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Owen hatte die Hitze noch nie gut vertragen, und die Sonne hatte den ganzen Vormittag keine Barmherzigkeit gezeigt. Als er zum Mittagessen ging, war er dankbar, dass heute Sonntag war. Die Sklaven arbeiteten nur bis mittags und kehrten erst am nächsten Morgen auf die Felder zurück. So kam auch er in den Genuss eines freien Nachmittags. Er war erschöpft.
Nachdem er gegessen und drei Gläser Wasser getrunken hatte, zog er das Hemd aus und legte sich aufs Bett. Zum Glück hatte er heute Morgen daran gedacht, die Fensterläden zu schließen, und so herrschte eine recht angenehme Temperatur in der Hütte.
Fast war er eingenickt, als er das alte Holz der Verandatreppe knarren hörte. Er drehte sich im Bett herum und wartete, dass die Schritte verstummten. «Herein!», rief er, noch bevor es klopfte.
Aus irgendeinem ihm unersichtlichen Grund betraten die Sklaven niemals sein Haus. Wenn sie ihm eine Nachricht überbrachten, blieben sie vor der Tür stehen, bis er öffnete. Danach gingen sie wieder, ohne die Schwelle überschritten zu haben.
Vorsichtig klopfte es an der Tür. Verdammt! Er musste aufstehen. «Es ist offen», rief er mürrisch und erhob sich. Er griff sich das Hemd vom Stuhl und zog es über. Die Schweißflecken waren schon nicht mehr zu sehen.
«Kann man mich nicht einen Moment in Frieden lassen?», murmelte er ärgerlich, als er die Tür aufriss. «Katheri … Mrs. Parrish!»
«Guten Tag, Owen.»
«Gu… guten Tag, Mrs. Parrish», stotterte Owen.
Katherine lächelte. «Verzeihen Sie bitte, dass ich ohne Anmeldung einfach hier hereinplatze, aber ich fragte mich, ob Sie nicht vielleicht Zeit für ein kleines Gespräch hätten.»
Zu gern hätte er ihr gesagt, dass er nichts lieber hörte als ihre Stimme. Aber anstatt ihr dieses für beide peinliche Geständnis zu machen, trat er beiseite und bat sie herein.
«Vielleicht sollten wir lieber einen kleinen Spaziergang machen», schlug Katherine vor und blieb auf der Veranda stehen.
«Aber natürlich, Mrs. Parrish. Nur einen Moment», brachte Owen heraus, als er seinen Fehler bemerkt hatte. Verlegen drehte er sich um, während Katherine auf der Veranda Platz nahm.
«Was bist du für ein Tölpel», schimpfte er leise über seine Dummheit, während er sich das Hemd zuknöpfte. Eine verheiratete Frau ohne Begleitung konnte die Hütte eines Mannes nicht allein betreten, und Owen wusste das. Jeder wusste das. Er hoffte nur, dass sie es ihm nicht übel nahm.
Während er das Hemd in die Hose stopfte, blickte er in den Spiegel. Nach der Siesta stand sein Haar ab wie die Stacheln eines Borstenschweins. Schnell fasste er in den Krug, der auf dem Tisch stand, und strich das Haar mit etwas Wasser glatt. Dann nahm er den Hut und trat vor die Tür. Auf keinen Fall wollte er Katherine länger warten lassen.
«Es ist heiß», sagte Katherine, als Owen sich zu ihr stellte. «Was meinen Sie, wollen wir zum Fluss hinunter?»
«Ich denke, das ist eine gute Idee, Mrs. Parrish.»
Der Uferweg war gesäumt von schattenspendenden Zypressen. Kaum hatten sie den Schutz der Bäume erreicht, nahm Katherine den Strohhut ab, der sie vor der Sonne geschützt hatte. Konzentriert lief sie den Pfad entlang.
«Was kann ich für Sie tun, Mrs. Parrish?»
Katherine wirkte abwesend. «Ach, in ein paar Wochen jährt sich zum achten Mal Mollys Todestag. Ich weiß, dass Sie sie mochten.»
Owen schwieg. Es bedurfte keiner Worte. Schon vor langer Zeit hatte Katherine ihn dabei ertappt, wie er Blumen auf Mollys Grab legte.
«Acht Jahre …», wiederholte sie wehmütig. «Wie schnell die Zeit vergeht. Und trotzdem, wenn ich die Augen schließe, spüre ich, dass sie noch immer da ist. Manchmal höre ich sie sogar lachen, wie damals, als wir in Decken gewickelt auf der Veranda Tee getrunken haben. Wissen Sie noch? Sie haben sich oft zu uns gesetzt.»
Owen nickte. Auch ihm fiel es leicht, sich an diese schönen Momente seines Lebens zu erinnern. Er fragte sich jedoch, welches Anliegen Katherine zu ihm geführt hatte. Eigentlich war es egal. Sie war zu ihm gekommen, weil sie seine Hilfe brauchte, und er würde sie ihr, ohne zu zögern, anbieten.
Katherine ging so dicht an seiner Seite, dass sich ihre Hände beinahe berührten.
«Ich habe gehört, dass mein Mann ein paar Dinge im Sklavendorf verändern will», sagte sie jetzt beiläufig.
«So ist es, Mrs. Parrish. Seit der Zeit, als der alte Herr noch lebte, wurden dort keine Verbesserungen vorgenommen. In letzter Zeit sind ein paar Sklaven krank geworden.»
«Das wusste ich nicht.»
«Nichts Ernstes. Aber wenn die Regenzeit kommt, gibt es Überschwemmungen, und die Abwässer können nicht mehr abfließen …» Owen beschloss, nicht weiter ins Detail zu gehen. «Die sommerliche Hitze übernimmt den Rest. Vor ein paar Jahren sind auf einer Plantage flussaufwärts über zwanzig Sklaven an der Ruhr gestorben.»
Betroffen schwieg Katherine.
«Der Herr will sichergehen, dass auf New Fortune nichts dergleichen passieren kann. Er möchte ein paar neue Kanäle ausheben und mit Kiesgräben an den Wegen dafür sorgen, dass das Wasser in dem Gebiet besser absickert.»
«Und die Hütten?»
Owens betrachtete sie verständnisvoll. Er erriet den Grund ihrer Frage. «Nun, eigentlich soll dort nichts verändert werden», antwortete er.
Jetzt waren sie an der Stelle angelangt, wo der Pfad am Fluss eine leichte Kurve beschrieb. Katherine blieb stehen und betrachtete das funkelnde Sonnenlicht auf dem Wasser.
Je näher Mollys Todestag rückte, desto stärker spürte Katherine, dass sie eine Schuld begleichen musste. Lange Jahre hatte sie sich in ihren Schmerz zurückgezogen und sich nicht für die Lebensbedingungen der Sklaven interessiert. Vielleicht waren sie nicht schlechter als anderswo, aber das war kein Trost für sie. Sie konnte es nicht länger mit ihrem Gewissen vereinbaren, das vor einiger Zeit erwacht war.
«Mein Mann legt Wert auf Ihre Meinung, Owen. Wenn Sie ihm gegenüber erwähnen könnten, dass man auch die Hütten mit einem Holzboden ausstatten könnte, um Krankheiten zu vermeiden …»
«Wissen Sie, Mrs. Parrish», unterbrach Owen sie, «der Herr hat immer ein Interesse daran gehabt, dass die Sklaven gesund und kräftig für die Arbeit sind. Es ist sicher nicht schwer, ihn davon zu überzeugen, dass ein Holzboden eine enorme Verbesserung für die Gesundheit der Sklaven wäre.»
«Danke.»
Owen lächelte.
In diesem Moment entdeckten Owen und Katherine zwei Jungen auf dem Anleger, die sich gerade wieder anzogen. Den Sklaven war es verboten, in dieser Gegend des Flusses zu baden oder zu fischen. Aber die Kinder hatten sie nicht bemerkt und lachten munter und sorglos. Gerade wollte Owen sie zur Ordnung rufen, als Katherine ihm Einhalt gebot.
«Lassen Sie sie.» Sie sah ihm in die Augen, während sie seine Hand ergriff. «Erlauben Sie ihnen, einfach Kinder zu sein.» Am liebsten hätte Owen diesen magischen Augenblick bis in alle Ewigkeit angehalten, aber Katherine ließ seine Hand wieder los.
Die Jungen, die nichts von der Gegenwart ihrer Herrin ahnten, hatten einen großen Fisch gefangen und rannten in Richtung Sklavendorf davon.
Obwohl sie ihn nach seiner Geburt nur wenige Male gesehen hatte, erkannte Katherine den einen der Jungen sofort wieder. Bevor der Tag vorüber war, würde sie also noch einem anderen Gespenst aus der Vergangenheit entgegentreten müssen.
***
Es war kurz nach fünf, als Noah in die Hütte stürzte, in der er gemeinsam mit seiner Mutter wohnte. Sein Gesicht strahlte vor Freude.
«Mama, Jeremias und ich haben einen riesigen Fisch gefangen», verkündete er aufgeregt und breitete die Arme weit aus, um seiner Mutter die Größe des Fisches zu demonstrieren. «Heute Nacht bringt Jeremias ihn zum Lagerfeuer mit, dann wird er gegrillt.»
Velvet lächelte ihm zu. Trotz des Altersunterschieds, Noah war nämlich erst vor wenigen Monaten acht geworden, und Jeremias war schon zehn, waren die beiden Kinder unzertrennlich.
«So groß?» Lächelnd ahmte Velvet die Geste ihres Sohnes nach. Ohne die Arme herunterzunehmen, pflichtete Noah ihr stolz bei. Dabei nickte er mehrere Male so nachdrücklich mit dem Kopf, dass dicke Wassertropfen aus seinem Lockenkopf geflogen kamen, der genauso wie seine Kleider vollkommen nass war.
«Hat Jeremias dich vielleicht als Köder benutzt?», fragte Velvet und strich ihrem Sohn zärtlich über das Haar.
Als Noah seiner Mutter das Lächeln zurückgab, entblößte er eine Reihe perlmuttweißer Zähne. Es war noch nicht lange her, dass sich die Lücken der ausgefallenen Milchzähne wieder geschlossen hatten.
«Wir haben nach dem Angeln noch im Fluss gebadet», erklärte er strahlend.
«Und offensichtlich habt ihr mit all euren Kleidern gebadet.»
«Aber Mama! Wir haben doch nicht mit Kleidern gebadet!», protestierte der Junge und schüttelte den Kopf angesichts dieser absonderlichen Idee. «Wir hatten nur nicht mehr genug Zeit, um in der Sonne zu trocknen.»
Noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, wusste Noah, dass er zu viel gesagt hatte. Verzweifelt versiegelte er seinen Mund mit beiden Händen, als könnte er das Unvermeidliche wieder rückgängig machen. Seine Mutter würde herausfinden, dass er ungehorsam gewesen war.
«Noah, ihr wart doch nicht etwa an der Flussbiegung?», fragte seine Mutter erschrocken, woraufhin Noah sich darauf beschränkte, auf den Boden zu starren.
Velvets sanfter Blick war verschwunden. «Oh, Noah!», schimpfte sie offensichtlich besorgt. «Du weißt, dass ihr dort nicht hindürft. Und wenn euch jemand gesehen hat?»
«Es hat uns niemand gesehen», versicherte Noah seiner Mutter schnell. «Wir waren ganz vorsichtig. Wirklich, Mama, niemand hat uns gesehen.»
Es schien, als würden Noahs Worte Lügen gestraft, denn in diesem Augenblick klopfte Thomas an die Tür.
«Velvet», grüßte der grauhaarige Mann in seiner ruhigen Art.
«Ist etwas nicht in Ordnung, Thomas?»
Thomas war sich bewusst, dass schon seine Gegenwart vollkommen ausreichte, um die meisten Sklaven zu beunruhigen. Ihm gefiel seine Aufgabe als Bote des Herrenhauses genauso wenig, aber er musste die Wünsche seiner Herrschaft eben überbringen. Er wandte sich dem Kind zu und sagte mit müder Stimme: «Noah, die Herrin möchte dich sehen.»
Noahs Herz begann zu rasen. Am Ende hatte ihn doch jemand beobachtet.
«Weißt du, warum Herrin Katherine ihn sehen will?», fragte Velvet ängstlich.
«Es tut mir leid, Velvet. Ich weiß es nicht.» Entschuldigend zuckte Thomas mit den Achseln. Er konnte gut verstehen, wenn die junge Frau bei dem Gedanken, dass ihr Sohn den Herrschaften aufgefallen war, unruhig wurde. «Beeil dich», sagte er sanft zu dem Kind. «Ich warte in der Küche auf dich und bringe dich zur Herrin.» Obwohl die Angst ihn fast lähmte, brachte Noah ein Nicken zustande.
Für einen kurzen Moment legte der Sklave Velvet beruhigend die Hand auf die Schulter, dann ging er.
«Mein Gott», rief die junge Sklavin voller Panik, sobald sie mit ihrem Sohn allein war. «Tausend Mal habe ich dir gesagt, dass du dort nicht baden sollst. Du weißt genau, dass die Herrschaft das nicht möchte.» Der kleine Noah brachte kein Wort mehr heraus. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, während er sich in seinem Kopf schreckliche Bestrafungen ausmalte.
In den acht Jahren seines Lebens war Noah bisher nur bis in die Küche des Herrenhauses gekommen. Nicht weiter. Und jetzt sollte er vor seine Herrschaft treten. Auch wenn seine Mutter sich bemühte, ruhig zu bleiben, wussten doch beide, dass er sich in einer schlimmen Lage befand.
Schnell schüttelte die Sklavin die düsteren Gedanken ab. Wenn sie später auf ihren Jungen warten würde, hätte sie noch genügend Zeit, sich Sorgen zu machen. Jetzt musste sie etwas unternehmen. Velvet atmete tief ein.
«Schnell jetzt, komm her!», sagte sie zu ihrem Sohn. «Zieh die nassen Sachen aus.» Die Sicherheit, mit der seine Mutter sprach, steckte Noah an. Ohne ein Wort gehorchte er, entledigte sich der durchnässten Kleider und ließ sie zu Boden fallen.
Velvet holte eine ihrer beiden Decken und trocknete ihren Sohn ab. Zum Schluss hüllte sie den dichten, pechschwarzen Lockenkopf darin ein und rubbelte mit solcher Kraft, dass Noah schon fürchtete, sie wolle ihm die Haare ausreißen, nur um die Beweise für sein Vergehen zu vernichten.
Nachdem sie zufrieden festgestellt hatte, dass Noah nun so trocken war, als wäre er noch niemals in seinem Leben mit Wasser in Berührung gekommen, holte Velvet das zweite Paar Hosen und das andere Hemd des Kindes aus dem Weidenkorb, der am Fußende einer der beiden Pritschen stand.
«Zieh dich an!», drängte sie.
Die Hosen waren an den Knien mit großen Flicken besetzt und reichten seit dem letzten Wachstumsschub nur noch bis oberhalb der Knöchel. Das Hemd war schon ganz durchscheinend, so oft hatte sie es über die Steine am Ufer des Flusses gerieben und dann ausgespült. Die Ärmel waren nicht lang genug, um die Arme des Jungen zu bedecken.
Jetzt streckte Velvet ihrem Sohn sein einziges Paar Schuhe hin. Als er die Stiefel von einem größeren Jungen bekommen hatte, hatten sie genau gepasst, und Noah konnte sie in den kalten Wintermonaten tragen. Aber inzwischen waren die Stiefel definitiv zu klein. Eigentlich wollte Velvet sie gegen ein größeres Paar eintauschen, aber da die Kinder im Sommer sowieso barfuß herumliefen, hatte sie sich noch nicht darum gekümmert. Offensichtlich war das Schicksal heute gegen sie, denn kein Sklave durfte ohne Schuhe vor seinen Herrschaften erscheinen.
Zum zigsten Mal in diesen letzten Minuten jammerte Noah schweigend. Aber eine andere Lösung gab es nicht. Also gab er sich geschlagen und bereitete sich innerlich auf die Tortur vor, seine Füße in diese Schuhe hineinzuzwängen.
Noah hielt die Luft an, während seine Mutter ihm die Schnürsenkel zuband und ihm half, sich aufzurichten. Eine Träne rollte über seine Wange.
Jetzt ergriff Velvet ihren Sohn bei den Schultern und beugte sich zu ihm herunter, bis sie ihm direkt in die Augen blicken konnte. «Hör mir gut zu», ermahnte sie ihn, während sie ihm vorsichtig die Träne abwischte. «Alles wird gut. Hab Vertrauen», sprach sie ihm zu. «Aber du musst tun, was ich dir sage. Wenn du vor den Herren stehst, halte den Kopf gesenkt. Warte schweigend, bis sie dich etwas fragen. Und wenn du ihnen antwortest, schau ihnen nie direkt in die Augen. Vor allem dem Herrn nicht, hörst du?»
Noah nickte schweigend.
«Gib nichts zu, bevor du nicht danach gefragt wirst», fuhr seine Mutter fort. «Sag nichts, bevor sie nicht fertig gesprochen haben, und denk daran», von neuem ermahnte sie ihn, «wenn sie dich wirklich gesehen haben, darfst du weder leugnen noch widersprechen. Vor allem darfst du ihnen nicht widersprechen. Warte einfach und sag nichts. Und vergiss nicht, sie jedes Mal Master oder Herrin zu nennen, wenn du etwas sagst.»
Zu all den Ratschlägen seiner Mutter nickte der kleine Noah stumm. Danach gab Velvet ihm einen Kuss auf die Stirn. Ohne sich umzudrehen, wartete sie, bis die Schritte sich draußen verloren. Sie wollte ihn nicht weggehen sehen. Dann setzte sie sich und tat etwas, was sie noch nie zuvor getan hatte. Sie schloss die Augen und betete in der Dunkelheit ihrer Hütte zum mächtigen Gott der Weißen, dass er ihren Jungen beschütze.
Noah lief indes, so schnell er konnte, zum Herrenhaus. Seine Zehen waren völlig zusammengequetscht, die Schuhe drückten entsetzlich. Das harte Leder rieb an seinen Füßen, und er wusste, dass er Blasen bekommen würde. Aber immerhin lenkte der Schmerz ihn von seiner Angst ab. Als er am Herrenhaus ankam, vermied er es, am Haupteingang vorbeizugehen, und begab sich zum hinteren Teil des Hauses, wo die Küche war.
Thomas wollte gerade das Haus betreten, als Noah ihn einholte. «Du warst schnell», sagte der Alte. «Komm. Sie warten auf dich.»
Die beiden Sklaven verließen die Küche und betraten den schmalen Flur, der zum Hauptteil des Hauses führte. Für einen Augenblick vergaß Noah vollkommen, warum er eigentlich hergekommen war. Sein Blick sprang von einem Bild, auf dem weiße Gipfel hoch in den Himmel ragten, zu einem anderen Gemälde, das in lebendigen Farben Schiffe auf weiten Meeren zeigte. Sie kamen an funkelnden Kristallleuchtern vorbei, die das Licht in einen wunderschönen Regenbogen verwandelten, und gingen über Teppiche mit prächtigen Mustern, und obwohl Noahs Schuhe noch immer schmerzhaft drückten, war es, als würde er über dicke Lagen weicher Baumwolle laufen. Einen Moment lang stellte er sich vor, wie es wäre, ohne die schrecklichen Stiefel auf einem solchen Teppich zu stehen.
Schließlich traten sie in das Empfangszimmer. Noah stockte der Atem.
Nicht einmal in seinen Träumen hatte er sich so schöne Dinge ausgemalt. Weiße Säulen, wie sie auch die Veranda umgaben, eine Treppe aus glänzendem, rötlichem Holz und Vasen, die ihm bis ans Kinn reichten und auf denen in kobaltblauen Einlegearbeiten geflügelte Katzen zu sehen waren, die Feuer spuckten.
Thomas ging neben ihm her, anscheinend ließ er sich nicht im Geringsten von den Wundern dieses Ortes beeindrucken. Gemessenen Schrittes führte der alte Sklave Noah bis an den Salon und bedeutete ihm zu warten.
«Viel Glück!» Aufmunternd zwinkerte Thomas dem Jungen zu und kehrte auf dem gleichen Weg zurück. Noah blieb reglos in der Tür stehen.
Die ganze Familie war im Salon versammelt. Master Parrish saß auf einem Sessel, der Noah unendlich bequem vorkam, und studierte aufmerksam große Bögen aus Papier, auf denen man kleine schwarze Zeichen erkennen konnte. Herrin Katherine saß am Fenster und stickte, während die kleine Hortensia mit den schönsten Buntstiften, die Noah sich jemals hätte vorstellen können, in einem Heft malte. Sie trug passend zu ihren Augen hübsche blaue Schleifen in den goldenen Locken. Charlotte schließlich kniete zu Füßen ihres Vaters auf dem Teppich und versuchte, einer weißen Angorakatze ein Wollknäuel zu entreißen.
Als Katherine die Anwesenheit des Jungen bemerkte, unterbrach sie ihre Beschäftigung.
«Noah, tritt ein», bat sie ihn lächelnd.
Zögernd blickte der Junge auf den elegant bedruckten Teppich zu seinen Füßen.
«Nur herein», munterte Katherine ihn auf und legte ihre Arbeit auf einer der Armlehnen ab.
Mit unsicheren Schritten ging Noah auf seine Herrin zu und blieb ein paar Meter vor ihr stehen.
Jetzt legte auch Hortensia ihren grünen Stift hin und lächelte ihm zu. Charlotte hingegen beachtete ihn nicht im Geringsten. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, das arme Tier zu ärgern, das nur mit Mühe das gelbe Knäuel zwischen den Pfoten festhalten konnte.
Auch Master David blickte nicht von seinen Papieren auf.
«Du bist jetzt acht Jahre alt, oder?», fragte Katherine, die noch immer lächelte.
«Ja, Herrin Katherine. Ich bin im Dezember acht geworden.»
«Dann wirst du bei der nächsten Ernte auf dem Feld arbeiten, nicht wahr?»
«Ja, Herrin Katherine.» Wie seine Mutter ihm geraten hatte, antwortete er so knapp wie möglich. Fast wurde er ein bisschen ungeduldig. Er verstand nicht, was sein Bad an der Flussbiegung mit der Tatsache zu tun hatte, dass er acht war. Andererseits wollte die Herrin es vielleicht wissen, um ihn dem Alter entsprechend bestrafen zu können. Bei diesem Gedanken stieg ihm das Blut in die Wangen.
«Langsam wird ein kleiner Mann aus dir, Noah», sagte Katherine, ohne zu bemerken, wie nervös der Junge war. «Ich dachte, dass du vielleicht gerne lesen und schreiben lernen willst.»
Mit weitaufgerissenen Augen starrte Noah seine Herrin an. Herrin Katherine nahm ihn gewiss auf den Arm oder, schlimmer noch, war vollkommen verrückt geworden. Sogar er, der nur ein Kind war, wusste, dass es in den Südstaaten gesetzlich verboten war, Sklaven das Lesen und Schreiben beizubringen.
Eine andere Person im Raum wirkte beinahe noch überraschter als Noah selbst. Charlotte achtete plötzlich nicht mehr auf die Katze, die diese Unaufmerksamkeit ausnutzte und sich blitzschnell mit dem Wollknäuel ins andere Ende des Zimmers verzog. Für den Bruchteil einer Sekunde sah sie den Eindringling an und wandte sich empört ihrer Mutter zu. Aber anscheinend hatte sie es sich im letzten Moment anders überlegt, denn anstatt irgendetwas zu sagen, presste sie die Lippen aufeinander und runzelte die Stirn. In den ausdrucksvollen smaragdgrünen Augen, die hinter dichten Wimpern verborgen waren, konnte man erkennen, dass sich ein Unwetter ankündigte.
«Was sagst du, Noah, bist du einverstanden?», fragte Katherine und nickte ihm ermunternd zu.
Noah wollte gerade antworten, als er sah, wie Master David plötzlich missgelaunt seine Miene verzog. Dann legte er geräuschvoll die Zeitung weg, stand abrupt auf und verließ das Zimmer. Erschrocken schielte Noah ihm hinterher.
«Du wirst vormittags mit Charlotte und Hortensia lernen und am Nachmittag auf dem Feld arbeiten. Einverstanden?»
Automatisch nickte der Junge.
Heftige Unruhe hatte ihn ergriffen, seit Master David so plötzlich gegangen war. Das alles ergab überhaupt keinen Sinn. Warum er?, fragte er sich und konnte nicht glauben, was geschah. Aber dann auf einmal wurde ihm alles klar. Immer schon hatte die Antwort direkt vor ihm gelegen, obwohl er sie bis jetzt nicht hatte verstehen können. Master David war sein Vater!
Aber nein, das konnte nicht sein. Wenn er der Sohn des Herrn war, warum war er dann ein Sklave und hauste mit seiner Mutter in einer Bretterbude auf der nackten Erde, während der Herr mit seiner Frau und den anderen Kindern in einem schönen Haus wohnte? Es war unmöglich, und doch …
Die unbequemen Stiefel waren vergessen, dafür brodelte es in seinem Kopf. Nie hatte man offen mit ihm gesprochen, aber er hatte mitbekommen, dass man heimlich über seine Herkunft tuschelte. Einmal hatte er sogar seine Mutter gefragt. Aber er hatte damit nur erreicht, dass sie ganz traurig wurde und ihm erzählte, dass sein Vater sie verlassen musste, als er noch ganz klein war. Noah hatte immer gewusst, dass sie ihm nicht die Wahrheit sagte, denn seit seiner Geburt, und sogar lange Zeit davor, war kein einziger Sklave aus New Fortune verkauft worden. Aber auf jeden Fall hatte er begriffen, dass diese Frage seiner Mutter Kummer bereitet hatte, und so schwor er sich, das Thema nie wieder zu berühren. Wie sonderbar war es doch, dass die Antwort ihm jetzt so unerwartet zuflog, wo er sich längst damit abgefunden hatte, nicht mehr danach zu suchen.
Ja. Master David war sein Vater. Und außerdem begriff er nach diesem letzten Blick, den er ihm eben noch zugeworfen hatte, dass dieser Mann ihn hasste. Aber warum?, fragte er sich empört. Was hatte er getan, dass sein eigener Vater ihn verachtete? Als Noah erst seine dunkle Haut und danach die samtweiche weiße Haut der Mädchen betrachtete, die jetzt seine Schwestern waren, verstand er. Er konnte noch so sehr lächeln und sich bemühen, seinem Vater zu gefallen, es hätte keine Bedeutung, dachte er, während ihn ein Gefühl von Trauer überfiel. Der Mann, den er Master nannte, würde sich immer für ihn schämen.
***
«Mama! Dieser Sklave wird nicht mit uns lernen!» Kaum war Noah gegangen, sprang Charlotte wütend auf.
Die Worte ihrer Tochter schienen Katherine nicht aus der Ruhe zu bringen. Schweigend nahm sie ihre Arbeit wieder auf.
«Mama …!», wiederholte Charlotte und bemühte sich vergeblich darum, von ihrer Mutter beachtet zu werden.
Doch Katherine wandte sich nur dem blonden Mädchen zu, das jetzt mit einem gelben Buntstift malte. «Was ist denn deine Meinung, Hortensia?»
Charlotte schnitt wütende Grimassen. Aber sie wusste, dass die Mutter ihr erst ihre Aufmerksamkeit schenken würde, wenn sie sich beruhigt hatte.
«Ich mag ihn», sagte Hortensia jetzt mit einem Lächeln. «Es scheint ein netter Junge zu sein.»
Charlotte ballte ihre Hände zu Fäusten und stampfte mit dem Fuß auf dem Boden auf. Es war ja normal, dass ihre Mutter merkwürdige Einfälle hatte, aber dass ihre Schwester sie auch noch unterstützte, kam einem Verrat gleich.
«Ich werde es Papa sagen», drohte Charlotte.
«Tu, was du nicht lassen kannst. Aber ich kann dir garantieren, dass Noah mit euch unterrichtet wird.»
Als Charlotte begriff, dass ihre Mutter es ernst meinte, wurde sie noch wütender. «Warum muss ein Sklave mit uns lernen?»
«Weil es richtig ist. Deshalb habe ich es so entschieden.»
«Das ist nicht gerecht», protestierte sie.
«Woher willst du wissen, was gerecht ist?», wies ihre Mutter sie zurecht. «In diesem Fall ist deine Meinung nicht von Bedeutung. Ich bin deine Mutter. Und ob es dir passt oder nicht, es wird gemacht, was ich sage.»
Aber Charlotte war nicht bereit, so schnell aufzugeben. «Wenn dieser dreckige Neger mit uns zusammen lernt, gehe ich nicht in den Unterricht.»
Bei nur oberflächlicher Betrachtung blieb Katherines ruhiger Gesichtsausdruck unverändert. Aber wenn man genauer hinsah, bemerkte man ein leichtes Beben der Nasenflügel, eine bläuliche Vene, die oberhalb der linken Schläfe erschien, und die zusammengepressten Lippen. Charlotte wusste, dass sie diesmal zu weit gegangen war.
«Der Junge heißt Noah», ermahnte Katherine ihre Tochter streng, ohne die Stimme zu erheben. «So wirst du ihn nennen, ob es dir gefällt oder nicht. Und ich warne dich, ich werde nicht zulassen, dass du solche Wörter in meiner Gegenwart benutzt, und erst recht nicht vor den Sklaven.»
Nervös rutschte Hortensia auf ihrem Stuhl hin und her. Sie mochte es gar nicht, wenn ihre Mutter und ihre Schwester stritten. «Ach, Charlotte, es wird bestimmt schön», sagte sie versöhnlich.
Es überraschte Katherine jedes Mal, wie Hortensia ihre Schwester fast immer dazu brachte, sich zu beruhigen und schließlich nachzugeben. Diesmal aber sollte ihr das nicht gelingen.
«Wenn er zum Unterricht kommt, gehe ich nicht hin», wiederholte sie.
«Er wird kommen.» Katherine würde sich von einem eigensinnigen Kind keine Vorschriften machen lassen. Man musste nicht besonders scharf nachdenken, um zu erraten, dass Charlotte diese Ausdrücke von ihrem Vater gelernt hatte, den sie anbetete. Am meisten störte Katherine, wie verächtlich Charlotte gesprochen hatte. Das Mädchen fing an, David gefährlich zu ähneln. Doch das würde Katherine niemals zulassen, selbst wenn sie bis zu ihrem letzten Atemzug kämpfen musste.