III

 

Was sich hinter der sich öffnenden Tür befand, entsprach schon eher meinen Erwartungen: ein dünner, blasser Mann, der jedes Anzeichen für den körperlichen Verfall aufwies. Er trug noch immer den schäbigen schwarzen Regenmantel, der offen stand und enthüllte, dass er kein Hemd anhatte, eine eingesunkene Brust und hervorstehende Rippen besaß. Seine ausgefranste Hose war an den Knien abgerissen worden, sie war seine ganze Kleidung unterhalb der Gürtellinie, abgesehen von den auseinanderfallenden Schuhen. Seine tief eingesunkenen Augen schienen fast gar nicht existent wegen der riesigen Augenringe darunter. Ich gab mir die größte Mühe, ihn anzulächeln und unerschrocken zu wirken.

»Ah, Mr. Zalen. Mein Name ist Foster Morley. Ich habe gesehen, wie Sie durch den Wald den Weg nach Hause abgekürzt haben, aber anscheinend haben Sie mich nicht gehört.«

Der Mann runzelte die Stirn. Er hatte sein langes schwarzes Haar, das er nur selten zu waschen schien, entweder mit Haaröl oder, was viel wahrscheinlicher war, mit dem darin befindlichen Fett nach hinten gestrichen. »Was wollen Sie?«, fragte er mich mit einer Stimme, die härter klang, als ich es bei so einem ruinierten Unglücklichen erwartet hätte.

»Sie sind der Fotograf, nicht wahr? Der Zeitungsmann, oder bin ich da falsch informiert?«

»Das ist eine Ewigkeit her, aber ich schätze, wenn Sie über mich informiert sind, dann sind Sie entweder von der Polizei oder ein Klient … und Sie sehen nicht wie ein Polizist aus, also kommen Sie lieber rein.«

Also scheint er noch immer einige Klienten zu haben, die ihn als Fotografen buchen, dachte ich. Was bedeutete, dass er zumindest etwas Geld verdienen musste. Er bat mich in ein Wohnzimmer, das sehr heruntergekommen aussah. Darin standen nur wenige Möbel, darunter eine Couch ohne Beine, und eine große hölzerne Kabeltrommel diente als Tisch. Ein chemischer Geruch in der Luft deutete darauf hin, dass er irgendwo Fotos entwickelte. Bevor er hereinkam und die Tür verriegelte, sah er nach links und rechts, als würde dort draußen etwas Verdächtiges lauern. Dann griff er seltsamerweise hinter ein Buchregal, dessen Bretter sich in der Mitte durchbogen, und zog einen einfachen Ordner hervor.

»Fünfzig Cent das Stück, Mr. Morley«, sagte er zu mir und reichte mir den Ordner. »Ich sehe an Ihrer Kleidung, dass es Ihnen besser geht als den meisten heutzutage. Sie wollen kaufen, nicht verkaufen.«

Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was er meinte, aber ich sah dem Ordner seitlich an, dass er mengenweise Fotos enthielt. Augenblicklich durchströmte mich eine Aufregung ob der Dinge, die mich erwarteten. Mary musste mich trotz ihres Abscheus gegen diesen Mann hier angekündigt und ihm erzählt haben, was ich von ihm wollte. Nervös setzte ich mich und schlug den Ordner auf …

Zu was für einem schrecklichen Ort die Welt in solchen Zeiten werden konnte. Ich hätte mich beinahe auf die widerwärtigen Bilder übergeben, die mir von den glänzenden Oberflächen der Fotos entgegensprangen. Das waren weder Bilder von
Lovecraft noch von dem Olmstead vergangener Zeiten. Das war schlicht und einfach Pornografie.

Die Szenen, die sich auf den wenigen Seiten abspielten, die ich mir ansah, ließen sich nicht beschreiben. Ich kann nur sagen, dass die Fotografien selbst erschreckend lebhaft und von einem Experten angefertigt worden waren.

»Aber die mit dem weißen Mädchen, das es mit den farbigen Typen treibt, kosten jeweils einen Dollar«, fuhr er fort. Dann zog er den abgewetzten Regenmantel aus und hängte ihn auf einen Nagel an der Wand. »Wenn Sie auf Kinder stehen, die kosten zwei Dollar das Stück.«

Ich warf ihm den schaurigen Ordner zu. »Das ist … nicht das … weswegen ich hier bin.«

»Ach, dann sind Sie doch ein Verkäufer? Tja, Sie müssen mir im Voraus den Film und die Entwicklung bezahlen, und ich kriege die Hälfte vom Verkaufspreis. Aber denken Sie daran, wenn sie nicht hübsch genug sind, mach ich mir gar nicht erst die Mühe, denn dann kann ich die Bilder nicht verkaufen. Und zu je mehr Sachen Sie sie überreden können, umso teurer kann ich die Bilder verkaufen.«Meines Nichtbegreifens wegen verwirrt erwiderte ich einfach nur: »Was?«

Er warf mir einen messerscharfen Blick zu. »So ist das Geschäft, Mann! Sie haben ein paar heiße Töchter und wollen, dass ich sie nackt fotografiere oder wie sie gerade ein paar Typen ficken, oder?«

Ich starrte ihn an. »Nein«, krächzte ich. »Ich habe keine Kinder.«

»Was wollen Sie dann, Morley?«, schrie er mich auf einmal an. »Ich brauche Geld, und Sie vergeuden meine Zeit! Verschwinden Sie von hier!«

Mit leerem Blick reichte ich ihm eine Zehndollarnote.

»Wofür ist denn das?« Er riss mir den Geldschein aus den Fingern und schimpfte weiter. »Ich steh nicht auf Tricks, Mann! Ich bin keine Schwuchtel. Wenn Sie ein Mädchen ficken wollen, okay, ich hab eins hier, aber lassen Sie den Scheiß! Sie fangen langsam an, mir Angst zu machen …« Dann brüllte er in Richtung der Tür, die anscheinend zum Schlafzimmer führte: »Candace! Komm da raus!«

Bevor ich widersprechen konnte, öffnete sich die Tür und eine scheue und sehr nackte Frau Mitte zwanzig kam hindurch. Sie bedeckte mit einer Hand ihren bloßen Schamhügel und mit der anderen versuchte sie, die beiden angeschwollenen Brüste zu verdecken. Was sie jedoch ganz und gar nicht verbergen konnte, war ihr riesiger Bauch, der ihre Schwangerschaft im letzten Trimester deutlich zutage treten ließ. Beiläufig hörte ich, dass im Nebenzimmer ein Radio lief, aus dem, glaube ich, »Heaven Can Wait« von Glen Gray ertönte.

Das Mädchen lächelte mich schief an, was ich trotz der Haare, die ihr ins Gesicht fielen, erkennen konnte. »Hallo. Wir … wir werden eine schöne Zeit zusammen haben, Sir …«

Noch mehr von der realen Welt, die mir immer weniger gefiel. Inzwischen hatte ich den Schreck über diesen furchtbaren Irrtum halbwegs verdaut und runzelte die Stirn, um mich dann direkt an Zalen zu wenden. »Ich habe Ihnen das Geld gegeben, damit Sie nicht das Gefühl haben, Ihre kostbare Zeit wäre vergeudet. Ich habe kein Interesse an Prostitution oder Pornografie.«

Zalen kicherte. »Ach, kommen Sie, Mr. Morley. Hatten Sie Ihren Schniedel jemals in einer schwangeren Frau? Ich wette nicht!«

»Sie sind ein gottloser Strolch!«, schrie ich ihn an.

»… und Sie können sie noch nicht mal schwängern.«

In diesem Moment wünschte ich mir nichts mehr, als dass Blicke töten konnten; mein angewiderter Blick hätte ihn vermutlich in zwei Teile geteilt. »Ich interessiere mich für ein ganz bestimmtes Foto, das sich, wie mir gesagt wurde, in Ihrem Besitz befindet, und falls das der Fall ist, bezahle ich Ihnen weitere einhundert Dollar dafür.«

Zalen blieb bei meinen Worten der Mund offen stehen, dann scheuchte er das Mädchen mit einer Handbewegung zurück ins Schlafzimmer. »Einhundert Dollar, sagen Sie?«

»Einhundert Dollar.« Nun bemerkte ich kleine schwarze Pünktchen in den Ellenbeugen des Mannes, die ich erst für Pfeffer hielt, bis meine Naivität nachließ und mir mein Verstand sagte, dass es sich um Narben von Nadeleinstichen handelte. »Meine Geduld schwindet, Mr. Zalen. Haben Sie nun eine Fotografie eines Autors namens Howard Phillips Lovecraft oder nicht?«

Zum ersten Mal zeichnete sich ein echtes Lächeln auf Zalens Gesicht ab. Die Couch quietschte, als er sich hinsetzte und seine langen weißen Beine verschränkte. »Ja, ich erinnere mich an ihn. Er hatte eine Stimme wie ein Kazoo und hat nie was anderes gegessen als Ingwerplätzchen.« Auf einmal sprang er auf und zog etwas aus dem Bücherregal. Er zeigte es mir mit einem Grinsen, das seine Zahnlücken entblößte.

Es war ein Exemplar der Visionary-Publications-Edition von Schatten über Innsmouth.

Ich zog meines aus der Jacke und zeigte sie ihm ebenfalls.

»Ich hätte nicht gedacht, dass irgendjemand tatsächlich was von dem Kerl lesen würde, aber ich sag Ihnen, viele Leute taten es, nachdem das hier rausgekommen war, und sie waren nicht gerade glücklich über das, was er über unsere Stadt zu sagen hatte. Der Großteil von Olmstead lebte damals am Innswich Point, also hat er einfach den Namen zu Innsmouth geändert. Großer Gott. Hat alle Namen verändert, aber nur ein wenig, wissen Sie? Als ob er uns wissen lassen wollte, worüber er tatsächlich geschrieben hat.«

»Um Himmels willen, Mr. Zalen«, erwiderte ich. »Er hat einfach seine Eindrücke von dieser Stadt als Schauplatz für eine fantasievolle Geschichte genutzt. Sie bezichtigen ihn praktisch der Verleumdung. Alle Autoren tun etwas Derartiges.« Ich räusperte mich. »Also. Haben Sie das Foto?«

»Ja, ich habe es, aber nur das Negativ. Ich kann es Ihnen bis morgen entwickeln.« Sein Lächeln wirkte auf einmal verschlagen. »Aber den Hunderter nehme ich im Voraus.«

Ich bin kein Mann, der zu Konfrontationen oder brüskem Benehmen neigt, aber das wollte ich nicht hinnehmen. »Ich gebe Ihnen fünf Dollar als Bearbeitungsgebühr, und die restlichen fünfundneunzig bekommen Sie, wenn ich habe, was ich will«, entgegnete ich und warf ihm weitere fünf Dollar zu.

Er nahm sie nur zu begierig an sich. »Abgemacht. Morgen, so gegen vier.« Seine Augen verengten sich. »Wer hat Ihnen gesagt, dass ich das Bild habe?«

»Eine Freundin«, entgegnete ich. »Eine Frau namens Mary Simpson …«

Daraufhin warf er sich mit dem Rücken gegen die Lehne und heulte fast schon auf. »Ach, jetzt versteh ich! Sie ist eine Freundin von Ihnen, ja? Dann sind Sie wohl doch nicht der Saubermann, für den ich Sie gehalten habe.«

Bei der Bemerkung zuckte ich zusammen. »Was in aller Welt meinen Sie damit?«

»Mary Simpson war früher die Stadtschlampe. Jetzt ist diese Stadt voller Schlampen, aber Mary war die erste. Sie war eine Hure, Mr. Morley, eine Hure erster Klasse, wie mein Großvater zu sagen pflegte.«

»Sie lügen«, entgegnete ich entrüstet. »Sie versuchen nur, mich wütend zu machen, weil Sie Leute mit Geld verabscheuen. Ich sehe Ihr verschlagenes Grinsen, Mr. Zalen, aber ich hätte Lust, es Ihnen aus dem Gesicht zu wischen, indem ich doch kein Geschäft mit Ihnen mache, sondern diese Höhle aus Drogen und Liederlichkeit verlasse, die Sie Ihr Zuhause nennen.«

»Aber das werden Sie nicht tun, Mr. Morley, denn Typen wie Sie bekommen immer das, was sie haben wollen. Sie werden morgen wiederkommen und das restliche Geld bei sich haben. Sie wollen die Wahrheit eigentlich gar nicht wissen.«

»Und welche Wahrheit soll das sein?«

»Vor nicht allzu vielen Jahren war Mary Simpson die beste Hafenhure von ganz Innswich. Mann, sie hat acht oder zehn Babys gekriegt. Und durch sie habe ich eine Menge Kohle verdient.«

Bei der Prahlerei konnte ich nur noch grinsen. »Ich soll jetzt wohl glauben, dass Sie ihr Zuhälter sind, was?«

»Nicht bin, war. Vor etwa fünf Jahren hat mich die Schlampe verlassen.«

»Ich glaube Ihnen immer noch nicht. Sie hat mich über ihre Situation aufgeklärt und dass sie von ihrem Ehemann verlassen worden ist. Dieser Mann war gewiss von noch zweifelhafterem Ruf als Sie.«

»Ehemann, Jesus.« Er schüttelte den Kopf und grinste noch immer. »Wenn Sie das glauben, dann sind Sie bestimmt auch überzeugt davon, dass der Krieg der Welten aus dem Radio letzten Oktober tatsächlich stattgefunden hat.«

Natürlich hatte ich kein Wort davon geglaubt, ich hatte schließlich das Buch gelesen! Aber worauf wollte Zalen hinaus? Mir war klar, dass er versuchte, sein Spielchen mit mir zu spielen. »Und jetzt wollen Sie mir vermutlich auch noch erzählen, dass sie eine Drogenabhängige war, so wie Sie.«

»Nein, auf dem Trip ist sie nie gewesen, sie war nur verrückt nach Schwänzen.« Er zog eine Augenbraue hoch. »Na ja, nach Schwänzen und Geld.«

»Und das soll ich einem Drogenabhängigen abnehmen, der so tief gesunken ist, dass er Bilder von unschuldigen jungen schwangeren Frauen an Degenerierte verkauft.«

»Es gibt eine Menge ›Degenerierter‹ in der Welt, Morley. Angebot und Nachfrage – das hat Ihr Kapitalismus hervorgerufen.« Er sah mir direkt in die Augen. »Sie wären überrascht, wie viele kranke Typen da draußen herumlaufen, die sich gern schwangere Mädchen ansehen.«

»Und Sie sind der Lieferant – zweifellos, um Ihren Drogenkonsum zu finanzieren«, fuhr ich ihn an. »Ohne das Angebot gäbe es keine Nachfrage, und dann würde die Sittlichkeit wieder Einzug halten. Doch das wird nie geschehen, solange Raubtiere wie Sie im Geschäft bleiben. Sie verkaufen Verzweiflung, Mr. Zalen, indem Sie die Unterdrückten und die von Armut Geplagten ausnutzen.«

Das schien ihm doch gegen den Strich zu gehen. »Hey, Sie sind nur ein reicher Waschlappen, der kein Recht hat, über Leute zu urteilen, die er nicht kennt. Nicht jeder hat es so leicht wie Sie. Die Regierung baut Schlachtschiffe für diese neue Marineerweiterung, während das halbe Land Hunger leidet, Mr. Morley, und während zehn Millionen Menschen keine Arbeit haben. Die Umverteilung des Reichtums ist die einzige moralische Antwort. Die Dinge, zu denen ein teilnahmsloser Militärlieferant mich, das Mädchen im Hinterzimmer, Mary oder irgendjemand anderen zwingt, um zu überleben, gehen Sie absolut nichts an.«

Mit großer Betrübnis musste ich zugeben, dass er in dieser speziellen Hinsicht recht hatte. Vielleicht war das der Grund, dass seine Worte mich dazu brachten, ihn umso mehr zu verabscheuen. Auch wenn ich offensichtlich ein Anhänger von Marx und Engels war, hatte mich Zalen recht treffend beschrieben. Ein reicher Waschlappen. Ich machte mir nicht die Mühe, auf meine zahlreichen philanthropischen Taten hinzuweisen, und ich war mir sicher, dass ein zeitgenössischer Psychiater meine wohltätigen Handlungen als Versuche eingestuft hätte, meine Schuldgefühle zu beseitigen. Schließlich erwiderte ich: »Ich muss mich für diese Beurteilung entschuldigen, aber für nichts anderes. Selbst wenn das wahr ist, wessen Sie Mary beschuldigen, könnte ich es ihr kaum verübeln, und zwar aus genau den Gründen, die Sie genannt haben. Ich glaube, dass sie und Millionen anderer Unterdrückter … und sogar Sie, Mr. Zalen, letzten Endes die Opfer einer diskriminierenden Umgebung sind.«

»Oh Mann, Sie sind mir ja einer!«, kommentierte er lachend.

Mir war klar, dass ich mich von ihm nicht überlisten lassen durfte, denn das würde meine Verzweiflung nur erneut heraufbeschwören, und in diesem Fall würde er gewinnen. »Ich bin hier aufgrund von Geschäften, die meine Vergangenheit betreffen. Belassen wir es dabei. Ich werde außerdem – sagen wir, fünf Dollar pro Stück – für jedes qualitativ hochwertige Foto bezahlen, das Sie von diesem Innswich Point geschossen haben, bevor der Wiederaufbau seitens der Regierung begonnen hat.«

Sein freches Grinsen kehrte zurück, und er lümmelte sich selbstsicher auf dem Sofa. »Sind Sie sicher, dass das alles ist, was Sie wollen, Mr. Morley?«

»Ziemlich sicher«, versicherte ich ihm.

»Aber warum? Damals war ganz Olmstead heruntergekommen und Innswich umso mehr.«

»Ich bezweifle zwar, dass Sie es verstehen werden, aber ich bin interessiert daran, die Stadt so zu sehen, wie Lovecraft sie gesehen hat, als sie die kreative Entwicklung seines Meisterwerks inspiriert hat.«

»Das ist also Ihr Hobby?«, spottete er.

»Ja, und im Vergleich zu dem Ihren doch ein eher harmloses.«

Er lachte. »Sprechen Sie mein Hobby lieber nicht an, Mr. Morley. Ich werde schon sehr bald eine Dosis brauchen.« Er klopfte sich auf die Innenseite des Ellenbogens. »Sie sollten bleiben und zuschauen. Es würde jemandem wie Ihnen guttun, mal so etwas zu sehen, der einzigen Rettung, die der Kapitalismus und all seine Doppelzüngigkeit den Armen lassen, mal direkt ins Gesicht zu blicken.«

»Hören Sie damit auf, Ihre Schwächen auf die Wirtschaft von Amerika abzuschieben«, fuhr ich ihn an.

»Und dieses Buch …« Er hielt Innsmouth erneut hoch. »Das ist ziemlich dämlich, wenn Sie mich fragen.«

»Dasselbe würden Sie vermutlich auch über ›Die Ballade vom alten Seemann‹ sagen, Mr. Zalen.«

Er schlug belustigt die Hände zusammen. »Jetzt wird es langsam interessant! Coleridge war ebenfalls ein Junkie. Aber Lovecrafts Reise nach Innsmouth? Er hat die Stadt völlig falsch beschrieben!«

»Es ging doch gar nicht um die Stadt«, rief ich entrüstet aus. »Das ist eine sehr ausgeklügelte Fantasiegeschichte voller sozialer Symbole!«

»Aber er hätte sich wenigstens mehr Mühe dabei geben können, die Namen der Leute zu verändern.«

Alarmiert setzte ich mich auf. »Warum sagen Sie das? Ich dachte, er hätte größtenteils die Namen von Orten angepasst?«

»Nein, nein, verdammt noch mal. Er hat fast jeden in der Stadt damit beleidigt. Erinnern Sie sich an den Busfahrer aus der Geschichte, Joe Sargent? Der Mann heißt in Wirklichkeit Joe Major! Und Larsh, der Name der beiden Gründer der Stadt, wurde nur in Marsh verändert. Und vergessen wir nicht Zadok Allen. Wie hat ihn Lovecraft bezeichnet? Als ›alten Trunkenbold‹?«

»Zadok Allen war der wichtigste Nebencharakter der Geschichte, ein 96-jähriger Alkoholiker, der die dunkelsten Geheimnisse von ganz Innsmouth kannte.«

Erneut starrte er mich grinsend an. »Sie sind nicht gerade sehr aufgeweckt, was? Der Mann hieß eigentlich Adok Zalen. Kommt Ihnen der Nachname irgendwie bekannt vor?«

Diese Andeutung irritierte mich. »Zadok Allen – Adok Zalen, und … Sie heißen ebenfalls Zalen.«

»Genau, er war mein Großvater. Lovecraft hat ihn eines Abends in der Nähe der Docks mit irgendeinem Fusel, den er im Kramladen gekauft hatte, betrunken gemacht. Am nächsten Tag ist mein Großvater gestorben – an Alkoholvergiftung von dem Schnaps, den Ihr Held Lovecraft ihm gegeben hat.«

Könnte sich das wirklich so abgespielt haben? Und falls ja, stellte sich die Frage, wie viel von dem, was Lovecraft ersonnen hatte, eigentlich von Adok Zalen stammte.

»Damit hat er der Welt eigentlich einen Gefallen getan«, plapperte Zalen weiter. »Gott, mein Großvater war älter als die Welt und nichts wert. Er hat gelogen und geklaut, und es war Zeit für ihn zu gehen.«

»Ich bin beeindruckt, wie viel Respekt Sie vor Ihren Verwandten haben«, meinte ich mit vor Sarkasmus triefender Stimme.

»Lovecraft war ein Amateur. Seabury Quinn war ein viel besserer Autor als er.«Ich hätte aus der Haut fahren können! »Er war nichts dergleichen, Mr. Zalen!«, brüllte ich fast schon hysterisch, denn so langsam zeigte Zalens gezielte Einschüchterung Wirkung. Schließlich ging es hierbei um mein literarisches Idol, und ich würde nicht zulassen, dass dessen Name und Talente von diesem heruntergekommenen Pornografen in den Schmutz gezogen wurden. »Haben Sie die Bilder der Stadt von früher nun oder nicht?«

»Die habe ich. Warten Sie hier.« Mit diesen Worten stand er auf und schlurfte ins hintere Zimmer.

Der hat ja Nerven, dachte ich und war jetzt tatsächlich aufgewühlt. Was konnte er schon über hochwertige Fantasygeschichten wissen? Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr neigte ich dazu, seine Anschuldigung, Lovecraft trage die Schuld an Adok Zalens Ableben, infrage zu stellen. Er stellt diese Behauptungen einfach auf, um eine negative Wirkung zu erzielen. Nicht anders als mit seinen Lügen über Mary. Ich stöhnte beinahe auf, als mein umherstreifender Blick mir einen Teil des Schlafzimmers zeigte. Zalen hatte die Tür offen gelassen. Als Erstes stach mir eine große Kamera auf einem Stativ ins Auge. Und dann … war da noch etwas anderes.

Die schwangere Prostituierte – Candace, glaube ich, hatte er sie genannt – saß in einer merkwürdigen Pose auf dem Bett. Sie war immer noch nackt, und aufgrund ihrer Schwangerschaft hatten sich ihre Warzenhöfe zu blassrosa Kreisen erweitert. Der große, massige Bauch trug nur zu den Schwierigkeiten bei dem bei, was sie tat …

Ein Band war um ihren Oberarm gewunden, um die Venen in ihrer Armbeuge anschwellen zu lassen, und in eine dieser Venen injizierte sie gerade etwas mit einer Pipette, die mit einer Hohlnadel ausgestattet war. Dieser verteufelte Mann hat sie abhängig gemacht, damit er sie weiterhin ausnutzen kann …

Zalens Stimme war deutlich zu hören, wenngleich man ihn nicht sehen konnte. »Du nimmst zu viel«, beschwerte er sich bei dem Mädchen. »Das ist nicht gut für das Kind. Du weißt doch noch, was mit Sonia passiert ist?«

»Aber ich kann nicht anders!«, jammerte sie.

»Wenn das Kind tot geboren wird, dann steckst du in großen Schwierigkeiten …«

Ich wollte nicht einmal Vermutungen anstellen, was er mit dieser Bemerkung gemeint hatte. Sie planten wahrscheinlich, das Baby an eine Adoptionsagentur zu verkaufen.

Die ganze Szene und die damit verbundenen Implikationen sorgten dafür, dass mir die Spucke wegblieb. Ich war hier nicht in meinem Element und hoffte, das alles würde mir eine Lehre sein. Wieder zurück zog er die Tür hinter sich zu; er trug eine weitere Aktenmappe unter dem Arm. »Ich hatte nie mehr als diese fünf, Mr. Morley«, erklärte er auf seine unverschämte Weise. »Aber es macht hundert für alle zusammen. Akzeptieren Sie’s oder lassen Sie’s bleiben.«

»Ich lasse mich nicht erpressen, Mr. Zalen«, versicherte ich ihm. Solch ein Versuch war allerdings zu erwarten gewesen. Da er jetzt von meiner Sucht wusste, würde er so viel Honorar anstreben, wie meine Duldsamkeit zuließ. »Ich sagte, fünf Dollar pro Stück, und bei fünf Dollar pro Stück bleibt es, und das auch nur, wenn sie exakt das sind, wonach ich suche.«

»Wenn sie Ihnen gefallen, dann zahlen Sie mir doch einfach, was sie Ihnen wert sind. Wie klingt das für Sie?«

»Das klingt fair«, erwiderte ich und schlug die Mappe auf.

Das erste Foto nahm mir den Wind aus den Segeln: ein seewärtiges Panorama der Stadt, das durchhängende Mansardendächer, halb eingestürzte Giebel und nicht rauchende Schornsteine zeigte. Näher am Ufer erhob sich eine Dreiergruppe Kirchtürme, von denen bei zweien die Uhr fehlte. Mein Gott, dachte ich. Es ist nahezu genau wie im Text: Robert Olmsteads erster Blick auf Innsmouth durch das Fenster von Joe Sargents Bus. Ein zweites Foto zeigte das vom Einsturz bedrohte Ufergebiet mit den halb verfallenen Werften, den Fischerbooten mit zersplittertem Rumpf und Berge ungenutzter Hummerfallen. Eine Reihe trostloser Fabriken und weiterverarbeitender Betriebe – seit Langem verlassen – erhob sich jenseits dieser Szene aus Verfall und Vernachlässigung, aber erneut entsprach dies direkt HPLs trübsinnig anschaulicher Beschreibung aus dem Buch. Auf dem dritten Foto sah man ein niedriges Steingebäude, das von dorischen Säulen umgeben war; dessen Außenmauern wirkten vom Alter zerfressen. Eine große Doppeltür stand offen und gab den Blick auf die Dunkelheit dahinter frei.

»Das ist die alte Freimaurerhalle«, informierte mich Zalen.

Und dann wurde es mir schlagartig bewusst. »Natürlich! Das ist das Gebäude, in dem Lovecraft den esoterischen Orden von Dagon angesiedelt hat und in dem die Mischlingspriester ihre Gottesdienste abgehalten haben. Dabei trugen sie ihre pompöse Kleidung und goldene Tiaren.«

»Jetzt sehen Sie sich das letzte Bild an«, forderte er mich auf.

Allerdings wäre das nächste Bild erst das vierte, und ich hatte geglaubt, Zalen hätte gesagt, der Satz beinhalte fünf Bilder. Dennoch wandte ich mich dem nächsten zu und war überwältigt vom Anblick eines makabren Sonnenuntergangs über der Hafenbucht. Der Effekt ließ das Wasser geschmolzen aussehen. Hinter weiteren verfallenen Werften und Reihen aus windschiefen, zusammengeschusterten Hütten, deren Dächer jeden Moment einzustürzen drohten, sah ich das von der Sonne beleuchtete Wasser und kaum erkennbar, was etwa eine Meile weiter draußen lag: eine unregelmäßige schwarze Linie direkt über der Wasseroberfläche. Ein toter Leuchtturm schien gen Norden zu blicken.

»Lovecrafts Teufelsriff.« Ich erkannte es auf den ersten Blick.

»Mhm. Allerdings nichts Teuflisches dran«, entgegnete Zalen. »Es ist noch nicht einmal ein Riff. Es ist bloß eine Sandbank.« Er rieb sich die Hände. »Aber die Bilder sind gut, nicht wahr?«

»Das sind sie«, gestand ich. »Es ist eine Schande, dass Sie dieses großartige Talent für die Fotografie vergeudet und vergessen haben.«

Ich war noch immer schwer beeindruckt von den Bildern – der Wahrheit, die sie mir mit der Darstellung der Stadt vor so langer Zeit vermittelten. »Wann genau wurden diese Bilder aufgenommen, Mr. Zalen?«

»Im Sommer 1928, Juli, da bin ich ziemlich sicher. Ich habe sie nur aufgenommen, weil Lovecraft sie haben wollte. Ich habe es gratis gemacht, weil ich gedacht hatte, er würde mich einem dieser komischen Schundmagazine empfehlen, für die er geschrieben hat. Hat er jedoch nie gemacht, der knauserige Bastard.«

Dieses Wissen spornte mein Interesse zu neuen Höhen an, und aus diesem Grund waren mir die Fotos deutlich mehr wert als fünf Dollar das Stück. Aber ich war verärgert ob seines Erpressungsversuchs. »Ich gebe Ihnen fünfzig Dollar für den Satz, aber keine hundert.«

»Es macht hundert«, beharrte er. Dann erneut dieses freche Grinsen. »Sie haben das letzte Bild ja noch gar nicht gesehen, Mr. Morley.«

»Oh. Das ist richtig.« Ich blätterte zur letzten Fotografie weiter.

Ich starrte runter, ohne zu blinzeln. Viele Sekunden verstrichen auf die Weise. Dann klappte ich den Ordner zu, stand auf und reichte Zalen eine Einhundertdollarnote. »Guten Tag, Mr. Zalen.«

»Dann morgen um vier?«

»Seien Sie versichert, dass ich hier sein werde.«

»Mit weiteren hundert Dollar für das Lovecraft-Foto.«

»Mit weiteren fünfundneunzig.« Ich näherte mich der Tür. »Bitte enttäuschen Sie mich nicht, Mr. Zalen.«

Er lachte. »Die einzige Möglichkeit, das zu tun, ist, wenn ich mir den goldenen Schuss verpasse mit dem Zeug, das ich mir von dem Geld kaufe, das sie mir gegeben haben. Die Haupttodesursache bei Junkies, wissen Sie.«

»Wenn Sie vorhaben, an einer Überdosis zu sterben, Mr. Zalen, tun Sie es bitte nicht bis morgen.« Meine Hand schloss sich um den schmutzigen Türknauf. »Aber übermorgen wäre ganz nett.«

»Das ist die richtige Einstellung.«

Ich trat hinaus aus dem stinkenden, nach Chemikalien riechenden Zimmer in das überaus warme Tageslicht. Zalens verwahrloste Wohnung war ebenso finster gewesen wie sein Herz.

Seine nahezu ausgemergelte Gestalt blieb im Türrahmen stehen. »Sie gehen jetzt zurück auf Ihr Zimmer, was? Um Ihrem Hobby nachzugehen?«

Selbst angesichts dessen, was ich gerade erworben hatte, fand ich seine Andeutung außerordentlich beleidigend. »Mr. Zalen, mein Hobby, wie Sie wissen, ist das Werk von H. P. Lovecraft.«

»Richtig. Dann werden Sie jetzt also in der Stadt herumlaufen … um zu sehen, was Lovecraft gesehen hat.«

»Das ist genau das, was ich vorhabe, nicht, dass es Sie das Geringste angeht. Ich werde Innswich Point aufsuchen.«

»Da ist es jetzt verdammt langweilig, Mr. Morley. Nichts als Blockhäuser und ein Pier aus Zement.« Hatte er soeben gekichert? »Aber gehen Sie lieber nicht des Nachts dorthin.«

Mit gerunzelter Stirn blieb ich an seiner von Moos überwucherten Eingangsstufe stehen. »Wirklich, Mr. Zalen? Werden mich sonst die Tiefen Wesen holen? Oder werden mich die Akolythen von Barnabas Marsh Dagon als Opfer darbringen?«

»Nee, aber die Säufer und Flüchtlinge würden mit einem Kerl wie Ihnen sicher großen Spaß haben. Drogenschmuggler verkriechen sich da.«

»Gute Freunde von Ihnen, kein Zweifel.«

»Sie bringen es mit einem Boot hierher.« Der unansehnliche Mann kratzte sich in der Armbeuge. »Und mein Großvater hat nicht gelogen, als er Lovecraft erzählt hat, dass es unter dem alten Hafen ein Netzwerk aus Tunneln gibt. Die stammen aus dem 17. Jahrhundert. Freibeuter und Schmuggler haben sie als Unterschlupf benutzt.«

Dies war interessant, aber das ließ ich mir nicht anmerken.

»Und wenn Sie einen richtigen Leckerbissen wollen, gehen Sie die Hauptstraße in Richtung Norden weiter und sehen sich Marys Haus an«, fuhr er höhnisch fort. »Das ist ein echtes Stück aus dem Leben. Es ist bloß einen Wurf von dem der Onderdonks entfernt.«

Unwillkürlich zuckte ich zusammen und ließ ihn so mein Unbehagen spüren, aber auf einmal war ich neugierig darauf, wie Mary ihr anstrengendes Leben mit so vielen Kindern bestritt, die sie ohne Hilfe eines Mannes großzog. »Die Onderdonks«, wiederholte ich. »Oh, der Stand am Straßenrand, den ich gesehen habe?«

»Ja. Und kosten Sie das Barbecue.« Dieses Mal war ich mir nicht sicher, wie ich seinen streitlustigen Tonfall zu deuten hatte.

Ich war fest entschlossen zu gehen; ich würde keine weitere Belästigung zulassen, aber als ich losging, fügte er hinzu: »Und Sie sollten das Buch ein wenig genauer lesen.«

Ich drehte mich auf dem aufgerissenen Gehweg um. »Sie meinen doch gewiss nicht Schatten über Innsmouth

»Was denken Sie denn?«

»Ich habe es Dutzende von Malen gelesen, Mr. Zalen, sehr aufmerksam. Ich kann wahrscheinlich die meisten der 25 000 Wörter auswendig wiedergeben. Worauf wollen Sie also hinaus?«

Die Sonne beleuchtete die rauen Gesichtszüge dieses durch und durch verdorbenen Mannes. »In der Geschichte, was passiert da mit Außenseitern, die zu viel herumschnüffeln, Mr. Morley?«

Ich ging weiter und war beinahe amüsiert über diesen letzten billigen Versuch, melodramatisch zu wirken.

»Und heute Abend«, rief er mir nach, »wenn Sie Mary für ein paar Dollar ficken, richten Sie ihr aus, dass sie der Vater ihres dritten oder vierten Kindes grüßen lässt …«

Damit war meine Belustigung dahin. Dieser Mann war unausstehlich, und vermutlich wirkte er effektiver auf meine Psyche ein, als ich es mir selbst eingestehen wollte. Das Einzige, was ich noch mehr hasste als ihn, war, wozu mich seine Manipulation getrieben hatte.

Als ich eine abgeschiedene Ecke zwischen den Bäumen gefunden hatte, schlug ich den Ordner auf und sah mir das fünfte Bild unterhalb der Fotos der Stadt an. Es war natürlich ein Foto von Mary, in deprimierend expertenhafter Auflösung und Beleuchtung. Sie war nackt, ja, und – schlimmer noch – schwanger, doch selbst in diesem Zustand hatte sie für Zalens verfluchte Linse eine verführerische Positur eingenommen. Es war eine schreckliche Kollision von Gegensätzen gewesen, die meinen sofortigen Kauf ausgelöst hatte. Aber ich wusste, ich wusste um meines Lebens und der Liebe Gottes willen, dass ich KEINER von Zalens degenerierten Kunden war. Es war der Schreck über die zuvor erwähnte Kollision gewesen, der mich gezwungen hatte, es zu kaufen: der Liebreiz verwoben mit einem aufwühlenden Motiv, die Anmut und Schönheit Hand in Hand mit der Verderblichkeit einer unterdrückten Frau. Es fiel mir jetzt auf, dass Mary dermaßen schön war, dass ich hätte erschaudern können. Auf dem Bild hätte ich sie fünf Jahre jünger geschätzt, aber wenn überhaupt schien ihre derzeitige Schönheit sogar noch intensiver. Was sollte es, wenn ein Teil von Zalens obszönen Verunglimpfungen im Wesentlichen den Tatsachen entsprach? Selbst wenn sie in schlechteren Zeiten als Prostituierte gearbeitet hatte, wer war ich, über sie zu richten?

Ich würde es nicht tun. Seit undenklicher Zeit waren Frauen durch die Männer und deren Lust ausgenutzt worden; Marys Vergangenheit ging mich nichts an, da ich wusste, dass Gott alles vergibt. Ich konnte nur beten, dass er mir vergeben würde.

Auf dem Weg zurück in die Stadtmitte fand ich einen billigen Laden, der genau das anbot, was ich brauchte: eine kleine Aktentasche. Ich tätigte meinen Kauf bei einem weiteren freundlichen Olmsteader, einem Mr. Nowry, der sich sehr über mein Trinkgeld freute. »Wie komme ich auf dem schnellsten Weg zum Ufer?«, erkundigte ich mich.

»Folgen Sie einfach der Kopfsteinpflasterstraße, Sir«, deutete er. »Die führt Sie direkt zum Wasser. Und da unten ist es wirklich sehr schön.«

»Da bin ich mir sicher. Vielen Dank.«

»Achten Sie nur darauf,«, beeilte er sich hinzuzufügen, »sich nicht nach Einbruch der Dunkelheit da aufzuhalten.«

Die freundliche Warnung kam mir unangebracht vor. »Aber Olmstead scheint mir nicht gerade …«

»Ja, Sir, das ist eine schöne Stadt mit netten Leuten. Aber in jeder Stadt gibt es ein paar faule Äpfel, nicht wahr?«

Da hatte er allerdings recht. Als ich den Laden verließ, sah ich im Büro eine Frau, von der ich annahm, sie müsse seine Gattin sein, etwas auf Papier kritzeln.

Und ihr überweites machte kein Geheimnis aus der Tatsache, dass sie schwanger war.

Noch eine Frau, die ein Kind erwartet, dachte ich und versuchte mühevoll, zunächst über meine Besorgnis nachzusinnen. Gut, mir waren in der kurzen Zeit seit meiner Ankunft ungewöhnlich viele schwangere Frauen begegnet, aber ich durfte nicht vergessen, dass ich im Grunde ein Kosmopolit war, der in eine neue und kleine Arbeiterortschaft gekommen war. Eigentlich unterstützte ich die Initiativen der Regierung, das Bevölkerungswachstum zu fördern. Die kleinen Gemeinden waren stärker darin eingebunden und offenbar auch empfänglicher dafür, was auf lange Sicht dem größeren Ganzen zugutekam. Mit diesem Wissen überdachte ich meine anfängliche Reaktion auf die Zahl werdender Mütter, die ich gesehen hatte. Gewiss war sie nicht so übertrieben, wie ich gedacht hatte.

Als ich mich gemächlich dem Ufer näherte, bemerkte ich jedoch ein niedriges, offenes Blockhaus, in dem ich ein volles Dutzend Frauen sehen konnte, die zufrieden frische Austern aus der Schale brachen und eindosten. Die meisten von ihnen waren schwanger.

Zalens Einschätzung des industriellen Zentrums der Stadt erwies sich als überaus zutreffend. Mir fiel sofort auf, dass Innswich Point trotz der großartigen, nach Meeresbrandung duftenden Aussicht auf den Hafen in der Tat einen sehr traurigen Anblick bot. Aber, oh, hätte ich diesen Ort doch nur so sehen können wie Lovecraft! Wenigstens würde mir Zalens Foto ein Faksimile dieses Privilegs ermöglichen. Alles, was jetzt blieb, war der Teil des Namens, den sich der Meister ausgeborgt hatte. Eine weitere Enttäuschung erwartete mich, als ich hinaus auf das Riff blickte und mir dann einfiel, dass es überhaupt kein Riff war, sondern eine langweilige Sandbank. Die Arbeiter an den zahlreichen Docks und Fischverarbeitungsstätten waren größtenteils kräftige Männer mit unscheinbaren Gesichtern, sehr ähnlich den Leuten, mit denen ich Bus gefahren war. Ich würde nicht behaupten, dass sie mich anstarrten, aber ich fühlte mich dort auch nicht gerade willkommen. Gewiss war dies die Ursache für Garrets Ablehnung der männlichen Bevölkerung; er bezog sich auf diese mürrischen Bootsleute.

Das Blockhaus, in dem sich die Eisfabrik befand, rasselte und röhrte, laute Lastwagen kamen und gingen. Doch aus einem höher gelegenen Fenster einer der Fischfabriken lächelte mich eine hübsche Frau an, und als ich ging, wurde ich von einigen weiteren Frauen in einem offenen Blockhaus ebenfalls mit einem Lächeln bedacht. Sie saßen an langen Tischen und flickten Netze.

Die meisten von ihnen waren schwanger.

Ich ließ die harmlos wirkende Szenerie und das Tagwerk der Menschen hinter mir. Mein Appetit war gewachsen seit meinem Eis mit Mary, und plötzlich freute ich mich auf das Mittagessen mit ihr am kommenden Tag. Auch meine Verabredung zum Abendessen mit dem gut gelaunten Mr. William Garret hatte ich nicht vergessen, doch ich bedauerte, keine Neuigkeiten über seinen verschwundenen Kollegen in Erfahrung gebracht zu haben. Als in der Ferne eine Glocke dreimal läutete, wurde mir bewusst, dass ich keine weiteren vier Stunden bis zum Abendessen durchhalten würde, also wanderte ich die Hauptstraße gen Norden entlang und verließ den dichter bewohnten Bereich der Stadt.

Inzwischen setzte mir die Hitze ganz schön zu. Ich beförderte mein Sakko und die Krawatte in die Aktentasche und marschierte weiter. Wie Lovecraft war ich daran gewöhnt, täglich längere Strecken zu Fuß zurückzulegen. Vielleicht ist der Meister ebenfalls diese Straße entlanggegangen, grübelte ich. An beiden Seiten des Weges standen Bäume. Die beschauliche Ruhe der Szenerie kam mir sehr gelegen nach der unangenehmen Angelegenheit mit Cyrus Zalen.

Ah!, dachte ich, als mir der Briefkasten am Ende einer langen, staubigen Auffahrt auf der westlichen Straßenseite auffiel. Darauf stand der Name Simpson, und ich war augenblicklich versucht, Zalens schrägen Ratschlag zu befolgen und hineinzugehen, um mich Marys Stiefvater und Kindern vorzustellen, doch dann besann ich mich eines Besseren. Mary hatte angedeutet, dass es ihrem Stiefvater nicht gut ging. Warte lieber noch damit, lautete meine weise Entscheidung. Wenn es das Schicksal wollte, dass ich ihrem Stiefvater begegnete, sollte Mary zugegen sein.

Möglicherweise erzeugte die plötzliche Abgeschiedenheit den Gedanken, doch als ich weiterging, hatte ich das höchst unangenehme – geradezu sprichwörtliche – Gefühl, beobachtet zu werden. Durch die Bäume auf der küstenwärtigen Seite konnte ich recht weit sehen; ich vermochte sogar den Rand von Innswich Point auszumachen, aber ostwärts? Dort lauerte der Wald tief und dunkel. Lediglich mit dem Grenzbereich meines Gehörsinns, könnte ich schwören, hörte ich etwas sich verstohlen bewegen. Bloß ein Waschbär, höchstwahrscheinlich, oder einfach nichts weiter als Einbildung, aber dann stieg mir ein köstlicher Duft in die Nase. Der Stand am Straßenrand und die Räucherei lagen direkt vor mir, und jetzt lockte das einfache Schild mich: ONDERDONK & SOHN. RÄUCHEREI – MIT FISCH GEFÜTTERTE SCHWEINE. Große, eingepferchte Schweine – fünf an der Zahl – grunzten, als ein junger Mann in den frühen Zehnern ihren Trog mit gekochten Stinten und anderen Köderfischen füllte. Erfreut stellte ich fest, dass am Straßenrand mehrere Fahrräder und zwei Kraftfahrzeuge geparkt waren, deren Besitzer sich am Stand anstellten. Es war immer schön, ein florierendes Gewerbe zu sehen.

Als ich an die Reihe kam, wurde ich von einem wettergegerbten Mann in Overall bedient, der eine eingedellte Eisenbahnermütze trug und vermutlich der Namensgeber dieses Unternehmens war. »Was darf es sein, Fremder?«, erkundigte sich eine raue Stimme mit leichtem europäischen Akzent.

Ich sah keine Speisekarte. »Es riecht wirklich köstlich. Was haben Sie anzubieten, Sir?«

»Schweinenacken-Sandwiches oder Hachsen mit Bohnen. Die meisten nehmen den Schweinenacken. Einen besseren werden Sie nicht finden, und wenn’s nicht schmeckt, müssen Sie’s nicht bezahlen.«

»Das klingt vertrauenerweckend!«, erwiderte ich erfreut. »Das nehme ich.« Einen Augenblick später wurde mir ein Sandwich mit besagtem Schweinenacken gereicht, das halb in Zeitungspapier eingewickelt war.

»Beißen Sie vor dem Bezahlen einmal ab«, erinnerte mich Onderdonk. »Und dann sagen Sie mir, dass es nicht das Beste ist, was Sie je gegessen haben.«

Ein Bissen bestätigte seine Aussage. »Es ist hervorragend, Sir«, versicherte ich ihm. »Ich habe von Kansas bis zu den Carolinas Schweinenacken probiert, sogar in Texas … Dieser hier übertrifft alles.«

Onderdonk nickte unbeeindruckt. »So was macht ein Fischer, wenn er nicht mehr richtig fischen kann. Ich glaube, man nennt es Genialität. Ich hatte die Idee, die Schweine mit Fisch zu füttern. Dadurch wird das Fleisch feuchter und man kann es langsamer und länger räuchern.«

»Das ist definitiv ein Erfolgsrezept«, beglückwünschte ich ihn. Ich bestand darauf, dass er das Wechselgeld von meinem Dollar für das Fünfundzwanzig-Cent-Sandwich behielt. »Aber … waren Sie früher wirklich Fischer?«

»Wie mein Vater und sein Vater vor ihm und so weiter.« Auf einmal wirkte der raue Mann ein wenig verärgert. »Ich kann nicht mehr fischen. Das ist nicht richtig. Aber das hier läuft anständig.«

Meine Neugier war geweckt. »Wie man sehen kann, Sir, komme ich nicht aus dieser Gegend, aber was mir in Olmstead – in der Gegend rund um Innswich Point – aufgefallen ist, dass es mehr als reichlich Fisch zu geben scheint.«

»Das ist richtig – aber nur für Olmsteader, und das sind mein Junge und ich nicht, obwohl wir dieses Stück Land schon seit Urzeiten besitzen.« Mit dem Thema hatte ich offensichtlich einen wunden Punkt getroffen. »Was die betrifft, sind wir Außenseiter. Immer, wenn mein Junge und ich fischen wollten, kamen sie uns in die Quere. Einige dieser Olmsteader sind echt ein rauer Haufen. Ich lass meinen Jungen doch nicht wegen ein paar Fischen zusammenschlagen.«

Territorialismus, dachte ich mit einem Mal. Er war weiter verbreitet, als die meisten Menschen wussten; in meiner Heimatstadt waren die Hummerfängerfamilien bekannt für ihre Fehden, ebenso die Muschelfänger. »Das ist bedauerlich, Sir. Aber der Beweis für Ihre Genialität hat einen alternativen Markt geschaffen, der gewiss florieren wird.«

»Hm«, brummte er.

»Dann nehme ich an, wegen der Gebietsangelegenheit müssen Sie den Fisch kaufen, mit dem Sie Ihre Schweine füttern?«

»Nee, den fangen wir selbst – sehen Sie, jede Nacht schleichen mein Junge und ich uns ans nördliche Ende des Points und werfen ein paar Netze ins Wasser, dann schleichen wir uns wieder zurück. Wir sind nicht länger als zehn Minuten auf dem Wasser, dann sind wir wieder verschwunden. Die Zeit reicht gerade mal für ein oder zwei Eimer Köderfische, aber mehr brauchen wir für die Schweine nicht.«

»Nun, immerhin funktioniert ihr System.«

»Sieht ganz so aus.« Der junge Sohn des Mannes stellte sich jetzt neben seinen Vater. Onderdonk klopfte ihm auf die Schulter. »Er arbeitet hart für so einen jungen Kerl, und ich will, dass er das Richtige lernt. Das ist die amerikanische Lebensart.«

»Das ist sie in der Tat«, erwiderte ich und lächelte den Jungen an, doch dann fragte ich Onderdonk: »Zufälligerweise bin ich auch ein großer Freund von Schweinerippchen. Bieten Sie diese ebenfalls an?«

»Rippchen? Ja, aber nur zweimal die Woche. Die sind immer in wenigen Stunden ausverkauft. Wenn Sie in zwei Tagen wiederkommen, haben wir wieder welche.« Er deutete auf den Schweinepferch. »Schon bald werden mein Junge und ich Harding schlachten. Harding ist der Fettsack da drüben.«

Ich ging davon aus, dass er das größte Schwein meinte. Doch ich musste lachen. »Aber Sie haben Ihr Schwein doch nicht nach Amerikas 29. Präsidenten benannt?«

»Das habe ich getan!«, erwiderte er. »Und ich bin verdammt stolz darauf. Harding hat doch nichts geleistet, und dieser Teapot-Dome-Skandal hat dafür gesorgt, dass die Börsen zusammenbrachen, und Amerika zu dem gemacht, was es heute ist.«

Dagegen konnte ich kaum etwas einwenden, war aber dennoch amüsiert.

»Erst ein ehrlicher Kerl – Calvin Coolidge – hat dafür gesorgt, dass das höchste Amt der Nation wieder den Respekt bekam, den es verdient. Jawohl, Sir!« Er zwinkerte mir zu. »Ich werde garantiert kein Schwein Coolidge nennen. Aber in diesem Stall haben wir außerdem Taft, Wilson, Garner und diesen Sozialisten FDR!«

Himmel. Der Mann hatte gewiss politische Überzeugungen, die sonderbar für einen einfachen Arbeiter waren. »Schön«, entgegnete ich. »Dann werde ich übermorgen wiederkommen und Hardings geräucherte Rippchen kosten.«

»Tun Sie das, Sir, Sie werden nicht enttäuscht sein.«

Ich verabschiedete mich, tätschelte dem schweigenden Jungen den Kopf und gab ihm einen Dollarschein. »Eine kleine Anerkennung für dich, junger Mann, dass du so gut und hart für deinen lieben Vater arbeitest.«

»Vielen Dank, Sir«, piepste der Junge.

»Einen schönen Tag noch!«, sagte Onderdonk, und dann ging ich meines Weges.

Es hatte mich aufgemuntert, dass die Arbeiterklasse trotz der schlechten Wirtschaftslage über die Runden kam. Der Mann war bewundernswert. Unfairerweise von den Massen vorhandener Fische abgeschirmt, hatte er das Hindernis überwunden und war auf andere Weise erfolgreich geworden.

Dann schlenderte ich die Straße zurück, durch meinen Kopf schwirrten Gedanken, die meine Stimmung verbesserten. Natürlich das gute Essen und das ebenso gute Wetter; das Wissen, dass ich am nächsten Tag ein seltenes Foto von H. P. Lovecraft besitzen würde; die Wahrscheinlichkeit, dass mich am Abend im Wraxall’s ein weiteres gutes Mahl erwartete (denn frische Meeresfrüchte waren – mehr noch als Schweinefleisch – ein großer Genuss für mich) sowie die simple Genugtuung, dass ich auf Wegen wandelte, die Lovecraft ebenfalls beschritten hatte.

Und da war noch etwas anderes, das meine freudige Erregung steigerte.

Mary.

Mary Simpson, grübelte ich. So wunderschön. So gütig und aufrichtig und fleißig. Sie wirkte auf mich einzigartig, selbst wenn sie in ihrer Vergangenheit schlechte Zeiten durchlebt hatte. Schwanger, ohne gegenwärtigen Ehemann, und doch arbeitete sie, um ihre Pflichten zu erfüllen. Ich gestand mir ein, dass ich dabei war, ihr in platonischer Liebe zu verfallen, und platonisch würde sie bleiben müssen, da ich nichts Weitergehendes anstreben konnte, sosehr ich es mir auch wünschen mochte.

Und ich würde sie am nächsten Tag zum Mittagessen treffen.

Ich drehte mich um, und mein Herz pochte wie wild in meiner Brust. Die Überraschung hatte mich auf höchst unangenehme Weise aus meinen Gedanken gerissen.

Aus dem Wald im Westen hatte ich ganz sicher ein Geräusch gehört.

Ich war auf eine Auseinandersetzung überhaupt nicht vorbereitet, aber nun war ich mir sicher, dass man mir nachstellte, und das wollte ich sofort unterbinden.

Ich starrte intensiv in den Wald, dann glaubte ich, einen Zweig zerbrechen zu hören. »Ich höre Sie!«, rief ich und zögerte nicht, zwischen die Bäume zu treten. »Zeigen Sie sich wie ein Mann!«

Weitere Zweige zerbrachen, als mein Verfolger tiefer in den Wald hineinlief. Ich war mir nicht sicher, warum, aber ich setzte ihm nach.

Fünfzig Meter tiefer im Wald verriet ein einsamer Sonnenstrahl die Identität des Beobachters.

Nur eine kurze Sekunde lang erspähte ich die Gestalt, zwar nicht das Gesicht, aber immerhin die Kleidung: den langen, schmutzigen Regenmantel mit Kapuze.

»Also wirklich, Mr. Zalen, das ist keine Art, einen zahlenden Kunden zu behandeln!«, brüllte meine Stimme durch die Bäume. »Falls Sie mich berauben wollen, kann ich Ihnen versichern, dass ich gut bewaffnet bin!«

Das war korrekt, denn ich hatte die kleine halb automatische Pistole, die ich bei der Colt Patent Firearms Company in Hartford erworben hatte, bereits aus der Hosentasche geholt. Es war ein Modell 1903, von dem ich gelesen hatte, dass der berüchtigte Bankräuber John Dillinger sie an dem Tag, an dem er niedergeschossen wurde, bei sich gehabt hatte. Ich war kein besonderer Schütze, aber mit einem vollen Magazin war ich gut genug.

Zalen war stehen geblieben und hatte mich offensichtlich gehört. Auf einmal rannte er los und verschwand erneut zwischen den Bäumen.

»Ich bin sehr enttäuscht, Mr. Zalen!«, rief ich ihm hinterher. »Aber, Dieb oder nicht, vergessen Sie unsere Verabredung für morgen nicht.«

Die dicht stehenden Bäume verschluckten meine Stimme. Ein ruhiger, zurückhaltender Mann wie ich hätte durch eine derartige Beinahe-Konfrontation eigentlich erschüttert sein sollen, aber ich fühlte nichts dergleichen. Ich war ganz ruhig, zuversichtlich und unbeeindruckt, und ich hatte auch nicht die Absicht, Zalen am folgenden Tag nicht aufzusuchen. Er hatte etwas, das ich haben wollte, und ich würde wie beabsichtigt dafür bezahlen. Da er jetzt wusste, dass ich bewaffnet war, würde er von feindseligen Handlungen gewiss absehen.

Als ich mich umdrehte, um wieder zur Straße zurückzugehen, sah ich das Haus.

Es musste Marys Haus sein.

Nur ganz schwach drang das Sonnenlicht durch den dichten Schirm aus Blättern und Ästen. Der in dieser Region nur spärlich fallende Regen hatte bewirkt, dass der Waldboden trocken wie Zunder war. Das, was ich da sah, tat ich anfänglich als Hügel ab, doch bei konzentrierterem Hinschauen erkannte ich kleine, einfach verglaste Fenster inmitten eines riesigen Efeuteppichs. Schließlich entdeckte ich Ecken, die weniger überwuchert waren, sowie ein Schieferdach und einen Kamin aus alten fleckigen Ziegelsteinen, die noch aus der Zeit vor der Revolution stammten. Hinter dem eckigen und mit Efeu überwucherten Haus befand sich jedoch eine sonnenüberflutete Lichtung, auf der eine einsame, winzige Gestalt umherzutollen schien. Als ich genauer hinblickte, sah ich, dass es sich um einen Jungen handelte, der Pfeile mit einem einfachen, mehr als wahrscheinlich selbst angefertigten Bogen abschoss. Die Pfeile waren jene für Kinder hergestellten mit Gummisaugnapf an der Spitze, und der Junge schoss damit auf einen alten, aufgestellten Fensterrahmen, in dem sich noch das Glas befand.

Das war also eines von Marys älteren Kindern. Seltsam bloß, dass nur eines im Freien zu sehen war. So nah beim Haus hätte ich erwartet, all ihre acht Kinder sehen oder zumindest hören zu können. Sie hat angedeutet, dass ihr Stiefvater auf die jüngeren aufpasst, fiel mir wieder ein. Dennoch wirkte das Haus merkwürdig leise.

Augenblicklich kam ich mir wie ein Eindringling vor. Nur weil ich Zalen verfolgt hatte, war ich überhaupt so weit in den Wald hineingelaufen. Dennoch, trotz des Drangs zu gehen, blieb ich stehen und starrte das überwucherte Haus an. Der Impuls, in ein Fenster zu sehen, war sehr stark, aber ich riss mich zusammen. Nicht nur wäre dies die Tat eines Flegels – der ich nicht war –, sondern es wäre sogar illegal. Ich habe nicht das Recht, mich hier aufzuhalten, und sollte gehen. Aber ich wunderte mich doch über die Motive meines Unterbewusstseins – oder meines Ichs, wie Freud es nannte.

War es Mary, die mein Ich zu erspähen hoffte?

Als ich mich umdrehte, um zu gehen, hätte ich beinahe laut aufgeschrien.

Da, unmittelbar vor mir stand der Junge.

Ich erholte mich rasch von dem Schreck. »Hallo, junger Mann. Mein Name ist Foster Morley.«

»Hallo«, erwiderte er errötend. Er war dünn, hatte strahlende Augen und sah aus wie so viele Kinder: neugierig und unschuldig. Ich schätzte ihn auf etwa zehn – das war bei Heranwachsenden immer schwer zu sagen –, und er trug saubere, wenngleich abgenutzte Kleidung. In einer Hand hielt er seinen einfachen Bogen und in der anderen einen Köcher mit den Saugnapfpfeilen. Nach einem Moment fügte er hinzu: »Mein Name ist Walter, Sir.«

»Freut mich, dich kennenzulernen, Walter.« Schüchtern schüttelte er mir die Hand. »Lautet dein Nachname zufälligerweise Simpson?«

Er wirkte freudig überrascht. »Ja, Sir.«

»Das ist aber ein Zufall! Ich bin ein Freund deiner Mutter. Heute Morgen haben wir uns erst bei Mr. Baxter unterhalten. Du kannst stolz darauf sein, eine so hart arbeitende Mutter zu haben.«

Er schien sich über diese Information zu wundern. »Ja, Sir, ich bin sehr stolz auf sie, ebenso wie Opa.«

Sein »Opa« konnte nur Marys Stiefvater sein.

»Er schläft jetzt«, fügte er hinzu. »Er ist … alt.«

»Ja, und den Älteren muss man immer Respekt erweisen.« Ich sah mir seinen einfachen, aus Zweigen zusammengebauten Bogen an. »Du bist ja ein richtiger Bogenschütze, Walter. Übung macht den Meister.« Dann zeigte ich auf das Fenster, das er als Ziel benutzte und an dem schon mehrere Pfeile hingen. »Und bei deinen beeindruckenden Fähigkeiten könntest du einmal im Olympia-Team der Bogenschützen stehen.«

»Glauben Sie wirklich?«, fragte er aufgeregt.

»Natürlich, wenn du dabeibleibst und immer fleißig übst. Wenn du älter bist, musst du mit einem richtigen Bogen trainieren, aber ein so vorsichtiger Junge wie du braucht gewiss nicht mehr lange darauf warten.«

»Meine Mom sagt, ich bekomme einen richtigen Bogen, wenn sie genug Geld verdient, um einen zu kaufen. Aber ich darf ihn nur benutzen, wenn sie zusieht.«

»Das ist ein guter Ratschlag, mein Sohn. ›Ehre deine Mutter‹, wie es in der Bibel steht.«

»Sind Sie hier, um … sie zu sehen?«, erkundige er sich. »Sie ist noch bei der Arbeit.«

Ich wollte den Jungen nicht anlügen, konnte ihm aber auch nicht verraten, dass ich hier in der Nähe einen Verfolger gejagt hatte. »Nein, Walter, ich habe nur einen Spaziergang in der Natur gemacht, als ich zufällig auf dich und dieses Haus gestoßen bin. Diese Wälder sind eine wahre Wohltat für mich, da ich die meiste Zeit in der Stadt verbringe, in Providence.«

»Oh. Ich laufe auch oft durch den Wald, Sir.« Er deutete hinter das Haus. »Da vorne ist ein schöner Weg, der durch den Wald hindurch bis zur Stadt führt. Da lang geht meine Mom jeden Tag zur Arbeit.«

»Danke für diesen Tipp, junger Mann«, schwärmte ich. »Bestimmt werde ich auf diesem Weg zurückgehen. Aber verrate mir doch mal, warum du hier draußen ganz alleine bist? Du hast doch sicher Brüder und Schwestern, die alt genug sind, dass du mit ihnen spielen kannst.«

Seine Augen wirkten auf einmal leer, als hätte ich ihm eine schwierige Frage gestellt. »Ich muss jetzt gehen und meinem Opa helfen, Sir.«

»Natürlich. Du bist ein guter Junge, dass du deinem Großvater beistehst.« Mehr konnte ich nicht sagen, da ich das Gefühl hatte, er würde auf der Stelle weglaufen, wenn ich ihn mit meiner vorigen Frage weiter bedrängen würde. Aber mir schoss durch den Kopf: Mary hat noch sieben weitere Kinder. Sind die alle in dem Haus? »Aber bevor du gehst, Walter, möchte ich dir etwas schenken.« Vermutlich überschritt ich damit einige Grenzen, aber ich konnte nicht widerstehen. »Und ich bin mir sicher, dass dir deine Mutter und dein Großvater geraten haben, von Fremden nichts anzunehmen, aber wir beide sind ja keine Fremden, nicht wahr?«

»Nein, nicht wirklich, Mr. Foster«, erwiderte er und schien gespannt auf das erwähnte Geschenk zu sein.

»Ich möchte, dass du das hier nimmst und dir einen besseren Bogen kaufst«, sagte ich und reichte ihm eine Zehndollarnote. »Und wäre es nicht nett, wenn du von dem, was dann noch übrig ist, deiner Mutter ein paar Blumen kaufst?«

»Oh, ja, Sir, das wäre es!«, rief er freudig aus.

»Und wenn deine Mutter fragt, woher du das Geld hast, dann sagst du einfach,von ihrem Freund, Mr. Morley.«

»Danke, Sir. Vielen Dank!«

»Gern geschehen, Walter. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.«

Ich lächelte, als er zu dem flachen Haus stürmte, eine kaum erkennbare Tür öffnete und im Inneren verschwand.

Was konnte es schon schaden? Ich hoffte nur, dem Jungen eine Freude gemacht zu haben. Während ich mich auf die Suche nach dem Weg hinter dem Haus machte, kam ich in der einen Richtung nicht weiter … und mir gingen weitere Fragen durch den Kopf. Wo genau waren die anderen Kinder? Und warum hatte Walter meine Frage nicht beantworten wollen?

Ich ging um das Haus herum auf die Lichtung zu, behielt dabei jedoch die Fenster im Auge. Das letzte Fenster, das ich vor Erreichen der Lichtung passierte, war fast vollständig mit Efeu bedeckt.

Was konnte ich zu meiner Rechtfertigung sagen, falls mich der Stiefvater erwischte, während ich hindurchsah?

Und dennoch blickte ich durch das Fenster, dachte nicht an mögliche Konsequenzen, und warum ich es tat, werde ich wohl niemals wissen.

Ich weiß nur, dass ich wünsche, ich hätte es nicht getan.

Durch das verschmierte Fensterglas blickte ich in ein kleines Zimmer mit einer bescheidenen Feuerstelle, neben der noch ein Holzofen stand, sowie einigen Möbeln, die man nur als behelfsmäßig beschreiben konnte. Irgendwie beeindruckte es mich, wie sie ihre ärmliche Situation verbessert hatten, in dem sie Dinge – wie Schachteln, Kisten und lose Ziegelsteine – zu alternativen Zwecken wiederverwendeten. Mehrere Kisten bildeten beispielsweise die Grundlage für ein Bett und offensichtlich übernahm ein großer Leinensack voller getrockneter Blätter die Aufgabe einer Matratze, über die man übliche Laken gelegt hatte. In einem Schrank standen nicht etwa Trinkgläser, sondern benutzte Blechdosen, die demselben Zweck dienten. Ein Tisch, dessen Platte aus hölzernen Wandpaneelen unterschiedlicher Länge bestand, besaß Beine aus dicken Baumstämmen. Dieser Einblick in ihr Elend schmerzte mich … und ich kalkulierte bereits, wie sehr mein Wohlstand in der Lage wäre, dieser armen, aber funktionierenden Familie zu helfen.

Ich duckte mich, als eine Tür im Inneren geöffnet wurde. Zuerst war nur der junge Walter zu sehen, dann folgte eine zusammengesunkene Gestalt, die von einem klappernden Geräusch begleitet wurde. Nur das wenige Tageslicht, das durch die kleinen Fenster hineinfiel, spendete ein wenig Licht. Als ich blinzelte, glaubte ich zu erkennen, dass die Gestalt an Krücken ging, und obwohl sie sich durch einen dunklen Bereich bewegte, erkannte ich langes, graues Haar, was mir sagte, dass es sich nur um Marys Stiefvater handeln konnte; Walter half ihm, zu dem behelfsmäßigen Bett zu gelangen.

Ein seltsames, protestierendes Geräusch erklang, als er das Bett endlich erreicht und sich unter großen Schwierigkeiten hineingelegt hatte. Ich konnte so gut wie nichts im Detail erkennen, aber das große Ausmaß seiner Gebrechen – eine massive Form der Arthritis, mutmaßte ich – war anhand seiner gebeugten Gliedmaßen völlig klar. Fehlten an der Hand, die ein Stück Karton aufhob, um sich damit Luft zuzufächeln, etwa … einige Finger?

»Hier hast du etwas Wasser, Opa«, sagte Walter und brachte ihm eine der Blechdosen. Aus dem mir zu Verfügung stehenden Blickwinkel sah ich nur, dass Walter die Dose vorsichtig anwinkelte, damit er daraus trinken konnte. Bei dem überlauten Schluckgeräusch zog ich die Augenbrauen hoch.

»Ähm, Opa«, setzte Walter an. »Da draußen war ein Mann. Er ist ein Freund von Mom, und sein Name ist Foster Morley …«

Die schrecklich gelähmte Gestalt schien sich aufzusetzen, und währenddessen sah ich eine tragisch unnatürliche Verdrehung ihres Rückgrats. Aber es waren Walters Worte, die seine Bewegung ausgelöst hatten.

»Und er … er hat mir das hier gegeben.« Der Junge zögerte, dann zeigte er den Zehndollarschein. »Damit ich Mom ein paar Blumen kaufe.«

Die Reaktion des Stiefvaters auf diese Information werde ich nie im Leben vergessen.

Er kam schlingernd hoch, wodurch sich sein Rücken noch weiter durchbog, streckte eine deutlich deformierte Hand aus und stieß dann einen Laut in einer Sprache aus, die ich noch nie zuvor gehört hatte: ein hohes, fast schon gequält klingendes Kreischen, vermischt mit einem tiefen Knurren, das sich zu einem meiner Ansicht nach verrückten lauter und leiser werdenden Quieken vereinte und von einem Klang begleitet wurde, der sich anhörte, als würde Flüssigkeit verspritzt.

Die Plötzlichkeit – und Unweltlichkeit – des lautstarken Widerspruchs traf mich fast schon körperlich, als hätte man mir einen Ball gegen die Brust geschlagen. Ich taumelte rückwärts, behielt das Stück Fenster jedoch weiterhin im Auge, und alles, was ich sagen kann, über, was ich denke, was ich sah, ist Folgendes:

Etwas schoss aus den Schatten hervor, die diesen schwachen Mann umgaben. Was dieses Etwas war, kann ich nicht akkurat beschreiben. Es konnte ein Stück Seil oder auch eine Peitsche gewesen sein, das mit klar erkennbarer Bosheit auf den Jungen zuflog. Ich kann nur sagen: Es erinnerte mich an eine Peitsche.

Diese Peitsche schlug mit einem feuchten, aber resoluten Knall zu und schien Walter die Zehndollarnote aus der Hand zu reißen, um dann wieder zu dem kranken alten Mann zurückzukehren.

Erneut stieß er diesen Mix aus furchtbaren tiefen Tönen und dem Kreischen aus, und dann folgte dieses schaurige phlegmatische Platschen, woraufhin der Junge vor meinen Augen erbleichte und aus dem Zimmer rannte.

Eine schlimme Krankheit, fürwahr, hatte diesen armen alten Mann befallen, und zwar nicht nur seinen Körper, sondern auch seinen Geist.

Ich konnte das Ganze nicht länger mit ansehen und flüchtete zu der Lichtung hinter dem Haus, stürzte in das Sonnenlicht und einen Schwarm Schmetterlinge und rannte – halb von Sinnen – noch ein ganzes Stück weiter, bis ich den Pfad entdeckte, von dem der Junge gesprochen hatte.

Über angeborene Defekte und progressive Krankheitsbilder wusste ich herzlich wenig, und obwohl mein Sinn für Mitleid und Mitgefühl ausgeprägt war, musste ich das Bild dieses dementen und unansehnlichen Mannes mit Gewalt aus meinem Kopf verbannen …

Während ich den Pfad des Jungen entlangging, war ich mir meiner Umgebung mehrere Minuten lang nicht wirklich bewusst. Mein Herz pochte nach all dem, was ich gesehen hatte, wild in meiner Brust, und ich atmete schnell. Nach und nach kam ich wieder zu Sinnen, bis ich innehielt, die Hände auf die Knie stützte und mich ausruhte.

Mein schneller Abgang von dem verfluchten Haus hatte mich auf einen Trampelpfad geführt, der an beiden Seiten von mannshohem Gras umgeben war. Insekten zirpten, und die Sonne strahlte auf mich herab.

Es war nur die Dunkelheit in diesem einsamen Haus, dachte ich, und meine Fantasie, die mir das, was ich gesehen habe, grotesk ausgemalt hat.

Ausgerechnet Cyrus Zalen und seine allzu zutreffenden Vermutungen hinsichtlich meiner aktuellen Lebensumstände kamen mir wieder in den Sinn. Ein reicher Waschlappen. Mein unverdienter privilegierter Status hatte mich von derartigen tragischen Realitäten abgeschirmt, mit denen sich jene, die weniger Glück gehabt hatten, herumschlagen mussten, und das war einfach nicht richtig. Ich musste diese schrecklichen Realitäten kennenlernenund ihre Konsequenzen –, um zu dem besseren Mann zu werden, wie Gott es mir gewiss vorherbestimmt hatte. Mein Mitgefühl durfte nicht gespielt sein, mein Mitleid nicht bewusst kreiert. Ich sah mich selbst als Philanthropen, der jenen, die weniger hatten, gerne etwas abgab.

Ich wusste, dass ich mehr geben musste, und dass es nicht einfach nur Geld sein durfte.

Sanfte Stimmen rissen mich aus meinen Gedanken. Als ich den Kopf drehte, blitzte großflächig ein Schimmer auf. Durch das hohe Gras erkannte ich einen bescheidenen See, auf dem sich das Sonnenlicht widerspiegelte. Aber die Stimmen …

Ich musste meine Augen abschirmen, um nicht geblendet zu werden. Dort, am Ende eines kurzen Piers, saßen zwei Frauen, eine honigblond, die andere mit obsidianfarbenem Haar. Beide waren nackt und unterhielten sich angeregt, während sie ihre Füße ins Wasser baumeln ließen. Etwas weiter im Wasser schwamm eine kleine Flasche, die als Boje diente.

Der nackte weiße Rücken der Mädchen glänzte in der Sonne, aber die ruhige Szenerie spiegelte nicht die Stimmung der Dunkelhaarigen wider, die fauchte: »Ich hasse es einfach, Cassandra! Es macht mich krank – ihr Zustand, meine ich. Und ich muss heute Abend schon wieder hin. Oh Gott, ich verabscheue es so sehr.«

»Dann bist du also noch nicht so weit?«, erkundigte sich die andere.

»Nein, ich glaube nicht. Sie zwingen mich hinzugehen – jeden Abend –, bis sie sich sicher sind!« Das Mädchen schien zu würgen. »Und ich muss gleich zu mehreren! Einer reicht nicht! Es müssen jeden Abend mindestens zwei sein, und ich habe gehört, sie haben zwei weitere bekommen. Wie viele sind das insgesamt, sieben?«

»Sechs, glaube ich. Vergiss nicht, dass einer gestorben ist, und der lockige Mann konnte nicht … du weißt schon. Man weiß nie, wann einer von ihnen auf einmal nicht mehr gut genug ist. Manchmal enden sie so wie Paul.«

Paul! Der Name bewirkte, dass ich die Ohren spitzte. Gut, es war ein recht häufiger Name, aber meinten sie damit vielleicht Marys invaliden Bruder?

»Ach, Scheiße!«, meinte die schwarzhaarige Frau überraschend profan. »Einer am Abend sollte genügen!«

»Es ist so, wie es der Doktor gesagt hat, Monica. Mit je mehr du es tust, desto größer ist die Aussicht auf Erfolg …«

Wovon in aller Welt sprechen sie da?, fragte ich mich verwirrt. Und … der Doktor? Meinten sie Dr. Anstruther?

»Darum testet er sie so oft«, fuhr die Honigblonde fort. »Um sicherzugehen, dass sie nicht ihre … Ich habe das Wort vergessen. Portens? Nein, Potenz verloren haben.«

Bei diesen seltsamen Worten wurde mein Gesicht immer länger.

»Aber sie sind so hässlich!«, kreischte die Dunkelhaarige, Monica, empört auf. »Davon bekomme ich Albträume.«

Die Honigblonde, Cassandra, nahm Monicas Hand, um sie zu trösten. »Es ist, wie sie sagen, du musst mit der richtigen Einstellung an die Sache herangehen. Es geht nicht ums Vergnügen, sondern um etwas sehr viel Wichtigeres. Es ist egoistisch, so zu denken, wie du es tust. Und sie müssen so sein, wie sie sind – sicherheitshalber …«

»Argh! Es ist so furchtbar …«

»Das musst du mir nicht sagen, Monica. Ich hatte schon sechs Babys. Aber so läuft es hier nun mal. Es ist besser für unsere Zukunft.«

»Ich weiß nicht, wie du das sechs Mal ertragen konntest!«

Cassandra antwortete verträumt: »Schließ einfach die Augen und denk an etwas Schönes, Monica. Stell dir vor, bei jemand anderem zu sein, bei jemandem, der gut aussieht, der stark und süß ist und …«

»Bei jemandem, der normal ist!« Monica war noch lange nicht besänftigt. »Nicht alle Mädchen machen, was die wollen.«

»Nein, aber so bleiben wir in deren Gunst, wie es der Doktor gesagt hat.«

Monica schien kurz davorzustehen, in Tränen auszubrechen. »Gott, warum kann ich nicht wenigstens ein Mal einen richtigen Mann haben? Manchmal würde ich am liebsten einfach abhauen.«

»Pst! Sag doch nicht so was«, schalt Cassandra sie. »Wir beide wissen, was mit Mädchen passiert, die probieren wegzugehen …«

Verwunderter hätte ich nicht sein können als jetzt, während ich der geheimnisvollen Unterhaltung lauschte …

»Ich sollte lieber mal nach der Falle sehen«, meinte Cassandra und sprang in das Wasser, das ihr bis zur Brust reichte. Sie watete zu der behelfsmäßigen Boje hinüber. Derweil stand Monica auf und streckte sich mit den Händen hinter dem Rücken. Dabei drehte sie sich um, sodass ich einen Blick auf ihren Körper werfen konnte, der wunderschön und gertenschlank war. Sie konnte nicht älter als achtzehn sein. Als sie sich weiter umdrehte, blickte sie in meine Richtung und streckte sich immer noch. Das glänzende schwarze Haar wurde von einer vom See kommenden Brise verweht. Sie war ein exotischer Anblick mit ihren kleinen Brüsten, den langen Beinen und dem flachen Bauch. Ich wollte mich abwenden, da mir mein unabsichtlicher Blick gänzlich unangemessen erschien, doch dann kehrte Cassandra zurück. Sie kletterte über die Leiter zurück auf den Pier und hielt eine kleine, mit Flusskrebsen gefüllte Falle aus Draht in der Hand. Im Gegensatz zu Monica war Cassandra im neunten Monat schwanger.

»Sieh mal, sie ist voll!«, jubelte sie und hielt die Falle mit den umherkriechenden Tieren hoch.

Monica kam zu ihr herüber. »Wow, das sind aber viele.« Sie hob die Falle vorsichtig an. »Das müssen ja zehn Pfund sein. Wir können gleich für mehrere Tage Eintopf kochen.«

Während ich sie weiter belauschte, achtete ich auf nichts anderes mehr … und meine Finger wurden müde. Ich ließ meine Aktentasche fallen …

Das Geräusch war zu deutlich; beide Mädchen sahen augenblicklich fragend in meine Richtung. Konnten sie mich sehen? Ich blieb regungslos stehen.

»Ich glaube, da ist jemand«, vermutete Cassandra, dann hob sie einen Finger an die Lippen. »Hoffentlich sind es nicht sie …«

»Sieh mal! Da drüben!« Monica deutete direkt auf das hohe Grasbüschel, hinter dem ich mich versteckte.

»Ist es …«

»Nein, es ist ein Mann! Ein richtiger Mann!« Sie kam vom Pier aus näher, immer noch nackt. »Hey, warten Sie! Kommen Sie her!«

Ich schnappte mir meine Aktentasche und rutschte aus.

»Nein!«, jaulte Monica. »Gehen Sie nicht! Bitte! Wir können Sie sehr glücklich machen! KOMMEN SIE ZURÜCK!«

Ich hatte nicht die Absicht, ihr Folge zu leisten. Meine Füße trugen mich rasch den engen Weg entlang und ich konnte nur hoffen, dass keines der Mädchen mein Gesicht gut genug hatte sehen können, um mich später wiederzuerkennen. In der Ferne hörte ich Monica traurig sagen: »Oh, SCHEISSE! Er ist weggerannt!«

Ich wurde erst langsamer, als ich die Stadtmitte erreicht hatte und dankbar das Hilman House betrat …

 

* * * 

 

In der Sicherheit meines Zimmers setzte ich mich aufs Bett, um wieder zu Atem zu kommen. Ich schaltete das Radio ein, da mich die Musik zurück in die Normalität bringen würde, und entspannte mich augenblicklich, als »Our Love« von Tommy Dorsey ertönte. Danach folgten jedoch die stündlichen Nachrichten: Der Oberste Gerichtshof erklärte einen Arbeiterstreik für unzulässig, General Francisco Franco hatte Madrid mit seinen Faschistentruppen übernommen, ein Wissenschaftler namens Fermi warnte die Regierungen der Alliierten, dass es jetzt einen Prozess gebe, bei dem Atome gespalten werden, wodurch eine gewaltige Zerstörungskraft freigesetzt werde. Keine dieser Nachrichten klang hoffnungsvoll; ich schaltete das Gerät wieder aus.

Die Ablenkung, auf die ich gehofft hatte, war sabotiert worden. Was genau hatte sich heute eigentlich zugetragen?, fragte ich mich desillusioniert. Ich versuchte angestrengt, eine logische Erklärung zu finden für das, was ich gesehen und gehört hatte, doch es gelang mir nicht. Das alles wollte für mich keinen Sinn ergeben, doch ich überlegte mir, dass es mir in meinem erregten und erschöpften Zustand guttun würde, zur Ruhe zu kommen, um meine Gedanken zu sammeln. Die Hitze des Tages sowie mein schnelles Laufen hatten bewirkt, dass ich ziemlich schmutzig und verschwitzt war, daher nahm ich ein kühles Bad. Ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen …

Doch trotz des kühlen Wassers überkam mich eine heftige Müdigkeit, die mich immer wieder eindösen ließ. Traumschnipsel quälten mich: Bilder, nicht nur verworrene, sondern auch abscheuliche.

Der Mann in dem einfachen Haus, deformiert durch ein katastrophales arthritisches Syndrom, der feuchte, widerliche Beschimpfungen in einer unverständlichen Sprache ausstieß und dann mit dieser Peitsche oder was immer es gewesen war, nach dem jungen Walter schlug.

Und die beiden nackten Mädchen am Pier, die eine schwanger und die andere offensichtlich voller Furcht vor einer Schwangerschaft, aber dennoch resignierend … Ihre rätselhaften Worte erklangen immer wieder in meinem leichten Schlummer:

… Es macht mich krank – ihr Zustand, meine ich …

… Dann bist du also noch nicht so weit? …

… Sie zwingen mich hinzugehen – jeden Abend –, bis sie sich sicher sind! …

… Manchmal enden sie so wie Paul …

Die Worte verschwammen ineinander, und dann konnte ich rasiermesserscharf ihre Körper vor mir sehen, ihre strahlende nackte Schönheit, ihre glänzende weiße Haut und ihre femininen Formen, die ich verbotener- und falscherweise zu Gesicht bekommen hatte in all ihrer Exotik …

Möglicherweise war ich eingeschlafen, als diese deutlichen Bilder plötzlich verbannt wurden … durch das von Mary …

Zuerst nur von ihrem schönen Gesicht und ihrer einfachen, ehrlichen Art sowie von einigen ihrer Bemerkungen.

… Ein gut aussehender Gentleman wie Sie mit so guten Manieren hat nie geheiratet? …

Und dann eine teuflische Verschmelzung: der erste faszinierende Blick auf sie, während sie im Baxter’s arbeitete, sich langsam wandelnd zu der schändlichen und ausbeuterischen Fotografie, die ich dem widerlichen Cyrus Zalen abgekauft hatte: Mary, nackt, schwanger und provokativ fotografiert als visuelles Futter für Degenerierte …

Die Endgültigkeit dieses Bildes riss mich aus meinem Schlummer, und ich bin mir sicher, dass ich hörbar aufgestöhnt habe. Die plötzliche Unruhe war – wie ich peinlich berührt zugeben muss –, ein ungezügeltes körperliches Verlangen der höchst sündhaften Art. Ich war fleischlich erregt, und obwohl ich in der Vergangenheit immer mehr als nur einen guten Job geleistet habe, abstinent zu leben, ließ sich die grundlegende Notwendigkeit jetzt nicht unterdrücken. Ich möchte nicht ins Detail gehen, sondern nur sagen, dass mich meine Lust zu dem trieb, wofür einsame Männer bekannt sind, dass sie es in derartigen Momenten der Schwäche tun, und danach – voller Scham – betete ich zu Gott, dass er mir diesen verderbten und höchst unverschämten Angriff auf seine Gnade vergeben möge …

Peinlich berührt lag ich in der Klauenfußwanne, doch dann riss ich erschrocken die Augen auf …

Ich hatte ein plötzliches, nicht zu leugnendes Geräusch vernommen: ein heftiges Einatmen. Es war ein ansprechendes, laszives Geräusch, das mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer Frau stammte.

Ich starrte auf die gegenüberliegende Wand, mit einem Male überwältigt von dem Gefühl, beobachtet zu werden. Aber falls dem so war …

Von wo genau?

Ich sprang aus der Badewanne, zog mir einen Bademantel an, und wie ein Paranoiker begann ich tatsächlich, die gegenüberliegende Wand und die Decke über der Wanne abzusuchen. Aber ich stieß auf keinerlei »Guckloch«; Minuten später ärgerte ich mich über meine törichte Überreaktion. Das Geräusch, das ich zu hören geglaubt hatte, war höchstwahrscheinlich ein Überbleibsel meiner Träume, meines ermüdeten Körpers und meines ermatteten Geistes. Um Himmels willen!, spottete ich. Wer sollte ausgerechnet mich bespitzeln?

Mein neuer Pierce-Chronograf, eine Armbanduhr, zeigte mir, dass meine Verabredung zum Abendessen schnell näher kam. Ich puderte mich, putzte mir die Zähne mit einem neuen Produkt, das Listerine-Zahnpasta genannt wurde, und zog meinen Abendanzug an. Auch wenn ich mich auf das Abendessen mit Mr. Garret freute, waren meine Gedanken hauptsächlich bei einer anderen Verabredung: der zum Mittagessen am folgenden Tag mit Mary. Seltsamerweise hatte ich das Gefühl, sie mit meiner erniedrigenden und selbstmissbräuchlichen Tat vorhin beschmutzt zu haben, eine absurde Abstraktion, aber so war ich. Nichtsdestotrotz würde ich nicht gehen, bevor ich nicht eine einfache Sache erledigt hatte.

Ich setzte mich an den kleinen Schreibtisch, der in meinem Zimmer stand, und öffnete meine Aktentasche. Aus dieser holte ich den Ordner hervor, den ich Mr. Zalen abgekauft hatte, und zog das zuunterst liegende Foto von Mary hervor. Mit abnehmender Grimmigkeit erlaubte ich mir, es anzusehen …

Die Schärfe, der Kontrast und die Gesamtklarheit des Bildes schienen mir jetzt noch stärker zu sein als zuvor. Und erneut wirkte diese Fusion von Marys objektiver körperlicher Schönheit mit dem erschreckenden ausbeuterischen Motiv erdrückend auf mich: diese anmutige und überschwängliche Pose, nur für den visuellen Bedarf gottloser, zur Perversion neigender Männer. Jedes Element der Fotografie schien Lust auszustrahlen: Marys bodenlose, funkelnde Augen; ihr sinnliches Lächeln; die hohen Brüste mit den dunklen Brustwarzen, die voller Milch waren; die schlanken, schön geformten Beine. Mir fiel auf, dass jeder Zentimeter ihres makellosen nackten Körpers entweder vor Schweiß glänzte oder mit einem Öl eingerieben worden war, was bewirkte, dass ihr ganzes Bild schimmerte, als wäre es innerhalb der Grenzen des Fotopapiers lebendig. Aber ich würde nicht der Wolllust unterliegen, zu der dieses Bild mich zu verleiten versuchte.

Nur der Liebe.

Eine monströse Welt ist das, die so etwas zulässt, fand ich. Dass die Armen und die Verzweifelten für die niedersten Instinkte versklavt werden. Ich holte eine kleine, zusammenklappbare Schere aus meiner Reisetasche und begann, das Foto in kleine Stücke zu schneiden. Ich arbeitete mich vom Rand nach innen vor, bis nur noch das winzige Quadrat mit Marys wunderschönem Gesicht übrig war. Die Fetzen warf ich weg; das Quadrat jedoch versteckte ich in einem Fach in meiner Brieftasche.

Dann ging ich die Treppe hinunter; als ich mich dem Erdgeschoss näherte, öffnete sich die Tür zum Atrium, bevor ich danach greifen konnte, und auf einmal stand ich vor einer schlanken, attraktiven jungen Frau in einem schönen, aber einfachen Kleid, wie es viele Frauen in den wärmeren Monaten bevorzugten. Sie war auf dem Weg nach oben, während ich nach unten ging. Sie schenkte mir ein sanftmütiges Lächeln und nickte, als sie näher kam.

»Guten Tag.«

»Hallo«, erwiderte sie, als ob sie schüchtern wäre. Als sie mich passierte, erschrak ich bis ins Innerste; ich hatte so lange gebraucht hatte, um die schlanke Gestalt und das obsidianschwarze Haar zu erkennen.

Monica, war ich mir sicher. Eines der Mädchen vom Pier …

Augenscheinlich hatte sie mich nicht als den Eindringling erkannt, den sie nur wenige Stunden zuvor so leidenschaftlich angefleht hatte.

Sie wird doch nicht hier wohnen … Vielleicht war sie hier als Zimmermädchen angestellt. Aber, ehrlich, warum sollte ich mir Sorgen machen?

Ich hörte ihre leisen Schritte, als sie die Treppe hinaufstieg, dann an mir vorbei ins Atrium ging, doch als die Tür langsam hinter mir zufiel – ich weiß nicht genau, warum ich das überhaupt bemerkt habe –, schienen die Schritte sehr schnell aufzuhören. Ich bin mir auch nicht sicher, was mich zu meiner nächsten Tag bewogen hat.

Ich ging zurück ins Treppenhaus und blickte nach oben.

Von Monica war nichts mehr zu sehen, aber dann …

Klick!

Ich registrierte das Geräusch schnell genug, um zu der Tür im ersten Stock hinaufzusehen. Diese fiel vor meinen Augen ins Schloss.

Der erste Stock, dachte ich. Die VERSCHLOSSENE Tür. Monica hatte aus welchem Grund auch immer eindeutig Zugang zu dieser Etage.

Mit gerunzelter Stirn kehrte ich ins Atrium zurück. Allerdings war mir nicht ganz klar, warum mir das zu schaffen machte.

Der freundliche Page und der Rezeptionist grüßten mich, als ich vorbeiging. Bei Letzterem angekommen, musste ich einfach nachfragen: »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Sir, ich bin neugierig, aus welchem Grund der erste Stock verschlossen ist.«

Es kann Einbildung von meiner Seite gewesen sein, aber sein übliches Lächeln und seine Gutmütigkeit schienen für einen Augenblick abzureißen. »Aber Sie wohnen doch im vierten Stock, Mr. Morley. Warum sollten Sie …«

»Natürlich«, versuchte ich abweisend zu klingen. »Ich hätte vorausschicken sollen, dass ich versehentlich den ersten Stock für das Erdgeschoss gehalten habe.« Ich möchte dies nicht direkt als Lüge bezeichnen, sondern eher als bescheidene Abweichung von der Wahrheit.

Doch der gutmütige Gesichtsausdruck des Mannes war bereits zurückgekehrt. »Ah, nun ja, diese Etage ist bis auf Weiteres gesperrt. Renovierung. Die Arbeiten sollten nicht länger als einen Monat dauern.«

»Verstehe. Vielen Dank, dass Sie meine ziemlich sinnlose Neugier befriedigt haben. Ich hätte es mir denken können.« Dann wünschte ich ihm einen guten Abend.

Nach Überqueren der Straße erwartete mich im Wraxall’s ein appetitanregender Duft. Das Restaurant sah makellos aus und war mit einfachen Stühlen und Tischen in einem nicht wirklich überraschenden nautischen Gesamtbild eingerichtet. An den Wänden hingen Fotos alter Fischer in Regenjacke, die stolz beachtliche Fische in die Luft hielten, ein Steuerrad, ein Schiffsfenster und mehrere Fischnetze mit Schwimmern verzierten die Ecken. Ich hielt es für möglich, dass dieses Restaurant vor dem Wiederaufbau die düstere Cafeteria gewesen war, in der Robert Olmstead widerstrebend und unter den sonderbaren Blicken heruntergekommener Kerle gegessen hatte.

Messinglaternen, originellerweise mit Kerzen im Innern, verzierten die Holztische. Doch meine Augen verengten sich, als ich bemerkte, dass Mr. Garret nirgends zu sehen war. Nur ein Tisch war besetzt, von einem Paar, das sich leise unterhielt.

Als die Kellnerin mit der Speisekarte erschien, war sie sprachlos.

Ich hätte mich nicht mehr freuen können. Es war Mary …

»Oh, Mary, was für eine angenehme Überraschung.« Ich versuchte, meine Freude in Zaum zu halten.

»Foster!« Sie lächelte mich an und drückte mir eine Hand gegen den Rücken, um mich in die Ecke zu schieben. »Nehmen Sie die Fensternische. Von dort aus kann man wunderbar den Sonnenuntergang beobachten. Ich bin so froh, dass Sie kommen konnten.«

»Ich hatte keine Ahnung, dass Sie hier ebenfalls arbeiten.«

»Oh, ich springe nur manchmal ein. Aber die Bezahlung ist nicht übel, nun, da unser wunderbarer Präsident das Mindestlohngesetz unterschrieben hat.«

Ich hatte davon gelesen: ziemlich schäbige vierzig Cent pro Stunde. Aber ich musste mir ins Gedächtnis rufen, dass Glück – und die harte Arbeit meines Vaters, nicht meine eigene – mir einen wesentlich wohlhabenderen Status verschafft hatten als den der meisten anderen.

Sie füllte mein Wasserglas, während ich mich setzte. »Haben Sie einen schönen, ruhigen Ort gefunden, um Ihr Buch zu lesen?«

»Oh, Schatten über Innsmouth …« Ich hatte beinahe vergessen, dass dies mein ursprüngliches Ziel gewesen war. »Eigentlich war ich so damit beschäftigt, die Stadt zu durchstreifen, dass ich gar nicht dazu gekommen bin. Morgen aber. Nach unserer Verabredung zum Mittagessen, die, wie ich von ganzem Herzen hoffe, noch immer steht.«

Auf einmal seufzte sie und ließ dramatisch den Kopf hängen. »Machen Sie Witze? Ich kann es kaum erwarten. Das wird mein erster freier Nachmittag seit Wochen sein.«

Diese Worte beunruhigten mich. »Mary, es gibt nichts Bewundernswerteres als einen schwer arbeitenden Menschen«, dann beugte ich mich näher an sie heran, »aber ich wünschte, Sie müssten sich nicht so plagen, wo Sie doch ein Kind erwarten.«

»Sie sind so süß, Foster«, erwiderte sie grinsend und drückte meine Hand. »Aber harte Arbeit ist das, worauf Amerika aufgebaut wurde, oder nicht?«

»Ja, das ist wahr«, entgegnete ich leicht schuldbewusst.

»Außerdem sagt Dr. Anstruther, es sei in Ordnung, bis zum achten Monat zu arbeiten, solange ich mich nicht zu sehr anstrenge.«

Ich war sicher, dass dies stimmte, trotzdem war ich besorgt. Als sie sich vorbeugte, um mir die Speisekarte zu reichen, konnte ich ein wenig in ihren Ausschnitt sehen und erinnerte mich zuerst an die zerstörte Fotografie und als Nächstes an den einen Sekundenbruchteil währenden Blick, den ich im Hinterzimmer des Baxter’s auf ihren Busen hatte werfen können. Und hier war es erneut, dieses perfekte Tal aus Fleisch.

Ich biss mir beinahe die Zähne ins Zahnfleisch, als ich den Blick abwandte. Großer Gott! Ich hoffte, sie hatte es nicht bemerkt.

Ich benötigte eine weitere Ablenkung, aber diesmal braucht ich keine zu fabrizieren. Eine Schiffsuhr aus Messing an der Wand sagte mir, dass ich fünf Minuten Verspätung hatte. »Sagen Sie, Mary, ist ein ansehnlich gekleideter Mann Ende zwanzig hier gewesen? Braunes, kurzes Haar? Sein Name ist William Garret.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Foster. Mitte der Woche ist hier immer wenig los – wie man sagt: Freitag ist Fischtag. Später gibt es einen Ansturm, wenn die Fischer von den Docks zurückkommen. Aber ich fürchte, den Mann, den Sie beschrieben haben, habe ich nicht gesehen.«

»Wir wollten uns hier treffen«, erklärte ich, zuckte dann jedoch mit den Achseln. »Macht nichts. Entweder kommt er zu spät oder er hat eine Anstellung gefunden. Er ist Buchhalter.«

»Es könnte sein, dass einer der Großhändler einen Buchhalter braucht«, meinte sie.

»Ja, das wird es wohl sein.« Es war offensichtlich. Vermutlich hatte er seinen Freund Mr. Poynter aufgespürt und Arbeit gefunden. Ich wünschte ihm von Herzen alles Gute.

Wir hielten etwas Small Talk, dann gab ich meine Bestellung auf, die Marys Empfehlung entsprach: Fischsuppe, frittierte Ipswich-Muscheln und mit Krebsfleisch gefüllten Streifenbarsch. Ich genoss derartige Gerichte immer sehr und bedauerte Lovecraft, der ebenfalls aus New England stammte, aufgrund einer Abscheu gegen Meeresfrüchte jedoch nie den Genuss derartiger Köstlichkeiten teilen konnte. Ich bemühte mich, den Blick von Mary abgewendet zu halten, während sie ging, um an den anderen Tischen zu bedienen. Sie ist nur so … wunderschön, dachte ich immer wieder. Schließlich gingen die Gäste vom anderen Tisch, dann verließ ein Mann, der weiter hinten gesessen hatte, ebenfalls das Restaurant und schien den Block hinunterzugehen. Ehe ich mich versah, saß Mary mit zwei Malzcola mir gegenüber.

»Ich liebe Ihre Gesellschaft, Mary, aber wird Ihr Arbeitgeber nicht …«

»Machen Sie sich wegen Mr. Wraxall keine Sorgen«, versicherte sie mir und nippte an ihrem Getränk. »Er geht jeden Abend um sieben in die Bar – das Karswell’s – und spielt wenigstens drei Runden Sechserpasch. Daher kann ich ebenfalls eine Pause machen, während Ihr Essen zubereitet wird.«

»Wie angenehm«, rief ich nahezu.

Selbst gelassen dasitzend glänzten ihre Augen wie Diamanten, und ich konnte jetzt die Fülle ihres dunkelblonden Haares bewundern, nun, da es vom Haarnetz befreit war, das sie im Laden getragen hatte. Als ich mich erwischte, wie ich ihre Lippen musterte, die sich um den Strohhalm schlossen, zuckte ich ob der in dem Anblick liegenden plötzlichen Erotik fast zusammen.

»Und wie war Ihr Umherstreifen?«, erkundigte sie sich.

»Wunderbar, Mary. Ich glaube, ich habe dem meisten in der Stadt einen ordentlichen Besuch abgestattet …«

»Die Docks?«, warf sie ein.

»Oh ja, an den Docks war ich auch.«

»Lassen Sie sich nicht davon abschrecken, wenn die Bootsleute nicht übermäßig freundlich waren«, erklärte sie.

»Tatsächlich hat mich mein Freund Mr. Garret davor auch schon gewarnt, aber eigentlich sind mir diese Arbeiter nicht weiter aufgefallen.«

»Das liegt nur daran, dass sie … wie lautet das Wort?« Sie legte eine Fingerspitze an die Lippen. »Besitzergreifend sind.«

Das schien merkwürdig. »Besitzergreifend? Wie in aller Welt meinen Sie das?«

»Sie mögen keine Fremden, Foster«, fuhr sie fort. »Fremde sollten nicht in unserem Hafen sein, sondern in deren eigenem bleiben. Wir schicken unsere Boote nicht nach Rockport oder Gloucester. Warum sollte es denen gestattet sein, ihre Boote zu uns zu schicken?«

Nun ergab es einen Sinn; das war der Territorialismus, von dem Onderdonk so verbittert gesprochen hatte. Ein »Fremder« aus einer anderen Hafenstadt konnte leicht feststellen, wo die Fischerboote aus Innswich ihre Netze auslegten und wann sie rausfuhren. »Das scheint mir eine angemessene Faustregel«, sagte ich, »und ich freue mich, dass es der Fischindustrie der Stadt so gut geht.« Nach einer Pause fügte ich hinzu: »Ich hoffe nur, dass es Ihnen ebenfalls gut geht, Mary.«

»Was, mir? Mir geht es gut. Dank des Mindestlohns verdiene ich prompt mehr, und seitdem ich fünfundzwanzig wurde, erhalte ich eine monatliche Dividende vom Stadtkollektiv.«

»Vom Stadt…kollektiv?« Ich kicherte halbherzig. »Das klingt ein wenig sozialistisch.«

»Nein, es ist nur ein Gewinnbeteiligungsplan für Einwohner, die arbeiten und zur hiesigen Wirtschaft beitragen«, erklärte sie. »Der Großteil der Einnahmen kommt vom Fischfang. Ich bekomme das Geld jetzt seit drei Jahren, und jedes Jahr wird es ein bisschen mehr.« Sie senkte die Stimme. »Ich schäme mich, das zu sagen, aber wir haben zu Hause nicht einmal richtige Möbel, doch dieses Jahr werde ich dank des Kollektivs welche kaufen können.«

Diese Bemerkung machte mich traurig; von meinem kurzen Besuch bei ihrem Haus erinnerte ich mich an die behelfsmäßigen Gegenstände, die Marys Armut sie zwangen, als Möbel zu benutzen. »Sie sind eine zielstrebige Frau, Mary, und mit all diesen Kindern? Plus Ihrem Bruder und Ihrem Stiefvater, für die sie sorgen müssen? Ihre Widerstandskraft ist wirklich bemerkenswert. Ich muss allerdings zugeben, dass ich heute Ihrem Sohn Walter begegnet bin. Was für ein guter Junge.«

Dieses Eingeständnis schien sie zu bedrücken. »Sie … sind bei meinem Haus gewesen?«

Nun musste ich meine Worte mit Bedacht wählen. »Eigentlich nicht. Ich kam bloß vorbei, als ich von dem Barbecuestand die Straße rauf zurückgekehrt bin.«

Ihre Stimme schwankte. »Und … Sie sind … Walter begegnet?«

»Das bin ich in der Tat. Was für ein tüchtiger junger Mann. Er übte – recht geschickt – seine Künste als Bogenschütze. Ich habe mich allerdings nur einen Moment mit ihm unterhalten.«

»Aber Sie haben nicht meinen … Stiefvater … gesehen?«

»Oh, nein, nein. Ich ging nur an Ihrem Haus vorbei«, wiederholte ich. »Ich mag Walter sehr, aber ich sage Ihnen, ich habe keine Spur von Ihren anderen Kindern gesehen. Sie haben doch insgesamt acht, richtig?«

»Ja, aber sie sind alle jünger. Wahrscheinlich haben sie geschlummert.«

»Zweifellos, an solch einem heißen Tag.« Die Versuchung nagte an mir, ihr einfach einen Scheck über 5000 Dollar auszuschreiben, für ein neues Haus, mit echten Möbeln, um ihr das Leben zu erleichtern.

Aber ich fürchtete, wie das zu diesem Zeitpunkt aufgenommen würde …

»Und ich hoffe, Sie sind nicht furchtbar enttäuscht von mir, Mary, aber die Umstände haben mich gezwungen, mein früheres Versprechen zu brechen«, gestand ich ihr. »Ich habe mich heute früher am Tag mit diesem Mr. Cyrus Zalen unterhalten …«

»Oh, Foster, das haben Sie nicht getan!«, rief sie aus.

Ich hob einen Finger in die Luft. »Es war kaum von Bedeutung, ehrlich. Sehen Sie, ich konnte Ihren Bruder doch nicht einfach des Fotos mit H. P. Lovecraft berauben; das erschien mir falsch. Und wie es das Glück wollte, besitzt Zalen noch immer das Negativ, und wir haben vereinbart, dass ich ihm morgen einen Abzug davon abkaufen werde. Aber Sie hatten mit einer Sache ganz recht«, sagte ich kichernd. »Er ist wirklich einer von der dubiosen Sorte.«

Marys plötzlich niedergeschlagener Gesichtsausdruck ließ mich sofort bereuen, ihr diese Information überlassen zu haben. Aber mir gefiel der Gedanke einfach nicht, sie ihr vorzuenthalten.

»Er ist ein böser Mann, Foster«, sagte sie. »Und er lebt in einer schmutzigen Gegend. Er ist drogensüchtig und ein Betrüger.«

»Das bezweifle ich nicht, nachdem ich ihm begegnet bin.«

»Und er nutzt Leute aus – Frauen, Foster. Arme Frauen.«

»Das kann ich mir vorstellen«, erwiderte ich.

Jetzt schluckte sie schwer. »Ich bin mir sicher, dass er Ihnen … von mir erzählt hat.«

Hier hatte ich keine andere Wahl, als sie anzulügen, um ihre Gefühle nicht zu verletzen. »Warum sagen Sie so etwas? Er kann überhaupt nichts über Sie sagen.«

Sie griff über den Tisch und berührte meine Hand. »Foster, ich muss ehrlich zu Ihnen sein – weil ich Sie so sehr mag …«

Diese plötzliche Äußerung erschütterte mich …

»… aber vor langer Zeit war ich eine der Frauen, die er ausgenutzt hat«, endete sie und blickte mir direkt in die Augen.

Meine Antwort kam ohne Zögern, ebenso mein Lächeln. »Mary, es gibt Zeiten, in denen wir alle einen falschen Weg im Leben einschlagen, und wenn wir aus Verzweiflung etwas Unethisches tun, sind wir nur menschlich. Das sind keine schwerwiegenden Sünden, und Sie müssen daran glauben, dass Gott alles vergibt.«

Ihre Augen waren nur ein Blinzeln davon entfernt, in Tränen auszubrechen. »Tut Er das wirklich?«

»Ja«, versicherte ich ihr und nun war meine Hand es, die die ihre nahm. »Die Folgen einer Mutterschaft sind fürwahr belastend. Die Vergangenheit liegt jetzt hinter Ihnen, und all ihre vergangenen Befürchtungen liegen ebenfalls hinter Ihnen. Dasselbe gilt für alle Menschen, Mary. Dasselbe gilt für mich. Sie tun jetzt das Richtige, und Sie haben eine wunderbare Zukunft, die Sie erwartet.«

Sie schluckte schwer und drückte meine Hand. »Dann werde ich es jetzt einfach aussprechen, weil ich Sie nicht anlügen möchte.« Dann krächzte sie: »Bevor mich das Stadtkollektiv aufgenommen hat, hat es in der Vergangenheit Zeiten gegeben, in denen ich Zuflucht zu Akten der Prostitution nehmen musste.«

»Aber das ist doch unwichtig«, erwiderte ich, unbeeindruckt – denn dies wusste ich bereits. »Sie sind jetzt eine moralische, ehrliche und sehr hart arbeitende Frau. Das ist alles, was zählt, Mary.«

Sie sah mich daraufhin so eigentümlich an. »Ich erkenne es an Ihren Augen – es stört Sie wirklich nicht, nicht wahr? Ich meine, was ich in der Vergangenheit gewesen bin.«

»Es stört mich nicht im Geringsten«, sagte ich aus ganzem Herzen. »Mich interessiert nur, was Sie jetzt sind: eine wundervolle, wunderschöne Person.«

Sie schluchzte eine wenige Male, als eine Glocke erklang und jemand rief: »Bestellung fertig!«

Sie wischte sich die Augen, lächelnd. »Foster, das ist jetzt erste Mal seit Jahren, dass ich mich meinetwegen wohlfühle – dank Ihnen.«

»Sie haben allen Grund dazu, sich Ihretwegen wohlzufühlen, und ich hoffe, dass es immer so bleiben wird.«

»Ich sollte jetzt lieber Ihr Essen holen, bevor ich einen ausgewachsenen Weinkrampf bekomme.« Und dann war sie auf und eilte nach hinten.

Ich saß in platonischer Verzückung da. Diese wunderbare Frau schien mich aufrichtig gern zu haben, etwas Seltenes in meinem abgeschiedenen Leben. Was mich am glücklichsten machte, war das Wissen, dass meine Worte und mein Ernst ihr geholfen hatten, sich selbst in einem besseren Licht zu sehen.

Als mein Essen kam, war es ein Koch mit Schürze anstelle von Mary, der es brachte. »Entschuldigen Sie, Sir, aber Ihre Kellnerin ist kurz indisponiert. Irgendetwas hat sie wohl zum Weinen gebracht.«

»Gewiss eine Allergie«, sagte ich. »Bisher hat sie sich fabelhaft um mich gekümmert.«

»Guten Appetit, Sir.«

»Vielen Dank, es wird mir gewiss schmecken.«

Während ich das köstliche Mahl genoss, bemerkte ich lackierte Plaketten, die an den Wänden befestigt waren – es handelte sich um Namensschilder alter Schiffe. HETTY war auf einem zu lesen, und auf anderen: SUMATRY QUEEN und COLUMBY. Ich war mir nicht sicher, warum – und vielleicht lag es auch nur an dem himmlischen Essen, aber … klingelte bei diesen Namen nicht etwas?

Die Fischsuppe war selbst nach Providence-Maßstab hervorragend, und der Streifenbarsch dürfte der beste gewesen sein, den ich je probiert hatte. Zum Ende des Mahls fühlte ich mich wie der sündigste Vielfraß, speziell in Zeiten, wo so viele kaum zu essen hatten.

Mary kehrte zurück – ein wenig erfrischt und wieder gefasst –, und nachdem sie den Tisch abgeräumt hatte, setzte sie sich erneut mir gegenüber. Ich hätte das Essen nicht noch mehr loben können. Aber ihr Blick sagte mir, dass ihr noch immer etwas Sorgen bereitete.

»Was haben Sie vorhin gesagt, Foster«, setzte sie an, »über Cyrus Zalen? Sie meinten, Sie würden sich noch einmal mit ihm treffen?«

»Ja, morgen um vier.« Ich wusste, dass es ihr nicht behagte, mich in der Nähe dieses Schuftes zu wissen, daher wollte ich sie beruhigen. »Dabei geht es nur darum, einen Abzug dieser Lovecraft-Fotografie zu kaufen, damit Ihr Bruder die seine behalten kann. Zalen hat etwas Zeit gebraucht, um das Negativ zu entwickeln. Aber ich garantiere Ihnen, dass es das letzte Mal sein wird, dass sich meine Wege mit denen des Mannes kreuzen.«

»Das ist gut, Foster. Er hat eine böse Art an sich – er ist ein Verschwörer.«

Aber auch der Vater eines Ihrer Kinder, schoss mir der finsterere Gedanke durch den Kopf. Doch Ihnen wird er nichts mehr antun, Mary. Dafür werde ich sorgen. »Ein Verschwörer und noch einiges mehr«, sagte ich mit unbeschwerterer Stimme. »Ich habe den Mann heute tatsächlich zweimal dabei erwischt, wie er mir nachgeschlichen ist. Einmal vor unserem Treffen und einmal danach.«

»Er ist Ihnen nachgeschlichen?«

»Ja, er schlich im Wald herum und hat mich verfolgt. Ich bin sicher, er hatte einen Raubüberfall im Sinn. Ich war auf dem Weg zum Stand der Onderdonks, um mir ein Sandwich zu holen, und auf dem Rückweg begann Zalen, mir weniger verstohlen zu folgen. Ich bin ihm in den Wald hinein nachgerannt, um ihm zu zeigen, dass ich vor seinesgleichen keine Angst habe.«

»Foster, das hätten Sie nicht tun dürfen!«

»Dieser Mann weiß, dass ich über einige Mittel verfüge, daher denke ich, er hat sich ausgerechnet, mich zu berauben würde mehr Profit abwerfen als mein Kauf des Lovecraft-Fotos. Doch ich habe ihm klargemacht, dass ich sehr wohl fähig bin, mich zu verteidigen. Er wird es nicht noch einmal versuchen, dessen bin ich mir sicher. Aber dieser unangenehme Zwischenfall hat mich in die Nähe der Stelle geführt, wo Klein Walter seine Schießkünste erprobt hat – so sind wir uns begegnet. Zalen war da längst verschwunden.« Natürlich erwähnte ich nicht, dass es Zalen gewesen war, der mir gesagt hatte, wo ich Marys heruntergekommenes Haus finden konnte.

»Dieser Mann ist eine Plage«, meinte sie und stöhnte. »Ich sehe ihn nur selten, aber dann erinnert es mich immer … an das …«

Ich drückte ihre Hand, um sie zu beruhigen. »Sie müssen alle negativen Erinnerungen vergessen, die durch Zalen ausgelöst werden. Er hat nichts zu bedeuten. Erfreuen Sie sich stattdessen an dem, was die Zukunft bringen wird. Ich versichere Ihnen, dass sie rosig aussieht.«

Sie sah mich traurig an. »Ach, wenn das doch nur wahr wäre, Foster.«

Darauf reagierte ich nur mit einem Lächeln, da ich beschlossen hatte, nichts weiter dazu zu sagen. Das war auch nicht nötig, weil ich in diesem Moment wusste, was ich tun würde …

Nach einem bisschen weiteren Small Talk stand ich auf und wollte mich entschuldigen. »Ich bin mir sicher, dass Mr. Garret heute nicht mehr erscheinen wird, und ich bin nach dem langen Tag etwas müde. Aber nehmen Sie bitte zur Kenntnis, Mary, dass diese kurze Zeit mit Ihnen zu verbringen das Highlight meines Tages gewesen ist. Sie sind ein wunderbarer Mensch.«

Sie wurde rot und blinzelte eine Träne weg. Dann sah sie sich um, ob uns auch niemand beobachtete, und küsste mich kurz auf die Lippen. Ich erbebte vor Wonne.

Ihre Lippen kamen dicht an mein Ohr. »Bitte kommen Sie morgen zu mir in den Laden. Ich habe um zwölf Uhr Feierabend.«

»Ich werde dort sein. Und dann gehen wir irgendwo schön Mittagessen.«

Dann umarmte sie mich fast schon verzweifelt. »Bitte vergessen Sie es nicht.«

Ich kicherte. »Mary, keine Macht der Welt könnte mich das vergessen lassen.«

Ein weiterer schneller Kuss, dann wandte sie sich ab und nahm den Fünfzigdollarschein an sich, den ich auf dem Tisch liegen gelassen hatte. »Ich bin gleich mit Ihrem Wechselgeld wieder da.« Als sie nach hinten eilte, verließ ich leise das Restaurant.

Der Himmel verdunkelte sich auf spektakuläre Weise, als ich auf die Hauptstraße hinaustrat. Die versinkende Sonne tauchte die Wolken über der Küste in unglaubliche Farben. Die einfachen Pflastersteine auf der Straße schienen zu glänzen; gut gekleidete Passanten schlenderten fröhlich an mir vorbei, die perfekten menschlichen Zutaten zu einem Abend voll friedlichen Zaubers. In diesem Moment ging mir auf, dass ich mich nie zufriedener gefühlt hatte.

Eine schrille Sirene zerriss die abendliche Stille. Ich bog um die Ecke und sah einen langen rot-weißen Krankenwagen auf dem Gehweg, um den mehrere uniformierte Bedienstete herumwuselten. Einige Anwohner standen daneben und schauten besorgt zu.

Was ist denn hier los?, dachte ich, und meine gute Laune war augenblicklich verschwunden, als ich bemerkte, dass sich die Aktivitäten auf den Discountladen konzentrierten, den ich früher am Tage aufgesucht hatte. In diesem Moment wurde eine Trage aus dem Laden gebracht, und auf dieser lag ein sehr ruhiger und sehr bleichgesichtiger Mr. Nowry. Die schwangere Frau des Mannes stand in der Tür und schluchzte in aller Öffentlichkeit.

Oh nein …

»Der arme Mr. Nowry«, verkündete eine leise Stimme neben mir. »Er war so ein netter Mann.«

Ich drehte mich um und sah eine attraktive rothaarige Frau neben mir stehen. »Ich … Ich hoffe, er ist nicht verschieden. Er war ein so freundlicher Mann, wie man ihn zu treffen sich nur wünschen kann; vor ein paar Stunden noch habe ich mich mit ihm unterhalten.«

»Vermutlich ein weiterer Herzanfall«, äußerte sie vorsichtig.

»Ich gehe mal und schaue«, sagte ich und machte mich auf den Weg zu dem nachlassenden Tumult. »Sir? Entschuldigen Sie bitte die Störung«, fragte ich einen der Krankenpfleger, »aber könnten Sie mir verraten, wie es Mr. Nowry geht?«

Der jüngere Mann sah müde und ausgelaugt aus. »Ich fürchte, er ist vor wenigen Minuten gestorben. Wir konnten nichts mehr für ihn tun – seine Pumpe hat letztlich versagt.«

Ich senkte den Kopf. »Ich habe ihn kaum gekannt, aber nach dem, was ich sehen konnte, war er ein guter Mann.«

»Oh, sicher, ein Olmsteader durch und durch.« Er wischte sich die Stirn. »Aber heute ist schon ein komischer Tag. Das sage ich Ihnen.«

»In welcher Beziehung?«

»In einer Kleinstadt wie dieser haben wir nicht mehr als zwei oder drei Todesfälle pro Jahr, aber heute? Das war jetzt schon der zweite.«

»Der zweite? Wie tragisch.«

Die Trage mit dem Verblichenen wurde jetzt hinten in den Wagen geladen. Der Mann, mit dem ich mich unterhielt, deutete ins Innere. »Ein junges Mädchen ebenfalls, noch keine halbe Stunde her. Eins von denen, die sich in schlechter Gesellschaft befanden, aber dennoch … Sie ist bei der Niederkunft gestorben.«

Ich schaute, wohin er deutete, und bemerkte eine zweite Trage.

Augenblicklich verengte sich mein Hals.

Ein dünnes Mädchen in den Zwanzigern mit strähnigem Haar lag dort tot neben Mr. Nowry, und ein Laken bedeckte es bis zum Kinn. Trotz der Leichenblässe erkannte ich ihr Gesicht.

Es war Candace – eine von Zalens verschrienen Fotomodellen und Prostituierten. Aber der dicke, angeschwollene Bauch war jetzt fort, nur angeschwollene Brüste waren unter dem Laken noch erkennbar.

»Bitte sagen Sie mir, dass ihr Baby überlebt hat«, beschwor ich ihn.

»Dem Baby geht es gut«, bestätigte er.

»Gelobt sei Gott …«

Der Mann sah mich äußerst merkwürdig an, dann schloss er die Hecktür des Krankenwagens und ging seines Weges.

Ich kehrte zu der Frau zurück, mit der ich gesprochen hatte. »Leider ist Mr. Nowry verstorben. Wir sollten ihn in unsere Gebete einschließen.« Ich warf der armen Witwe, die immer noch weinend in der Ladentür stand, einen traurigen Blick zu. »Seine Frau tut mir sehr leid.«

»Es dürfte bei ihr jetzt jeden Tag so weit sein«, berichtete mir die Frau mit hoffnungsvoller Stimme. »Sie müssen sich keine Sorgen machen; die Nowrys leben schon seit Langem in der Stadt. Das Kollektiv wird sich um seine Witwe kümmern.«

Ein weiterer Hinweis auf dieses Kollektiv. Mein anfänglicher Eindruck war aufgrund der unvermeidlichen Assoziationen nicht gerade positiv gewesen, aber nun schien es, dass ich zu hastig geurteilt hatte. Die Initiative hörte sich vielmehr nach einem tauglichen System der sozialen und finanziellen Verwaltung und Profitverteilung an. Es war ermutigend zu wissen, dass Mrs. Nowry nicht auf sich allein gestellt sein würde. Und was Candace’ Neugeborenes betraf … nun, ich konnte bloß annehmen, dass sich Familienangehörige darum kümmern würden oder es zu einer Pflegefamilie kam.

»Sie sind neu in der Stadt«, stellte die Rothaarige deutlich lächelnd fest. Dann seufzte sie. »Nur auf der Durchreise, fürchte ich.«

»Ja, das stimmt, aber warum ist das so schlimm?«

»Die gut aussehenden Männer bleiben nie lange.«

Diese schmeichelhafte Äußerung traf mich unvorbereitet. »Das ist, äh, sehr nett von Ihnen, Miss, aber ich muss mich jetzt leider verabschieden. Guten Abend.« Ich ging schnell fort. Frauen, die mich so unerwartet mit Komplimenten bedachten, machten mich jedes Mal sprachlos. Zumindest hinterließ es, wenn auch selbstsüchtig gedacht, ein gutes Gefühl. Als gut aussehend hatte ich mich noch nie betrachtet. Ich lächelte dann, als ich mich erinnerte, dass Mary sich ähnlich geäußert hatte.

Die Schicht am Empfang hatte gewechselt, als ich zurück im Hilman House war; eine ältere Frau mit herabhängenden Schultern hütete die Rezeption.

»Ma’am, ich würde einem Ihrer Gäste, einem Mr. William Garret, gern eine Nachricht hinterlassen«, sagte ich zu ihr. »Wären Sie so freundlich, ihm diese zukommen zu lassen?«

Ein Ausdruck der Verwirrung trat kurz in ihre Augen. Sie schaute ins Gästebuch. »Ach herrje, Mr. Garret hat sich vor einigen Stunden ausgetragen, zusammen mit einem Bekannten.«

»War das etwa Mr. Poynter?«

»Ja, Sir, das ist korrekt. Sie haben den Bus genommen. Sie wollten zurück nach Boston, glaube ich.«

»Verstehe. Vielen Dank, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben.«

Das erklärte einiges, auch wenn ich es bedauerte, Garret nicht mehr wiederzusehen, sei es auch nur, um ihm Glück für die Zukunft zu wünschen. Zumindest hatte er seinen Freund Poynter wiedergefunden. Zu schade, dass sie hier keine Anstellung hatten finden können.

Auf meiner Etage traf ich auf dem Gang ein Zimmermädchen, das einen Wagen vor sich herschob. Sie lächelte und begrüßte mich. Es dauerte einen Augenblick, bis ich sie erkannte.

Es war die junge Frau, mit der ich schon bei meiner Ankunft gesprochen hatte, die Schwangere, jetzt allerdings …

»Oh, meine Liebe!«, rief ich aus. »Wie ich sehe, haben Sie Ihr Kind bekommen …«

»Ja, Sir«, erwiderte sie recht ungerührt. »Einen Jungen.«

»Da sind wohl Glückwunsche angebracht, aber – wirklich – Sie sollten sich ausruhen, nicht arbeiten!«

Sie starrte mich mit geneigtem Kopf nachdenklich an. »Ich räume nur ein wenig auf, Sir, dann kann ich nach Hause.«

»Aber es ist inakzeptabel, dass Ihr Arbeitgeber darauf besteht, dass Sie so kurz nach der Geburt schon wieder arbeiten …«

»Ehrlich, Sir, ich weiß Ihre Sorge zu schätzen, aber mir geht es gut. Ich werde mich sehr bald hinlegen.«

»Das hoffe ich doch.« Ich war erschüttert. Und das trotz all der neuen Arbeitsgesetze, die vor einer derartigen Ausbeutung schützen sollten. »Wo ist das Baby?«

Nach einer seltsamen Pause antwortete sie: »Zu Hause, Sir. Bei meiner Mutter …« Sie schenkte mir ein sanftes Lächeln, das mir gezwungen vorkam, und schob ihren Wagen weiter.

Das ist ja unfassbar, dachte ich. Ein weiterer Grund für Mary, hier herauszukommen. Stadtkollektiv hin oder her, Arbeitskräfte – und ganz speziell schwangere Frauen – sollten nicht als simple Betriebsmittel betrachtet werden. Gewissen medizinischen Umständen musste immer Spielraum gegeben werden.

Ich hatte bereits beschlossen, Mary und ihre ganze Familie mit zurück nach Providence zu nehmen. Sollte sich das als Fehler herausstellen, dann war das eben so. Zumindest hätte ich es versucht. Mir war nur nicht klar, wie und wann ich meinen Wunsch vermitteln sollte. Es war von allergrößter Wichtigkeit, dass sie wusste, dass nichts als Gegenleistung von ihr erwartet wurde, wovon sie schwer zu überzeugen sein dürfte, angesichts der dunkleren Aspekte ihrer Vergangenheit.

Ich werde ihr ihre Last nehmen, beschloss ich, und ihr das Leben ermöglichen, das sie verdient. Und vielleicht, nur vielleicht …

Eines Tages hätte ich vielleicht das Privileg, sie zu heiraten.

So viel zu meinen »platonischen« Absichten, doch es war unerlässlich, dass ich ehrlich mir selbst gegenüber war. Natürlich war mein Idealismus groß, und ich wusste, dass sich die Dinge nicht immer so entwickelten, wie wir es uns erhofften.