Kapitel Fünf

I

Juli 1880

»Ist bald August, Mr. Conner«, sagte Norris nach seinem ersten Schluck von dem Whiskey, der wie Terpentin schmeckte. Er zeigte auf den Kalender, der an einem Nagel an der Holzwand hing. »Dann ist September und dann ... Der Winter kommt schnell in diesen Breiten.«

Conner knallte seinen Krug auf den Tisch. Etwas von dem billigen Bier, das der Saloonbesitzer aus jedem Getreide, das er kriegen konnte, selber braute, spritzte heraus. »Glauben Sie, ich weiß das nicht?«, knurrte er zur Antwort. »Glauben Sie, mir gefällt’s, dass die Hälfte meiner Leute in gottverdammten Sibley-Zelten leben, die noch vom Krieg übrig sind?«

»Ich will ja nur sagen, dass die Männer ’n bisschen unruhig werden. Sie, ich, die anderen Vorarbeiter und die Holzfäller, die schon länger dabei sind – klar, wir haben Häuser zum Wohnen, mit Holzöfen. Aber der Rest der Männer ... Die wollen nicht noch so ’n Winter wie den letzten erleben!«

Der beengte Saloon hatte keinen Namen; tatsächlich hatte die ganze nördlich von Lowensport gelegene Stadt keinen Namen, wenn man überhaupt von einer Stadt reden konnte. Es war mehr eine verwahrloste Ansammlung von Hütten mit Böden aus festgestampfter Erde und Brettern, die mit Spalteisen statt mit Sägen bearbeitet worden waren. Einige Bauten waren so baufällig, dass man ihre eingestürzten Dächer behelfsmäßig durch Segeltuchplanen ersetzt hatte. Und gleich hinter der namenlosen Stadt lag das Sibley-Lager, endlose Reihen von Zelten, in denen die raubeinigen Arbeiter hausten, die man als den Conner-Clan kannte.

Mit sichtlichem Unbehagen fuhr Norris, Conners engster Mitarbeiter, fort. »Und es gibt Gerüchte, Mr. Conner.«

Conners narbiges Gesicht fuhr hoch. »Ja?«

»Ja, Sir. Dass Lowen Ihnen und allen unseren Männern Jobs angeboten hat – Bäume fällen fürs Sägewerk ... für fast 30 Dollar den Monat.«

Conners engstehende Augen funkelten unter dem schmutzigen Lederhut. »Ich arbeite nicht für Juden, und das tut auch keiner von meinen Männern! Scheiße, die Dreckskerle kommen nicht mal aus Amerika! Wollen Sie etwa für einen Bastard arbeiten, der uns unser Land geklaut hat? Hä?«

»Nein, Mr. Conner, aber die Männer – sie wollen diesen Winter nicht wieder frieren. Wir haben sechs, sieben Frauen letzten Winter verloren und ’n paar Männer. Mit Lowens Sägewerk könnten wir uns ’ne richtige Stadt bauen und richtiges Geld haben. Wir verdienen jedes Jahr weniger mit der Holzkohle, und es heißt, dass die schon bald gar nicht mehr gebraucht wird, wegen der Kohle.«

»Lowens Sägewerk«, schnaubte Conner angewidert. »Sie begreifen’s nicht, oder? Das ist unser Sägewerk. Und diese ganzen Bäume sind unsere Bäume und wir sollten den Profit machen, nicht ’n Haufen Hakennasen, die von Gott weiß wo übers Meer gekommen sind.« Er signalisierte dem Barkeeper mit einer Grimasse, dass er noch ein Bier wollte. »Warten Sie’s ab – noch bevor’s Winter wird, werden Lowen und seine hinterlistigen Juden verschwunden sein und wir in deren Stadt wohnen und dieses Sägewerk betreiben.«

»Wir warten schon so lange, Mr. Conner. Und wir bringen die nicht schnell genug um ...«

»Wir werden sie alle umbringen. Ich hab Ihnen doch schon gesagt – ich hab einen Plan!«

Norris kippte seinen Drink herunter. »Ist nur mein Job, Ihnen Bescheid zu sagen, Mr. Conner, aber die Männer ... Die fangen an zu glauben, dass es keinen Plan gibt. Und in der Zwischenzeit sind’s unsere Männer, die verschwinden. Polten, Corton, Yerby, Fitch, Nickerson und ...«

Conner zeigte mit einem schmutzigen Finger auf ihn. »Es ist Ihr Job, mir Bescheid zu sagen? Nein, es ist Ihr gottverdammter Job, den Männern Bescheid zu sagen. Ich habe einen Plan und er wird funktionieren.« Er beugte sich vor und fuhr leiser fort: »Ich hab so was schon im Krieg gemacht. Ich war Leutnant.«

»Ich dachte, Sie wären desertiert ...«

»Ja, davor, meine ich. War hauptsächlich in South Carolina und Georgia. Wir haben über Nacht ganze Städte ausgelöscht, haben jeden umgelegt. Dann haben wir sie alle verbuddelt und sind weitergezogen. Und wissen Sie was? Niemand hat auch nur ’ne einzige Frage gestellt, weil keiner mehr da war, der davon erzählen konnte.«

»Mr. Conner, dafür wir haben nicht genug Waffen, und das wissen Sie auch ...«

Conner packte Norris am Kragen und zog ihn zu sich heran. »Ich hab’s für mich behalten, weil’s fürs Erste ’n Geheimnis bleiben sollte, verdammt.« Er schob Norris zurück auf seinen Stuhl.

Norris starrte ihn an. »Was sollte ’n Geheimnis bleiben, Sir?«

Als der Barkeeper ins Hinterzimmer verschwand, knallte Conner einen Revolver auf den Tisch. »Sehen Sie den?«

»Yeah, sicher.«

Der große, klobige Perkussionsrevolver lag glänzend auf dem Tisch. »Das ist ’n Beals-Remington 36er. Die werden seit Ewigkeiten nicht mehr benutzt, funktionieren aber immer noch tadellos. Da gibt’s ’n Waffenladen in Baltimore, der die Dinger verkauft. Die sind an ’n Posten davon gekommen, brandneu, verpackt und geölt.«

So etwas wie Hoffnung flackerte in Norris’ Augen auf. »Das ist prima, Sir, aber wir würden 20 oder 30 von denen brauchen, um das zu machen, wie Sie gesagt haben.«

»Ich hab 50 geordert«, flüsterte Conner.

Norris fiel die Kinnlade herunter.

»Und Pulver und Kugeln. Müssten am letzten Tag des Monats ankommen. Aber behalten Sie das für sich. Ich will nicht, dass jemand die Lieferung klaut, verstanden?«

Norris nickte. Er war sprachlos.

Conner trank den Rest seines bitteren Bieres aus, dann stand er auf. »Sorgen Sie nur dafür, dass die Männer noch ’n paar Tage ruhig bleiben.« Er lächelte mit verfärbten Zähnen. »Schon bald, Norris ... hocken wir alle im Trockenen.« Und dann ging Conner aus der Bar hinaus in die schwüle Nacht.

»Bonnie!« Conners Stimme überschlug sich, als er seine Holzhütte betrat. Wo steckte sie nur? Verdammtes Weib, dachte er. Eine Frau hat an der Tür zu warten, wenn ihr Mann von der Arbeit nach Hause kommt. Normalerweise tat sie das auch und bereitete, wenn er kam, das Abendessen im Mittelzimmer zu, in dem sich die Küche, der Holzofen und das Bett befanden. Conner roch gebratenes Fleisch, aber es gab keine Spur von der dazugehörigen Frau.

Das Erste, was ein Mann sehen sollte, wenn er sein Haus betritt, ist sein verdammtes Weib ... Und es stand nicht nur kein Abendessen auf dem Tisch, der Tisch war noch nicht mal gedeckt. Conner schäumte.

Es war mindestens einen Monat her, seit er sie das letzte Mal geschlagen hatte. Ich bin zu nachsichtig, das ist es, schimpfte er in Gedanken. Muss wohl wieder anfangen, sie jede Woche zu verprügeln. Ist der einzige Weg, die Weiber bei der Stange zu halten. Conner hörte etwas aus dem Waschraum im hinteren Teil des Hauses. Das Miststück ist bestimmt hinten und klaut was von meinem Maisschnaps. Und dann erreichte sein Ärger den Siedepunkt, als sein Blick auf den Holzofen fiel. Dort in der Bratpfanne lagen zwei ehemals fette Hirschlenden, die jetzt verschrumpelt und verbrannt waren.

»Verdammte Scheiße!«, dröhnte seine Stimme durch das kleine Haus. »Du hast das gute Fleisch ruiniert! Bonnie! Komm her, verdammt noch mal, und zwar SOFORT!«

Keine Stimme antwortete, keine Schritte näherten sich.

Conner nahm seinen Gürtel ab, schlang ihn um seine Hand und stapfte in den Flur.

Der Flur war dunkel, aber im Waschraum konnte er Laternenlicht flackern sehen. Conner hätte es nie offen zugegeben, aber der Gedanke, seine Frau zu schlagen, erregte ihn. Er trampelte den Flur entlang, mit den Stiefeln Staub aufwirbelnd, und platzte in den Waschraum ...

»Bon...« Der Schrei blieb ihm im Hals stecken und er erstarrte, als er die Szene vor sich erblickte. Das Laternenlicht warf gezackte Schatten.

Auf dem Boden lagen zwei nackte Arme, die offensichtlich aus den Schultergelenken gerissen worden waren; Conner musste nicht lange überlegen, wessen Arme es waren.

Er blinzelte in das schwankende Zwielicht. Auf dem Boden bewegte sich etwas schnell; es sah aus wie eine Gestalt, die auf einer anderen lag. Und als Conners Gehirn ihm endlich erlaubte zu begreifen, was er da genau sah, winselte er wie ein Hund, drehte sich um und floh aus dem Haus.

Was er gesehen hatte, war dies: Seine Frau krümmte sich nackt im Dreck. Wo ihre Arme gewesen waren, hatte sie nur noch leere blutige Löcher. Sie wurde brutal vergewaltigt, aber ihr Vergewaltiger war alles andere als ein Mensch.

Sein Entsetzen trieb ihn über die Straße zum nächsten Haus, wo Jake Howeth mit seiner Frau und seinem 16-jährigen Sohn lebte.

»Jake!«, brüllte er. »Da ist was – ein Ding –, das gerade Bonnie umgebracht hat!« Aber bevor er Howeths Haustür aufreißen konnte, fiel ihm durch das Fenster das Licht der Laterne ins Auge. Conners Hände zitterten, als er hineinschaute ...

Jakes Sohn lag in einer breiten Blutlache auf dem Boden, beide Beine abgerissen; und Howeths Frau lag kopflos, Arme und Beine ausgestreckt, in der anderen Ecke. Eine dunkle, ekelhafte Flüssigkeit war aus dem Geschlechtsteil der Frau herausgelaufen.

Mein Gott, krächzten Conners Gedanken. Noch eins ...

Er konnte das Ding in einem besseren Licht als das in seinem eigenen Haus erkennen: eine entsetzliche Gestalt mit kaum mehr Leibesfülle als ein Skelett, aber von einer ekelerregenden bräunlich-grauen Farbe. Tatsächlich schien es genau das zu sein: ein Skelett, bedeckt mit getrocknetem Schlamm. Aber dieses Skelett war flink und behände, es stemmte einen schmalen Fuß gegen Jake Howeths Brust, während seine Knochenhand Howeths Handgelenk umfasste und zog. Scheinbar mühelos riss das Ding Howeths Arm aus der Schulter. Dann, mit einem feuchten, grässlich schmatzenden Geräusch, riss es Howeths anderen Arm ab.

Conner konnte diese grausige Unmöglichkeit nur anstarren. Beinahe lässig hob die abscheuliche Gestalt nun Howeths armlosen Körper vom Boden hoch. Howeth hatte noch seine Beine, und diese Beine zitterten, als das Blut aus seinem Körper pumpte, aber der Mann war noch am Leben, wenn auch nur gerade eben. Ein gedämpfter Schrei erklang, als das Ding Howeths Kopf in den Holzofen schob und dort ein paar Sekunden festhielt, um ihn brutzeln zu lassen.

Conner war sich nicht sicher, ob er das Bewusstsein verlieren oder sich nur dort vor dem Fenster übergeben würde. Kurz kam ihm der Gedanke, seinen Revolver zu ziehen und ins Haus zu stürmen, um das Monster anzugreifen – aber dieser Gedanke verflog ebenso schnell wieder. Stattdessen blieb Conner nur halb gelähmt am Fenster stehen.

Und da drehte sich das Wesen plötzlich um und sah ihn direkt an. Statt Augen hatte es schwarze Löcher, das Fleisch des Gesichts war durch Lehm ersetzt worden. Wirres Haar stand von seinem Kopf ab, als wäre die Kopfhaut das Einzige, was man am Skelett belassen hatte. Conner konnte Buchstaben auf der Brust der Kreatur erkennen. Sie bildeten ein Wort: S’MOL.

Und dann, mit Lippen wie ein Messerschnitt in rohem Fleisch, lächelte das Ding.

Conner drehte sich um, schrie und rannte, rannte, rannte.

II

Gegenwart

Am Abend zuvor war es Seth und Judy gelungen, das Pergament der Mesusa aus dem Holzkästchen herauszuholen. Seth hatte erwartet, dass es in Hebräisch geschrieben war – was Judy lesen konnte –, aber:

»Ich hätte es wissen müssen«, sagte Judy, nachdem sie es untersucht hatte. »Es ist Aramäisch, das beherrsche ich nicht.«

Seth legte eine Hand ans Ohr. »Höre ich da, wie sich die Erde auftut? Endlich! Es gibt etwas, was meine superschlaue Freundin nicht weiß!«

Judy lächelte höhnisch. »Oh, und wie viele Sprachen kannst du?«

Seth überlegte. »Hm, mal sehen ... FORTRAN, COBOL, SPL-1 Cold Fusion.«

»Computersprachen zählen nicht«, meckerte sie, aber dann lachte sie. »Seth, in Wirklichkeit bist du viel klüger als ich.«

»Tatsächlich?«, fragte er erstaunt.

»Ich weiß eine Menge Dinge«, fuhr sie fort, »denn ich habe am College gelehrt, war viel mit Akademikern zusammen und kann mir nun einmal vieles von dem, was ich lese oder höre, gut merken. Du hingegen bist ein ästhetischer Architekt.«

»Ästhetischer Architekt, hm?« Seth überdachte den Ausdruck. »Was auch immer es bedeutet – es klingt gut.«

»Du baust keine Häuser oder Büros«, erklärte sie, »du baust Fantasiewelten mit der Kraft deines Geistes. Ich dagegen habe nur ein fantastisches Gedächtnis.«

Da zog Seth sie an sich und schob ihr den Morgenmantel von den Schultern. »Du hast mehr als nur ein fantastisches Gedächtnis«, sagte er, gierig nach ihrer Berührung. »Du hast auch einen fantastischen Körper.«

Judy schnaufte, als sie plötzlich seine Hände auf ihrer Haut spürte, und ab da dachten sie nicht mehr an das Pergament, das sie im Keller gefunden hatten. Sie liebten sich bis zur Erschöpfung und schliefen dann ein.

Judy stand meistens früher auf als Seth. Am nächsten Morgen beugte sie sich ungeduldig über das Bett und rüttelte ihn wach.

»Was, was ...«, knurrte er. »Es ist noch so früh ...«

»Es ist fast elf! Du musst aufstehen!«

Er stemmte sich hoch und öffnete die Augen; der Anblick elektrisierte ihn. »Na, das ist sogar noch besser, als von einem grandiosen Sonnenaufgang geweckt zu werden.«

»Was?«

»Du. Nackt vor mir.«

Sie lachte und küsste ihn, dann hielt sie ihm etwas vors Gesicht. »Mir ist was eingefallen. Du musst das einscannen.«

Seth blinzelte sich den Schlaf aus den Augen. »Was ist das?«

»Das Mesusa-Pergament.«

»Aber ich dachte, du kannst kein Aramäisch.«

»Kann ich auch nicht, aber wenn du es einscannst, kann ich rausfinden, was da steht.«

Seth ächzte, dann hievte er seine Beine aus dem Bett. »Oh, eins von diesen Übersetzungsprogrammen. Ich hab gehört, die sind nicht besonders gut.«

»Nein, nein, ich hab mal ...«

»Lass mich raten!«, unterbrach er sie. »Du hast mal ein Date mit einem Typen gehabt, der Aramäisch kann!«

»Sei nicht albern. Ich hab mal eine wissenschaftliche Mitarbeiterin gehabt – eine Frau –, die Aramäisch kann. Sie heißt Wanda. Ich kann ihr den gescannten Text zumailen und sie kann es uns übersetzen.«

»Oh. Na gut. Aber lass mich erst mal zu mir kommen.« Er rieb sich die Augen, dann blickte er auf und sah Judys Unterleib nur wenige Zentimeter vor seinem Gesicht. Ganz automatisch legte er die Hände um ihre Hüften und zog sie an sich. Er küsste ihren Bauch. Dann strichen seine Finger über ihr Schamhaar und er begann, mit der Zunge von ihrem Nabel an abwärts zu fahren. Sie stöhnte, kam näher, aber dann wich sie zurück.

»Spar dir das für später auf. Jetzt haben wir keine Zeit«, flüsterte sie.

»Warum nicht?«

Sie wand sich aus seinem Griff und warf ihm das Pergament zu. »Weil du das hier einscannen musst, und dann müssen wir los

»Los? Wohin?«, murrte er.

»Nach Lowensport. Während du den halben Tag verschlafen hast, hat der Rabbi angerufen.«

»Asher?«

»Ja. Er hat uns mittags zum Kaffee eingeladen und ich habe Ja gesagt. Also mach schon!«

»Das ist doch mal eine idyllische Kleinstadt«, staunte Judy auf dem Beifahrersitz, als sie die sauberen, rustikalen Reihenhäuser betrachtete, an denen sie vorbeifuhren. Die Reifen des Tahoe knirschten über die mutmaßliche Hauptstraße, auch so eine mit zerstoßenen Austernschalen aufgeschüttete Straße. Die Fußwege waren dunkler. »Kopfsteinpflaster«, sagte Judy. »Wahrscheinlich ursprünglich Ballast.« Es schien hier nur Reihenhäuser zu geben, alle waren in einem dunklen Kieferngrün gestrichen, mit weißen Rändern. Was Seth und Judy sofort auffiel, war die architektonische Ähnlichkeit dieser Häuser mit Lowen House; sie hatten alle die gleichen Mansardendächer, die gleichen Spitzbogenfenster und -türen. »Ich wette, das sind alles Originalbauten, nur frisch gestrichen.«

»Bestimmt wurden die alle zur gleichen Zeit gebaut wie unser Haus«, meinte Seth, »und alle aus den gleichen Lärchenholzbohlen. Das nenne ich mal eine effektive Nutzung von Baumaterial.« Unterwegs sahen sie nur wenige Passanten: hier eine Frau, die einen Hund ausführte, dort einen Ladenbesitzer mit Schürze, der den Gehsteig fegte. Es schien auch nur wenige Autos zu geben und die paar, die sie sahen, waren alt, wenn auch allesamt gepflegt und in gutem Zustand. »Es ist fast, als würden wir in eine andere Zeit fahren. Ein kleines Stück der Vergangenheit, amerikanische Gotik und so weiter.«

Judy lächelte zustimmend. »Da sind sogar noch Pferdepfosten vor den Häusern, und sieh nur: ein Schusterladen! Wann hast du das letzte Mal so einen gesehen?«

»Noch nie.«

»Bäckerei«, las Judy von den Schaufenstern ab, »Tuchhandlung, koschere Metzgerei, und da, sieh mal, eine richtige kleine Buchhandlung, keine Filiale von Barnes & Noble!«

Seth zeigte zur Straßenecke. »Und kein Seven-Eleven. Dafür haben sie Sidney’s General Store.«

»Es ist fantastisch!«

»Ich nehme an, manche Städte bemühen sich bewusst, so viel von ihrer Vergangenheit zu bewahren wie möglich«, meinte Seth – aber dann mussten sie beide lachen, als sie an einem Starbucks vorbeikamen. »Na ja, fast so viel wie möglich.«

Als sie weiterfuhren, leuchtete plötzlich die Sonne zwischen zwei entfernten Bäumen hindurch; Judy sah etwas an Seths Hals glitzern: seinen Davidstern. »Du trägst deinen Stern«, bemerkte sie. »Hab dich schon eine ganze Weile nicht mehr damit gesehen.« Auch Judys Kreuz reflektierte kurz die Sonne.

Unwillkürlich berührte Seth den Stern. »Ehrlich gesagt kann ich mich kaum noch erinnern, warum ich ihn umgehängt habe.«

»Willst wohl einen guten Eindruck auf den Rabbi machen«, spottete Judy.

»Mag sein.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber ich habe keine Ahnung, warum ich mich gerade heute entschieden habe, ihn zu tragen.«

»Und ich müsste lügen, wenn ich behaupten wollte, ich trüge mein Kreuz aus einem Gefühl des inbrünstigen Glaubens heraus – schließlich bin ich seit Jahren nicht mehr in der Kirche gewesen.«

»Hoffen wir mal, dass etwas Glaube besser ist als gar keiner«, murmelte Seth, obwohl es ihn immer noch wunderte, dass er sich nicht mehr daran erinnern konnte, den Stern angelegt zu haben.

»Das muss der Marktplatz sein«, sagte Judy, als die Muschelschalen einem Asphaltbelag wichen und die Reihenhäuser drei- statt zweistöckig wurden.

»Welche Adresse hat Asher dir genannt?«

»Gar keine, er sagte nur, wir sollten zum Marktplatz kommen, da würde uns jemand erwarten.«

Sie parkten auf einem öffentlichen Parkplatz, aber als Seth Geld in eine Parkuhr stecken wollte, stellte er fest, dass sie offenbar schon seit Jahren nicht mehr funktionierte. Noch mehr Bewahrung des Alten, um das Neue fernzuhalten.

Als Judy aus dem Wagen stieg, blieb sie ehrfürchtig staunend stehen.

»Was ist?«, fragte Seth.

An einer Ecke des Marktplatzes führte eine einsame Straße zwischen einigen Häusern abwärts und endete an einer Reihe von Anlegern, hinter denen man den Fluss glitzern sehen konnte.

»Ich hätte nie gedacht, dass der Brewer River so groß ist«, staunte nun auch Seth. »Ich habe vorher noch nie von dem Fluss gehört.«

»Er scheint über einen Kilometer breit zu sein.«

In der Mitte des Platzes stand ein längeres einstöckiges Gebäude; ein Schild wies es als HAUS DER HOFFNUNG aus. Eine Frau in einem dunklen, knöchellangen Kleid beschnitt dort einige Pflanzen in Blumenkästen vor den Fenstern.

»Das wird die Synagoge sein«, vermutete Seth.

»Ja, aber eine recht bescheidene.«

In dem Moment kamen drei ältere Teenager, zwei Mädchen und ein Junge, über die lange Veranda des Gebäudes, nickten der Blumenfrau zu und gingen durch die doppelflügelige Spitzbogentür. Alle drei trugen Shorts und T-Shirts.

»Muss wohl ein Treffen der Jugendgruppe sein«, meinte Judy.

»Scheint so.« Seth schaute mit zusammengekniffenen Augen nach Westen, wo er direkt am Ufer ein auffällig unbebautes Stück Land erblickte, auf dem noch einige Fundamente und ein paar verfallene Mauern zu erkennen waren. »Und da muss früher das Sägewerk gestanden haben.« Er grinste. »Du magst doch gruselige Geschichten. Mr. Croter hat mir erzählt, dass der Mann, der diese Stadt – und unser Haus – gebaut hat, 1880 in diesem Sägewerk ermordet wurde. Gavriel Lowen. Einige der ansässigen Holzfäller fesselten ihn an eine Kiste Dynamit.«

Judy verzog das Gesicht. »Na, das nenne ich mal Overkill. Warum haben sie ihn umgebracht?«

»Weil er Jude war. Die Einheimischen waren Antisemiten. Und sie schlachteten die gesamte Bevölkerung von Lowensport ab, mit Ausnahme der Babys.«

»Da haben die das mit der schicksalhaften Bestimmung des amerikanischen Volkes wohl ein bisschen falsch verstanden.«

Seth senkte die Stimme, versuchte schauerlich zu klingen. »Aber dann schlachtete irgendjemand auch sämtliche Holzfäller ab ... und niemand weiß, wer es war ...«

»Was für eine entzückende Geschichte, Seth. Ich danke dir vielmals, dass du mich daran teilhaben lässt ...«

Seth lachte, aber dann drehte er sich um, als er Schritte hörte.

»Das muss Rabbi Lowen sein«, sagte Judy.

»Er hat es lieber, wenn man ihn Asher nennt – aber das ist er nicht.«

Ein dünner Mann mittleren Alters mit schwarzer Hose, weißem Hemd und einer Jarmulke auf dem Kopf trat mit einem breiten Lächeln zu ihnen. »Sie müssen Seth Kohn sein«, grüßte er mit einem herzlichen Handschlag. »Ich bin Rabbi Toz, aber bitte nennen Sie mich Ahron. Es ist schön, dass Sie kommen konnten.«

Seth stellte Judy vor, dann führte der Mann sie rasch über den Marktplatz zu einem Reihenhaus, das ein Stockwerk höher war als die anderen. Er brachte sie in eine beschauliche Wohnstube mit schweren Vorhängen, dicken Teppichen und dunkler Holzverkleidung. Ein weiterer Mann mit Jarmulke und in der gleichen konservativen Kleidung drehte sich mit einem freundlichen Lächeln zu ihnen um.

»Und das«, sagte Ahron, »ist unser Seelsorger und Kaffeeschenker, Rabbi Morecz.« Er stellte Seth und Judy vor. »Aber Sie können ihn Eli nennen.«

»Toz, Morecz«, meinte Judy, »diese Namen klingen tschechisch.«

»Das sind sie auch, Judy«, sagte der zweite Rabbi. »Fast jeder in Lowensport hat Vorfahren, die aus Prag hierher kamen. Einige haben ihre Namen geändert, einige nicht.«

»Ich glaube, Asher hat mir erzählt«, meldete sich Seth zu Wort, »dass seine Vorfahren Loew hießen, ihren Namen aber geändert haben, um weniger jüdisch zu klingen.«

»Das stimmt, Seth.« Eli goss Kaffee aus einer Silberkanne ein, während Ahron Seth und Judy zu einem scharlachroten Plüschsofa hinter einem niedrigen Tisch führte. »Asher, Ahron und ich haben Ur-Ur-Ur-Großväter, die diese Stadt mit aufgebaut haben. Und sie waren alle enge Freunde.«

»Die ganze Stadt hält eng zusammen«, sagte Ahron. »Auch wenn wir alle Besucher in unserer Stadt willkommen heißen, versuchen wir, äh, na ja ...«

»... das Gesindel fernzuhalten«, ergänzte Seth.

»Sie haben die Worte gefunden, nach denen ich suchte«, lachte Ahron. In dem Moment öffnete sich eine weitere Tür und herein kam ein stattlicher blonder Mann in den Vierzigern mit einem breiten Lächeln.

»Guten Tag, Asher«, grüßte Seth. »Vielen Dank für die Einladung.«

»Es ist mir ein Vergnügen«, strahlte der Rabbi. Er wurde Judy vorgestellt und schüttelte ihr freudig die Hand. »Ich heiße Sie beide in meinem Haus willkommen.«

»Vielen Dank, dass Sie uns eingeladen haben«, erwiderte Judy. »Und der Präsentkorb war wundervoll.«

»Freut mich, dass er Ihnen gefallen hat. Meine Frau hat ihn zusammengestellt«, verriet Asher und trug den Kaffee zum Tisch. »Und hier ist sie auch schon. Lydia, du erinnerst dich an Seth. Das ist seine Lebensgefährtin Judy.«

Die dunkelhaarige, dunkeläugige und dunkel gekleidete Frau lächelte vage und stellte ein Tablett mit Appetithäppchen auf den Tisch.

»Sie macht die besten Plinsen der Welt«, prahlte Asher.

»Tesi me, Pani Lowen«, sagte Lydia auf Tschechisch.

Judys Augen leuchteten auf. »Srdecne vas vitame.«

»Wie wundervoll!«, rief Asher. »Sie sprechen unsere Sprache?«

»Sie spricht so viele Sprachen«, sagte Seth lachend, »dass ich mir daneben dumm vorkomme.«

»So viele nun auch nicht«, meinte Judy.

»Klar, so viele nicht, nur Griechisch, Latein, Tschechisch, Hebräisch ...«

Asher kam gar nicht mehr aus dem Staunen heraus. »Hebräisch auch!«

»Na ja, nur phonetisches Hebräisch«, räumte sie ein, »aber ich kann es nicht besonders gut im originalen glyphischen Alphabet schreiben.«

»Trotzdem – Sie sind eine wahre Gelehrte. Hm, mal sehen ... ich bin selber ein bisschen eingerostet, aber ... Mah ha’miktzoah shelach?«

»Ani Morah«, antwortete Judy. »Ani me’od ohevet et zeh.«

»Wie entzückend! Wo unterrichten Sie?«

»Nun, ich habe an der FSU unterrichtet«, wich sie aus, »aber jetzt, wo Seth und ich hierhergezogen sind, bewerbe ich mich in Salisbury.«

»Wundervoll, wundervoll.« Ashers Begeisterung kannte keine Grenzen. »Man sagt, es gebe zu viele Juristen auf der Welt – und ich bin geneigt, dem zuzustimmen –, aber es kann nie zu viele Lehrer geben.« Asher schwieg einen Moment, dann warf er einen genaueren Blick auf Seth. »Mir ist jetzt erst Ihr Davidstern aufgefallen. Es ist erhebend, Menschen zu sehen, die ihn tragen – wie auch Ihr Kreuz, Judy. In gewisser Weise ist Glaube relativ; der gemeinsame Nenner ist das, worauf es ankommt. Aber manchmal fühle ich mich mehr und mehr entmutigt, je älter ich werde.«

»Warum das?«, fragte Judy und befingerte abwesend das Kreuz an ihrem Hals.

»Weil der Glaube im Schwinden begriffen ist – da gibt es keinen Zweifel«, erwiderte der Rabbi.

Erst jetzt fiel Seth auf, dass Ahron, Eli und Lydia verschwunden waren.

Asher fuhr fort: »Je mehr eine Kultur sich weiterzuentwickeln versucht, desto weniger von ihrer originären Kultur – ihrer spirituellen Basis – überlebt. Heutzutage sehe ich mehr iPods und Kamerahandys als irgendwelche Symbole des Glaubens.«

»Die gute alte Technologie«, sagte Seth.

»Die neue Götzenanbetung«, meinte Judy. »Das neue Goldene Kalb.«

»Wie wahr, Judy.« Endlich setzte Asher sich ihnen gegenüber hin, eine Hand in die andere gelegt. Er machte jetzt einen sehr ernsten Eindruck. »Das ist es, was ich und meine Gemeinde hier in Lowensport versucht haben – unsere Kultur mit ihren Wurzeln zu bewahren, und diese Wurzeln gründen essenziell auf dem Glauben. Unsere Stadt mag Ihnen seltsam vorkommen, schmucklos und, nun ja, wenig aufregend.« Er ballte eine Faust. »Aber es ist gerade diese Essenzialität, die uns an unsere Herkunft erinnert und an den Grund, weshalb unser Volk überhaupt nach Amerika kam – und Ihre Vorfahren ebenfalls, Seth, vielleicht auch Judys. Sie kamen hierher, um ihren Glauben zu bewahren.«

»Jetzt bekomme ich ein schlechtes Gewissen«, meinte Seth mit einem leisen Lachen. »Ehrlich gesagt habe ich schon lange nicht mehr gebetet.«

»Das Gebet ist nur eine Unterhaltung mit Gott, Seth. Manchmal hören wir auf zu reden, aber wenn wir bereit sind fortzufahren, ist Gott immer bereit, uns zuzuhören.« Asher versteifte sich einen Moment, dann platzte er heraus: »Jetzt aber genug der erbaulichen religiösen Worte. Hier!« Er schob ihnen das Tablett zu. »Probieren Sie die Plinsen!«

Judys strahlendes Lächeln löste die verkrampfte Stimmung; sie nahm sich eine Plinse. »Um ehrlich zu sein, Asher, ein paar erbauliche Worte könnten Seth und mir wahrscheinlich nicht schaden.«

Seth hatte so ein seltsames Gefühl in seinem Bauch – Gewissensbisse vielleicht –, aber er wusste, dass es etwas anderes war als seine Gewissensbisse wegen Helene. »Es ist komisch, aber Judy erwähnte es, als wir hierherfuhren.«

»Was denn, Seth?«, fragte Asher.

»Mein Davidstern. Sie sagte, dass sie mich lange nicht mehr mit ihm gesehen hat, und sie hatte recht. Ich habe ihn lange nicht getragen. Ich weiß auch gar nicht, warum ich ihn umgehängt habe. Ich ... ich weiß nicht einmal mehr genau, was er bedeutet.«

Asher nickte. »Sehr oft, wenn wir denken, wir hätten den Glauben verloren, haben wir lediglich Gott aus den Augen verloren, weil wir Gott auf dieser Straße, die wir das Leben nennen, an uns haben vorüberziehen lassen. Wir sind nur Menschen, Seth. Wir lassen uns in die Irre leiten, für gewöhnlich durch die Versuchung und jene Ablenkungen, die wir als Fortschritt bezeichnen. Aber woran wir uns immer erinnern müssen, wenn wir Gott aus den Augen verlieren, ist dies: Wir können ihn jederzeit wiederfinden, indem wir es einfach wollen, tief in unserem Herzen. Wir müssen nur zurück auf die Straße gehen.« Er hob einen Finger und lächelte. »Und Gott ist ein ziemlich lockerer Bursche. Manchmal macht er sogar ein bisschen langsamer, damit wir wieder aufholen können.«

»Das ist eine sehr vielversprechende Art, es auszudrücken«, sagte Seth.

»Alles, worum es sich beim Glauben dreht, ist doch genau das: ein Versprechen.« Asher beugte sich vor. »Wann immer Sie das Gefühl haben, darüber reden zu müssen, lassen Sie es mich wissen. Ich würde Ihnen gerne helfen, sich daran zu erinnern, was der Davidstern bedeutet.« Dann lehnte er sich abrupt zurück und lachte. »Ich meine – ich bin ein Rabbi! Das ist mein Job!«

Darüber mussten sie alle lachen, und nachdem Seth eine Plinse gegessen hatte, erkundigte er sich: »Was ist denn eigentlich Ihre Synagoge? Das Gebäude auf dem Marktplatz?«

»Das Haus der Hoffnung«, fügte Judy hinzu. »Es sieht eigentlich nicht aus wie eine Synagoge.«

»Das hat mit dem zu tun, was ich eben schon sagte«, antwortete Asher, »über das Bewahren der eigenen spirituellen Kultur, indem man seine Wurzeln ehrt. In schlimmeren Zeiten, während der Jahrhunderte der Verfolgung, hatten die Juden keine offensichtlichen Synagogen, in denen sie beteten. Sie mussten versteckt sein, geheim bleiben, sonst wären sie niedergebrannt worden. Deshalb hielten die Gläubigen ihre Zusammenkünfte in Kellern ab oder sogar tief in den Wäldern, in Höhlen. Unsere Synagoge zum Beispiel befindet sich hier in diesem Haus, und zu Gavriel Lowens Zeit ...« Asher lächelte Seth an. »... war sie in Ihrem Haus.«

Seth runzelte die Stirn. »Aber ... was ist dann das Haus der Hoffnung?«

Asher nahm sich eine weitere Plinse und erklärte: »Wir nennen es Jugendberatungszentrum, aber das ist eigentlich ein Euphemismus. In Wahrheit ist es eine Drogenentzugsklinik und ... sehen Sie? Das ist genau das, worüber wir geredet haben. Es gibt viele Wege, Gott aus den Augen zu verlieren, und nichts liebt der Teufel mehr als Drogen. Drogen sind der große Verderber unserer Jugend, das heimtückischste Übel und eine furchtbare Waffe des Bösen.« Er schüttelte klagend den Kopf. »Wir haben hier ein entsetzliches Drogenproblem.«

Überrascht horchte Judy auf. »Das erschreckt mich jetzt aber, Asher. Wenn es eine Stadt gibt, von der man erwarten würde, dass sie kein Drogenproblem hat, dann diese

»Oh, ich meine nicht hier in Lowensport«, stellte der Rabbi klar. »Hier gibt es keine Drogen. Unsere Patienten kommen alle aus Somner’s Cove. Wir haben ein paar Alkoholabhängige und ein oder zwei Heroinsüchtige, aber meistens ist es Kokain – Crack. Ein schreckliches Zeug. Bislang haben wir nur 25 Betten, aber wenn wir das Geld zusammenbekommen, wollen wir die Klinik noch ausweiten. Wir nehmen so viele Überschüsse auf, wie wir können, denn die Einrichtungen in Somner’s Cove sind immer bis zu ihrer maximalen Kapazität ausgelastet. Rechtlich gesehen sind wir eine Jeschiwa, die jüdische Version einer Gemeindeeinrichtung; da wir als kirchliche Klinik gelten, bekommen wir keine staatliche Unterstützung. Aber die Arbeit kann schon sehr entmutigend sein. Wir haben kaum eine 50-prozentige Erfolgsrate.«

Judy richtete sich auf. »Das ist doch phänomenal! Der nationale Durchschnitt liegt bei zehn Prozent für Crack.« Sie hielt inne, dann zuckte sie die Schultern. »Ich muss es wissen. Ich ... hatte selbst einmal Probleme damit.«

Asher nickte, wahrscheinlich versuchte er seine Überraschung zu verbergen. »Das hätte ich nie vermutet, aber da erweist es sich wieder einmal als wahr: Die Heimtücke der Drogen macht vor nichts halt, trotz des Klischees, dass sich das Problem nur auf die unteren sozialen Schichten beschränkt.«

Ohne Scheu gestand Seth: »Tatsächlich haben Judy und ich uns in einer Entzugsklinik kennengelernt. Die Drogen hätten sie beinahe vernichtet, während es bei mir der Alkohol war.«

»Ah, was für ein wundervoller Beweis für die Fähigkeit des menschlichen Geistes – unterstützt natürlich von der Liebe Gottes –, über die ungünstigsten Voraussetzungen zu triumphieren.«

Seth hoffte, dass sein unerwartetes Geständnis den Rabbi nicht in Verlegenheit brachte. Aber irgendwie wusste er, dass es nicht der Fall war. »Bevor ich Judy kennengelernt habe, war ich verheiratet – meine Frau hieß Helene –, und es ist eine Ironie des Schicksals, dass gerade sie es war, die mich auf Lowen House aufmerksam machte.«

Asher hörte konzentriert zu. »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz. Ich dachte, Sie kämen aus Florida.«

»Helene hatte Verwandte in Virginia«, informierte Judy ihn. »Sie und Seth kamen hierher, um sie zu besuchen, und ... vielleicht ist es besser, wenn du die Geschichte erzählst, Seth.«

Seth seufzte. »Ja, wir besuchten ihre Verwandten, anschließend wollten wir einen Abstecher nach Washington machen und uns mal alles ansehen, also setzten wir mit der Fähre über und landeten in Somner’s Cove. Wir wollten auf die Interstate nach Norden, haben aber die falsche Abzweigung erwischt und sind am Lowen House vorbeigekommen. Helene sah es als Erste und wir waren so begeistert davon, dass ich den Makler anrief, dessen Nummer auf dem Verkaufsschild stand, und der führte uns durch das Haus. Der Preis war okay, aber damals konnte ich mir kein Haus leisten; gerade hatte ich meinen Job bei einer Computerspielfirma verloren, die pleite gegangen war. Ich hatte ein paar Kredite aufgenommen, weil ich mein Spiel entwickeln wollte; ich habe alles selbst programmiert und brauchte das Geld für die Grafikleute und Systemtechniker, damit die dem Spiel das Aussehen verliehen, das ich mir vorstellte. Dann habe ich das ganze Ding an eine Vertriebsfirma geschickt und die Daumen gedrückt. Das war vor zwei Jahren. Also, jedenfalls, nachdem ich das Spiel eingeschickt hatte, kamen Helene und ich hierher und entdeckten Lowen House. Es war fast wie ein Witz. Ich sagte: ›Eines Tages, wenn ich mal reich bin, kaufe ich dieses Haus.‹«

»Was für ein seltsamer Zufall«, sagte Asher. »Doch ich befürchte, die Tatsache, dass Sie von Helene in der Vergangenheitsform reden, kann nur bedeuten ...«

Seths Kehle war wie zugeschnürt, also antwortete Judy für ihn. »Helene starb einige Wochen später bei einem Verkehrsunfall, nachdem die beiden nach Tampa zurückgekehrt waren. Zufällig hat genau an dem Tag, als sie starb, die Vertriebsfirma Seths Computerspiel gekauft.«

Schließlich fand Seth seine Stimme wieder. »Danach ... oh, Asher, ich möchte Sie nicht mit der Geschichte langweilen.«

Ashers Augen glänzten. »Aber ich möchte sie hören, Seth, und auch Ihre, Judy, wenn Sie darüber reden wollen. Manchmal kann ein neutrales Ohr eine therapeutische Wirkung haben.«

Seth nickte. »Das Spiel brachte mir eine fette Startprämie ein, dazu jede Menge Angebote für Folgerechte, aber das bekam ich kaum mit. Nachdem Helene tot war, habe ich ...«

»Trost in der Flasche gesucht. Ich verstehe. Allzu oft begreifen wir erst viel zu spät, dass es einen solchen Trost nicht gibt.«

Seth stieß ein humorloses Lachen aus. »Innerhalb eines Monats war ich ein totales Wrack, ein chronischer Alkoholiker. Ich kippte in Bars um, auf Parkplätzen, ein paarmal wachte ich in meinem Wagen auf dem Seitenstreifen einer Straße auf, die ich noch nie gesehen hatte.«

»Verluste sind manchmal unberechenbar«, sagte Asher. »Viele der Patienten in unserer Klinik haben wegen ähnlicher Verluste zu Drogen gegriffen, und ehe sie sich’s versahen, waren sie abhängig.«

»Ja, ich war sehr abhängig, und Sie haben recht. Ich wusste nicht, wie ich mit dem Verlust umgehen sollte, ich begriff das alles nicht, aber das, was mich am härtesten traf, waren die genauen Umstände von Helenes Tod. Das hat mir den Rest gegeben.« Er hielt Judys Hand, versuchte weiterzureden, aber dann saß er nur da und schüttelte den Kopf.

»Seth gab sich die Schuld an ihrem Tod«, fuhr Judy für ihn fort. »Sie kam an dem Tag mit dem Wagen vom Einkaufszentrum zurück, und Seth rief sie übers Handy an und bat sie, ihm Zigaretten mitzubringen. Also wendete sie, um zum Kiosk zu fahren, und dabei ...«

»Dabei wurde sie von der Seite gerammt«, würgte Seth die Worte heraus. Dreh jetzt nicht durch!, flehte er sich selbst an – aber er fühlte sich schon etwas besser, weil er sich den schlimmsten Moment seines Lebens von der Seele reden konnte. »Und zu allem Überfluss war der Fahrer auch noch betrunken.«

Asher lehnte sich ruhig zurück und verschränkte die Arme. »Ebenso verbreitet wie Alkoholmissbrauch und Drogenabhängigkeit ist unsere Unfähigkeit, Zufall von Vorsehung oder auch nur Pech zu unterscheiden. Ihnen ist hoffentlich mittlerweile klar geworden, dass es töricht ist, sich für einen Unfall die Schuld zu geben. Und auch Gott dürfen wir nicht die Schuld geben, denn tatsächlich hat es nichts mit Gott zu tun. Es hat nur etwas mit menschlichen Fehlern zu tun. Gott ist das spirituelle Gütezeichen unseres Lebens, kein physisches. Er ist uns nahe durch die Liebe und Weisheit seiner Emanationen. Er leitet keine betrunkenen Fahrer um, verhindert keine Kriege oder lindert Krankheit oder Armut durch einen Wink seiner Hand.« Asher hob einen Finger. »Nun, er könnte diese Dinge tun, wenn er wollte, aber das würde seinen Absichten zuwiderlaufen. Wir müssen diese Dinge selbst tun, und wir sind noch nicht so weit. Es ist wichtig, dass Sie das verstehen, Seth. Wenn Sie sich selbst die Schuld am Tod Ihrer Frau geben, beleidigen Sie damit nur ihr Andenken.«

Seth hob den Blick und sah den Mann an. Er schluckte. »So habe ich das noch nie betrachtet.«

»Natürlich nicht!«, sagte Asher und lachte. »Denn es ist so leicht zu übersehen! Und warum? Weil wir Menschen sind! Wir machen Fehler! Und der einzige Weg, unsere Fehler zu mildern, besteht darin, uns nach besten Kräften zu bemühen, unser Leben im Licht Gottes zu leben.«

Seth fühlte sich plötzlich so schlaff wie eine Stoffpuppe. Fast hätte er laut losgeschluchzt, als ihm klar wurde, dass die Worte des Rabbi ihm eine entsetzliche Last von den Schultern genommen hatten.

Judy spürte, dass Seth jetzt zu aufgewühlt war, um weiterzureden, deshalb ergriff sie das Wort. »Und Seth ist nicht der Einzige, dem es so ging. Ich war Professorin an einem angesehenen College. Ich hatte die Karriere, die ich mir immer gewünscht hatte, und war zufrieden mit meinem Beruf. Ich war erfolgreich und wurde von meinen Kollegen geschätzt. Und dann bin ich einmal mit diesem Burschen von der politikwissenschaftlichen Fakultät ausgegangen. Ich war damals übergewichtig – war ich schon immer gewesen –, aber der Kerl erzählte mir, er habe mühelos 20 Kilo verloren – mit Kokain. Bis heute verstehe ich nicht, wie jemand mit meinem Bildungsstand darauf reinfallen konnte. Ich glaubte alles, was er mir erzählte – wahrscheinlich weil ich das Bedürfnis hatte, es zu glauben. ›Oh, mach dir keine Sorgen, es macht nicht süchtig, das ist nur Propaganda‹ oder ›ein- oder zweimal die Woche ist völlig unschädlich‹ oder ›ich nehme es seit Jahren, Judy, und ich bin nicht süchtig. Ich habe nicht meinen Job, meine Freunde und mein Haus verloren‹. Solche Sachen eben.«

»Im Haus der Hoffnung höre ich jeden Tag ganz ähnliche Geschichten«, sagte Asher.

Das überraschte Judy nicht. »Und bevor ich wusste, wie mir geschah, war ich so abhängig vom Kokain, dass ich nicht mehr ich selbst war. Die anderen Dozenten in meiner Fakultät merkten schnell, dass etwas nicht stimmte, aber ich nicht. Mein Unterricht wurde immer schlechter, immer weniger Studenten kamen in meine Kurse, einige beschwerten sich sogar.« Judy musste die Wand anschauen, um weiterreden zu können. »Das Dekanat wies mich an, eine Auszeit zu nehmen und mich behandeln zu lassen, aber inzwischen wirkte das normale Kokain bei mir nicht mehr gut genug, verschaffte mir nicht mehr den nötigen Kick. Statt also in eine Klinik zu gehen, ging ich zu einem Crack-Dealer. Das war der Anfang vom Ende und das Ende kam ziemlich schnell. Ich ... wurde verhaftet, das College warf mich raus und ...« Judys Stimme verklang. »Na ja, um es kurz zu machen: Schließlich bekam ich meine Behandlung und dabei lernte ich Seth kennen. Wir waren beide in der gleichen Entzugsklinik.« Judy lachte, um die düstere Stimmung etwas zu entschärfen. »Mit einem hatte der Politikwissenschaftler allerdings recht – ich verlor tatsächlich Gewicht, auch wenn ich diese Diät nicht unbedingt weiterempfehlen würde.«

Alle lachten.

»Und das Beste ist«, meinte Asher, »dass Sie beide trotz der schlechten Chancen überlebt haben, ein Beweis dafür, dass Ihr freier Wille die Fehler überwunden hat, denen wir alle ausgesetzt sind. Genau wie es in der Bibel heißt – Sie haben sich in ein neues Selbst gekleidet und die alte weltliche Kleidung abgeworfen, und das ganz allein dank des freien Willens, der uns allen durch die Weisheit En Sophs gewährt wurde.«

»En Soph?«, fragte Seth.

»Einer der jüdischen Namen für Gott«, erklärte Judy. »Es gibt noch Jahwe, natürlich, und Elohim und Hayyim.«

»Es ist bemerkenswert, dass Sie das wissen«, staunte Asher.

Judy zuckte die Schultern. »Ich war Theologie-Professorin.«

»Judy weiß mehr über das Judentum als ich«, sagte Seth amüsiert, »und sie ist Christin.«

»Yeah«, meinte Judy, »ich bin Seths Goifährtin.«

Asher unterdrückte seine Belustigung. »Sie sind wirklich etwas Besonderes, Judy.« Er wandte sich wieder an Seth. »Ich habe natürlich den Artikel in der Zeitung gelesen, aber ich muss gestehen, dass ich nicht viel über ihre Karriere weiß. Sie entwickeln Videospiele?«

»Im Prinzip ja, aber ich denke mir auch die kreativen Elemente des Spieles aus.«

»Und dieses House of Flesh – das ist Science Fiction, richtig? Es ist nicht ...«

Seth lachte. Er fühlte sich vollkommen entspannt. »Nein, nein, Asher, ich weiß, dass der Titel nach etwas nicht Jugendfreiem klingt, aber es ist nur ein Sci-Fi-Fantasy-Szenario.«

»Sie müssen sich selbst übertroffen haben, dem Erfolg des Spieles nach zu urteilen.«

»Eigentlich hatte ich nur Glück. Ich habe einem alten Konzept einen neuen Look verpasst, und den Fans hat es gefallen.«

»Seth kann manchmal übertrieben bescheiden sein«, mischte sich Judy ein. »Die erste Auflage erreichte höhere Verkaufszahlen als jedes Computerspiel zuvor.«

»Das ist schon eine Leistung«, meinte Asher.

»Und ich bin seine Testspielerin«, fügte sie hinzu. »Das Spiel ist jetzt ganz groß in den Multiplayer-Modus eingestiegen, was bedeutet, dass die Leute im ganzen Land übers Internet gegeneinander spielen können.«

»Judy, ich will ehrlich sein«, gestand Asher. »Wir hier in Lowensport können das Internet nicht von einem Haarnetz unterscheiden. Wir haben noch nicht einmal Computer. Aber ich freue mich sehr über Ihren Erfolg.«

»Danke, Asher«, sagte Seth. »Es macht großen Spaß, so etwas zu entwickeln, aber wie gesagt – ich hatte Glück.«

Eine Tür schwang auf und Eli erschien. »Möchte noch jemand Kaffee oder Plinsen?«

Sie lehnten alle ab, aber in dem Moment, als sich die Tür öffnete, bemerkten Seth und Judy etwas an der Wand des anderen Zimmers: ein Diagramm mit zwei Pyramidenformen, die sich an der Grundfläche berührten, und ein Gesicht in jeder Pyramide. Das obere Gesicht war hell, das untere dunkel. Seth hatte keine Ahnung, was das bedeutete, aber Judy schien es sofort zu erkennen.

»Asher«, rief sie fasziniert. »Sie sind ein Kabbalist.«

»Äh, ja.« Erneut war der Rabbi von ihrem Wissen überrascht. »Merkt man das?«

»Ich habe den Kopf von Zohar nebenan gesehen. Dass ich nicht früher darauf gekommen bin! Keine sichtbare Synagoge und Ihre Anspielungen auf die Emanationen.«

»Ich bin sehr beeindruckt von Ihrer Gelehrsamkeit. Wahre Kabbala ist heutzutage kaum noch bekannt.«

»Na ja, ich war Theologie-Professorin, aber ich habe auch einen Kurs über Theosophie gegeben.«

Asher schien begeistert. »Das ist ein Wort, das man heutzutage sogar noch seltener hört als Kabbala. Das Studium der mystischen Elemente Gottes.«

»Es war ein großartiger Kurs, wenn auch nur mit wenigen Teilnehmern«, sagte Judy. »Aber es wird sie freuen zu hören, dass die erste Unterrichtseinheit des Kurses sich mit dem Kabbalismus beschäftigte.«

Seth hatte das Gefühl, irgendwas verpasst zu haben. »Ich habe schon von der Kabbala gehört, aber ich weiß ehrlich gesagt nicht, was das ist.«

Asher sah ihn an. »Als Erstes müssen Sie verstehen, was sie nicht ist, Seth. Sie ist weder Magie noch Schamanismus noch so etwas wie diese Kabbala-Modewelle, die in Kalifornien grassiert. Sie ist nichts Esoterisches oder Mystisches, auch keine Konfession, sondern nur eine tiefere und subjektivere Interpretation des Judentums.«

Judy fügte hinzu: »Wahre Kabbala ist eine mündliche Tradition, nicht wahr? Es heißt, sie sei die erste Religion, in der Gott selbst die Engel unterwies?«

»Genau«, stimmte Asher zu, »und dann lehrten die Engel sie Adam ...«

»Durch die Zehn Sephiroth oder Bücher, welche die zehn idealen Zahlen widerspiegeln ...«

»... und die Zehn Emanationen Gottes«, präzisierte Asher.

»Ich muss wieder einmal meine Unwissenheit gestehen«, sagte Seth. »Ich bin schon ein Musterjude, was?«

»Wichtig ist nur der Glaube, Seth«, beruhigte Asher ihn. »Die Kabbala ist nicht für jeden Juden etwas, genau wie – sagen wir mal – das Jesuitentum nicht für jeden Katholiken etwas ist. Es handelt sich lediglich um ein tieferes Studium der frühesten Glaubenssätze des Judentums.«

Seth zeigte auf die Tür. »Und was ist das für ein Symbol nebenan?«

Ashers Blick richtete sich erwartungsvoll auf Judy. »Judy? Mich würde Ihre Antwort auf diese Frage interessieren.«

»Der Magische Kopf von Zohar«, antwortete sie. »Das obere, helle Gesicht steht für den Menschen nach dem Bilde Gottes, erleuchtet von den Zehn Emanationen, und das untere, dunkle ist der ...« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Oh, ich kann mich nicht mehr an den Namen erinnern.«

»Der Neptesch«, sprang der Rabbi ein. »Die unreifere Seele des Menschen, die sich bemüht, sich der Emanationen und ihres Lichtes würdig zu erweisen.«

»Je mehr die Pyramiden miteinander verschmelzen, desto erleuchteter wird der Neptesch«, fuhr Judy fort. »Und wenn sie sich zu gleichen Winkeln überschneiden, wird aus der Form der Davidstern.«

»Sehr gut, sehr gut«, lobte Asher. »Der Kopf von Zohar ist unser Symbol, genau wie Judys Kreuz das Symbol eines Christen ist.«

Seth ließ die Schultern hängen. »Jeden Tag lerne ich mehr und mehr, was mich nur immer wieder daran erinnert, wie wenig ich eigentlich weiß.«

»Machen Sie sich keine Gedanken, Seth.« Der Rabbi lachte. »Nur sehr wenige Menschen wissen überhaupt etwas über die wahre Kabbala. Aber sie ist der Kern meines Glaubens und auch aller anderen in Lowensport.«

»War Gavriel Lowen auch ein Kabbalist?«, wollte Seth wissen. »Ihr Ur-Ur-Großvater?«

»Ur-Ur-Ur-Großvater.« Asher lächelte. »Ja, war er. Er leitete wahrscheinlich den ersten Kabbala-Kahal in Amerika.« Asher deutete auf ein kleines Porträt an der Wand, das einen ernsten Mann mit Kinn- und Backenbart, aber ohne Schnurrbart zeigte. »Das ist er. Er war ein großer Mann – aber er fand ein tragisches Ende.«

»Oh, richtig«, erinnerte Seth sich. »Der Makler, der mir das Haus verkauft hat, hat es erwähnt.«

»Die Verfolgung lauert überall, genau wie jedes andere Übel.« Asher schaute auf seine Armbanduhr und hob schnell die Brauen. »Oje, ich habe ganz die Zeit vergessen. Ich würde mich gerne noch länger mit Ihnen unterhalten, aber Lydia und ich müssen zur Beratungsstunde in die Klinik.«

»Wir müssen auch los, Asher«, sagte Seth und stand zusammen mit Judy auf. »Aber danke für die Einladung. Sie sind ein sehr inspirierender Mensch.«

»Oh, vielen Dank!«

Sie reichten sich die Hände. »Warum kommen Sie und Lydia nicht mal zum Essen zu uns?«, fragte Judy.

»Ja«, meinte Seth. »Ins Haus Ihres Ur-Ur-Ur-Großvaters.«

»Was für eine wundervolle Idee. Das werden wir, sehr bald.« Asher brachte sie zur Tür. »Und wenn Sie das nächste Mal wieder in der Stadt sind, schauen Sie doch herein. Meine Tür steht Ihnen immer offen. Und Judy ... angesichts Ihrer Erfahrungen und des wunderbaren Beispiels Ihres eigenen Sieges über die Drogen – könnte ich Ihnen zumuten, einmal ein paar Worte zu den Bewohnern des Hauses der Hoffnung zu sprechen?«

»Das ist doch keine Zumutung – es wäre mir eine Freude!«

Als sie gerade das Haus verlassen wollten, blieb Seth an der Tür stehen. »Asher, Sie nehmen doch auch Spenden an, oder?«

Der Rabbi schien nicht zu verstehen. »Spenden? Wofür?«

»Für die Drogenklinik.«

»Oh, Seth, ich habe doch nicht davon gesprochen, um Sie um eine Spende zu bitten ...«

»Ich weiß, Asher. Aber Sie nehmen doch Spenden?«

»Ehrlich gesagt war das bisher nie nötig. Wir finanzieren alles aus den Überschüssen der Gemeindekasse und unsere Mitarbeiter sind Freiwillige. Aber ich denke ...«

»Wir würden gerne etwas spenden«, sagte Seth und stellte rasch einen Scheck aus. »Bitte nehmen Sie das.«

»Nun, vielen Dank.« Asher wäre fast erstickt, als er den Betrag sah. »Seth, ich ... ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Sie brauchen gar nichts zu sagen. Es soll nur eine kleine Hilfe für Sie sein.«

»Also ...« Asher schluckte. »Vielen, vielen Dank!«

»Keine Ursache, wir haben Ihnen zu danken. Wir rufen Sie bald wegen des Essens an.«

Seth fühlte sich dynamisch und voller Leben, als sie gingen. »Ein großartiger Mensch. Und sehr inspirierend.«

»Das sollte ein Rabbi auch sein«, erwiderte Judy. »Wie viel hast du ihm gegeben?«

»30 Riesen.«

»Seth!«

Seth zuckte die Schultern. »Wir haben es Leuten wie ihm zu verdanken, dass du und ich noch auf der Erde herumlaufen.«

»Ich weiß, aber ... Das war sehr großzügig.«

»Ich bin nur dankbar, dass ich überhaupt etwas geben kann.« Er nahm ihre Hand, als sie zum Wagen gingen. Einige Fußgänger, meistens Paare, spazierten auf den Gehwegen, die Männer gekleidet wie Asher, die Frauen in dunklen, konservativen Kleidern ähnlich wie Lydia Lowen. Diejenigen, die Notiz von Seth und Judy nahmen, lächelten freundlich und winkten. Am Ende der Seitenstraße glitzerte der Fluss, Möwen segelten durch die Luft. »Aber ich finde, jetzt ist es an der Zeit, noch etwas mehr Geld auszugeben«, schlug Seth vor. »Suchen wir uns ein gutes Restaurant.«

III

»Wo seid ihr?«, bellte Rosh in sein Handy für ›spezielle Gelegenheiten‹, ein simples Prepaid-Handy mit Karte und ohne Vertrag. »Ich muss mit euch quatschen.«

»Quatschen, hm?«, antwortete ihm D-Mans undeutliche Stimme. »Kann’s kaum erwarten. Ich muss auch mit Ihnen quatschen. Wir sind in der Nähe der Lichtung – Sie wissen schon, die kleine Stelle am Waldrand, da wo ... Sie wissen schon.«

Rosh glaubte es zu wissen. Seine Neugier rührte sich. »Ist das nicht da, wo ihr Jungs ...«

»Yeah, wir verbuddeln hier Leute – meistens für Sie, R...«

»Erwähnt niemals meinen Namen – oder den Namen von irgendjemandem – am Telefon«, fuhr Rosh ihn an. »Niemals.«

»Yeah, ich weiß ...«

»Wie bitte?«, schnauzte Rosh.

»Yeah, ich weiß ... Sir

»Gut, und vergesst es nicht. Wir sind jetzt in der Stadt – wartet auf uns; in 15 Minuten sind wir da.«

»Wir werden hier sein.« D-Man legte auf.

Was zum Henker machen die beiden Idioten da oben? Rosh klappte sein Handy zu und verzog das Gesicht, als sein Blick wieder auf die Szene vor ihm fiel.

Das SWAT-Team packte seine Sachen zusammen, die Streifenwagen fuhren bereits wieder von dem baufälligen Haus ab, dessen Dach durchzuhängen schien. Ein neuer Tag, ein neues Crackhaus, sinnierte der korrupte Captain. Nur ... nicht das richtige ...

Die Sonne ging schnell unter, als wollte sie fliehen; sie ließ Rosh in orange getönter Dunkelheit zurück. Stein trat aus dem Haus und kam zu ihm.

»Ich kann’s nicht glauben«, murrte Rosh. »Lazy hat uns verarscht. Was für eine Dreistigkeit – Cops anzulügen!«

»Sie hat nicht gelogen, Captain.«

Rosh spürte erwartungsvolle Freude in sich aufsteigen. »Wollen Sie damit sagen, Sie haben Jary Kapp beim zweiten Durchsuchen des Hauses gefunden?«

»Nein«, sagte Stein mit wenig Interesse. »Ich hab nur gesagt, dass Lazy nicht gelogen hat. Jary ist nicht da drin, aber er war da.« Stein klatschte etwas gegen Roshs Brust.

Eine Kappe der Boston Red Sox.

»Sie haben recht«, räumte Rosh ein. »Sein Bruder trug die Yankees, aber Jary trägt immer Red Sox.«

»Dachte, Sie hätten vielleicht gerne ’n Andenken«, spottete Stein mit einem höhnischen Lächeln.

»Yeah, vielen Dank auch. Jetzt kommen Sie. Sie fahren.«

Sie stiegen in den Wagen und fuhren los.

»Jary ist nicht dumm, Captain«, meinte Stein. »Er weiß, dass wir die Netze nach ihm ausgelegt haben, deshalb hält er sich nicht lange am selben Ort auf.«

»Kriecht wahrscheinlich jede Nacht in einem anderen Versteck unter. Das Arschloch hält sich wohl für Bin Laden.«

Stein steckte sich eine Zigarette an. »Wir werden ihn wahrscheinlich kriegen, wenn er versucht, zurück nach Florida zu kommen.«

»›Wahrscheinlich‹ ist nicht gut genug, Stein.« Rosh krallte seine Finger in seinen Oberschenkel. »Ich will ihn.«

»Sagen Sie mir, wo wir hinfahren?«, fragte Stein.

»Zu der Lichtung, wo die beiden Tiefflieger das Gesocks vergraben, das sie für uns umlegen.«

»Warum?«

»Ich will sie nur ... was fragen. Und D-Man sagte, er will auch mit uns reden.«

»Der nächste Austausch ist erst in zwei Tagen fällig. Vielleicht ist er früh dran.«

»Vielleicht«, murmelte Rosh und beobachtete den Mond, der ihnen über die endlosen Felder folgte.

Beide Männer verzogen das Gesicht, als sie hinter dem vertrauten schwarzen Lieferwagen auf der Lichtung hielten. Eine Gaslaterne hing an einem Pfahl und beleuchtete die makabre Szene: D-Man und Nutjob gruben ein Loch.

»Ich dachte, die beiden Arschlöcher erledigen nur Entsorgungsjobs für uns«, sagte Rosh.

Stein schloss den Streifenwagen ab. »Schätze, wir sind nicht ihre einzigen Geschäftspartner. Das ist doch der American Way, oder? Ist das nicht das, wovon Sie ständig reden?« Stein grinste. »Freies Unternehmertum?«

»Halten Sie die Klappe ...«

Die Cops gingen zu den beiden zwielichtigen Gestalten hinüber und sahen ihnen beim Graben zu.

»Wer zur Hölle heuert euch denn noch an?«, fragte Rosh.

»Niemand«, schnaubte D-Man. »Nur Sie.«

»Und was zum Henker vergrabt ihr dann da?«

Nutjob kicherte, während er eine weitere Schaufel voll Erde aus dem Loch hievte. »Wir vergraben nix, Captain. Wir graben was aus

Sie hatten jetzt den Deckel eines behelfsmäßigen Sarges freigelegt, zwei Handbreit unter der Erde. Nutjob stieg in das Loch und begann, mit einem Tischlerhammer den Deckel zu lösen.

D-Man wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn.

»Heilige Scheiße, die stinkt vielleicht!«, jammerte Nutjob, als er den Deckel aufklappte. Er sprang wieder aus dem Loch und fächelte sich Luft zu.

»Hast du erwartet, dass sie nach Hugo Boss riecht, du Schwachkopf?«, schnauzte D-Man. »Die hat einen Tag lang tot in der Erde gelegen!«

Rosh und Stein starrten ungläubig in den Sarg. Das fahle Laternenlicht beleuchtete den nackten Körper in der Kiste: eine bleiche, aber halbwegs attraktive tote Frau Mitte 20 mit guter Figur, kecken Brüsten und kastanienbraunem Haar.

»Carrie Whitaker.« Steins Stimme kratzte wie Sandpapier.

»Alias Lazy«, ergänzte Rosh. Er funkelte D-Man an. »Was soll die Scheiße? Wir haben euch dafür bezahlt, dass ihr sie vergrabt

»Yeah. Und wir haben sie vergraben«, sagte D-Man und nahm einen großen Schluck aus einer Bierdose. »Und jetzt graben wir sie wieder aus. Aber keine Sorge, wir graben sie auch wieder ein.« Er gab Nutjob mit dem Finger ein Zeichen.

»Scheiße«, beschwerte sich der andere. Er hielt sich die Nase zu und stieg wieder ins Loch.

Rosh konnte nur sprachlos zusehen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass etwas zusammen mit der Leiche begraben gewesen war: ein in ein Handtuch gepacktes Bündel. Nutjob musste wegen des Gestanks husten, doch dann nahm er das Bündel, legte den Deckel wieder auf den Sarg und sprang aus dem Loch.

Und dann?

Dann begannen er und D-Man, das Loch wieder zuzuschaufeln.

Stein starrte sie weiter an, während Rosh sich über das Bündel beugte, es vorsichtig mit Daumen und Zeigefinger auspackte und ...

»Drei Pumpernickel-Brote«, kommentierte Stein.

Rosh richtete sich auf und rieb sich die Schläfen. Er sah die beiden Totengräber an, seufzte und sagte: »Sergeant Stein?«

»Ja, Captain?«

»Liegt es an mir, oder ist das hier gerade die bescheuertste Sache, die wir je gesehen haben?«

»Das ist, Sir, die absolut bescheuertste Sache, die wir je gesehen haben ...«

D-Man und Nutjob glucksten und schaufelten weiter Erde in das Loch. Als sie fertig waren, wischten sie sich die Hände ab und trampelten die Erde fest.

»D-Man?«, fragte der Captain anschließend. Er versuchte, seine Stimme zu beherrschen. »Warum ... habt ihr gerade diese Frau ausgegraben ... für die wir euch bezahlt haben ... damit ihr sie vergrabt?«

»Um das Brot rauszuholen«, antwortete der bullige Mann. »Wir haben’s gestern reingelegt, bevor wir sie verbuddelt haben. Aber jetzt brauchen wir das Brot.«

Rosh rieb sich das Gesicht und seufzte erneut. »D-Man? Wozu ... braucht ihr ... gottverdammtes Pumpernickel-Brot ... aus einem GOTTVERDAMMTEN SARG MIT EINER TOTEN CRACKNUTTE?!«

»Fragen Sie besser nicht«, antwortete D-Man und nahm noch einen Schluck Bier. »Wir wissen’s doch selber nicht. Wir tun nur, was der Boss uns sagt – genau wie Sie.«

Speichel flog von Roshs Lippen, als er brüllte: »Ich will wissen, warum ihr die Frau mit drei Broten vergraben und dann wieder ausgegraben habt!«

Das plötzliche Gebrüll ließ mehrere Nachtvögel aus dem Baum hinter ihnen auffliegen.

»Ruhig, Mann. Hab’s Ihnen doch gesagt. Besser nicht fragen.«

»Yeah, Captain«, bekräftigte Nutjob. »Haben Sie noch nie das Sprichwort ›Neugier is’ der Hühner Tod‹ gehört?«

D-Man starrte ihn an. »Es heißt Katze, du Vollidiot! Katze!«

»Oh.«

D-Man zerdrückte die Bierdose zu einem Aluminiumklumpen. »Ist nur irgend so’n Quatsch, Captain. Wir fragen gar nicht erst, warum – wieso auch? Die machen eben manchmal so abgefahrenen Scheiß.«

»Abgefahrenen Scheiß? Yeah, das kann man wohl sagen!«, schrie Rosh und zeigte auf das Brot.

»Ist irgend so’n abergläubischer Kram, aus Europa oder so. Bringt Glück oder was.« D-Man rieb sich seinen verrenkten Rücken und ließ ihn wie eine Walnuss knacken. »Oh ja, und was ich Ihnen noch sagen soll: Der nächste Austausch ist erst zwei Tage später.«

»Bullshit!«, brüllte Rosh. Erst das Gebuddel, dann das Brot und jetzt auch noch das – Rosh war kurz vor einem hysterischen Anfall. »Die Verteiler und Dealer wollen mich jeden Scheißtag mit Geld zuschmeißen! Die können gar nicht genug von dem Mist verkaufen! Es geht ums Business, D-Man! Ich hab denen gesagt, das Zeug kommt übermorgen, also kommt es auch übermorgen!«

D-Man verzog genervt das Gesicht. »Nur die Ruhe, Mann. Es kommt nun mal später. Wenn’s Ihnen nicht passt ...« D-Man reichte Rosh sein Handy. »... dann rufen Sie ihn doch selbst an und sagen Sie’s ihm – was Sie nicht tun werden, weil er nämlich der Typ ist, der die ganze Sache finanziert und Sie mit ins Boot geholt hat.«

Rosh starrte das Handy an, dann gab er es ihm zurück. »Na gut. Zwei Tage später. Scheiße! Irgend ’ne Ahnung, warum?«

»Nee.« D-Man stampfte sich die Erde von den Schuhen. »Wir tun nur, was man uns sagt, Captain – ich, Sie. Denn der Boss ist es, der uns die Taschen füllt.«

»Er hat recht, Captain«, sagte Stein. »So läuft es nun mal. Also was soll’s? Sollen die Crackheads doch ’n paar Tage auf Entzug gehen. Dann werden die auch nicht übermütig.«

Rosh beruhigte sich endlich. »Yeah, okay. Sie haben recht.«

Während Nutjob Schuppen aus seinem Kinnbart kratzte, legte D-Man die Schaufeln in den Lieferwagen, dann warf er die Brote hinterher. »Wir sind hier fertig. Was war’s, was Sie uns sagen wollten?«

Mit dem Mond kam auch das Zirpen der Grillen. Rosh reichte D-Man ein Foto von Jary »Kapp« Robinson. »Das ist der Bruder von einem der Typen, die ihr letzte Nacht am Pine Drive kaltgemacht habt – Jary Kapp.«

D-Man sah das Bild an und nickte. »Kein Problem. Gleicher Deal – fünf Riesen und es wird erledigt. Wo finden wir den?«

Der Blick, den Stein Rosh zuwarf, sah wenig hoffnungsvoll aus. »Wir wissen nicht, wo er steckt, er ist untergetaucht.«

»Aber ihr habt doch bestimmt jede Menge Spitzel auf den Straßen, genau wie wir«, ergänzte Rosh. »Unsere reden entweder nicht oder wissen’s nicht.«

Nutjob musterte seinen Finger, den er gerade aus der Nase gezogen hatte. D-Man riss sich ein neues Bier auf. »Wir haben keine Leute auf der Straße, Mann. Wir sind nur Lieferanten. Sie sind doch die mit den Informanten.«

Rosh schürzte frustriert die Lippen. »Ich will den Kerl nicht umgelegt haben, ich will ihn lebend.«

»Und Sie wissen nicht, wo er ist, also können Sie’s uns auch nicht sagen«, schloss D-Man messerscharf.

»Yeah. Also schätze ich mal, ihr könnt es nicht tun, hm?«

D-Man und Nutjob wechselten einen stummen Blick.

»Was?«, rief Rosh. »Was war das – das da eben? Dieser Blick? Stein, wie würden Sie so was nennen?«

»Ich weiß nicht, Captain. Ich glaube, man würde es einen verschlagenen Blick nennen.«

D-Man holte sein Handy wieder aus der Tasche. »Warten Sie ’ne Minute. Will mal sehen, was ich tun kann.« Dann ging er außer Hörweite.

Nutjob sagte nichts. Er drehte die Laterne aus und verstaute sie hinten im Lieferwagen. Rosh und Stein folgten ihm.

»Nutjob, was ist los?«, fragte Stein. »Entweder ihr habt Informanten auf der Straße oder nicht.«

»Wir haben keine, Mann. Aber ... gibt vielleicht noch ’n andern Weg. Haben wir schon mal gemacht. Aber fragen Sie besser nicht genauer nach.«

Noch mehr abgefahrener Scheiß, dachte Rosh gereizt. Yeah, Neugier ist der Hühner Tod. Und wenn es etwas gab, wovon er mehr als genug hatte, dann war das Neugier.

D-Man kam zurück. Er runzelte die Stirn, als er sah, dass Nutjob sich schon wieder einen Joint drehte. »Dieser Job, von dem Sie reden – der Boss sagt, wir können’s machen. Kostet aber zehn Riesen, nicht fünf. Sie wollen den Kerl lebend, das ist riskanter.«

Bringt nichts, sich drüber zu ärgern, dachte Rosh. »Okay, aber wie wollt ihr das machen, wenn wir nicht wissen, wo Jary steckt?«

»Das ist der Haken dabei. Wir können’s machen, aber wir brauchen was, was dem Typen gehört«, erklärte D-Man. »’ne Uhr, ’n T-Shirt, ’n Schuh ...«

Roshs Stimme überschlug sich fast. »Oh, lass mich raten! Vielleicht auch ’n Haar oder ’n Fingernagel?«

»Yeah, irgendwas in der Art ...«

»Oh Mann, jetzt hör aber auf! Ist es das, was hier abgeht? Voodoo oder so ’ne Scheiße?«

D-Man zögerte. »Glaub wohl. So was Ähnliches. Wenn Sie den Job erledigt haben wollen, brauchen wir was von seinen Sachen. Warum meckern Sie immer an allem rum?«

Jetzt hatte Rosh die Nase voll. »Großartig. Das ist wirklich großartig. Und selbst wenn ich an solche Scheiße glauben würde – was ich nicht tue –, Scheiße, wir haben nichts von seinen ...«

»Doch, haben wir, Captain.« Das war Stein, der vom Streifenwagen zurückkam. »Geht’s damit?« Er gab D-Man die Red-Sox-Kappe.

»Guter Gedanke!«, sagte Rosh.

»Wenn die dem Typen gehört, dann geht’s damit«, versicherte D-Man ihm. »Und die zehn Riesen sind im Voraus.«

Rosh sah ihn finster an. »Glaubst du, ich trage so viel Bargeld mit mir rum?«

»Yeah.«

Rosh gab ihm ein Bündel 100-Dollar-Noten.

»Alles klar«, meinte D-Man. »Wir rufen Sie an, wenn wir ihn haben.«

Rosh war geplättet. »Einfach so? Ihr wollt mich verarschen. Wegen einer Scheißmütze?«

»Yeah«, sagte D-Man, und dann stiegen er und Nutjob in den Lieferwagen und fuhren davon.

Rosh und Stein wechselten einen Blick – einen Blick, der nicht verschlagen war, sondern fast schon furchtsam.

IV

»Also, ich würde sagen, dass unser erster Ausflug nach Lowensport und Somner’s Cove ein voller Erfolg war«, meinte Seth, als er den Tahoe auf den Vorplatz lenkte. Der Mondschein am wolkenlosen Himmel machte aus ihrem Haus einen scharf umrissenen Scherenschnitt.

»Zwei völlig unterschiedliche Orte«, sagte Judy, »aber beide auf ihre Weise einzigartig. Und die gedämpften Krebse in Somner’s Cove waren köstlich.«

»Crazy Alan’s Crabhouse.« Seth lachte leise. »Ich frage mich, ob es tatsächlich einen Crazy Alan gibt ...« Seth legte den Arm um Judy. Zusammen gingen sie ins Haus. Sie hatten sich in Somner’s Cove mit Krebsen vollgefuttert, dann waren sie noch ein bisschen durch die Stadt und über die Straßen an der Bucht gefahren, von denen viele nichts weiter als Pisten aus zerstoßenen Muschelschalen waren, wie so viele Straßen in der Gegend. Der Sonnenuntergang war atemberaubend gewesen. Auf der Rückfahrt wusste Seth allerdings nicht mehr, welchen Weg er nehmen musste, und so mussten sie schließlich durch ein überraschend weitläufiges Slum fahren, das scheinbar absichtlich möglichst abseits der besseren Stadtviertel platziert worden war. Wahrscheinlich hat jeder Ort seine dunkle Seite, vermutete Seth. Judy war ungewöhnlich still gewesen: Junge Männer, die nur Drogendealer sein konnten, lungerten an jeder Straßenecke herum. Sie könnte gut auf solche Erinnerungen an ihre Vergangenheit verzichten, dachte er, und dann stolperte an der nächsten Ecke ein Betrunkener aus einem schäbigen Saloon und brach auf dem Gehsteig zusammen. Und ich könnte gut auf so was verzichten ... Seth fuhr aus der Stadt heraus, so schnell er konnte.

Judys Stimmung änderte sich in dem Moment, als sie zum Haus zurückkamen. Seth hoffte, dass sie sich genauso neugeboren fühlte wie er. Die Unterhaltung mit Asher Lowen hatte sie beide mit etwas Unbenennbarem erfüllt. »So wirkt eine Beichte nun mal«, hatte Judy nach dem Besuch gemeint. »Denn nichts anderes haben wir getan – wir haben bei ihm gebeichtet.«

»Na ja, nicht ganz, aber stimmt – ich fühle mich jetzt viel besser, besser als seit Langem«, hatte Seth geantwortet. Er hatte Asher jedoch nichts von seiner Anklage wegen Trunkenheit am Steuer erzählt, als er damals über die Mittellinie geraten und in die Leitplanke gekracht war – und einen Kleinbus voller Kinder nur um einen Meter verfehlt hatte. »Ich habe es einfach nicht über mich gebracht, ihm von meinem Unfall zu erzählen.«

»Und ich war nicht besonders scharf darauf, ihm einzugestehen, wie tief mich die Drogen am Ende wirklich nach unten gezogen haben.«

Seth nickte. »Aber es hätte keine Rolle gespielt – da bin ich mir sicher. Wir hätten ihm das alles erzählen können und er hätte es trotzdem noch verstanden.«

Als sie jetzt im Haus waren, ging Seth gewohnheitsmäßig in sein Büro, um nach Mails zu sehen, aber kaum hatte er sich über den Schreibtisch gebeugt, als Judy sich hinter ihn stellte und die Hände unter sein T-Shirt schob. »Oh, willst du mich anbaggern?«, fragte er.

»Yeah«, flüsterte sie. »Hast du damit ein Problem?«

»Nicht im Geringsten ...«

»Warum siehst du nicht auch nach meinen E-Mails«, hauchte sie gegen seinen Hals, »während ich ...« Ihre Hand wanderte tiefer, ihre Finger sondierten den Bund seiner Hose.

Erregt wand Seth sich unter ihrer Berührung. Er loggte sich in ihren Account ein, dachte: Zur Hölle mit den E-Mails, drehte sich um und fand sie bereits bis auf BH und Höschen entkleidet. »Das muss weg«, murmelte er und wollte ihren BH aufmachen, als ...

»Oh, sieh mal«, rief sie, als sie über seine Schulter auf den Monitor schaute. »Ich hab eine Mail. Lass mich mal schnell reinschauen.« Sie schob sich an ihm vorbei und beugte sich über die Tastatur.

Seth hätte jaulen können. »Es macht dir wohl Spaß, mich scharfzumachen, was?«

»Das ist nicht Scharfmachen, das ist Anheizen«, lachte sie. »Ich heize dich an.«

Ihm lag ein frecher Kommentar auf der Zunge, aber dann verschlug ihr Anblick ihm wieder einmal die Sprache: kaum bekleidet, die Haut glänzend, nach vorne über die Tastatur gebeugt. Seth konnte nicht anders; er stellte sich hinter sie, rieb seinen Unterleib an ihrem Hintern und ließ seine Hände nach vorne gleiten, um ihr den BH von den Brüsten zu schieben. Sie spannte die Muskeln an und sog zischend die Luft durch die Zähne, als seine Finger ihre Brustwarzen berührten. »Kannst du nicht warten? Ich habe eine E-Mail ...«

»Die Mail kann warten, aber ich hab hier was, das nicht warten kann«, sagte er. Er spürte, wie ihre Nippel unter seinen Fingern hart wurden. »Außerdem hast du damit angefangen ...«

Judy kicherte, klickte auf ›Drucken‹, dann drehte sie sich um und setzte sich auf den Schreibtisch. Beim Anblick dieses neuen, noch aufreizenderen Bildes bekam Seth weiche Knie: Judy sitzend mit leicht gespreizten Beinen, ihre nackten Brüste sichtlich erregt. »Wir können es jetzt sofort tun ...« Sie kicherte noch einmal. »Oder ...«

»Oder was?«

»Oder wir sehen uns die Übersetzung an!«, rief sie und sprang vom Tisch. Ihre Brüste hüpften, als sie zum Drucker huschte.

»Übersetzung?« Seth verzog das Gesicht. Macht sie das mit Absicht oder ist sie nur zerstreut?

»Von meiner Freundin Wanda«, erinnerte sie ihn. »Sie hat das aramäische Gebet übersetzt, das wir in der Mesusa gefunden haben.«

Oh, das ..., dachte Seth, während seine Erregung abflaute.

Aufgeregt nahm sie das Blatt aus dem Drucker und las es unter der Lampe. Plötzlich schien ihr Enthusiasmus stufenweise abzuklingen und wurde durch Verwirrung oder eine Art feierlichen Ernst ersetzt.

»Nicht ganz das, was ich erwartet hatte«, murmelte sie. »Ich dachte, es wäre vielleicht so eine Art Baruch ...«

»Du meinst ein jüdischer Segen.«

»Ja, wie ein Haussegen oder so was, aber ...« Sie schüttelte den Kopf.

»Offenbar stehst du darauf, mich scharfzumachen und mich dumm sterben zu lassen ...«, beschwerte sich Seth.

All ihre vorherige sexuelle Erregung war nun verschwunden. »Oh, tut mir leid, es ist nur – das Haus wurde nicht von einem Rabbi gesegnet, es wurde, na ja, sozusagen exorziert

»Ach, hör auf!«

»Wanda sagt, es gab viele jüdische Exorzismusrituale, bei denen eine Schale heiliges Wasser benötigt wurde. Wir haben unten eine Schale gefunden, nicht wahr? Ich bin sicher, dass die Schale dafür diente. Und Wanda sagt auch, dass bei bestimmten Ritualen häufig eine Alraunwurzel verwendet wurde ...«

Das ließ Seth die sarkastische Bemerkung vergessen, die ihm auf der Zunge lag. »Da war doch auch eine Wurzel in der Geheimkammer. Sah aus wie eine verrottete Möhre oder so etwas.«

»M-hm. Außerdem gehörte immer eine Menora dazu, und auch die haben wir gefunden.«

»Wie lautet die Übersetzung?«, wollte Seth wissen.

»Oh, natürlich – ich lese sie dir vor.« Sie rezitierte: »Ich beschwöre dich, En Soph, erhöre unser Flehen. S’mol und all sein Gefolge – hinfort! Heilige Engel, erhört unser Flehen. S’mol und all sein Gefolge – hinfort! Und er sei auf ewig aus diesem Hause gebannt durch Deine Macht, der Du bist auf ewig, und es geschehe, dass allem, das von S’mol und all seinem Gefolge befleckt wurde und hier gebettet sein mag, auf ewig der Einlass verwehrt werde. Ich beschwöre dich, En Soph, erhöre unser Gebet.«

Seth verstand kein Wort. »Hinfort?«

»Das sagte man früher so«, erklärte sie. »Und S’mol ist ein hebräischer Name für Luzifer. Das ist alles sehr seltsam, Seth.«

»Ja, das finde ich auch. Willst du damit sagen, dass unser Haus exorziert wurde ...?«

»Nicht im landläufigen Sinne. Wanda meint, dies sei ein traditionelles Abwehrritual.«

»Hä?«

»Normalerweise verstehen wir unter Exorzismus ein Ritual, das böse Geister aus lebenden Menschen vertreibt, die von ihnen besessen wurden. Das hier dagegen ist ein bisschen anders. Es fleht En Soph – Gott – an, alles Böse aus dem Haus zu vertreiben.« Sie hob zur Betonung einen Finger. »Aber was hältst du von dieser Formulierung? ›... dass allem, das von S’mol und all seinem Gefolge befleckt wurde und hier gebettet sein mag, auf ewig der Einlass verwehrt werde.‹«

»Mit ›Einlass‹ muss ›ins Haus kommen‹ gemeint sein«, sagte Seth.

»Das denke ich auch, aber ich meine etwas anderes.« Sie sah ihn an, um seine Reaktion zu beobachten. »›... dass allem, das von S’mol und all seinem Gefolge befleckt wurde und hier gebettet liegt ...‹«

Jetzt kapierte Seth. »Gebettet – begraben

»Begraben im Haus«, ergänzte Judy.

Ach, du heilige Scheiße! »Du glaubst doch nicht ...«

»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Jemand dachte wohl irgendwann, dass etwas Böses in diesem Haus begraben lag.«

Seth sah den Kellerboden aus festgestampfter Erde vor sich. »Croter sagte, Gavriel Lowen starb im August 1880 ...«

»Dieses Gebet datiert vom September 1880. Ich wette ...«

»Nein, nein, Gavriel Lowen wurde hier nicht begraben. Ich meine ... mein Gott, sie fesselten ihn an eine Kiste Dynamit und jagten sie in die Luft, drüben im Sägewerk. Croter hat’s mir erzählt – und, na ja, ich wollte dir eigentlich die grausigen Details ersparen, aber Gavriels Körper wurde völlig zerfetzt. Das Einzige, was man fand, war sein Kopf, und der wurde nicht hier begraben, sondern am Sägewerk.«

»Das sind wirklich grausige Details, in der Tat. Aber wer ist dann im Keller begraben?«

Sie schwiegen eine Weile, dann riss Seth sich aus seinen Gedanken. »Wahrscheinlich liegt da unten niemand begraben, und selbst wenn, würde es uns nichts angehen. Und das hier ...« Er nahm das aramäische Pergament, das sie im Mesusa-Behälter gefunden hatten. »... gehört dahin, wo wir es gefunden haben.« Vorsichtig schob er die Rolle wieder in das verzierte Kästchen.

»Bist du plötzlich religiös geworden?«

Seth sagte nichts, aber dann sah er sie an. »Kommst du nicht mit?«

»Du fragst mich, ob ich mitten in der Nacht runter in den Keller gehen will, um ein Exorzismusgebet zurück in einen Schrank in einer Geheimkammer in einem Keller zu legen, wo jemand begraben sein könnte? Dreimal darfst du raten, und dein erster Versuch sollte Nein sein!«

Seth lächelte, nahm sich eine Taschenlampe und ging zur Tür. »Ich hoffe mal, dass Gavriel Lowens Kopf nicht da unten auf Fledermausflügeln herumfliegt.«

»Seth!«

»Ich lasse die Tür auf, dann kann er hier hochfliegen und dir Hallo sagen. Ich wette, er hat Vampirzähne ...«

»Sei still, Seth!«

Seth grinste und verließ das Zimmer. Judy zog sich einen Morgenmantel über und rannte ihm hinterher.

Als sie draußen waren, klappte Seth die Kellertüren auf und ließ sich vom grellen Strahl der Taschenlampe in die kühle, nach Erde riechende Finsternis führen. »Das gefällt mir nicht«, beschwerte sich Judy. Die Taschenlampe malte dunkle Schatten auf ihr Gesicht und ließ ihr Stirnrunzeln deutlich erkennen.

»Ich wusste gar nicht, dass du Angst im Dunkeln hast«, meinte Seth amüsiert.

»Ich habe nur Angst im Dunkeln, wenn ich in einem Keller bin, in dem Tote begraben sein könnten.«

Seth brauchte ein paar Momente, um den versteckten Eingang zum Nebenraum zu finden. Er drückte die drei Holzbohlen auf und ging hindurch. Aus irgendeinem Grund ist es hier wärmer, dachte er.

»Siehst du? Es ist nichts dabei«, sagte er, als er die hölzerne Mesusa zurück in den Schrank legte. Sein Blick verharrte auf der vertrockneten Wurzel. »Alraune, hat deine Freundin gesagt?«

»Ja. Jahrtausendelang glaubte man, dass sie übernatürliche Eigenschaften besitzt. Manchmal hat die Wurzel so eine Art Sternform, die einem menschlichen Körper ähnelt ...«

Seth nahm sie in die Hand.

»... und sie ist giftig.«

Seth legte sie wieder hin.

»Ich glaube, man kann guten Gewissens davon ausgehen, dass sie nach den über 100 Jahren, die sie schon hier drin ist, ihre Wirksamkeit verloren haben dürfte.«

Seth betrachtete die Menora und die Holzschale, dann schloss er den Schrank. »Siehst du, keine kettenrasselnden Gespenster.«

»Du klingst enttäuscht.« Judy war zum anderen Ende des engen Raumes gegangen. »Hier ist gar nichts, auf dieser ganzen Seite ...« Doch dann erregte etwas ihre Aufmerksamkeit. »Was ... Seth, kannst du mal hierherleuchten?«

Seth tat es und Judy ging auf die Knie. Offenbar war sie mit dem nackten Fuß im Dunkeln gegen etwas gestoßen und jetzt scharrte sie mit ihren Fingern in der Erde. »Das fühlt sich an wie ...«

Als Seth näherkam, änderte sich der Winkel des Lichteinfalls.

Und Judy schrie.

Die ganze Atmosphäre machte den Schrei umso durchdringender. Seth standen die Haare zu Berge, als er zu ihr eilte. »Was ist?«

Judy sprang auf, drückte sich mit dem Rücken an die Wand und krächzte: »Da ist ein Skelett in der Erde!«

Seth stockte, doch dann runzelte er die Stirn. Selbst wenn da tatsächlich eins ist – das ist nichts, wovor man Angst haben muss. Er kniete sich hin, bemerkte die leichte Erhebung. Er berührte sie, dann grub er ein bisschen mit den Fingern. »Wow!«, meinte er.

»Was?!«

»Du hast recht.« Vorsichtig legte er eine Skeletthand frei. Seth war selbst überrascht von dem Gleichmut, mit dem er dieses abgetrennte Körperteil, das sicherlich über 100 Jahre hier vergraben gelegen hatte, hochhob. »Es ist ... eine Hand ... aber ...« Er betrachtete sie genauer im Licht der Taschenlampe. »Judy, sieh dir das an, das ist ...«

»Oh, Scheiße, Seth! Ich will mir das nicht ansehen!«

»Würdest du dich bitte zusammenreißen? Du bist eine College-Professorin, um Himmels willen. Du bist ein objektiver Mensch. Du weißt, dass es nichts gibt, wovor du dich fürchten musst.«

Judy beruhigte sich ein wenig. »Ich weiß. Es ist nur ... nicht gerade meine Vorstellung von Spaß, so eine verdammte Skeletthand in unserem Keller zu finden.«

»Tja ...« Er kratzte an der Oberfläche des Fundes. Es war nichts weiter als eine verdorrte Hand, aber ... »Ich weiß nicht, was das für ein Zeug um die Knochen herum ist ...«

»Mumifiziertes Fleisch, würde ich mal tippen«, sagte sie spöttisch und hockte sich schließlich doch neben ihn.

»Aber es ist grau

»Mumifizierte Leichen sind üblicherweise braun oder gelb, zumindest die, die ich in Museen oder in der Archäologischen Fakultät gesehen habe. Außerdem sollte die Haut ledrig sein.«

Seth hielt ihr die lange schmale Hand hin. »Die ist überhaupt nicht ledrig.« Er kratzte mit einem Fingernagel daran. »Das ist mehr wie getrockneter Schlamm oder so was.«

Jetzt siegte Judys Neugier über die Abscheu. »Das sieht eher wie Lehm aus.«

»Lehm? Hm, jetzt wo du’s sagst ...«

Sie nahm ihm die Hand ab und sah sie sich genauer an. »Ja, genau so sieht es aus und fühlt es sich an – getrockneter Lehm, fast wie Steingut. Aber warum sollte eine Skeletthand mit Lehm bedeckt sein?«

Seth nahm sie ihr wieder ab. »Ich glaube nicht an Gespenster oder Zombies, aber an eines glaube ich: an Respekt vor den Toten.« Er legte die Hand zurück in die flache Erdvertiefung. »Weswegen machen wir uns hier eigentlich so viele Gedanken? Wir sind über ein Grab gestolpert, wahrscheinlich von einem von Gavriel Lowens Angehörigen. Nichts, worüber man sich aufregen müsste.«

»Ich weiß«, gab Judy ihm recht. Unbewusst rieb sie ihr kleines Kreuz zwischen Daumen und Zeigefinger. »Es ist nur ein bisschen gruselig. Zumindest wäre es mir lieber gewesen, wir hätten es am Tag gefunden.«

»Oder gar nicht.« Seth schob die Erde wieder über die Hand und klopfte sie fest. Er sah Judy an, mit einem seltsamen Gefühl. Wir haben gerade ein Grab entweiht ... »Kennst du ... irgendwelche Gebete für so was hier?«

»Äh ...« Sie überlegte. »Ich glaube, ich kann eins zusammenschustern. Herr, sei diesem hier beigesetzten Menschen gnädig und vergib ihm seine Sünden. Beschirme seine Seele mit dem Schatten deiner Flügel und führe ihn auf den Weg des ewigen Lebens.«

»Amen.« Seth half ihr hoch. »Das war perfekt. Jetzt lass uns hier verschwinden und nie wiederkommen.«

Judy nickte und folgte ihm schnell hinaus.

Seth steckte einen Finger in ein Loch in der Außenseite der beweglichen Bohlen und zog die Geheimtür zu. »Mach schon!«, drängte Judy ihn, noch immer ein bisschen nervös.

»Was denn, willst du nicht hier unten mit mir schlafen, so wie wir es gestern fast getan hätten?«

»Nein!«

Er grinste über der Taschenlampe. »Sicher?«

Judy beeilte sich, zur Treppe zu kommen.

Seth folgte ihr, doch dann blieb er stehen, nachdem er den Lampenstrahl ein letztes Mal durch den Keller hatte wandern lassen. »Warte, warte!«, rief er nach draußen.

»Was ist?«

»Kommt dir nicht irgendwas ...« Seths Blick folgte dem Schein der Lampe, der über den Rasenmäher, die Benzinkanister und die Gartenstühle schwenkte, hinter denen die wuchtige Masse der Fässer stand.

»Oh, Seth, kommst du jetzt bitte?«

»Im Ernst. Sieh doch mal. Irgendwas ist anders.«

Widerwillig kehrte Judy um und schaute zu den Fässern. »Mein Gott, du hast recht!« Sie zählte die Fässer, dann sah sie ihn an. »Seth, waren es nicht zehn Fässer, die auf dem Schiff gefunden wurden?«

»Ja. Zehn.«

Judy schluckte. »Jetzt sind es nur noch sechs ...«