnell die Richtung und erschoss Bryant. Ihr Bruder war bereits tot, noch

bevor der Körper ihres Mannes auf die Seite gefallen war.

Nein, nein! Vollkommen gelähmt lehnte sie an der Wand. Ihr Körper hatte sich

irgendwie aufgelöst, war ihr abhanden gekommen. Sie konnte nichts fühlen,

nichts denken. Ein dunkler Nebel behinderte ihre Sicht. Der unglaubliche Anblick

entfernte sich, als ob sie es vom Ende eines Tunnels aus beobachtet hätte. Sie

hörte sie mit merkwürdig verzerrten Stimmen miteinander reden.

»Hättest du nicht noch warten sollen? So wird es eine Diskrepanz beim Zeitpunkt

ihrer Tode geben. «

»Das ist unwichtig. « Sie erkannte Parrishs Stimme. »In einer Mord-Selbstmord-

Situation wartet der Mörder manchmal, bevor er sich selbst umbringt - oder sie

sich selbst umbringt, wie in unserem Fall. Der Schock, verstehst du. Was für ein

Jammer, ihren Ehemann und ihren Bruder direkt vor ihrer Nase in eine

homosexuelle Affäre verwickelt zu wissen. Kein Wunder, dass die Kleine

durchgedreht ist. «

»Und wie ist das mit der Freundin? «

»Ach ja, Serena-Sabrina. Pech für sie. Sie wird auf dem Nachhauseweg einen

Unfall erleiden. Ich warte hier auf Grace. Und ihr beide setzt euch ins Auto und

folgt Serena-Sabrina. «

Langsam hob sich der Nebel vor Graces Augen. Sie wünschte, er wäre geblieben.

Sie wünschte, gleich hier an Ort und Stelle zu sterben, wünschte, ihr Herz würde

einfach für immer stehen bleiben. Durch den Spalt in der Gardine hindurch

konnte sie ihren auf dem Rücken ausgestreckten Mann sehen. Er hatte die Augen

geöffnet, ohne etwas zu sehen. Seine dunklen Haare waren voller... voller...

Ein Geräusch stieg in ihr auf, ein fast lautloses Ächzen in ihrem Hals. Es war wie

das entfernte Heulen des Windes, dunkel und seelenlos. Der Schmerz bahnte

sich einen Weg aus ihrem Körper. Sie wollte den Laut zurückhalten, aber er kam

dennoch auf primitive, ursprüngliche Weise hervor. Parrish riss den Kopf herum.

Für den Bruchteil einer Sekunde - nicht länger - glaubte sie, dass sich ihre Blicke

getroffen hatten, dass er durch den schmalen Gardinenspalt in die Nacht hatte

blicken können. Er sagte etwas in scharfem Tonfall und raste auf das Fenster zu.

Grace entschwand in die Nacht.

Kapitel 2

Sie benötigte dringend Geld.

Durch den strömenden Regen hindurch fixierte Grace den Geldautomaten, der in

der Dunkelheit anziehend wie ein Tempel leuchtete und sie aufzufordern schien,

die Straße zu überqueren und den elektronischen Ritus zu vollziehen. Der

Geldautomat war kaum dreihundert Meter entfernt. Bis dorthin hätte sie

höchstens ein paar Minuten gebraucht, hätte die Ziffern eingeben und das Geld

in ihrer Hand haben können. Sie musste ihr Konto leeren. Wahrscheinlich hielt

ein Automat allein nicht genügend Bargeld bereit, so dass sie einen zweiten,

wenn nicht noch einen dritten aufsuchen müsste. Mit jedem Mal würde sich die

Gefahr, entdeckt zu werden, noch weiter vergrößern - ebenso wie die Gefahr,

Opfer eines Überfalls zu werden.

Die automatischen Kameras würden ihr Bild aufnehmen, und die Polizei würde

ganz genau wissen, wann sie wo gewesen war. Plötzlich trat ihr Fords Bild wieder

vor das innere Auge. Rasender Schmerz schüttelte sie. O mein Gott. Wieder

bahnte sich der unmenschliche, nicht zu unterdrückende Schrei ihre Kehle hinauf

und schlug gegen ihre zusammengepressten Zähne. Eine vorbeistreunende Katze

erstarrte bei diesem Wehlaut mit gesträubtem Fell und erhobener Pfote. Dann

wandte sich das Tier ab und entfernte sich eilig von dem zusammengekrümmten

Wesen, das einen solch schrecklichen Laut von sich gegeben hatte. Grace wiegte

sich wie ein Kind, verschloss den Schmerz tief in ihrem Inneren und zwang sich

zu logischem Denken. Ford hatte ihr Leben mit seinem bezahlt. Es wäre ein

unvorstellbarer Verrat gewesen, wenn sie sein Opfer durch eine falsche

Entscheidung zunichte machen würde.

Eine Vielzahl nächtlicher Geldabhebungen, alle nach dem geschätzten Zeitpunkt

des Verbrechens, würden den Anschein ihrer Schuld unweigerlich untermauern.

Kristian würde sich daran erinnern, wann genau sie das Haus der Siebers

verlassen hatte. Ungefähr zu dieser Zeit waren Ford und Bryant ermordet

worden. Beide lagen halb entkleidet in Bryants Schlafzimmer. Parrish hatte die

Situation mit der ihm eigenen Gründlichkeit inszeniert. Jeder Polizist würde

glauben, sie hätte ihren Mann und ihren Bruder bei einem homosexuellen

Schäferstündchen ertappt und beide umgebracht. Ihr Verschwinden war nur noch

ein weiteres Glied in der sie belastenden Beweiskette.

Die Männer, die Parrish bei sich hatte, waren Profis in ihrem Metier. Sie waren

wohl kaum so nachlässig, Fingerabdrücke zu hinterlassen. Kein Nachbar würde

sich an vor dem Haus geparkte fremde Autos erinnern, denn sie hatten ihre

Wagen andernorts abgestellt und waren zu Fuß gekommen. Es gab weder

Zeugen noch Beweise, die auf irgend jemand anderen als auf sie hinwiesen.

Selbst wenn es ihr wie durch ein Wunder gelänge, die Polizei von ihrer Unschuld

zu überzeugen, hatte sie noch keinen Beweis dafür, dass Parrish der Täter war.

Sie hatte alles gesehen und konnte nichts beweisen. In der Logik der Polizisten

hatte er nicht einmal ein Motiv gehabt, während gegen sie viele

Verdachtsmomente sprachen. Welche Beweise hätte sie schon vorbringen

können? Einen Haufen Papiere in verschiedenen Altsprachen, die sie noch nicht

einmal entziffert hatte und die Parrish jederzeit von ihr einfach dadurch hätte

erhalten können, dass er sie darum gebeten hätte?

Es gab kein Motiv, jedenfalls keines, das sie hätte beweisen können. Wenn sie

jedoch jetzt aufgab, dann würde Parrish die Dokumente bekommen und sie

selbst ermordet werden. Dafür zumindest würde er sorgen. Er würde es so

aussehen lassen, als habe sie sich erhängt. Oder aber eine Überdosis Rauschgift

würde ihrem Leben ein Ende setzen, wobei die Frage, wie sie im Gefängnis an

das Gift gekommen war, einen Skandal auslösen würde. Wie auch immer, für sie

jedenfalls wäre das Ergebnis immer das gleiche. Sie musste am Leben bleiben,

sie durfte der Polizei nicht in die Hände fallen. Das war ihre einzige Chance, wenn

sie den Grund herausfinden wollte, warum Parrish die beiden Männer umgebracht

hatte - und wenn sie sich an ihm rächen wollte. Um jedoch in der Freiheit

überleben zu können, benötigte sie dringend Geld. Dazu wiederum musste sie

den Geldautomaten benutzen, auch wenn das den Verdacht gegen sie weiter

verstärken würde. Würde man ihr Geldguthaben einfrieren? Dafür wäre

vermutlich eine richterliche Verfügung notwendig. Das wiederum bedeutete einen

zeitlichen Vorsprung für sie, einen Vorsprung, den sie in diesem Moment gerade

dabei war zu vergeuden, indem sie hinter einer Mülltonne versteckt die Zeit

vertrödelte, anstatt endlich die Straße zu überqueren und soviel Geld wie möglich

abzuheben.

Doch sie fühlte sich benommen und unfähig, völlig normale Verrichtungen

auszuführen. Die dreihundert Meter zum Automaten hätten ebenso gut hundert

Kilometer sein können. Die schwarz glänzende Oberfläche des nassen Asphalts

spiegelte die fast unwirklich verzerrten Lichter: die bunten Farben der

Leuchtreklamen, das kalte Weiß der Straßenbeleuchtung, der ewig rot-gelb-

grüne Wechsel der Ampel, die einen nicht vorhandenen Verkehr regelte. Um zwei

Uhr morgens fuhr nur gelegentlich ein Auto vorbei. In den letzten fünf Minuten

war nicht ein einziger Wagen hier entlanggefahren. Kein Mensch war zu sehen,

also genau der richtige Zeitpunkt, um den Automaten zu benutzen. Doch sie

hockte immer noch da, wobei die überhängende Dachtraufe und die schwere

Mülltonne sie zumindest teilweise vor dem Regen schützten. Ihr Haar klebte am

Kopf, die feuchten Flechten hingen schlaff und schwer auf ihrem Rücken. Ihre

Kleider waren ebenfalls durchnässt, und obwohl es eine für Minneapolis

ungewöhnlich warme Nacht war, hatte die klamme Feuchtigkeit ihrem Körper alle

Wärme entzogen. Sie zitterte vor Kälte und drückte einen Müllbeutel gegen die

Brust. Es war einer jener kleinen Beutel, wie man sie in den Abfallkörben

öffentlicher Gebäude findet. Sie hatte ihn aus der öffentlichen Bibliothek

mitgenommen. Der Computer und die wertvollen Papiere waren so gut

geschützt. Als es zu regnen begonnen hatte, war sie um die Sicherheit der

kostbaren Dokumente sehr besorgt gewesen. Der einzige Schutz, der ihr

eingefallen war, war ebenjene Tüte. Möglicherweise war es keine besonders

kluge Idee gewesen, die Bibliothek aufzusuchen. Schließlich war es ein öffentlich

zugänglicher Ort, noch dazu einer, den sie regelmäßig aufsuchte. Andererseits,

wie oft würde die Polizei schon in Bibliotheken nach Mordverdächtigen suchen?

Parrish konnte sie durch den Gardinenschlitz hindurch jedenfalls nicht deutlich

erkannt haben. Aber der Gedanke war nicht abwegig, dass sie diejenige war, die

durch das Fenster hineingespäht und alles gesehen hatte. Bestimmt waren er

und seine Männer auf der Suche nach ihr. Aber selbst wenn Ford ihnen gesagt

hatte, dass sie in der Bibliothek sei, bezweifelte sie doch, dass die Männer

annehmen konnten, sie sei nochmals in die Bibliothek zurückgegangen, um sich

vor ihnen zu verstecken. Es war ja nicht einmal sicher, dass die Polizei zu diesem

Zeitpunkt überhaupt schon von dem Doppelmord wusste. Parrish konnte keine

Anzeige erstatten, ohne dass auch er verdächtigt wurde. Daran aber konnte ihm

nicht gelegen sein. Die Nachbarn wiederum hatten nichts gehört, da die Pistolen

mit Schalldämpfer ausgerüstet gewesen waren. Aber vermutlich war die Polizei

doch schon unterrichtet. Parrish konnte nicht zulassen, dass Tage vergingen, ehe

die Leichen - ihr Herz zog sich bei diesem Wort zusammen, aber sie zwang sich,

den Gedanken fortzusetzen - entdeckt wurden. Konnten Polizei und

Gerichtsmedizin bei der Spurensuche feststellen, ob Schalldämpfer benutzt

worden waren? Wohl kaum. Parrish brauchte also nur von »verdächtigen

Geräuschen wie Pistolenschüsse«, zu erzählen und ihre Adresse anzugeben. Die

Spur des Anrufers würde sich nicht zurückverfolgen lassen.

Demnach wurde sie also gesucht: von Parrish und seinen Helfershelfern und von

der Polizei. Trotzdem hatte sie das Hauptgebäude der Bibliothek betreten. Der

Instinkt hatte sie dorthin gelenkt. Starr vor Schock und Entsetzen wirkte die ihr

vertraute Bibliothek wie ein schützender Hafen. Der Geruch der Bücher, diese

eigenartige Mischung aus Papier, Leder und Druckerschwärze, gab dem Ort

etwas Feierliches, Beruhigendes. Wie vor den Kopf geschlagen war sie zunächst

zwischen den Regalen umhergeirrt und hatte sich die Bücher angesehen, die

noch bis vor wenigen Stunden ihre ganze Welt gewesen waren. Sie hatte

versucht, ein Gefühl der Sicherheit und der Normalität wiederzuerlangen.

Vergeblich. Nichts würde jemals wieder so sein wie zuvor. Schließlich war sie in

den Waschraum gegangen und hatte bestürzt ihr Gesicht im Spiegel betrachtet.

Diese Frau mit dem kreidebleichen Gesicht und den hohlen Augen war nicht sie.

Das konnte nicht Grace St. John sein, die ihr Leben in der akademischen Welt

verbracht und es dem Entziffern und Übersetzen altertümlicher Dokumente

gewidmet hatte. Die Grace St. John, die sie kannte und die sie unzählige Male in

anderen Spiegeln gesehen hatte, hatte fröhliche blaue Augen und entspannte

Gesichtszüge - die Züge einer Frau, die liebte und im Gegenzug geliebt wurde.

Ja, sie war zufrieden gewesen, auch wenn sie vielleicht ein wenig zu füllig war,

um ein Titelbild für ein Hochglanzmagazin abzugeben. Was machte das schon?

Ford hatte sie geliebt, und das allein war es, was in ihrem Leben zählte. Doch

Ford war jetzt tot.

Das konnte nicht wahr sein. Das entsprach nicht der Wirklichkeit. Nichts von

dem, was geschehen war, war tatsächlich geschehen. Wenn sie die Augen

zumachte, würde sie vielleicht in ihrem Bett aufwachen und feststellen, dass alles

nur ein böser Traum gewesen war oder dass sie einen Nervenzusammenbruch

erlitten hatte. Das wäre ein guter Tausch, dachte sie und kniff ihre Lider

zusammen. Jede Situation wäre besser als die, in der sie sich zur Zeit befand.

Sie versuchte es. Sie presste die Augen zusammen und konzentrierte sich auf die

Vorstellung eines Alptraums und darauf, dass sie aufwachen würde und alles

wieder gut sein würde. Als sie jedoch die Augen wieder aufschlug, war alles noch

genauso schrecklich wie zuvor. Noch immer starrte sie auf ihr trostloses, vom

kalten Licht der Neonröhre erleuchtetes Gesicht, und Ford war immer noch tot.

Ford und Bryant, Ehemann und Bruder. Die beiden einzigen Menschen auf der

Welt, die sie liebte und von denen sie geliebt worden war. Sie waren beide fort,

waren unwiderruflich und für immer gegangen. Keine Macht der Welt konnte sie

wieder zurückbringen. Sie fühlte sich, als ob ihr Innerstes mit ihnen zusammen

gestorben war. Sie empfand sich nur noch als eine leere Hülle und wunderte sich,

wieso das Gerüst aus Fleisch und Knochen, das sie aus dem Spiegel anstarrte,

nicht vor ihren Augen zusammenklappte.

Doch als sie sich selbst in die Augen blickte, fand sie den Grund dafür, warum sie

nicht zusammengebrochen war. Sie war nicht so leer, wie sie angenommen

hatte. Da war noch etwas in ihr, etwas Wildes und Bodenloses: eine barbarisch

rohe Verquickung aus Schrecken, Wut und Hass. Sie musste gegen Parrish

kämpfen, koste es, was es wolle. Wenn Parrish oder die Polizei sie aufspürten,

dann hätte Parrish das Spiel für sich gewonnen. Diese Vorstellung aber war ihr

unerträglich. Er wollte unbedingt an die Dokumente kommen. Sie hatte mit

deren Übersetzung eben erst begonnen und kannte den der Papiere noch nicht.

Sie wusste nicht, was an ihnen so außerordentlich war, dass er Ford und Bryant

ermordet hatte und sie ebenfalls umbringen wollte, nur weil sie von der Existenz

dieser Dokumente wussten. Vielleicht vermutete Parrish, sie habe bereits mehr

übersetzt, als es tatsächlich der Fall war. Er wollte die Dokumente nicht nur

besitzen, er wollte, dass niemand von ihrem , ja, noch nicht einmal von ihrer

Existenz erfuhr. Was war in diesen Dokumenten verborgen? Weswegen hatten

ihr Ehemann und ihr Bruder sterben müssen?

Um diese Fragen zu beantworten, musste sie ihren Laptop schützen. Ihr

Computer enthielt all ihre Aufzeichnungen, ihre Tagebuchnotizen und ihre

Sprachprogramme, die sie bei ihrer Arbeit unterstützten. Sie könnte ihre

Übersetzung also fortsetzen. Und sie würde den Grund herausbekommen. Den

Grund.

Wenn sie sich jedoch erfolgreich verstecken wollte, so brauchte sie Geld.

Sauberes Geld, dessen Quelle man nicht zurückverfolgen konnte.

Sie musste sich ganz einfach zwingen, zu dem Automaten zu gehen. Sie musste

alles abheben, was noch im Automaten war - falls zu dieser späten Stunde

überhaupt noch etwas verfügbar war. Danach würde sie den nächsten Automaten

aufsuchen. Irgendwie hatte sie es geschafft, die Bibliothek zu verlassen und sich

an diesem dunklen Platz zu verbergen.

Ihre Finger waren jetzt taub und blutleer. Es war zwar immer noch fast zwanzig

Grad warm, sie war aber bereits seit mehreren Stunden durchnässt.

Sie hätte nicht sagen können, woher sie die Kraft nahm, sich wieder

aufzurichten. Doch auf einmal stand sie aufrecht, wenn auch wackelig auf den

Beinen und lehnte sich stützend gegen eine Wand. Sie stieß sich von dort ab,

und der Schwung ließ sie einige Schritte vorwärts torkeln. Das Entsetzen und die

Erschöpfung hatten sie jedoch nach wie vor fest in ihrem Griff. Wieder hielt sie

inne. Sie drückte die Plastiktüte gegen die Brust und spürte das beruhigende

Gewicht des Laptops. Der Regen rann ihr das Gesicht herunter, und eine dumpfe,

steinige Masse drückte auf ihr Zwerchfell. Ford, Bryant.

Herrgott.

Ihre Füßen kamen wieder in Gang, zwar stolpernd und schleppend, aber sie

konnte laufen. Mehr musste sie auch nicht tun. Die Handtasche hing ihr über der

Schulter und schlug gegen ihre Hüfte. Ihre Schritte verlangsamten sich, dann

blieb sie stehen. Ich Trottel! Es war wirklich ein Wunder, dass man sie bis jetzt

noch nicht überfallen hatte. War sie doch die ganze Zeit menschenleere Straßen

entlanggelaufen und hatte ihre Handtasche mit der Geldbörse offen getragen!

Sie sprang panisch und mit klopfendem Herzen in den Schatten zurück. Einen

Augenblick lang stand sie wie gelähmt und hielt unruhig in der Dunkelheit nach

einer jener lichtscheuen Gestalten Ausschau, die Nachts durch die Stadt

streiften. Doch die kleine Straße blieb leer. Sie atmete schwer. Sie war allein.

Vielleicht war ihr der Regen zu Hilfe gekommen, und die Obdachlosen, die

Junkies und die Straßenräuber hatten sich in ihre Unterschlupfe verkrochen. Sie

lachte in der Dunkelheit hysterisch auf. Obwohl sie in Minneapolis aufgewachsen

war, wusste sie nicht, welche Viertel man besser meiden sollte. Sie kannte ihre

Nachbarschaft, die Wege zur Universität, zu den Bibliotheken, zum Postamt, zum

Supermarkt, zu ihrem Arzt und Zahnarzt. Dienstlich hatten Ford und sie sechs

Kontinente und wer weiß wie viele Länder bereist, und sie hielt sich für gut

unterrichtet. Doch nun wurde ihr bewusst, wie wenig sie über ihre Heimatstadt

wusste, weil sie immer nur in ihre kleine, vertraute Welt eingesponnen gewesen

war.

Um jetzt zu überleben, würde sie wachsamer und klüger sein müssen. Da reichte

es nicht mehr aus, die Türen zu verriegeln, sobald man im Auto saß. Jetzt

musste sie auf alles gefasst sein, in jedem Winkel konnte die Gefahr lauern. Sie

musste bereit und fähig sein zu kämpfen. Sie würde wie die Straßenkinder das

Überleben trainieren müssen, sonst würde sie keine Woche auf der Straße

durchhalten.

Sorgfältig ließ sie die Scheckkarte in ihrer Tasche verschwinden und versteckte

sich wieder unter dem überhängenden Dach. Nachdem sie den wertvollen, in der

Plastiktüte versteckten Computer abgestellt hatte, öffnete sie ihre Handtasche

und ging den durch. Sie nahm alles Bargeld heraus und stopfte es blindlings in

das Seitenfach der Computertasche. Viel konnte es nicht sein, vielleicht vierzig

oder fünfzig Dollar, denn sie trug normalerweise nur wenig Bargeld bei sich. Bei

den Scheckvordrucken zögerte sie, entschloss sich dann aber, sie vorerst noch zu

behalten. Vielleicht würde sie sie ja doch noch benutzen können, obwohl sich ein

Scheck natürlich zum Einlösungsort zurückverfolgen ließ. Ebenso verfuhr sie mit

der American-Express-Karte. Beides stopfte sie in die Plastiktüte und wusste,

dass sie keines der beiden Dinge noch lange gebrauchen konnte. Minneapolis

würde sie verlassen müssen. Wenn sie danach Schecks oder Kreditkarte

benutzte, käme ihr die Polizei direkt auf die Spur. In den Innenfächern ihrer

Handtasche steckten mehrere Fotos. Ohne sie anzusehen, wusste sie doch

genau, was auf ihnen abgebildet war. Mit zitternden Händen riss sie die

Plastikeinlage aus der Handtasche und stopfte sie ebenfalls in den Müllbeutel.

Was noch? Ihren Führerschein und ihre Sozialversicherungskarte. Wozu hätte sie

die jetzt noch gebrauchen können? Der Führerschein könnte allenfalls zu ihrer

Identifizierung dienen, was sie ja verhindern musste. Die Sozialversicherungs-

karte - sie verzog gequält die Lippen. Kaum wahrscheinlich, dass ihr zukünftiges

Leben ihr soziale Sicherheit bieten würde. Jeden Identitätsnachweis, den sie

zurückließ und der danach von einem anderen Menschen genutzt werden würde,

würde eine falsche Spur legen und die Suche der Polizei aufhalten. Sie ließ also

die Karten zurück. Einem plötzlichen Impuls folgend, nahm sie auch die Schecks

wieder aus der Plastiktüte. Sie riss einen Scheck heraus und steckte ihn zu dem

Bargeld. Danach steckte sie das Scheckheft wieder in die Handtasche zurück.

Den Lippenstift ließ sie, wo er war, aber den Kamm wollte sie behalten. Wieder

drohte ein unheimliches Lachen aus ihrer Kehle zu entweichen: Ihr Mann und ihr

Bruder waren gerade ermordet worden, und ihr sollte es etwas ausmachen, sich

nicht kämmen zu können? Dennoch wanderte der Kamm in die Plastiktüte.

Ihre zitternden Finger fuhren über mehrere Stifte und Kugelschreiber, von denen

sie blind zwei herausfischte. Die Stifte waren für ihre Arbeit ebenso wichtig wie

der Computer, denn manchmal, wenn sie an der Entzifferung einer einzelnen

Passage oder auch nur eines einzelnen Wortes verzweifelte, konnte es

ausreichen, die Stelle mit der Hand nachzuschreiben. Die Verbindung zwischen

Hand und Auge weckte oftmals eine Erinnerung, und sie konnte das eine oder

andere Wort begreifen, weil sie seine Ähnlichkeit zu anderen Sprachen und

Schriften entdeckte. Die Stifte musste sie also mitnehmen.

Ihr dickes Notizbuch. Sie wollte nicht daran denken. Es hatte die Kleinigkeiten

jenes täglichen Lebens festgehalten, das nun nicht mehr existierte:

Verabredungen, Stichpunkte und Erinnerungsstützen für dieses und jenes. Sie

wollte die gekritzelte Notiz für Fords nächsten Zahnarzttermin nicht sehen, auch

nicht das Herz, das er unter ihrem Geburtsdatum in den Kalender gemalt hatte.

Ihre Visitenkarten ließ sie ebenfalls zurück, da sie sie ohnehin kaum jemals

benutzte. Papiertaschentücher, Brillenspray, Kopfschmerztabletten und

Pfefferminzbonbons ebenfalls. Die Nagelfeile steckte sie in den Müllbeutel. Viel

war es nicht, aber immerhin das einzige, was einer Waffe ein wenig ähnelte. Bei

den Autoschlüsseln zögerte sie und überlegte, ob sie nicht doch zurückgehen und

ihr Auto oder Fords Kleinbus holen sollte. Nein, keine gute Idee. Wenn jemand

die Autoschlüssel fand, würde er vielleicht einen der Wagen stehlen und so die

Polizei weiter in die Irre führen.

Kaugummi, Gummibänder, das Vergrößerungsglas. Sie identifizierte all diese

Dinge lediglich durch Berührung. Nur die Lupe kramte sie hervor, denn die

brauchte sie für ihre Arbeit. Warum nur trug sie immer so viel Krimskrams mit

sich herum? Sie spürte, wie sie ungeduldig wurde. Es war das erste Gefühl, dem

es gelang, die Dumpfheit ihrer Trauer und Verzweiflung zu durchbrechen. Es ging

ja nicht nur um den ihrer Handtasche. Sie durfte jetzt keinen Fehler machen,

kein unnützes Gepäck mit sich herumschleppen. Nichts durfte sich ihrem Ziel in

den Weg stellen. Von jetzt ab musste jeder Schritt ein notwendiger Schritt sein.

Kostbare Zeit und Energie durfte sie nicht verschwenden, nur weil die Angst sie

lahmte. Sie musste jetzt ohne zu zögern handeln, sonst würde Parrish die

Oberhand bekommen.

Wütend schmiss sie die Handtasche auf den Müllhaufen. Eine aufgestörte Ratte

rannte quiekend davon. Von irgendwoher nahm Grace die Kraft und wagte sich

aus dem sicheren Unterschlupf auf die offene, schmutzige Straße hinaus. Die

Lichter eines herannahenden Autos ließen ihr das Blut in den Adern gefrieren, als

sie gerade auf den Bürgersteig herausgetreten war. Der Wagen fuhr vorbei, die

Reifen spritzten auf dem nassen Asphalt, und der Fahrer würdigte den

durchnässten, zwischen zwei Häusern gedrängten Menschen keines Blickes.

An der nächsten Ecke bog das Auto rechts ab. Grace heftete ihren Blick auf den

Geldautomaten, holte tief Luft und ging los. Sie war so sehr auf den hell

erleuchteten Geldautomaten fixiert, dass sie die Bordsteinkante übersah,

stolperte, und mit dem rechten Fuß umknickte. Ohne dem Schmerz irgendeine

Aufmerksamkeit zu schenken, ging sie weiter. Wenn Sportler mit Schmerzen

laufen konnten, dann konnte sie es auch.

Der Automat rückte näher und näher und leuchtete immer heller. Sie wäre gerne

gerannt, um so schnell wie möglich wieder in den Schutz der Mülltonne

zurückzukehren. Sie fühlte sich, als ob sie splitternackt wäre. Das Gefühl, allen

Blicken preisgegeben zu sein, war so stark, dass sie um ihre Fassung ringen

musste. Jeder konnte sie beobachten, in Ruhe abwarten, bis sie das Geld

abgehoben hatte, sie dann überfallen, das Geld an sich nehmen und sie

möglicherweise umbringen. Sie war jetzt im Bereich der Überwachungskameras

der Bank, die jede ihrer Bewegungen festhielten.

Wie viel Geld hatte sie noch auf dem Konto? Verflucht, sie hatte das Scheckbuch

weggeworfen ohne einen Blick auf den letzten Auszug zu werfen. Jetzt aber

konnte sie nicht mehr in die Seitenstraße zurückgehen und nach ihrer

Handtasche suchen, selbst wenn sie sie noch hätte finden können. Sie würde halt

einfach so lange Geld abheben, bis der Automat weitere Auszahlungen

verweigerte.

Das allerdings tat er bereits nach dreihundert Dollar. Sie starrte verzweifelt die

Computeranzeige an: »Auszahlung verweigert. « Sie war sich sicher, dass sie

noch etwa zweitausend Dollar auf dem Konto hatte. Das war nicht viel, aber doch

möglicherweise genau die Summe, die für sie zwischen Tod und Leben

entscheiden konnte. Ihr war zwar bewusst, dass die Summe bei jeder Abhebung

begrenzt war. Warum aber hatte der Automat schon beim zweiten Anlauf weitere

Zahlungen verweigert? Vielleicht stand dem Automaten nicht mehr Geld zur

Verfügung, um ihre Forderung zu erfüllen. Sie versuchte es noch einmal, tippte

ihre Geheimzahl ein und forderte dieses Mal nur einhundert Dollar.

»Auszahlung verweigert. «

Panik ergriff sie. Konnte die Polizei etwa so schnell ihr Bankguthaben einfrieren?

Ein kategorisches Nein war die Antwort. Das war einfach unmöglich. Die Banken

hatten geschlossen. Eine derartige Anordnung konnte morgen früh getroffen

werden, zu dem jetzigen Zeitpunkt aber war das unmöglich. Sicherlich lag es

daran, dass der Automat schlichtweg leer war.

Hastig stopfte sie die dreihundert Dollar in ihre Taschen. Sie verteilte die Scheine

so, dass sie bei einem Überfall vielleicht ein Teil des Geldes würde retten können,

falls ihr Gegner sie nicht gründlich durchsuchte. Sie hoffte nur, dass dem

Computer nichts passieren würde. Geld würde sie sich widerstandslos abknöpfen

lassen, um den Computer jedoch und die wertvollen Disketten würde sie

kämpfen. Ohne sie würde sie den Grund für Fords und Bryants Tod niemals

erfahren. Und diesen Grund musste sie wissen. Rache reichte ihr nicht aus, sie

musste wissen, warum das Verbrechen geschehen war. Von Verzweiflung

getrieben, beschleunigte sie ihre Schritte. Sie musste einen anderen Automaten

finden, um mehr Geld abzuheben. Wo aber war der nächste Geldautomat? Bis

jetzt hatte sie immer nur den an ihrer Bankfiliale benutzt. Andere standen

vielleicht in Einkaufszentren, die jedoch zu dieser Stunde geschlossen hatten.

Welche Läden hatten rund um die Uhr geöffnet und verfügten möglicherweise

über einen Geldautomaten? Supermärkte vielleicht? Sie erinnerte sich, dass ihr

die Bank bei der Kontoeröffnung eine Liste aller zentral gelegenen

Geldautomaten überreicht hatte.

»Her mit den Kröten. «

Die beiden Männer waren so blitzschnell aus einer Seitenstraße

herausgeschossen, dass sie gar nicht mehr reagieren konnte. Der eine Mann war

weiß, der andere schwarz, beides Obdachlose. Der Weiße zückte ein Messer. Die

Klinge blitzte im Regen unter dem Licht der Straßenlaternen geisterhaft auf.

»Mach keine Zicken, Alte«, zischte er mit heiserer und bedrohlicher Stimme.

»Her damit. « Ihm fehlten ein paar Schneidezähne, und ganz klar im Kopf schien

er auch nicht zu sein.

Wortlos steckte sie die Hand in die Tasche und holte die Scheine hervor.

Eigentlich hätte sie Angst haben sollen, aber der Mensch kann Angst nur bis zu

einem bestimmten Grad empfinden. Ist dieses Maß erst einmal überschritten,

wird gefühlsmäßig überhaupt nichts mehr wahrgenommen. Der schwarze Kerl

schnappte sich die Scheine, der andere kam mit dem Messer auf sie zu und hielt

es direkt vor ihre Augen. Grace zog ihren Kopf gerade noch rechtzeitig zurück,