TEIL ZWEI
OLYMPIA
»Es gibt viele wunderbare Dinge, die man in Griechenland sehen und von denen man hören kann, aber es gibt eine einmalige Göttlichkeit in der Einstellung zu den Spielen in Olympia …«
Pausanias, Reisen in Griechenland
VI
Erster Halt Olympia.
Falsch. Erster Halt Tarentum. Zweiter Kyllene. Dritter Elis. Vierter Letrinoi. Fünfter Halt Olympia.
Von Rhegium aus waren wir um den Stiefel von Italien und wieder nach Norden gesegelt – die falsche Richtung, aber anscheinend der Weg, den griechische Siedler aus Süditalien immer einschlugen, wenn sie zu den Spielen segelten. Nach einem nicht im Budget vorgesehenen Aufenthalt in Tarentum mussten wir einen weiteren langen Weg hinunter nach Griechenland durchstehen und gerieten in den Sturm.
Die Winde trieben uns nach Kyllene, einem typischen kleinen Seehafen, in dem den Einheimischen wegen des Wetters sowohl der Fisch als auch die Geduld ausgegangen war, wenngleich sie nicht vergessen hatten, wie man doppelte Preise für Unterkünfte nahm. Ich blieb gelassen. Ich nehme meine Pflichten als männlicher Anführer einer Gruppe ernst, welche darin bestehen, Blutsauger abzuwehren, Taschendiebe zu übertölpeln, in unerwarteten Augenblicken zu verschwinden und, wenn alle kurz vor dem Zusammenbruch sind, fröhlich auszurufen: »Na, ist das nicht ein Spaß?«
Zum Glück hatten wir Landkarten mitgebracht, denn die Einheimischen schienen nichts über ihren Bezirk zu wissen. Sie gaben alle vor, nie in Olympia gewesen zu sein. Wir reisten über Land nach Elis, einer uralten Stadt, die sich das Recht geschnappt hatte, Gastgeber und Ausrichter der Olympischen Spiele zu sein. Von Elis (das sich dieses Recht im Kampf erobert hatte) werden Herolde mit Olivenzweigen zum Zeichen allgemeinen Friedens durch die griechische Welt geschickt, um einen Waffenstillstand aller laufenden Kriege zu verkünden und jedermann zum Besuch des Festes einzuladen. Teilnehmende Wettkämpfer sind verpflichtet, einen Monat lang in Elis zu trainieren (Geld auszugeben, dachte ich zynisch), bevor sie nach Olympia weiterziehen.
Wir wussten, dass Aulus weiter südlich an der Küste des Peloponnes gelandet und auf dem Fluss nach Olympia gelangt war. Der Alphaios ist schiffbar; schließlich war das der mächtige Fluss, den Herakles geteilt hatte, um die Ställe des Augias auszumisten. Helena hatte auf die Karte geschaut und für uns die traditionelle Straßenroute gewählt. Die Route war uralt und anscheinend nie von einer Wartungsmannschaft aufgesucht worden, seit sie aus dem Fels gehauen worden war. Den Prozessionsweg einzuschlagen brachte uns in engen Kontakt mit griechischen Eseln, ein Thema, über das sich unsere Tagebücher in voller Schriftrollenlänge ausgelassen hätten – wäre uns dafür die Energie geblieben.
Wir brauchten zwei Tage für den Weg von Elis. Unterwegs mussten wir in Letrinoi übernachten. Zuschauer und Teilnehmer an den Spielen tun das auch, aber sie bringen Zelte mit. Uns blieben nur die engen Unterkünfte im Dorf. Wir gingen spät zu Bett und zogen früh wieder los.
In Letrinoi trifft der Prozessionsweg auf einen Ausläufer von der Küste bei Pheia, eine weitere Besucherroute, aber der Zustand wurde nicht besser. An manchen Stellen hatten die griechischen Straßenbauer Doppelrinnen für Streitwagenräder ausgehoben. Einspurig. Mehrfach wurden wir durch Karren, deren Räder in diesen Rinnen stecken geblieben waren, gezwungen, von der Straße abzuweichen. Die wenigen Ausweichstellen waren entweder von Pilgern besetzt, die nach Elis oder Pheia zurückkehrten und hier Picknick machten, oder von finster aussehenden Einheimischen und ihren räudigen Ziegenherden.
Ein- oder zweimal gelang es uns, die Picknickplätze zu erobern. Wir breiteten einen einfachen Wollteppich aus, hockten uns darauf zusammen und richteten unsere hingerissenen Blicke auf die sonnigen, mit Kiefern bestandenen Hügel, über die wir langsam kletterten. Dann erhoben wir uns alle und versuchten den Teppich auf sandigeren Untergrund zu legen, wo es nicht so viele spitze Steine gab. Während der Wassersack rund ging, bröckelten wir ranzigen Schafskäse auf unsere Tuniken und stritten uns um Oliven. Wie gewöhnlich hatte Helena die Verantwortung für topographische Nachforschungen übernommen und versorgte uns mit Kommentaren, um in uns Ehrfurcht für die ehrwürdigen religiösen Stätten zu wecken, in die wir eindringen würden.
»Olympia ist das Hauptheiligtum des Zeus, den wir Jupiter nennen. Es ist heilig und abgelegen …« Ich stieß ein Schnauben aus. Abgelegen war es hier allerdings. »… und war schon alt, noch bevor der große Tempel erbaut wurde. Er ist ein Heiligtum der Gaia, der Erdmutter, die Zeus geboren hat – ich will übrigens nicht, dass sich einer von euch an irgendwelchen Fruchtbarkeitsriten versucht –, und wir werden den Hügel des Kronos sehen, welcher der Vater von Zeus war. Herakles verrichtete hier seine zwölfte Arbeit. Die Statue des Zeus in seinem Tempel wurde von Pheidias geschaffen, den wir Phidias nennen, und ist eines der sieben Weltwunder. Wie ihr alle wisst …« Sie verstummte, da sie ihr Publikum verloren hatte. Ich zumindest döste im Sonnenschein.
Gaius und Cornelius rangen miteinander. Mir ging auf, dass Cornelius einer jener dicklichen Jungen war, die stets für älter gehalten werden. Vermutlich war er erst elf oder zwölf, was bedeutete, dass ich auf ihn aufpassen musste. Gaius musste inzwischen sechzehn sein, tätowiert und mit rattenartigen Gesichtszügen, allerdings mit einer liebevollen Ader, die er unter dem Wunsch verbarg, wie ein Barbarensöldner auszusehen. Jeder dieser beiden Lümmel hatte einen dicken Schopf ungebärdiger schwarzer Didius-Locken. Ich befürchtete, Fremde könnten sie für meine Söhne halten.
»Wird der junge Glaucus bei den Spielen antreten?«, wollte Cornelius von mir wissen. Er fragte den jungen Glaucus nicht selbst, denn der junge Glaucus sagte nie viel. Im Moment führte er eine Übung durch, bei der er auf allen vieren hockte und langsam das rechte Bein und den linken Arm ausstreckte und hielt. Das wäre nicht weiter schwierig gewesen, wenn er nicht gleichzeitig eines unserer größeren Gepäckbündel auf seinen gewaltigen Schultern balanciert hätte. Während sich seine Sehnen dehnten und die Muskeln bebten, merkte ich, wie ich zusammenzuckte.
»Ja, Cornelius. Er möchte die Situation in Augenschein nehmen, um für nächstes Jahr bereit zu sein. Wohlgemerkt, ich habe seinem Vater versprochen, ihn sicher wieder heimzubringen, ohne auf dumme Gedanken zu kommen.«
»Hast du das meinem Vater nicht auch versprochen?«
»Nein. Verontius sagte, ich könnte dich gegen eine hübsche kleine Athener Magd eintauschen.« Das hatte Verontius tatsächlich gesagt. Da mir Cornelius das zutraute, blickte er besorgt.
»Man muss Grieche sein«, warf Gaius ein, »um an den Spielen teilzunehmen.«
»Nicht mehr!«, höhnte Cornelius. »Rom regiert die Welt!«
»Wir regieren mit einem freundlichen Zepter, tolerieren örtliche Bräuche.« Als ihr Onkel war es meine Pflicht, sie in Politik zu unterweisen. Die Griechen hatten nicht mehr das Monopol auf demokratisches Gedankengut, obwohl ich in den Thermen meine Ohren gespitzt hielt. Ich hatte die modernen Theorien gehört. Die Jungs starrten mich an, glaubten, ich wäre zum Weichei geworden.
Unsere Toleranz gegenüber Ausländern wurde bald auf die Probe gestellt. Zwei Querfeldeinläufer kamen vorbei und schauten neidisch auf unseren Sitzplatz. Wir rückten zusammen und boten ihnen vier Zoll Boden an. Im Geiste des olympischen Ideals (und in der Hoffnung, an ihrem Weinschlauch teilzuhaben) schlossen wir Freundschaft. Sie waren Sportbegeisterte aus Germanien, zwei große, schwabbelige, blonde Weinhändler vom Fluss Rhenus. Ich erkannte die spitzen Kapuzen, die sie trugen, befestigt an Umhängen mit dreieckigen Aufschlägen. Wir sprachen über Orte im Norden. Dann witzelte ich: »Und wieso habt ihr das Datum verwechselt?«
»Ach, dieser Nero! Er hat alles durcheinandergebracht.«
Im Jahr vor seinem Tod hatte Kaiser Nero mit großem Aufwand Griechenland bereist. Da er bei allen traditionellen Spielen auftreten wollte (und die »Nur-für-Griechen«-Regel einfach missachtete), hatte er den Organisatoren befohlen, die Olympischen Spiele zwei Jahre vorzuverlegen, nur damit er an den Wettkämpfen teilnehmen konnte. Dann schockierte er griechische Empfindsamkeiten durch den »Gewinn« des ersten Preises beim Wagenrennen, obwohl er rausfiel und das Rennen nie beendete. Später mussten die Wettkampfrichter das Geld zurückzahlen, mit dem Nero sie bestochen hatte, und die Spiele fanden wieder in ihrem angestammten Vierjahresrhythmus statt – aber die Leute waren jetzt vollkommen verwirrt.
Als junge Männer waren die beiden Germanen in jenem berühmten kaiserlichen Jahr der Farce hier gewesen. Sie bestätigten, was wir gehört hatten – die Spiele zu besuchen kann ein Alptraum sein.
»Tausende von Menschen zusammengepfercht in ein provisorisches Dorf, das sie einfach nicht alle aufnehmen kann. Die Hitze ist unerträglich. Kein Wasser, keine öffentlichen Bäder, keine Latrinen, keine freien Unterkünfte – der Lärm, das Gedränge, der Staub, der Rauch, das stundenlange Schlangestehen …«
»Letztes Mal mussten wir unter einer an Büschen befestigten Decke schlafen. Die Zimmer in den Gästehäusern sind schon lange im Voraus an die reichen Sponsoren der Athleten vergeben und an die Besitzer der Streitwagenpferde, die natürlich noch reicher sind.«
»Und was habt ihr in diesem Jahr gemacht?«
»Ein anständiges germanisches Zelt mitgebracht.«
»Musstet aber feststellen, dass keine sportlichen Wettkämpfe stattfanden?«
»Ach, wir haben halt die magische Atmosphäre des Heiligtums genossen und uns fest vorgenommen, nächstes Jahr wiederzukommen.«
»Ist für euch ja eine ganz schön lange Reise.«
»Die Spiele sind etwas Besonderes!« Ihre Augen wurden glasig, aber das konnte auch am Wein liegen. »Der abgelegene, waldige Ort, die Atmosphäre der Hingabe, die ganze großartige Schau – die Siegesfeste …«
Wir fragten sie, ob sie davon gehört hatten, dass in diesem Jahr ein römisches Mädchen ermordet worden sei. Das schien sie zwar zu faszinieren, aber sie verneinten. Dann wies uns einer der Germanen feierlich darauf hin, dass es kein Ort für ein Mädchen sei. »Frauen werden während der Spiele traditionell vom Austragungsort verbannt.«
»Außer Jungfrauen – und wo gibt’s die schon?« Sie lachten beide mit kernigem germanischem Humor.
Wir lächelten höflich, fühlten uns aber überlegen. Nun ja, wir waren Römer und sprachen mit Ausländern aus einer unserer Provinzen. Sie waren fröhliche Burschen, aber es war unsere Pflicht, sie zu zivilisieren. Wobei ich allerdings keine Anzeichen sah, dass sie sich diesem Prozess unterwarfen.
Unser Unbehagen konnte nur schlimmer werden. Wir befanden uns jetzt in der Wiege der Demokratie, die wir uns vor ein paar Jahrhunderten unter den Nagel gerissen hatten. Nirgends im Imperium fühlten sich Römer so fehl am Platz wie in Griechenland. Einem Land Demokratie aufzuzwingen, das diese bereits besaß, warf ein paar Fragen auf. Die Urheber der größten Ideen der Welt niederzuknüppeln (und diese Ideen unverfroren zu klauen) machte uns nicht stolz. Auf dieser Reise würden wir zwangsläufig viel Zeit damit verbringen, hochmütig zu sein. Das war unsere einzige Verteidigung.
Ich begriff allmählich, warum Sieben Stätten seine Reisegruppen in den Jahren herbrachte, in denen keine Spiele stattfanden – um die grauenhaften Bedingungen zu vermeiden, die uns gerade beschrieben worden waren. Und wenn Frauen nach wie vor nicht ins Stadion und ins Hippodrom durften, wäre es in olympischen Jahren für weibliche Reisende ziemlich langweilig. Nachdem die Römer nun in dieser Provinz das Sagen hatten, hätte die Nur-Männer-Regel abgeschafft werden können, doch ich wusste, dass die Römer dazu neigten, die Griechen sich selbst zu überlassen. Die Kaiser wollten ihre eigenen großen Feste, abgehalten in Rom, um ihr Prestige zu erhöhen. Sie waren nicht daran interessiert, die alten hellenistischen Zeremonien zu modernisieren. Sie legten ein Lippenbekenntnis zur Geschichte ab, sahen es aber gerne, wenn konkurrierende Attraktionen ausstarben.
Wir konnten die Tatsache übersehen, dass einer unserer eigenen Herrscher die Bewertungskriterien herabgewürdigt hatte. Ich fragte mich, wie die kaiserliche Haltung sein würde, wenn Olympia einen gewalttätigen Ruf bekäme. Würde es Vespasian, der Verfechter von Familienwerten, auf sich nehmen, hier mal richtig aufräumen zu lassen?
Wahrscheinlich nicht. Das Problem wäre ein griechisches. Und wenn die Opfer Römer waren, würde man sagen, sie hätten Unheil über sich selbst gebracht. Wir würden die alten Ausreden zu hören bekommen: Außenseiter, die sich nicht nach den örtlichen Bräuchen gerichtet hätten. Querulanten, die es sich selbst zuzuschreiben hatten. Statt bedauert zu werden, sollte man den toten Frauen die Schuld zuschieben.
VII
Letzter Halt: Olympia.
Jeder erfahrene Reisende wird Ihnen raten: Erreichen Sie stets Ihr Tagesziel, wenn es noch hell ist. Hören Sie auf diesen Rat.
Wenn Sie sich zum Beispiel einer Siedlung nähern, die zwischen zwei bedeutenden Flüssen liegt, welche beide dazu neigen, über die Ufer zu treten, vermeiden Sie dadurch sumpfigen Boden. Die umliegenden Berge werden nicht dunkel und bedrohlich aufragen, die Fichten angenehmen Duft verbreiten, statt beängstigend über Ihnen zu knacken. Sie werden in der Lage sein, einen Kuhstall von einer Imbissbude zu unterscheiden, und falls es eine Imbissbude ist, werden Sie erkennen, dass die Besitzer ihre Moneten eingesackt und bis zum nächsten Fest dichtgemacht haben (daher die auf den Tischen gestapelten Stühle), weshalb Sie sich nicht zum Narren machen und etwas zu essen verlangen werden von den beiden finsteren Gestalten ohne Öllampe, die gar nicht die Befugnis hätten, Ihnen etwas zu verkaufen, selbst wenn was da wäre.
Wenn Sie bei Tageslicht eintreffen, werden Sie sich, während Sie weiter die Straße hinaufgehen, oder was hier für eine Straße durchgeht, nicht fragen müssen, in was für einen ekligen Matsch Sie da gerade getreten sind. Und während Sie auf der Suche nach dem Heiligtum hügelauf und hügelab stolpern, werden die Mitglieder Ihrer Reisegruppe Sie nicht mit endlosen Streitereien, ob die beiden Männer nun wirklich ein Stelldichein in der dunklen Imbissbude hatten, in den Wahnsinn treiben. Sie werden Ihre Begleiter auch nicht dadurch kränken, dass Sie sie anbrüllen, verdammt noch mal zusammenzubleiben und mit dem Gelaber aufzuhören.
Als Nächstes: Wenn Sie das willkommene Licht eines zweistöckigen Luxushotels erreichen, werden Sie nicht so erleichtert sein, Zivilisation gefunden zu haben, dass Sie verkünden, das beste Zimmer im Hause nehmen zu wollen – obwohl der anzüglich grinsende Pförtner Sie zu dieser ausgezeichneten Wahl beglückwünscht. Es stellt sich dann als hübsches Eckzimmer mit Aussicht nach zwei Seiten heraus, mit einem Ausmaß von fünfunddreißig Quadratfuß, das Ihr gesamtes Wochenbudget verschlingt.
Danach stellen Sie vielleicht fest, dass dieses riesige Gebäude anscheinend vollkommen leer ist und Sie über den Preis hätten feilschen können – dann hätten Sie den Rest Ihrer Gruppe am anderen Ende des Flurs unterbringen und ein wenig Frieden finden können.
Inzwischen schließt Ihr Wunsch, die anderen aus Ihrer Gegenwart zu verbannen, auch Ihre Frau mit ein, die darauf beharren wird, Sie zu fragen, warum Sie zu stolz sind und nicht einfach zu dem grinsenden Pförtner zurückgehen, um dem verdammten Kerl zu sagen, Sie hätten einen Fehler gemacht und wollten jetzt billigere Zimmer.
Sie hätte sich die Worte sparen können. Sie sind so erschöpft, dass Sie mit dem Gesicht nach unten fest eingeschlafen sind.
Das ist die beste Masche, da Sie aus Erfahrung wissen, dass Ihre liebe Frau – befreit von den Regeln des Paternalismus – jetzt selbst leise zu dem grinsenden Pförtner zurückkehren und für die richtigen Unterkünfte sorgen wird. Vermutlich zu herabgesetztem Preis.
Wenn sie Sie immer noch liebt, wird sie wiederkommen und Sie holen.
Wenn ihr Name Helena Justina ist, könnte sie Sie sogar aufwecken, um sich mit Ihren Begleitern ein paar von den gewürzten römischen Würsten Ihrer Mutter zu teilen, nun ausgepackt aus Ihren Zusatztuniken, zusammen mit einer Steingutflasche passablen griechischen Weins, den Helena Justina, das Entzücken Ihres Herzens, dem Pförtner als Willkommensgeschenk in Olympia abgeschwatzt hat.
VIII
Der Tagesanbruch brachte Sonnenlicht und Harmonie in das breite, bewaldete Tal. Ein Hahn weckte uns früh und krähte den ganzen Tag über weiter. Wir erhoben uns wie gute Touristen, hungrig aufs Frühstück und auf Geschichte. Touristen erholen sich rasch. Sobald ich die Kuhscheiße des gestrigen Abends von meinen Stiefeln gekratzt hatte, waren wir bereit für den nächsten langen, anstrengenden Tag.
Wir waren im Leonidaion untergebracht, benannt nach einem gewissen Leonidas von Naxos, der seine Nachkommen durch den Bau dieses riesigen alten Gästehauses für reisende Großkopfete umsichtig mit einem Einkommen versorgt hatte. Das quadratische Monster hatte einen stillen Innenhof mit Büschen, Wasserspielen und ein paar Stühlen, wo der Nachtwächter, der momentan auch als Tagespförtner diente, uns genussvoll mitteilte, dass er außerhalb der Saison kein Frühstück serviere. Zum Glück kamen die Jungs von einem Spaziergang zurück und brachten Gebäck mit. Wir breiteten uns in einem der äußeren Säulengänge aus, und während wir aßen, berichtete der Pförtner, der ein paar zusätzlichen Drachmen nicht widerstehen konnte, dass seine Schwester uns Abendessen kochen würde. Wir dankten ihm und übergaben ihm die Verantwortung für unser Gepäck. Helena fragte ihn, ob er ihren Bruder Aulus gesehen habe, doch er verneinte. Wir machten uns auf die Socken.
Genau wie unsere germanischen Freunde hatte uns der Pförtner mit Geschichten ergötzt, wie es während der Spiele rund um unser friedliches Gästehaus zuging. Wochenlang wurde Olympia zu einem Feldlager. Außerhalb der Sportstätten und Heiligtümer breiteten sich überall Zelte aus; wurden sie nach dem Ende der Spiele abgebaut, war der Boden mit einer dicken Schicht Abfall und menschlichen Hinterlassenschaften bedeckt. Laut dem Pförtner konnten sie durchaus mit dem Mist der Kühe des Königs Augias konkurrieren, den Herakles in der Sage hatte säubern müssen.
Es gab keine natürliche Wasserquelle und hatte auch keine Latrinen gegeben, bis wir Römer kamen. Bis auf die Altis, wie sie den ummauerten heiligen Bezirk nannten, hing überall der Gestank menschlicher Exkremente in der Luft. Die Fliegen, von denen die Zuschauer geplagt wurden, schwebten in betäubten Wolken über dem Abfall.
Die Anwohner räumten alle vier Jahre für die nächsten Spiele auf. Vielleicht waren wir zu pingelig, aber ein Jahr im Voraus wirkte alles noch völlig chaotisch. Selbst meine Hündin scheute davor zurück, in alten Matratzen, abgekauten Knochen und zerbrochenen Amphoren herumzuwühlen. Nux vergötterte alles, was die Straßen von Rom einem Hund mit erlesenem Geschmack zu bieten hatten. Hier schnüffelte sie nur einmal kurz und zog schockiert den Schwanz ein. Ich tätschelte sie und nahm sie an die Leine. Das Letzte, was uns im Ausland wünschenswert schien, war ein Hund mit einem verdorbenen Magen. Wir würden Nux vielleicht brauchen, damit sie um Hilfe bellte, falls wir uns den Magen verdorben hatten. Was nicht ausbleiben konnte.
Nördlich von unserer Herberge wurde es besser. Nervös wegen der Anti-Frauen-Regeln, hatten Helena und Albia eine Geschichte über den Besuch des Tempels der Hera vorbereitet, wo Frauen zugelassen sein mussten, da es Wettläufe für Mädchen gab. Allerdings wies niemand sie jemals ab. Der ganze Ort war jedoch dem männlichen Körper geweiht. Wohin wir auch gingen, bewegten wir uns im Schatten von Statuen, Hunderten davon, manche von Städten als Dankopfer für Kriegsglück gestiftet, aber die meisten von den Siegern selbst als dauerhafte Erinnerung an ihre Leistungen. Nicht gerade für Prüde geeignet. Nackte Athleten auf hohen Plinthen zeigten ihre steinerne Manneszier, wohin man auch schaute.
Wir verbrachten den Morgen mit Besichtigungen. Der junge Glaucus führte uns instinktiv zum Gymnasion. Er war ekstatisch. Obwohl er ganz versessen darauf war, die sportlichen Einrichtungen auszuprobieren, kam er mit uns zum Heiligen Hain.
Innerhalb des ummauerten Gebietes ragte der dramatische, baumbedeckte Kronoshügel über uns auf, wo Marcella Caesias Leiche von ihrem Vater gefunden worden war. Neben dem Gymnasion stand das Prytaneion, ein Gebäude, in dem bei Siegesfeiern legendäre Festmahle abgehalten wurden. Nicht weit davon befand sich der fröhlich bemalte Tempel der Hera, das älteste Gebäude des Komplexes. Er hatte drei lange Gänge, jeder angefüllt mit erstaunlicher Bildhauerkunst, einschließlich des berühmten Hermes mit dem Dionysos-Knaben. Glaucus betrachtete ehrfürchtig den Tisch aus Gold und Elfenbein, der während der Spiele in die Umfriedung der Kampfrichter getragen wurde. Darauf wurden die schlichten Siegeskränze aus wilden Oliven ausgelegt, die einzigen Preise, die hier verliehen wurden. Natürlich wurden Olympiagewinner daheim mit Massenverherrlichung empfangen, dazu einer Rente, die aus riesigen Fässern Olivenöl, Villen am Meer und der lebenslangen Erlaubnis bestand, die Bevölkerung mit Sportgeschichten zu langweilen … Glaucus träumte bereits.
Draußen auf dem Gelände standen viele Altäre, manche mit Rauchwölkchen von den morgendlichen Opferungen. Einer war phänomenal – der große Altar des Zeus. Über einem uralten Steinsockel erhob sich ein merkwürdiger rechteckiger Hügel, vielleicht zwanzig Fuß hoch, als wir ihn sahen. Während der Spiele wurden jedes Mal hundert Ochsen für Zeus geschlachtet, ein Geschenk der Einwohner von Elis, die das Fest organisierten. Über die Jahrhunderte war die Asche der Opferungen mit dem Wasser des Flusses Alphaios vermischt worden, hatte sich zu einer harten Paste verfestigt und war dem Hügel hinzugefügt worden. Stufen waren ausgehauen worden und führten auf den Altar hinauf, wo für den Gott die saftigsten Stücke verbrannt wurden.
Als wir uns dem Stadion näherten, sahen wir eine Reihe abweisender Zeusstatuen, genannt Zanes, aufgestellt, um für immer Athleten zu verdammen, die beim Mogeln erwischt worden waren; ihre Namen und Vergehen waren in den Sockel eingemeißelt. Dahinter lag eine lange Kolonnade für den Wettbewerb der Herolde. Sie hatte ein siebenfaches Echo, das Albia und die Jungs voll ausprobierten. An dieser Ecke der Einfriedung markierte ein Bogen den unterirdischen Gang der Wettkämpfer zur Laufbahn. Die Bronzegitter waren geschlossen, aber nach einem steilen Auf- und Abstieg über die Zuschauertribünen fanden wir eine Möglichkeit, ins Stadion zu klettern.
Der junge Glaucus untersuchte die seltsamen steinernen Schwellen. »Man biegt seine Zehen in diese parallelen Einkerbungen und wartet auf das Signal. Es gibt eine mit Halteseilen fixierte Leiste, um Fehlstarts zu vermeiden. Wenn ein Läufer zu früh losläuft, bevor die Kampfrichter die Seile lösen, reißt er die Leiste runter. Er darf nicht mehr antreten, und die Kampfrichter bestrafen ihn mit Stockschlägen wie einen Sklaven. Viele Fehlstarts gibt es nicht«, verkündete Glaucus.
Das Hippodrom lag neben dem Stadion. Dort erklärte uns Glaucus die Startgatter, an denen sich bis zu vierzig Streitwagen in Keilform aufstellen mussten, um den äußeren Paaren die gleichen Chancen wie den inneren zu geben. Wir stellten uns vor, wie sie zum Gebrüll der vierzigtausend Zuschauer losrasten, die auf sorgsam konzipierten elliptischen Wällen standen. Jeder hatte einen guten Blick auf die Rennstrecke – obwohl wir mit höhnischem Grinsen bemerkten, dass das Hippodrom kleiner war als der Circus Maximus.
Als wir wieder draußen waren, verschwendeten wir Zeit damit, vergeblich Einlass in die riesige Villa zu finden, die Nero für sich an den Toren des Hippodroms erbaut hatte. Die Behörden hatten die Villa verriegelt und hofften, sie würde in sich zusammenfallen. Glaucus ging zum Gymnasion zurück, um zu trainieren. Wir anderen schlenderten durch das Hauptheiligtum und erreichten den berühmten Zeustempel. Dieser beherbergte eines der sieben Weltwunder, und so war es keine Überraschung, dass wir, obwohl wir bisher nicht mehr als zehn Besucher gesehen hatten, plötzlich einem offiziellen Fremdenführer gegenüberstanden.
»Sprechen Sie Griechisch – oh, Sie sprechen Latein?« Er wechselte rasch ins Lateinische, wenngleich wir keinen Ton gesagt hatten. »Wo kommen Sie her? Kroton? Rom? Mein Bruder lebt in Tarentum.« Ach du je. »Xenophons Fischrestaurant. Kennen Sie es?«
Unser Führer hieß Barzanes. Sollten Sie nach Olympia reisen, sehen Sie zu, dass Sie einen anderen erwischen.
»Als Erstes werde ich Ihnen die Werkstatt des Pheidias zeigen.«
Die hatten wir uns schon allein angeschaut. Das hielt ihn nicht davon ab.
Als wir zum zweiten Mal in der riesigen Werkstatt standen und mit Fakten überhäuft wurden, war Helena die Einzige, die bereit war, zivilisiert mit dem Fremdenführer umzugehen. Er war hochgewachsen, hatte einen kleinen Kopf und schiefe Schultern, eine breiter als die andere. Er trug ein langes gegürtetes Gewand wie ein Wagenlenker und einen Stab, mit dem er begeistert gestikulierte.
Ja, es war unglaublich, an einem Ort zu stehen, wo einer der größten Künstler der Welt sein Meisterstück geschaffen hatte. Um das zu beweisen, wurden uns übrig gebliebene Gussformen, fehlerhafte Abgüsse und winzig kleine Bruchstücke von Marmor, Goldblatt und Elfenbein gezeigt. Komischerweise waren sie zu verkaufen. Diese Scharade für die Öffentlichkeit musste wohl schon seit fünfhundert Jahren laufen. Beim Ertönen von Barzanes’ Stimme waren aus dem Nichts Andenkenhändler aufgetaucht. Uns wurde ein geschwärzter Becher angeboten, auf den Ich gehöre Phidias eingekratzt war. Der Preis war exorbitant, doch ich kaufte ihn, obwohl der Name des Bildhauers in römischer Schreibweise darauf stand. Sonst wären wir die Händler nie losgeworden. Ich würde ihn meinem Vater als Andenken mitbringen. Es spielte keine Rolle, dass der Becher eine Fälschung war. Das war mein Vater auch.
Wir scheuchten Barzanes zurück zum Zeustempel. Um gerecht zu sein, unser Führer kannte sich wirklich mit Statistiken aus: »Der Tempel wurde von den Eliern finanziert, und die Bauzeit betrug zehn Jahre. Er hat vierunddreißig Säulen, bedeckt mit schlichten quadratischen Pedimenten. Über den Säulen sehen Sie einen gemalten Fries mit unzähligen Stuckaturen in tiefen Rot-, Blau- und Goldtönen …« Er war nicht zu bremsen. »Das Dach besteht aus pentelischem Marmor aus Attika mit über hundert Löwenkopfwasserspeiern, ebenfalls aus Marmor. Die einundzwanzig goldenen Schilde, die Sie jetzt sehen, gab es in der Antike nicht. Sie wurden erst von dem römischen General Mummius aufgestellt, nachdem er Korinth gebrandschatzt hatte …«
O je. Wir bemühten uns, unschuldig zu wirken, fühlten uns aber wie üble Eroberer.
»Hier auf dem westlichen Giebelfeld ist der Kampf der Kentauren gegen die Lapithen während der Hochzeit von Peirithoos dargestellt …«
»Hieraus sind zwei Lehren zu ziehen«, sagte ich zu Gaius und Cornelius. »Lade keine Barbaren zu deiner Hochzeit ein, und – da sich die Kentauren betranken und sich über die Frauen hermachen wollten – kredenze nicht zu viel Wein.«
Barzanes ließ sich nicht beirren. »Auf dem Ostgiebel schauen die Athleten, die dem Gott ihre Opfer darbringen wollen, auf das Wagenrennen zwischen Pelops und Oinomaos um die Hand von Hippodameia. König Oinomaos tötete die erfolglosen Freier und nagelte ihre Köpfe über sein Palasttor.«
»Kommt mir gerecht vor«, sagte ich. »Als Vater gesprochen.«
»Dazu gibt es zwei Geschichten …« Die Griechen scheinen nie nur einen Mythos zu haben, wenn ein Fremdenführer auch zwei erzählen kann. »Entweder bestach Pelops den Wagenlenker des Königs, dessen Radpflöcke durch Wachspfropfen zu ersetzen, oder Poseidon schenkte Pelops einen einzigartigen geflügelten Streitwagen und sorgte dafür, das Oinomaos umkippte und getötet wurde.«
»Soll dieser Mythos die Wettkämpfer dazu ermutigen, Tricks zu benutzen und zu schummeln?«, fragte Helena trocken.
»Die wahre Botschaft lautet, dass sie ihr Bestes geben sollen – sowohl an Gerissenheit als auch an Körperkraft.«
»Und Gewinnen ist alles«, grummelte Helena.
»Bei den Spielen gibt es keine zweiten Preise«, räumte Barzanes ein.
»Sie nehmen meine Skepsis sehr großmütig hin.«
»Ich habe schon früher römischen Damen als Fremdenführer gedient.«
Helena und ich wechselten einen Blick und fragten uns, ob er von Sieben-Stätten-Reisen engagiert worden war.
Im Gegensatz zu vielen Tempeln war es Besuchern erlaubt, diesen zu betreten. Natürlich nicht umsonst. Wir gaben Barzanes die Summe, die er vorschlug, um die Priester zu bestechen. Dann rückten wir noch mit einem Zusatzeintrittsgeld heraus, damit Albia und die Jungs die »besondere« Erlaubnis bekamen, eine Wendeltreppe hinaufzusteigen und die Statue von nahem zu bewundern. Schließlich gaben wir Barzanes ein großzügiges Trinkgeld für seine Fakten und Zahlen. Er blieb auf den Tempelstufen stehen, in der Hoffnung, sich weitere Touristen zu kaschen.
Ich wollte ihn zu den Morden befragen, aber keine Mission konnte mich davon abhalten, eines der sieben Weltwunder zu betrachten, vor allem nicht zusammen mit Helena. Privatschnüffler sind Straßenköter, die im Dreck wühlen, doch ich besaß eine Seele. Was ich persönlich bei diesem Beruf für notwendig erachtete.
IX
Wir hielten alle inne, um unsere Augen nach der mittäglichen Helle an das dämmrige Lampenlicht im Innern des Tempels zu gewöhnen. Dann blieb uns vor staunender Ehrfurcht der Mund offen. Genau wie es der große Pheidias beabsichtigt hatte.
Es gab noch andere Statuen. Das Tempelinnere war die reinste Kunstgalerie. Die Kunstwerke waren verschwendet. Wir konnten nur Zeus anstarren, vollkommen ergriffen. Über vier Ruten hoch, den Kopf fast an den Dachsparren, schien er auf uns niederzuschauen. Vor den Stufen zu seinem Thron erstreckte sich ein schimmerndes Becken, ein Rechteck aus Olivenöl, in dem sich der Vater der Götter verschwommen spiegelte. Die Feuchtigkeit half, das Elfenbein des Chryselephantin-Kolosses instand zu halten, auch wenn die Tempelpriester ihn täglich mit weiterem Öl polierten. Wir waren uns ihrer Anwesenheit bewusst. Sie hielten sich diskret im Hintergrund, kümmerten sich um ihren Schützling und stammten angeblich alle in ungebrochener Linie von den Handwerkern ab, die mit Pheidias gearbeitet hatten.
Ich hatte mein ganzes Leben lang von dieser Statue gehört, konnte mich aber nicht erinnern, wie und wo ich zum ersten Mal über sie gelesen hatte oder mir davon berichtet wurde. Ich wusste, wie sie aussehen würde – der gewaltige, sitzende Gott, bärtig und mit Olivenzweigen gekrönt, seine goldene Robe geschmückt mit Tieren und Blumen, auf seinem Zepter ein goldener Adler, die geflügelte Figur der Siegesgöttin Nike neben seiner rechten Hand, der Thron aus Ebenholz und Elfenbein verziert mit Edelsteinen und farbigen Malereien.
Im Leben sind so viele Dinge enttäuschend. Doch manchmal wird man vom Leben verblüfft – ein versprochenes Weltwunder wird dem Erhofften gerecht.
Helena und ich standen lange Zeit Hand in Hand da. Ich spürte die Wärme ihres nackten Arms neben meinem, das leise Kitzeln vom Saum ihres langen Kleides auf meinem Fuß. Helena war so zynisch wie ich, konnte sich aber dem Genuss großer Dinge vollkommen hingeben. Ihre Erregung übertrug sich auf mich.
Schließlich ließ sie ihren Kopf kurz an meine Schulter sinken und teilte den aufgeregten Jugendlichen mit, sie könnten nach oben steigen. Allein gelassen, wandten wir uns einander mehr zu und blieben noch ein paar Augenblicke so stehen.
Schließlich traten wir schweigend hinaus ins strahlende Sonnenlicht des Heiligtums, immer noch Hand in Hand.
X
Wir blieben auf den Stufen stehen, bis wir wieder normal atmen konnten. Unsere Haut fühlte sich durch die Mischung aus Räucherwerk und feinen Olivenöltropfen klebrig an.
Barzanes war es nicht gelungen, eine andere Reisegruppe zu finden. Obwohl wir ihm bereits Trinkgeld gegeben hatten, blieb er in unserer Nähe. Er musste schon Hunderte ehrfurchtergriffener Betrachter beim Verlassen des Tempels gesehen haben. Er beobachtete uns wohlwollend.
Helena verschwand schweigend, um mit den Tempelpriestern zu reden. Wir hatten noch nichts von ihrem Bruder Aulus gesehen, und falls er noch hier war, mussten wir ihn aufspüren. Wenn er aus Olympia abgereist war, würde er im Haupttempel eine Nachricht für diejenigen hinterlassen haben, die sich auf seine Spur gesetzt hatten. Aulus hatte seinen eigenen selbstbewussten Stil. Er musste sich sicher gewesen sein, dass ich mich als Reaktion auf seinen Brief sofort nach Griechenland aufmachen würde.
Aulus würde den Priestern Geld gegeben haben, aber ich sorgte dafür, dass Helena ihnen ebenfalls ein kleines Geldgeschenk machen konnte. Das würde erwartet werden. Besser, man stellte sich gut mit ihnen. Zeus waren die Sterblichen gleichgültig, doch Priester waren schnell beleidigt, und in einem Heiligtum wie diesem verfügten sie über enorme Macht.
Ich ging die Stufen hinunter und gesellte mich wieder zu unserem Führer.
»Hat es Ihnen gefallen?«
»Wir waren überwältigt!«
»Glauben Sie an die Götter?« Barzanes wirkte jetzt gedämpfter. Diese abrupte Frage erschien mit sonderbar.
»Genug, um sie vielfach verflucht zu haben.« Ich merkte, dass er mich verunsichern wollte. Das war mir im Verlauf meiner Arbeit schon öfter passiert. Sein Verhalten hatte sich geändert, und ich fragte mich, wieso. »Ich glaube an menschliches Streben. Ich bin von Pheidias’ Statue als großer Meisterleistung der Handwerkskunst, Hingabe und Vorstellungskraft beeindruckt … Ich glaube«, sagte ich leise, »dass die meisten Mysterien logische Erklärungen haben. Man muss sie nur finden.«
Ich überließ es ihm, herauszubringen, welche Mysterien ich meinte.
Ich blickte mich in der Altis um, wo die antiken Tempel, Grabmäler und Schatzhäuser unter einem einfarbig blauen Himmel von tiefer Intensität im Licht gebadet wurden. Der Hahn, der uns heute Morgen geweckt hatte, krähte immer noch in der Ferne. In größerer Nähe brüllte ein Ochse, heiser vor Angst. »Wir haben uns herumführen lassen. Jetzt sollten Sie und ich über meine Mission reden, Barzanes.«
»Ihre Mission, Falco?«
Ach, nun war ich Falco. Innerhalb meiner Gruppe war ich »Onkel Marcus« oder »Marcus Didius« gewesen. Also hatte jemand, während wir im Tempel waren, dem Führer mein Cognomen verraten. Olympia wirkte verlassen, aber ich war bemerkt worden. Jemand hatte im Voraus gewusst, dass ich kommen würde. Vermutlich war auch ein Gerücht auf niedlichen kleinen Flügeln herumgeflattert und hatte verkündet, warum ich kam.
Vielleicht hatte ein Gott mich verraten, was ich jedoch bezweifelte.
»Ich versuche mir vorzustellen, wie das sein kann.« Zu Beginn war meine Stimme ruhig, aber gewichtig. »Reisende kommen hierher, genau wie wir. Wie wir müssen sie alle von dem Erlebnis überwältigt sein. Dies ist ein Ort, an dem sich die Menschheit von ihrer besten Seite zeigt – edel im Körper, verbunden mit edler Gesinnung.« Barzanes wollte mich unterbrechen, hielt sich aber zurück. »Athleten und Zuschauer versammeln sich hier zu einem religiösen Ritual. Um ihre Götter zu ehren. Sich hohen Idealen zu widmen. Weihgaben werden in den Olivenhainen hinterlassen. Schwüre werden geleistet. Training, Mut und Können erhalten Beifall. Fremdenführer übertragen diese Atmosphäre auf die Reisenden …« Meine Stimme verhärtete sich. Ich wollte der Oberschicht hier eine Botschaft senden. »Und dann – stellen wir uns das einfach mal vor, Barzanes – zeigt jemand an diesem heiligen Ort seine barbarische Natur. Eine junge Braut, kaum zwei Monate verheiratet, wird ermordet und einfach liegen gelassen. Sagen Sie mir, Barzanes, sind solche Dinge zu begreifen? Sind sie üblich? Nehmen die Götter in Olympia dieses grausame Verhalten hin – oder sind sie zornig?«
Barzanes hob seine schiefen Schultern. Er blieb stumm, aber er hatte herumgetrödelt, um mit mir zu sprechen, und das musste einen Grund haben. Vielleicht hatten die Priester beschlossen, dass die Sache endlich aufgeklärt werden sollte.
Ich war nicht so vermessen, darauf zu hoffen.
»Die fragliche Gruppe wurde von einem Reiseveranstalter namens Sieben Stätten hergebracht. Touristen auf einer Rundreise. Geleitet wird sie von einem Burschen namens Phineus.«
Endlich nickte Barzanes. »Jeder hier kennt Phineus.« Ich blickte ihn an, konnte ihm aber seine Meinung zu dem Mann nicht ansehen.
»Sie müssen auch durch das Heiligtum geführt worden sein«, sagte ich. »Das gehörte zu ihrem Rundreisepaket, da sie in diesem Jahr bestimmt nicht wegen der Spiele hier waren. Phineus muss einen örtlichen Fremdenführer gebucht haben. Waren Sie das, Barzanes?«
Barzanes kam mir mit der üblichen Ausrede, die ich schon bei so vielen Fällen gehört hatte: »Der Führer, der diese Tour übernahm, ist nicht mehr hier.«
Ich schnaubte. »Abgehauen?«
Barzanes blickte schockiert. »Er ist nach dem Ende der Saison in sein Dorf zurückgekehrt.«
»Wobei es sich um ein sehr abgelegenes, sehr weit entferntes Dorf handelt, schätze ich … Hat er über diese Gruppe am Ende des Tages gesprochen, wenn ihr Fremdenführer zusammensitzt und Klatsch austauscht? Wenn nicht, hat er Bemerkungen über sie gemacht, nachdem das Mädchen tot war?«
Barzanes lächelte freundlich.
Helena Justina kam mit einer Schriftrolle in der Hand aus dem Tempel. Nach einem raschen Blick auf das, was sich hier tat, stellte sie sich in Hörweite, während sie vorgab, sich in den Brief zu vertiefen.
Ich gab noch nicht auf. »Erzählen Sie mir, was passiert ist, Barzanes.«
»Pilger kommen ständig hierher. Übungen, Opferungen, Gebete, Orakelbefragungen – selbst außerhalb der Saison halten wir Rezitationen von Rednern und Dichtern ab. Daher werden regelmäßig Führungen durch die Altis angeboten.«
»Aber jeder Führer würde sich an eine Führung erinnern, an der jemand teilnahm, der später brutal ermordet wurde. Aus wie vielen Teilnehmern bestand die Sieben-Stätten-Gruppe?«
Barzanes beschloss zu kooperieren. »Zwischen zehn und fünfzehn. Die übliche Mischung, hauptsächlich ältere Leute mit ein paar jungen dazwischen – Jugendliche, die in der Gegend herumstreiften. Eine der Frauen stellte dämliche Fragen, die von einem Mann aus der Gruppe falsch beantwortet wurden.«
»Klingt typisch!« Ich lächelte.
Barzanes nickte bestätigend. »Leider. Später konnte sich der Führer nicht mal an die Braut und ihren Mann erinnern. Sie hatten keinen Eindruck hinterlassen.«
»Sie hörten also nur schweigend zu, überwältigt von der Unvertrautheit des Reisens … Oder waren sie geschlaucht durch die Turnübungen im Ehebett?« Ich grinste. Barzanes blickte auf den Pfad.
»Sie schliefen in Zelten, Marcus!«, mischte sich Helena ein. »Barzanes, würde eine Gruppe wie die von Sieben Stätten nicht im Leonidaion übernachten?«
»Falls dort keine hochrangigen Persönlichkeiten untergebracht waren, wäre das erlaubt gewesen. Aber nur, wenn sie bezahlten. Sonst würde der Reiseveranstalter Zelte mitbringen oder welche mieten. Viel billiger. Phineus würde sich damit auskennen. Wenn geplant ist, viele Feste zu besuchen, bringt er seine eigene Ausrüstung im Gepäcktransport mit.«
Ich fragte mich, ob die frisch Vermählten von dieser Einschränkung gewusst hatten, als sie die Reise buchten. Ich konnte mir vorstellen, dass Polystratus, der zahnlose Agent in Rom, »vergessen« hatte zu erwähnen, dass man die Touristen in Zelten unterbringen würde. »Barzanes, diese guten Leute wollten sich von Ihrem Heiligtum bezaubern lassen. Olympia schuldet ihnen Respekt für ihre Tragödie. Was ist ihnen also geschehen?«
Der Fremdenführer scharrte mit den Füßen. »Unter den vielen hundert Menschen, die durch Griechenland reisen, wird es immer Todesfälle geben, Falco.«
»Wir sprechen hier nicht von Herzschlägen, ausgelöst durch Sonnenstich oder Überfressen bei Festmahlen.«
»Valeria wurde zu Tode geprügelt, Marcus.« Helenas Stimme war kalt. Aulus musste diese Information beigesteuert haben, denn sie entsprach nicht den unverbindlichen Details, die wir von meiner Schwiegermutter erfahren hatten. »Juno, Aulus schreibt, sie sei mit einem Gewicht erschlagen worden.«
»Einem Gewicht?«
»Dem Handgewicht eines Weitspringers.« Der junge Glaucus würde uns mehr über diese Geräte erzählen müssen.
»Ihr Kopf wurde damit eingeschlagen.« Barzanes wusste also Bescheid.
Ich kratzte mich nachdenklich am Kinn. Was mit Valeria Ventidia passiert war – ein brutaler Angriff, nicht weit von ihren Begleitern entfernt, die Leiche für alle sichtbar liegen gelassen –, hatte wenig Ähnlichkeit mit dem, was drei Jahre zuvor anscheinend mit Marcella Caesia geschehen war – unerklärliches Verschwinden, dann viel später an einer abgelegenen Stelle aufgefunden. Die Voraussetzung für unseren Besuch bestand darin, dass der Tod dieser beiden Frauen in Zusammenhang stand. Wobei mich die Unstimmigkeiten nicht davon abhalten würden, in beiden Fällen zu ermitteln.
»Uns wurde berichtet, dass die Leiche des Mädchens ›außerhalb eines Gästehauses‹ entdeckt wurde, Barzanes. Aber wenn die Gruppe in Zelten untergebracht war, passt das nicht zusammen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie in der Öffentlichkeit totgeprügelt wurde, nur wenige Schritte von ihren Begleitern entfernt. Sie würden den Lärm gehört haben.«
Nicht daran gewöhnt, über Verbrechen zu spekulieren, machte der Fremdenführer ein unbestimmtes Gesicht.
»Sie wurde nicht in der Nähe des Zeltes ermordet. Ihr Mann hat sie entdeckt, Marcus.« Helena überflog nach wie vor den Brief. »Er fand sie tot bei der Palästra und trug dann die Leiche zum Lager zurück. Zeugen haben Tränen über sein Gesicht strömen sehen. Er war hysterisch und wollte sie nicht loslassen. Er musste fast gewaltsam von der Leiche losgerissen werden. Aber bei der Ermittlung ging es hauptsächlich darum, ob Statianus wie ein verzweifelter Ehemann oder ein geistesgestörter Mörder wirkte.«
»Der Magistrat hat ihn freigelassen«, erinnerte ich sie. »Obwohl Freilassung nicht in jedem Fall Freispruch bedeutet.«
Die Geschichte nahm einen düsteren Ton an. Ich verstand jetzt, warum Aulus neugierig geworden war, als er auf die Gruppe traf. Und ich überlegte, ob uns Tullia Longina, die Schwiegermutter, in Rom die Wahrheit erzählt hatte, wie sie sie kannte, oder sie beschönigt hatte. Niemand, der von diesen Einzelheiten wusste, konnte Valerias Tod als »Unfall« bezeichnen. Verringerte Tullia Longina das Entsetzen, um respektabler zu erscheinen, oder hatte Statianus in dem Brief an seine Mutter gelogen? Wofür ich ihn allerdings nicht verurteilen würde. Jeder Junge muss seine Mama von Zeit zu Zeit beschwindeln.
»Die meisten waren der Ansicht, es gebe keine Beweise – aber dass der Ehemann schuldig sein müsse«, bemerkte Barzanes.
»Der einfachste Ausweg.« Meine Stimme krächzte. »Machte sich gut für die Einheimischen, dass die Ausländer den Mörder selber mitgebracht hatten – und ihn auch wieder mitnahmen. So kann man die Sache schnell vergessen.«
»Du bist grob«, tadelte mich Helena sanft.
»Es war ein Sakrileg!«, brauste Barzanes auf. Was uns Gewissheit gab, wie die Priester des Heiligtums dazu standen – und warum sie es vertuschen wollten.
Leider wurden wir unterbrochen. Unsere Jugendlichen kamen aus dem Tempelvorbau hinter uns gedüst. Sie hatten leuchtende Gesichter, immer noch entzückt über die Zeusstatue.
»Wir haben das Gesicht des Gottes ganz aus der Nähe gesehen!« Gaius platzte vor Begeisterung. »Die Statue ist aus riesigen Bogen Goldblatt und Elfenbein gemacht – innen ist sie hohl und hat ein Gerüst aus Holzbalken …«
»Voller Ratten und Mäuse!«, quiekte Albia. »Wir haben Mäuse im Schatten herumhuschen sehen.«
»Nero hat versucht die Statue zu klauen …« Gaius, der natürliche Anführer dieser kleinen Gruppe, hatte einen weiteren Fremdenführer gefunden und ihn ausgehorcht. »Aber der Gott hat nur vor Lachen gebrüllt, und die Arbeiter sind geflohen!« Genau wie ich ging Gaius spirituellen Erklärungen aus dem Weg. Er senkte taktvoll die Stimme: »Mag sein, dass sich die Stützbalken verschoben, nachdem die Arbeiter daran gerüttelt haben.«
Ich blickte mich um. In dem Durcheinander ihres Auftauchens hatte sich der Fremdenführer Barzanes verdrückt. Falls ich versuchte ihn an einem anderen Tag wiederzufinden, würde er aus dem Heiligtum verschwunden sein, nahm ich an.
Cornelius hatte eine erfrischende Einstellung zu Wundern. »Io, Onkel Marcus! Das hier ist toll – und wo bringst du uns als Nächstes hin?«
XI
»Mein Bruder beeindruckt mich immer mehr!« Nachdem wir ins Gästehaus zurückgekehrt waren, las Helena seinen Brief sorgfältiger durch.
»In guten römischen Haushalten«, wies ich Albia hin, »liest niemand seine Korrespondenz auf der Speiseliege. Helena Justina wurde in senatorischem Stil erzogen. Sie weiß, dass das abendliche Mahl der eleganten Konversation vorbehalten ist.«
Helena beachtete uns nicht. Ihr Vater las den Tagesanzeiger beim Frühstück. Ansonsten waren die Mahlzeiten im Haushalt der Camilli eine Möglichkeit für Familienstreitigkeiten. Genau wie in meiner eigenen Familie. Wir lasen jedoch nie auf unseren Speiseliegen, da wir uns keine leisten konnten; außerdem besaßen wir keine Schriftrollen. Der einzige Brief, den wir je bekommen hatten, war der von der Fünfzehnten Legion, in dem stand, dass mein Bruder in Judäa gefallen war.
»Aulus hat sich verändert«, sagte Helena. »Nachdem er jetzt Student ist, sind seine Briefe angefüllt mit genauesten Einzelheiten.«
»Er ist also wie ein guter Junge nach Athen gereist?« Genaueste Einzelheiten waren mir völlig wurst. Ich wollte nur wissen, ob ich bei seiner Mutter aus dem Schneider war.
»Leider nicht, Liebling. Er hat sich der Besichtigungstour angeschlossen.«
»Ach, dieser niederträchtige Aulus!« Nux blickte auf, erkannte das Knurren, das ich normalerweise benutzte, um sie auszuschimpfen. Wie gewöhnlich wedelte sie dazu mit dem Schwanz.
»Er hat uns eine Liste der Leute aus der Gruppe hinterlassen, mit seinen Kommentaren dazu«, fuhr Helena fort. »Eine Karte, wo ihr Zelt im Verhältnis zur Palästra stand. Und eine Überschrift für die Notizen über den Fall – aber keine Notizen.«
»Wie quälend!«
»Er schreibt ›Tut mir leid, keine Zeit‹ – und darunter ›genau genommen nicht die geringste Ahnung‹, was er später mit einer anderen Feder hingekritzelt haben muss.«
»Das entspricht doch genau dem alten Aulus. Schludrig und nicht bereit, sich zu rechtfertigen.« Trotzdem hätte ich ihn gerne hier gehabt, um ihn direkt zu beschimpfen. Wir waren weit weg von zu Hause. Abends, beim Sternenlicht, ist die Zeit, in der man sich nach dem Vertrauten sehnt – Orten, Dingen und Menschen. Selbst nach ziemlich nassforschen Schwagern.
»Er scheint sich mit einem recht hübschen Reiseschreibpult ausgerüstet zu haben«, sinniert Helena beim Betrachten der Handschrift. »Wie praktisch für seine Studien – wenn er sie je aufnimmt.«
»Falls seine Tintenfässer keine anständigen Verschlüsse haben, wird die Tinte austrocknen, während er reist. Wenn er Pech hat, ergießt sie sich über seine sämtlichen weißen Tuniken.«
Jeden Augenblick würden Helena und ich jetzt dazu übergehen, statt Aulus unsere Kinder zu vermissen. Um uns davon abzulenken, zeigte mir Helena die Liste der Teilnehmer der Reisegruppe, die Aulus für uns aufgeschrieben hatte.
Phineus: Organisator. Hervorragend oder schauerlich, je nachdem, wen man fragt
Indus: Scheint in Ungnade gefallen zu sein (Verbrechen? Finanzielles? Politik?)
Marinus: Witwer, sucht nach einer neuen Partnerin; liebenswürdiger Geselle
Helvia: Witwe, wohlmeinend = ziemlich dumm
Cleonymus und Cleonyma: Neureiche (Freigelassene?) (grauenhaft)
Turcianus Opimus: »Letzte Chance, die Welt zu sehen, bevor ich sterbe.«
Ti Sertorius Niger und verhuschte Ehefrau: Grauenvolle Eltern; er sehr grob
Tiberius und Tiberia: Schauerliche Kinder, von den Eltern mitgeschleppt
Amaranthus und Minucia: Paar; durchgebrannt? (Ehebruch?) (lustige Leute)
Volcasius: Keine Persönlichkeit = keiner will neben ihm sitzen
Statianus und Valeria: Frisch verheiratet (eine töricht und tot/einer tumb und taub)
»Rüde, aber erhellend!« Ich grinste.
Wir waren uns alle einige, dass diese Leute schrecklich klangen, wenngleich Helenas Gewissen sie bemerken ließ, dass Volcasius, neben dem niemand sitzen wollte, vielleicht nur schüchtern war. Wir anderen lachten sie aus. Ich stellte mir Volcasius vor: knochige Beine, immer mit einem sehr großen Hut; ein Mann, der örtliche Gebräuche missachtete, Fremdenführer und Gastwirte beleidigte, kein Gefühl für die Gefahr hatte, wenn Steine von regendurchweichten Berghängen herabpolterten, immer der Letzte war, wenn die Gruppe weiterziehen wollte – und doch leider nie richtig zurückgelassen wurde.
»Mit Käsefüßen«, setzte Gaius hinzu. Vermutlich hatte er recht.
»Genau wie du, Gaius«, murmelte Cornelius.
Jede zusammengewürfelte Gruppe hat so einen Widerling. Wir alle waren welchen begegnet. Ich wies darauf hin, wie glücklich sich meine Begleiter schätzen konnten, dass ich unsere Gruppe nach wissenschaftlichen Erkenntnissen zusammengestellt und asoziale Verlierer mit großen Hüten ausgeschlossen hatte. Sie schnaubten wieder.
»Ein Mann wie er könnte ein Mörder sein«, sagte Helena.
Ich war anderer Meinung. »Eher würde er selber von jemandem ermordet werden, den er mit seinem seltsamen Verhalten verrückt gemacht hat.«
Während Helena unsere Essschalen ordentlich zusammenstellte, meinte sie: »Ich frage mich, wohin sie dann von hier aus gezockelt sind. Das hat Aulus nämlich nicht geschrieben.«
»Nach Sparta.« Das wusste ich von dem Sport-und-Tempel-Reiseplan, den ich Polystratus abgeluchst hatte. Ich holte ihn aus meinem Gepäck, um noch mal nachzuschauen. Eines war sicher: Meine Gruppe würde nicht nach Sparta reisen. Helena und ich hatten das vorab beschlossen. Sie hasste die Haltung der Spartaner Frauen gegenüber. Ich verabscheute, wie sie mit den ihnen Unterlegenen, den Heloten, umgegangen waren – erobert, versklavt, malträtiert und bei Nacht zum Sport von kampflustigen jungen Spartanern gejagt.
Zusammen mit meinen Notiztafeln hatte ich noch andere Listen mitgebracht. Eine enthielt die Teilnehmerliste der Tour, die Marcella Caesia vor drei Jahren unternommen hatte. Ihr Vater hatte mir in Rom die Namen genannt. Ich verglich sie mit unserer neuen Liste, aber außer Phineus gab es keine Übereinstimmungen.
»Also ist das Rätsel gelöst. Wir müssen Phineus schnappen!«, rief Albia.
Privatermittler sind vorsichtiger. Die meisten von uns haben schon den Fehler gemacht, Verdächtige zu schnell zu benennen. Ich erklärte, Phineus müsse verrückt sein, etwas so Offensichtliches zu tun. Für mich sehe es jetzt so aus, als hätte das Schicksal der beiden Frauen nichts miteinander zu tun. Es handle sich vermutlich um zwei verschiedene Mörder – und es wäre zu einfach, Phineus dessen zu beschuldigen.
»Einfachheit ist gut!«, widersprach Albia. Sie wedelte mit den Handgelenken und drehte den Kopf in eine elegante Pose, als stünde sie unter Helenas Anleitung Modell für römische Mode.
»Wenn man einen Unternehmer in unkluger Weise beschuldigt, kann das ganz schnell zu einem Gerichtsverfahren wegen Rufschädigung führen.«
»Dann könntest du uns vor Gericht verteidigen, Marcus Didius.«
»Ich jage nur erzielbaren Entschädigungen nach. Ich will ja nicht bankrottgehen! Genauso gut könnte ich Trapezartist werden. Gefahr, Aufregung und …«
»Das Streben nach Höherem«, übertraf mich Gaius.
»Um mehr von der Welt zu sehen«, machte Cornelius mit. Er hatte rasch kapiert.
»In all ihren Höhen und Tiefen!«, witzelte ich. Helena warf uns einen Blick zu, der andeutete, keiner von uns hätte das offizielle Mannesalter erreicht.
Nachdem wir mit dem Kichern aufgehört hatten, erklärte ich, dass wir handfeste Beweise finden mussten, unter Zuhilfenahme banaler Ermittlungstechniken. Die jungen Leute verloren das Interesse. So musste es sich anfühlen, wenn man eine Bildungsreise mit unwilligen Jugendlichen unternimmt, die jede Art von Kultur verabscheuen. Gelangweilte junge Leute können anfangen Unfug zu planen – wenn auch keinen tatsächlichen Mord, dachte ich.
Albia war beleidigt, weil ich ihre Theorie zurückgewiesen hatte, begleitete mich aber am nächsten Morgen, als ich den Platz auskundschaften wollte, an dem die Sieben-Stätten-Gruppe gezeltet hatte. Helena wollte auch mitkommen, fühlte sich aber unwohl. Griechisches Essen hatte sie niedergestreckt. Nach dem Frühstück gingen Albia und ich rasch vom Leonidaion in südlicher Richtung entlang des Uferdamms, der von der großen Böschungsmauer des Flusses Kladeos gebildet wurde. Der Kladeos war ein zögerliches Rinnsal, das sich zwischen Rohrkolben hindurchschlängelte, wenngleich er bei Hochwasser zweifellos dramatisch anschwoll.
Hochhüpfende Flöhe schwirrten um unsere Füße. Die Luft war voll bösartiger Insekten.
»Das ist noch gar nichts, Albia. Stell dir den Ort während der Spiele vor, wenn am Tag hundert Ochsen geschlachtet werden. Versuch gar nicht erst auszurechnen, wie viel Blut dabei fließt. Dazu noch die Häute, Knochen, Hörner, Innereien, Brocken ungebratenen oder unverzehrten Fleisches. Während der Rauch zu den Göttern auf dem Olymp aufsteigt, finden die Fliegen hier unten ihren eigenen Himmel.«
Albia setzte ihre Schritte mit Vorsicht. »Jetzt verstehe ich, warum die beiden Germanen, die wir getroffen haben, sagten, sie würden immer beten, dass es nicht regnet. Der Boden würde sehr schlammig werden.«
»Schlamm und Schlimmeres!«
Wir fanden die Stelle, an der das Lager aufgeschlagen worden war. Aulus hatte einen klaren Plan gezeichnet. Er war kein begnadeter Zeichner, verwendete kurze, dicke Linien, aber was er meinte, war deutlich zu erkennen. Wir konnten Flecken ausgebleichten Grases ausmachen, in der Größe von zwei Armeezelten für jeweils zehn Mann. Wir fanden sogar Löcher für die Zeltpflöcke und niedergetrampelte Mulden für die beiden Eingänge. Auf dem weiten Gelände rundherum verschmutzte drei Jahre alter Müll das Flussufer, zurückgelassen von Zuschauern der letzten Spiele. Aber da, wo die Leute von Sieben Stätten gelagert hatten, war überhaupt kein Abfall zu sehen.
»Die Leute vom Reiseunternehmen sind ja so ordentlich, Falco!« Albia hatte Ermittlerironie gelernt. »Sie haben jeden Hinweis sorgsam entfernt.«
Ich baute mich dort auf, wo der Zugang zum Sieben-Stätten-Zelt gewesen sein musste, die Füße gespreizt und die Daumen im Gürtel. Meinem Lieblingsgürtel, und es war eine sinnvolle Haltung zum Nachdenken. Der Gürtel war an zwei Stellen ausgebeult, um meine Daumen aufzunehmen. »Ich bezweifle, dass es viele Hinweise gab, Albia. Und ich würde die Bestnoten für gute Haushaltsführung nicht an Sieben Stätten vergeben.«
»An wen dann?«
»Barzanes sagte, das Mädchen sei woanders getötet und die Leiche erst danach hierhergetragen worden. Einen Tatort kann man forensisch untersuchen. Aber hier gewinnt man nichts, wenn man so gründlich aufräumt.«
»Forensisch«, wiederholte Albia und prägte sich das neue Wort ein. »Warum dann, Marcus Didius?«
»Der Ort wurde als verunreinigt angesehen. Mord zerstört den guten Namen des Heiligtums und bringt vielleicht sogar Unglück. Daher haben sie die Spuren aller Leute ausgelöscht, die hier mit Valeria waren.«
»Die Priester?« Albias graue Augen wurden groß. »Glaubst du, die Priester hätten Valeria getötet?« Der Ton meiner Pflegetochter triefte vor Hohn. Auf den Straßen Londiniums hatte sie gelernt, jeglicher Obrigkeit zu misstrauen. Ich kann nicht behaupten, dass Helena und ich sie in dieser Einstellung entmutigt hätten.
»Priester sind meiner Meinung nach zu allem fähig, Albia.«
Wir standen schweigend da, spürten die Sonne und hörten dem Vogelgezwitscher zu. Unter unseren Füßen wurde das Gras – ohne Nährstoffe, während die Zelte darauf gestanden hatten – bereits wieder grün, die Halme tapfer aufgerichtet. Belaubte Hügel umgaben uns, bedeckt mit Olivenbäumen, Platanen, Lärchen und sogar Palmen über dichtem Unterholz aus Ranken und blühenden Büschen. Der konische Kronoshügel beherrschte alles, wartete darauf, das ich mich anderen Geheimnissen zuwandte.
Mit dem strahlenden Himmel, den rauschenden Flüssen, heiligen Hainen und uralten Zuschreibungen summte dieser Fleck vor Fruchtbarkeit und Legendärem. Ich erwartete jeden Moment das Auftauchen eines geschmeidigen Gottes, der uns fragte, ob wir irgendwelche Jungfrauen kennen würden, die bereit wären, sich im Interesse der Mythologie vernaschen zu lassen.
»Valeria Ventidia war nicht viel älter als du, Albia. Wenn du mit einer Reisegruppe Olympia besucht hättest, wie würdest du dich fühlen?«
»Älter, als wir es von mir annehmen!« Albia ließ nie eine Gelegenheit aus, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie wenig sie über ihre Ursprünge wusste. Sie hatte keinen Geburtstag. Wir wussten nicht genau, ob sie fünfzehn, sechzehn oder siebzehn war. »Aulus hat die Leute zu mies klingen lassen. Das hätte mir nicht gefallen.«
»Angenommen, du wärst Valeria und würdest genau das empfinden. Hättest du dich von irgendwelchen organisierten Unternehmen ausgeschlossen?«
»Was konnte sie schon machen? Allein im Zelt zu bleiben wäre keine gute Idee gewesen. Wenn irgendein Mann gewusst hätte, dass Valeria ganz allein war …«
»Stimmt. Während die männlichen Touristen sich sportlichen Dingen widmeten, wären Valeria und die anderen Frauen der Gruppe manchmal zusammen herumgeführt worden.«
»Vielleicht mochte sie diese Frauen nicht.«
»Wenn man mit einer geführten Gruppe reist, muss man mit seinen Reisegefährten klarkommen, Albia, wer auch immer sie sind. Was meinst du, wie die Frauen sich beschäftigt haben? Es gibt Dichter und Musiker, die man sich anhören kann.«
Albia verzog das Gesicht. »Man könnte Besichtigungen machen, so wie wir das gestern getan haben. Valeria könnte allein losgezogen sein – aber das wäre nicht ungefährlich gewesen.«
»Weil Männer sie angequatscht hätten?«
»Du weißt, dass sie das tun würden, Marcus Didius.«
Das stimmte ebenfalls. Eine junge Frau würde sofort zur Zielscheibe werden. Männer, die allein bei einem Heiligtum herumlungerten, waren definitionsgemäß seltsame Typen. Männergruppen konnten noch bedrohlicher sein. Wir wussten nicht, ob Valeria Ventidia hübsch gewesen war, aber sie war neunzehn. Einen Ehering zu tragen wäre keine große Hilfe gewesen.
»Wenn sie allein gesichtet wurde, hätte man angenommen, dass sie die Aufmerksamkeit von Männern suchte. Natürlich«, murmelte Albia hinterhältig, »könnte Valeria das gefallen haben.«
»Albia, ich bin schockiert! Valeria war eine Braut.«
»Sie hat geheiratet, weil man es ihr befahl.«
»Und Aulus behauptet, ihr Gatte sei ein Blödmann!«
Albia kicherte. »Warum für so einen Mann keusch bleiben?«
Vielleicht, weil es sich in einem Heiligtum wie diesem rasch herumsprach, wenn man das nicht tat.
XII
Da ich mir meiner Verantwortung mehr als sonst bewusst war, brachte ich Albia sicher ins Leonidaion zurück, wo ich sie bat, nach Helena zu schauen. Ich hatte mich mit dem jungen Glaucus verabredet. Es gab ein großzügiges neues römisches Vereinshaus, gestiftet von Kaiser Nero nach seinem Besuch vor zehn Jahren, aber seit Neros Tod unvollendet. Also ging ich zur alten Palästra, in die sich Glaucus gestern eingeschlichen hatte. Auf dem Weg dorthin ließ ich die Werkstatt des Pheidias und den Schrein des unbekannten Helden rechts liegen. Zu meiner Linken befand sich ein Badehaus mit einem riesigen Schwimmbecken im Freien. Ein Pförtner verwehrte mir den Einlass in die Sportstätte, und so wartete ich, bis jemand ihn ablenkte, und schlüpfte an ihm vorbei. Eine Aufnahmegebühr für diesen Elite-Sportverein konnte ich Claudius Laeta und den Rechnungsprüfern des Palatin keinesfalls aufs Auge drücken. Meine offiziellen Reisekosten reichten kaum für ein Brötchen pro Tag.
Die überdachten Sportstätten von Olympia waren so grandios, wie man es erwartet hätte. Gestern hatten wir die meiste Zeit damit verbracht, das Gymnasion zu bewundern; diese luxuriöse Einrichtung besaß einen dreibogigen Eingang, der in einen riesigen Innenraum führte, wo auf einer Laufbahn über die volle Distanz trainiert werden konnte, ohne Regen oder starker Hitze ausgesetzt zu sein. Der Raum war so groß, dass im mittleren Bereich Diskus- und Speerwerfen geübt werden konnten, selbst wenn am Außenrand Laufwettkämpfe ausgetragen wurden.
An das Gymnasion schloss sich die Palästra an – intimer, aber trotzdem beeindruckend. Sie besaß vier große Kolonnaden, von denen jeweils Räume für verschiedene Funktionen abgingen, rund um einen riesigen, nach oben offenen Trainingsplatz.
In einem der Vorbereitungsräume ölten sich die Athleten ein oder wurden von ihren Trainern eingeölt – oder ihren Geliebten. Ein anderer enthielt Kästen mit feinem Staub, der über das Öl geschüttet wurde. Den Staub gab es in verschiedenen Farben. Nach dem Training wurden Staub, Öl und Schweiß abgekratzt. Da es anderswo im Komplex voll ausgerüstete Badehäuser gab, waren hier nur einfache Waschgelegenheiten vorhanden – ein schlichter Strigilis-und-Abspritzraum und ein hallendes Kaltbecken.
Der Hof in der Mitte wurde für Kampfsportarten benutzt. Während der Spiele würde es hier rammelvoll sein, aber außerhalb der Saison war es ruhiger. Ringen im Stand wurde auf einem ebenen, sandigen Gelände ausgeführt, genannt Skamma, manchmal ebenfalls genutzt von Weitspringern, was zu Streitigkeiten führen konnte. Der als Pale bezeichnete Bodenringkampf, bei dem sich die Wettkämpfer herumwälzten, fand in einem provisorischen Schlammbad statt, wo der Sand zu einer Konsistenz von klebrigem Bienenwachs verwässert worden war – ein absoluter Magnet für Exhibitionisten. Beide Arten des Ringens galten als verfeinert im Vergleich zum Boxen, bei dem sich – unter Zuhilfenahme tückischer Armschützer mit großen, harten ledernen Fingerknöchelpolstern – Gegner das Gesicht so zu Brei schlagen konnten, dass keiner seiner Freunde sie mehr erkannte. Beim Boxen, diesem uralten Sport des schönen goldhaarigen Apollons, war einmal ein heftiger Kampf entbrannt, bei dem sich ein Mann für einen gewaltigen Hieb auf den Kopf dadurch rächte, dass er seinem Gegner die Fingernägel in den Leib grub und ihm mit bloßen Händen die Eingeweide herausriss.
Selbst Boxen wirkte blass im Vergleich zu dem brutalen griechischen Mördersport namens Pankration, bei dem alle Mittel erlaubt waren. Pankrationkämpfer benutzten eine Mischung aus Boxen und Ringen, plus allem, was ihnen sonst an Schlägen und Tritten einfiel. Nur Beißen und Augenauskratzen verstießen gegen die Regeln. Diese Regeln zu brechen wurde jedoch sehr bewundert. Genau wie das Brechen von Knöcheln, Armen, Fersen, Fingern und allem anderen, was sich sonst noch brechen ließ.
Bevölkert von Grobianen, die in diesen harten Sportarten triumphierten, hatte die Palästra eine ganz eigene Atmosphäre, eine, die mir nicht gefiel. Sie hatte auch ihren eigenen Geruch, wie ihn alle Sporthallen haben. Gestern hatten Glaucus und ich uns darauf geeinigt, Helena, Albia und meine jungen Neffen nicht hierherzubringen – selbst wenn das möglich gewesen wäre. Heute sah ich mir die Männer an, aber das hier war definitiv nichts für mich. Das Gymnasium von Glaucus senior bei uns zu Hause hinter dem Tempel des Castor war genauso exklusiv, strahlte aber etwas Zivilisiertes aus – ganz zu schweigen von der friedvollen Bibliothek und einem Mann auf den Stufen, der warmes Gebäck verkaufte. Niemand kam hierher, um zu lesen. Das war nur eine Kampfarena für Raufbolde. Glaucus hatte es irgendwie geschafft, Zutritt zu bekommen, wohl aufgrund seiner Größe und sportlichen Leistungsfähigkeit, aber in offiziellen olympischen Jahren wären weder der junge Glaucus noch ich auch nur in die Nähe der Innenräume gekommen.
Ich fragte mich, ob Phineus es je schaffte, Männer aus seinen Reisegruppen hier einzuschmuggeln. Ich hätte darauf wetten können. Hätte wetten können, dass das der Grund war, warum sie ihn alle für so gut hielten.
Während ich um den offenen Hof herumging, musste ich mehreren Lümmeln ausweichen, die auf Ärger aus waren. Mir war der Außenseiter deutlich anzusehen. Ich konnte nur hoffen, dass mein Name und meine Mission nicht an diese Kraftmeier weitergegeben worden waren wie gestern bei dem Fremdenführer im Heiligtum.
Glaucus hatte es mit Weitsprung. Er hatte mir erzählt, wo ich ihn heute finden würde – in einem langen Raum bei der südlichen Kolonnade, wo es Bänke für Zuschauer gab, man aber auch vom Flur aus zusehen konnte. Ein Musikant spielte auf einer Doppelflöte, die er sich mit einem Kopfband auf seltsam traditionelle Weise an der Stirn befestigt hatte. Er sollte den Athleten bei Konzentration und Rhythmus Hilfestellung leisten. Der Flötenklang stand in eigentümlichem Kontrast zu der sonstigen aggressiven Stimmung. Ich hätte fast erwartet, einen Raum voll tanzender Mädchen vorzufinden.
Keine Chance. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass hier jemals das vollzogen wurde, was ich als normalen Geschlechtsverkehr betrachtete. Zwei Jahrhunderte römischer Herrschaft hatten die Atmosphäre in keiner griechischen Palästra verändert. Die erotische Spannung war automatisch vorhanden. In einer Palästra kamen junge Männer zusammen, und ältere Männer kamen her, um offen deren Schönheit und Kraft zu bestaunen, in der Hoffnung auf mehr. Selbst ich wurde genau gemustert. Mit fünfunddreißig, vernarbt und spöttisch, war ich sicher vor alten Geißböcken, die meinen Vater um Erlaubnis bitten wollten, mich zu fördern, zu verführen und abzuknutschen. Was für ein Glück. Papa hätte wahrscheinlich schallend gelacht, ein großes Bestechungsgeld rausgeschlagen und mich ihnen direkt übergeben.
Erleichtert drückte ich mich in den sandigen Übungsraum.
»Falco! Alles in Ordnung?« Glaucus wirkte nervös. Er fungierte offiziell als mein Leibwächter. Ich sah ihm das Bedauern an, sich hier mit mir verabredet zu haben.
»Keine Bange, mit diesen Idioten werde ich schon fertig.« Er glaubte mir. Sein Vater trainierte mich. »Pass du lieber auf dich auf, Glaucus!« Glaucus zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. Er sah gut genug aus, um zur Zielscheibe zu werden, schien sich dessen aber gar nicht bewusst zu sein.
Bevor er zu mir an die Zuschauerbank kam, beendete er seinen nächsten Sprung. Kein Anlauf; die Kunst liegt im stehenden Absprung. Ich sah zu, als er sich auf dem Absprungbalken vorbereitete. Der Musikant ging in einen starken, rhythmischen Takt über. Glaucus richtete seine Gedanken auf den Sprung. In jeder Hand hielt er ein Gewicht. Er schwang sie zurück, riss dann seine Arme nach vorne und benutzte die Gewichte dazu, sich vorwärtszutreiben. Er war gut. Er flog über den Sand, streckte die Beine aus, beugte sie und bekam eine saubere Landung hin. Ich applaudierte. Genau wie zwei geschmeidige junge Schaulustige, angezogen von diesem gutaussehenden dunkelhäutigen Fremden. Ich winkte sie weg. Mir war es egal, ob sie annahmen, Glaucus und ich seien ein Liebespaar, solange sie nur die Biege machten und uns in Ruhe ließen.
Gewichte hingen an den Wänden – aus Blei und Eisen, in Paaren, unten meist bootsförmig und oben mit Haltegriffen versehen. Sie waren mir vertraut. Mein Vater verkaufte gefälschte griechische Vasen und Amphoren, von denen er behauptete, sie seien Preise bei den Panathenäischen Spielen gewesen. Seine Diskus- und Speerwerfer waren am beliebtesten, aber es gab auch eine Version, auf der ein Weitsprungwettkampf zu sehen war. Papas Künstler war ziemlich gut in rotfigürigen Griechen, bärtig, mit spitzen Nasen, leicht vorgezogenen Schultern und ausgestreckten Beinen beim Abschluss ihrer Würfe oder Sprünge. Manch ein zu vertrauensvoller Liebhaber antiker Kunst hatte sich zu einem Kauf beschwatzen lassen.
Glaucus sah, wie ich die ausgestellten Gewichte betrachtete, und schüttelte den Kopf. Er öffnete die linke Hand und zeigte mir das von ihm benutzte Gewicht. Es sah anders aus. Das hier war aus Stein gefertigt, hatte eine doppelendige zylindrische Form wie eine kleine Hantel und Grifflöcher für die Finger. »Wir Modernen benutzen solche, Falco. Die alten Dinger hängen da nur als historische Erinnerungen.« Er gab mir das moderne Gewicht. Meine Hand sackte hinunter. Es musste fünf oder sechs römische Pfund wiegen. »Ungefähr doppelt so viel wie die alten. Und es gibt sogar noch schwerere.«
»Gehören die dir?«
»O ja. Ich benutze die, an die ich gewöhnt bin.«
»Ich weiß, dass Weitsprung schwierig ist – aber machen die das Leben nicht noch schwerer?«
Glaucus lächelte. »Übung, Falco!«
»Helfen die wirklich dabei, dich vorwärtszutreiben?«
»Allerdings. Damit kann man mehrere Fuß weiter springen.«
»Dich machen sie jedenfalls zum Sandfloh!« Ich applaudierte ihm grinsend. Dann wurde ich ernst. »Ich frag mich, welche Art wohl bei Valeria benutzt wurde.«
Glaucus war mir voraus. Er bedeutete dem Musikanten, mit dem Gedudel aufzuhören. Das bleiche Bürschchen, unterernährt und mickrig, hatte improvisiert, während wir uns unterhielten. Sein tonloses Gefiepe verriet uns, dass er wohl nur als Ersatz außerhalb der Saison beschäftigt wurde. »Falco, ich möchte dich Myron vorstellen.« Der Musikant begann sich zu verbeugen und verlor dann sein Selbstvertrauen. »Myron, erzähl Falco, was du mir erzählt hast.«
»Über die Frau, die ermordet wurde?«
»Valeria Ventidia, eine Besucherin aus Rom. War sie hier in den Übungsräumen bekannt? Hat sie sich bei den Athleten herumgetrieben?«, fragte ich.
»Nein. Das ist nicht erlaubt.«
»War um die Zeit in der Palästra viel los?«
»Dieses Jahr ist es sehr ruhig. Nur ein paar Nachzügler und welche, die auf gut Glück vorbeikommen.«
»Also erzähl mir von dem Mord. Du hast erfahren, wie es passiert ist? Gehörte das dabei benutzte Gewicht jemand Bestimmtem?«
»Nein, es wurde hier von der Wand genommen. Danach wurde es in der Vorhalle gefunden, verschmiert mit Blut und Haaren von dem Mädchen.«
»Erzähl ihm von dem Gewicht, Myron«, drängte Glaucus.
»Es war sehr alt, historisch, sehr ungewöhnlich. Hatte die Form eines wilden Ebers.«
»Könnte ich es sehen?« Ich hätte es gerne untersucht, auch nach all der Zeit, aber Myron sagte, das blutbesudelte Gewicht und sein Gegenstück seien entfernt worden.
»Wo wurde die junge Frau gefunden? Auch in der Vorhalle?«
»Die Sklaven, die beim ersten Morgenlicht kamen, um sauberzumachen und zu rechen, fanden sie auf dem Skamma liegen.«
»Sie wurde innerhalb der Palästra ermordet?«
»Anscheinend.«
»Gab es irgendwelche Spuren am Tatort? Wenn sie zusammengeschlagen wurde, muss doch Blut geflossen sein …«
Glaucus und der Flötist lachten. »Falco, der Skamma ist der Übungsgrund für das Boxen und das Pankration!« Glaucus schüttelte den Kopf über meinen Ausrutscher.
»Auf dem Skamma ist jeden Tag Blut.« Der Flötist musste noch mal darauf rumhacken. »Wer weiß, wessen Blut es ist?« Er gluckste, zeigte die gleichgültige Herzlosigkeit, der Caesias Vater und Valerias Ehemann begegnet sein mussten, als sie um Hilfe baten.
»Und wie lautet die Geschichte? Was glauben die Leute?«, wollte ich wissen. »Hört zu, wenn ein museumsreifes Gewicht genutzt wurde, könnte es von der Ausstellungswand genommen worden sein, um es dem Mädchen zu zeigen. Hier liegen genug neue herum …«
»Um es ihr zu zeigen?« Glaucus war eindeutig ein Unschuldslamm.
»Ich kann mir vorstellen«, teilte ich ihm mit, »dass es in Sportlerkreisen schon ein ausgelutschter Anmachtrick ist. Nähere dich einer attraktiven jungen Dame, die so aussieht, als wäre sie leicht zu beeindrucken. Versuch’s mit unserem bewährten Anmachspruch: Komm in die Palästra und sieh dir meine Sprunggewichte an.«
»Ach so!« Glaucus hatte es geschnallt, wurde aber rot. »Na ja, ich nehme an, das ist besser als: Schau dir meinen großen Diskus an, kleines Mädchen.«
XIII
Ich bat den Flötenspieler, mich dem Oberaufseher der Palästra vorzustellen. Glaucus verschwand, um nicht als Eindringling in ihrem exklusiven Verein entdeckt zu werden. Er verzog sich zum Speerwurfüben ins Gymnasion.
Myron führte die von mir verlangte Vorstellung durch.
Der Oberaufseher der Palästra hockte in einem kleinen Verschlag, der wie ein Schrank voll sehr alter Lendentücher roch. Er war ein sechs Fuß großes Ungeheuer, dessen Hals breiter war als sein Kopf, was darauf hindeutete, dass er sein Leben nur als Boxer begonnen haben konnte. Als alltägliche Kopfbedeckung trug er immer noch die lederne Schädelkappe. Nach dem Zustand seines Gesichts zu schließen, war er nicht besonders erfolgreich gewesen und hatte unter den Fäusten seiner Gegner gelitten. Er hatte Blumenkohlohren und eine gebrochene Nase, und das eine Augen war dauerhaft geschlossen. Als Myron sah, wie ich den Schaden aufaddierte, flüsterte er mir zu: »Sie hätten seine Gegner sehen sollen!« Dann schlüpfte er schnell hinaus.
Ich sprach den Oberaufseher sehr höflich in seiner eigenen Sprache an. »Tut mir leid, Sie zu stören. Mein Name ist Marcus Didius Falco. Ich bin aus Rom gekommen, um nachzuforschen, was mit Valeria Ventidia passiert ist, der jungen Frau, die hier ermordet wurde.«
»Verdammtes kleines Luder!« Seine Stimme war nicht so kräftig, wie man bei seiner Statur angenommen hätte. Seine Einstellung entsprach dagegen der Erwartung.
»Tut mir leid, Sie deswegen behelligen zu müssen.« Mein Ton blieb neutral. Gut möglich, dass sich das Mädchen dämlich verhalten hatte. »Können Sie mir mehr darüber erzählen?«
Misstrauen schlich sich langsam in sein eines Auge. »Arbeiten Sie für die Familie?«
»Schlimmer noch, fürchte ich. Ich suche nach einer Geschichte, um die Familie davon abzuhalten, sich an den Kaiser zu wenden – falls es eine gute Geschichte gibt. Ich schätze, damals hat es hier Stänkereien gegeben, und jetzt ist der üble Geruch bis nach Rom zurückgeschwappt. Ich soll herausfinden, ob wir dem Mädchen die Schuld anhängen können, oder besser noch dem Ehemann.«
»Hängt ihr die Schuld an!«, schnaubte er.
»Wissen Sie das mit Sicherheit?«
»Keiner weiß irgendwas mit Sicherheit. Sie lag auf dem Skamma rum, als meine Leute sie fanden. Ich ließ sie in die Vorhalle werfen. Ich dulde hier keine Frauen – lebendig oder tot!«
Ich unterdrückte eine ungehaltene Erwiderung. »Jemand hat sie hinter Ihrem Rücken hier reingebracht?«
»Wenn ich das Sagen hätte, würde ich Frauen in einem Umkreis von zwanzig Meilen verbieten.«
»Empfinden das viele Leute auch so?« Falls seine Einstellung unter den Wettkämpfern und männlichen Zuschauern verbreitet war, konnte es weiblichen Besuchern das Leben sehr schwer machen.
»Wir sollten zu den alten Bräuchen zurückkehren – Frauen wurden vom Typaionfelsen hinabgestoßen.«
»Bisschen drastisch?«
»Nicht drastisch genug.«
»Und jetzt?«
»Zu den Wettkämpfen ist ihnen der Zutritt verwehrt. Aber die dämlichen Huren treiben sich sonst überall rum. Wenn ich den Drecksack erwische, der eine hier reingeschmuggelt hat, breche ich ihm sämtliche Knochen.« Das meinte er ernst.
Und was die Frau betraf, wenn dieser Tyrann sie in seiner kostbaren Palästra erwischte, würde er dann so weit gehen, sie zu töten? Wenn ja, würde er bestimmt damit angeben.
»Sehe ich das richtig, dass Ihre Palästra auch über die normalen Öffnungszeiten hinaus zugänglich ist?«
»Wir schließen nie ab. Der Pförtner macht Feierabend, aber wir lassen ein paar Lampen brennen, falls Wettkämpfer unbedingt noch mal trainieren wollen.«
»Warum sollte das in diesem Jahr jemand tun wollen?«
»Worauf wollen Sie hinaus, Falco?«
»Keine Spiele, keine Wettkämpfe. Keine Wettkämpfe, kein Bedarf an spätnächtlichem Training. Die Sportbegeisterten kommen nicht vor dem nächsten Jahr. Ich wette, dass hier kaum was los ist. Jeder könnte sein Mädchen reinlotsen und auf ein wenig ungestörten Spaß hoffen.«
Der Oberaufseher blickte finster. Sein gutes Auge tränte. »Hierher kommen nur passionierte Athleten. Sie trainieren die ganze Zeit.«
»Sie können nicht alles haben. Wenn Athleten hier trainiert haben, will ich wissen, wer sie waren, und werde sie verhören …« Der Oberaufseher würde nichts preisgeben. Ich nahm an, dass sie heute Abend nicht da sein würden, also beließ ich es dabei. »Hatte die Frau Ihre Mitglieder belästigt, ihnen schöne Augen gemacht?«
»Das würde ich ihr nicht geraten haben! Meine Mitglieder haben nur eines im Kopf.«
»Ach wirklich?«
»Sie haben ja nicht die geringste Ahnung. Hingabe. Sie treten vor die Statue des Zeus Horkios, um zu schwören, dass sie zehn Monate trainiert haben. Das ist erst der Anfang. Die Kampfrichter müssen bestätigen, dass die zugelassenen Wettkämpfer einen ganzen Monat lang in Elis oder hier unter olympischer Aufsicht trainiert haben. Sie werden von Trainern und Ärzten in Form gebracht, haben Essens- und Trainingsregeln, die für jede Minute des Tages festgelegt sind. Zum Hades, selbst ihr Schlaf ist reglementiert.«
Erneut darauf hinzuweisen, dass wir kein olympisches Jahr hatten, konnte ich mir sparen, und daher ging ich auf ihn ein. »Diese Jungs wollen also nicht, dass irgendein Weibsbild ihnen den Kopf verdreht?«
Der Oberaufseher bedachte mich noch immer mit dem »Blick, der töten kann«, den er für den Beginn seiner Kämpfe entwickelt hatte, wenn die Männer herumtänzeln und ihre Gegner durch schieren Terror zum Aufgeben bringen wollen. »Lassen Sie mich Ihnen eines sagen – die binden sich ein Stück Band um den Pimmel, und selbst wenn sie noch die Kraft zum Vögeln hätten, kriegen sie ihren Schwanz nicht hoch!«
Ich zuckte zusammen. Jeder, der je ein römisches Gymnasium betreten hat, hatte diese Geschichte gehört. Ich war noch niemandem begegnet, der es tatsächlich in Aktion gesehen hatte. Trotzdem kannte ich den Spruch: »›Den Hund an die Leine legen‹?«
»Genau!« Der Oberaufseher war von den vielen Boxhieben blöde geworden. Er hatte so viel Matsch im Hirn, dass er sich nur auf einen Gedanken konzentrieren konnte. »Das dreiste Flittchen muss sich mit einem Liebhaber getroffen haben, aber er gehörte nicht zu meinen Mitgliedern. Irgendein verdammter Außenseiter hat sich zu später Stunde mit ihr reingeschlichen, dann hat sie ihm schöngetan, und er hat ihr eins übergezogen …«
»Mehrere, wie ich hörte. Könnte ich das Gewicht sehen, mit dem sie ermordet wurde?«
»Ist nicht mehr da.« Ich glaubte ihm nicht. Ich hätte wetten können, dass er es sich unter den Nagel gerissen hatte und sich daran weidete. Doch er war zu groß, um sich mit ihm anzulegen. »Sie hat die Prügel verdient«, meinte er.
Helena Justina würde einwenden, dass keine Frau einen Mord »verdiente«. Bevor ich nicht wusste, wie Valeria hierhergelockt worden war, hielt ich mich mit einem Urteil zurück. Wenn sie sich regelrecht angeboten hatte, war sie einfach dumm. »Dann erzählen Sie mir, was danach geschah. Hat sich nicht ein Magistrat in die Ermittlungen eingemischt?«
»Aquillius. Aus Korinth. Den Göttern sei Dank, dass er wieder dahin verschwunden ist.«
»Aus dem Stab des Statthalters?«
»Verdammter Quästor.« Also irgendein Jungspund in der ersten Stellung seiner Ämterlaufbahn. Ja, noch nicht mal in den Senat aufgenommen, sondern auf irgendeinem unbedeutenden Finanzposten, um zu beweisen, dass er für die Wahl geeignet war. Wusste bestimmt überhaupt nichts. Hatte bestimmt alles vermasselt. Würde bestimmt hochnäsig reagieren, falls ich ihm das jemals sagte.
»Gibt es hier vor Ort jemanden, an den ich mich wenden sollte?«, fragte ich. »Will ja niemandem auf die Zehen treten. Wer hat sich hier dafür interessiert?«
»Lacheses. In der Altis. Im Haus der Priester.«
»Oberpriester?«
»Zeus, nein! Der Oberpriester hat Besseres zu tun.«
Ich dankte ihm, obwohl mir das schwerfiel, und er verfluchte mich erneut. Ich machte, dass ich rauskam, wobei mir kalter Schweiß über den Rücken rann.
Ich suchte den Priester auf. Das würde so nützlich sein wie das Kratzen eines Mückenstichs mit einer Feder. Trotzdem musste es getan werden.
Das Haus der Priester lag an der Nordseite der Altis, im Schatten des Kronoshügels, nahe des Prytaneion, wo die Siegesfeiern stattfanden. Es war nicht das Verwaltungszentrum für die Spiele, enthielt jedoch Ratsräume, in denen Treffen abgehalten werden konnten. Vermutlich konnten die Wärter der Schreine es als säkularen Aufenthaltsraum benutzen, wenn sie dienstfrei hatten. Ich war so säkular, dass man mich in der Vorhalle stehen ließ. Es dauerte fast eine Stunde, bis sich Lacheses bequemte, mit mir zu sprechen.
Er war schlank und halbseiden. Wenige Priester sind so ehrwürdig, wie man es sich vorstellt. Dieser war um die dreißig – irgendein Gewinner der gesellschaftlichen Lotterie, der genauso gut als Steuereintreiber hätte enden können, statt auf einem religiösen Posten. Er trug einen langen Rauschebart, an den Enden hochgezwirbelt, und glaubte tatsächlich, er sehe gut damit aus.
Ich teilte ihm auf Lateinisch mit, dass ich Vespasian vertrat. Er antwortete auf Griechisch. »Ich bin hier, um zu helfen.« Er benutzte einen besonders schleimigen Ton für das Abwehren von Eindringlingen, die unangenehme Fragen stellten. »Der Tod der jungen Frau war äußerst bedauerlich. Alle haben um sie getrauert. Bitte überbringen Sie dem Kaiser meine Beteuerung, dass alles genau überprüft wurde. Ein hoher Beamter aus Korinth kam zu dem Schluss, es gebe keine Beweise für eine Anklage. Mehr konnte nicht getan werden. Mehr ist dazu nicht zu sagen.« Er sagte es trotzdem. »Wir würden es vorziehen, dass die Heiligkeit dieses besonderen Ortes nun wieder ungestört bleibt.«
»Das würde ich auch.« Ich hatte aufgegeben und sprach nun ebenfalls Griechisch. In meinem Hals war ein Kratzen. »Ich meine, ich würde es vorziehen, dass junge Frauen aus Rom in Ihrem Heiligtum nicht mehr tot umfallen.«
Er ruckte wieder mit seinem wuschelbärtigen Kinn, als wäre er ein olympischer Kampfrichter auf einer von Papas rotfigurigen Vasen. Wenn er einen langen Richterstock in der Hand gehalten hätte, dann hätte er mich damit gepikt.
»Haben Sie dafür gesorgt, Lacheses, dass der Platz aufgeräumt wurde, auf dem die Gruppe ihr Lager hatte?« Er blickte indigniert. Ich konnte mich gerade noch zurückhalten, ihn nicht an seinem Priestergewand zu packen und ihm die Kehle zuzudrücken, bis er sich in die Hose pisste. »Beruhigen Sie sich. Mir ist klar, dass der Boden verunreinigt war.« Bestimmt hatte niemand jemals erwähnt, dass die viel stärker verunreinigte Vorhalle und der Skamma in der Palästra für Mitglieder gesperrt werden müssten, bis sie mittels eines Olivenzweigs mit heiligem Wasser besprenkelt worden waren. Nichts beeinträchtige den Sport. »Wurden auf dem Lagerplatz Hinweise gefunden?«
»Nichts Bedeutsames.«
»Was war über die junge Frau zu erfahren?«
»Dass sie sich mit ihrem Mann gestritten hatte.«
Davon hörte ich zum ersten Mal, wenngleich es mich nicht überraschte. »Und das steht fest?«
»Mehrere ihrer Begleiter hatten die beiden gehört. Er hat es nicht geleugnet.«
»Worüber haben sie sich gestritten?«
Der Priester sah mich erstaunt an. »Ich habe keine Ahnung.«
»Netter Zug von Ihnen, die Vertraulichkeit des Ehebettes zu wahren! Glauben Sie nicht, dass es bedeutsam sein könnte? Könnte dieser Streit nicht erklären, warum der Ehemann – falls er sie umbrachte – das getan hat?«
»Niemand beschuldigt den Ehemann«, versicherte mir der Priester plötzlich. Er roch die Gefahr einer Klage wegen Verleumdung oder schlechter Verfahrensführung. »Alles wurde untersucht. Nichts deutete auf einen bestimmten Verdächtigen. In Olympia ist ein ständiges Kommen und Gehen. Es war offensichtlich, dass der Mörder ein Fremder sein musste, der sich in dem Durcheinander nach der Entdeckung der Leiche aus dem Staub gemacht hat.«
»Besucher der Heiligtümer durften sich zerstreuen?«
»Oh, wir hätten wohl kaum …«
»Vergessen Sie es! Niemand erwartet, dass Sie Ihre Pilger zusammenpferchen, nur weil ein kleines römisches Mädchen tot aufgefunden wurde. Erwarten Sie, dass dieser fröhliche Mörder zur nächsten Olympiade wieder hier auftaucht?«
»Das liegt in den Händen der Götter.«
Ich verlor die Geduld. »Leider leben wir in modernen Zeiten. Allmählich habe ich das Gefühl, Lacheses, dass meine Rolle darin bestehen wird, die Götter zur Verantwortung zu ziehen. Ihnen bleibt kaum mehr als ein Jahr, bevor Ihr Heiligtum von Menschen überflutet wird. Mein Rat lautet: Nutzen Sie die Zeit, um diesen Mann zu schnappen.«
Der Priester hob die Augenbrauen, bestürzt über meinen Ausbruch. »Sind Sie fertig, Falco?«
»Nein. Was ist mit dem anderen Mädchen? Was ist mit Marcella Caesia, deren Vater ein Jahr nach ihrem Verschwinden ihre Knochen auf dem Kronoshügel fand?«
Er seufzte. »Ein weiterer bedauerlicher Vorfall …«
»Und wie wurde der untersucht?«
»Das war vor meiner Zeit, fürchte ich.«
»Furcht ist das richtige Gefühl«, warnte ich ihn. »Diese Todesfälle werden Ihnen direkt ins Gesicht springen wie all das Schlechte aus der Büchse der Pandora.« Ich griff zu meiner eigenen Befriedigung auf Legenden zurück, was jedoch an Lacheses verschwendet war, genau wie meine Wut. »Wenn ich herausfinde, dass irgendjemand in diesem Refugium oder den daran angeschlossenen bombastischen Sportstätten etwas mit dem Tod von Marcella Caesia oder dem von Valeria Ventidia zu tun hatte, wird sich hier heilige Vergeltung ausbreiten wie die Pest – und jeder, der mich belogen hat, wird der Erste sein, der zur Rechenschaft gezogen wird.«
Ich spürte, dass der Priester kurz davor war, die Wächter zu rufen, also machte ich auf dem Absatz kehrt und ging.
War es nicht die Hoffnung, die in der Büchse blieb, nachdem Pandora damit herumgepfuscht hatte? Allerdings hatte ich in diesem Fall nicht viel Hoffnung.
XIV
Der unerfreuliche Morgen hatte wenigstens einen Vorteil gehabt: Jetzt wusste ich aus erster Hand, warum Caesius Secundus das Gefühl gehabt hatte, an der Nase herumgeführt worden zu sein. Ich verstand seine Frustration und Besessenheit. Ich konnte sogar verstehen, warum die Tullius-Familie klein beigegeben und mit ihrem Leben weitergemacht hatte. Bitternis und Wut stiegen in mir auf und schmeckten wie Galle.
Ich stapfte durch die Altis zur südöstlichen Ecke, wo sich hinter Neros halbfertiger Villa ein Ausgang in der Umfassungsmauer befand. Kurz davor kam ich an einer morschen Holzsäule vorbei. In ihrem schmalen Schatten traf ich auf meine Reisegruppe – die hochgewachsene, weiß gekleidete Gestalt von Helena Justina, Albia, etwas kleiner und lebhafter, der stämmige Cornelius und Gaius, finster blickend wie immer, als würde er planen, sich für sämtliche eingebildeten Beleidigungen der Gesellschaft zu rächen. Ich tat meine Pflicht und begrüßte sie knurrend.
»Marcus, mein Liebling! Wir haben uns einen Touristen-Vormittag gegönnt und einen ›Pelops‹-Rundgang unternommen.«
Ich war nicht in der Stimmung für fröhlichen Tourismus und gab dem auch Ausdruck. Helena sah immer noch bleich aus und bewegte sich schleppend. »Ich dachte, du lägst zusammengekrümmt in unserem Zimmer«, maulte ich sie an.
Sie verzog das Gesicht. »Die Schwester des Pförtners hat vielleicht zu viel Öl und Oregano in ihren Lammeintopf getan. Aber hör zu – im Brief meines Bruders stand, dass Valeria und die anderen Frauen an dem Tag, als Valeria starb, einen Rundgang zu den Pelops-Erinnerungsstücken unternommen haben.«
Ich stöhnte bei dem Gedanken, gab aber nach. Im Schatten einiger Palmen setzten wir uns im Kreis um Helena auf den Boden.
»Das hier ist die letzte Säule des Palastes von Oinomaos.« Sie deutete auf den vermoderten Holzrest, bei dem ich sie gefunden hatte. »Es wird euch sicher enttäuschen, dass keiner der abgeschlagenen Köpfe der Freier überdauert hat.« Selbst die Säule hatte kaum überdauert. Das Holz war silbrig und faulte vor sich hin. Es erinnerte mich an meinen alten Balkon an der Brunnenpromenade; als ich das Holz angestupst hatte, war meine Faust direkt durch den Stützbalken gegangen.
»Wenigstes hat der schlechte Zustand sie davor bewahrt, von römischen Besuchern mit ›Titus war hier‹ bekritzelt zu werden.« Gaius und Cornelius schlenderten sofort hinüber, um zu sehen, ob da nicht doch noch ein Fleckchen war, das sie beschmieren konnten.
Helena drehte mich nach Westen um und lenkte meine Aufmerksamkeit auf eine ummauerte Einfriedung. »Cornelius, komm wieder her und erzähl Onkel Marcus, was wir über das uralte Monument erfahren haben.«
Cornelius blickte verschreckt. Meine Schwester Allia war eine nachlässige Schlampe, die ihn nie nach seinen Lektionen abfragte. Er war zur Schule gegangen. Mama hatte dafür bezahlt. Sie hatte ihr Geld verschwendet, denn Cornelius konnte kaum seinen Namen schreiben. Helena hatte ihn jedoch mit Fakten vollgestopft. »Das ist der Grabhügel von Pelops«, sagte Cornelius auf. »Er heißt Pelopion.«
»Guter Junge! Der Hügel muss nur das Grabmal sein, Marcus, denn wir haben die Bronzetruhe gesehen, die seine mächtigen Knochen enthält. Alle, außer welchem, Gaius?«
Gaius grinste Cornelius höhnisch an, da er wusste, dass er die leichte Frage bekommen hatte. »Schulterblatt! Riesig. Aus Elfenbein gemacht.«
»Richtig. Wie ist es dazu gekommen, Albia?«
Albia verzog das Gesicht. »Die Geschichte ist widerlich. Sie wird dir gefallen, Marcus Didius.«
»Oh, vielen Dank!«
»Pelops war der Sohn von Tantalos, welcher der Sohn von Zeus war, allerdings kein Gott, sondern nur ein König. Tantalos lud alle Götter des Olymp zu einem Fest auf einem Berggipfel ein …«
»Weil er prüfen wollte, ob die Götter wirklich allwissend waren«, half Helena aus.
»Alle brachten für das Picknick was zu essen mit. Die Götter taten Nektar und Ambrosia in ihre Picknickkörbe. Tantalos servierte ihnen einen Eintopf, um zu sehen, ob sie erkannten, was sie da aßen.«
»Und was war es? Der Oreganoeintopf der Schwester des Pförtners?«, fragte ich.
»Bah. Viel schlimmer. Tantalos hatte seinen Sohn Pelops in Stücke gehauen und gekocht! Die Götter bemerkten es tatsächlich – aber erst, nachdem Demeter, die Erntegöttin, den Schulterknochen durchgebissen hatte.«
»Sie trauerte um ihre Tochter und war daher ziemlich abgelenkt.« Helenas versonnener Blick richtete sich in die Ferne, und ich wusste, dass sie an Julia und Favonia dachte. »Und dann?«
»Dann warf Rhea die ganzen Knochen wieder in den Topf, rührte ordentlich um, setzte den kleinen Pelops wieder zusammen und gab ihm ein neues Schulterblatt aus Elfenbein.«
»Das ihr gesehen habt? Glaubt ja nicht an diesen Käse!«, höhnte ich. Sie blickten mich finster an. Sie wollten an den Mythos glauben.
»Tantalos wurde ganz schlimm betraft!« Cornelius begeisterte sich für göttliche Bestrafungen. »Er muss für immer im Hades sitzen und auf einen Teller mit Essen und einen Becher mit Wein starren, ohne sie je erreichen zu können.«
»Das würde dir nicht gefallen, Cornelius.«
»Nein, aber Pelops war besser denn je, nachdem er wieder zusammengeflickt worden war, ging in die Welt hinaus und wurde ein Held.«
»Und dann kam er nach Olympia und schummelte bei dem Wagenrennen?«
»Ihm blieb nichts anderes übrig, Marcus.« Helena lächelte. »Oinomaos forderte die Freier seiner Tochter heraus und benutzte dazu zwei magische, unschlagbare Pferde.«
»Unfair! Aber Pelops hatte seine eigenen magischen Pferde, nicht wahr? Die ihm Poseidon geschenkt hatte?«
»Vielleicht. In einer anderen Version war Hippodameia genauso scharf auf Pelops wie er auf sie. Auf gar keinen Fall wollte sie seinen hübschen Kopf auf einem Pfahl aufgespießt sehen. Daher ging sie zu Myrtilos, dem Wagenlenker ihres Vaters, und überredete ihn, Oinomaos’ Streitwagen durch einen Wachspfropfen zu sabotieren, damit das Rad abfiel. Worauf Myrtilos, zu Recht oder Unrecht, glaubte, er dürfe für diese Sabotage selbst mit Hippodameia schlafen. Nach dem Rennen versuchte er seinen Preis einzukassieren. Pelops und Myrtilos kämpften. Pelops ertränkte Myrtilos im Meer, aber bevor der schließlich unterging, verfluchte er alle Abkömmlinge von Pelops und Hippodameia. Die beiden bekamen jedoch zwei muntere Söhne, Arteus und Thyestes.«
Ich wackelte mit dem Finger. »Ich spüre, wie mich ein Anfall von Homer überkommt.«
»An eurem Onkel Marcus ist mehr dran als eine zähe Natur und ein freches Grinsen«, teilte Helena den Jungs mit. »Er kommt mit finsterem Blick angestapft, hat gerade Zeugen in die Mangel genommen und führt uns dann plötzlich vor, wie belesen er ist. Also, du bist dran, Marcus.«
»Ich bin schon erwachsen. Ich muss keine Lektionen aufsagen.« Die Jungs waren beeindruckt von meiner Rebellion.
Helena seufzte. »Spielverderber. Das wird ein Nachschlag menschlichen Eintopfs, fürchte ich. Arteus und Thyestes stritten sich fürchterlich über ihr Erbe. Schließlich zerstückelte Arteus sämtliche Kinder seines Bruders – außer einem – und tischte sie bei einem Festmahl auf, zu dem Thyestes als Ehrengast geladen war. Thyestes bekam nichts davon mit und ließ es sich schmecken. Sein einziger überlebender Sohn hieß Aigisthos.«
Helena ging die Puste aus, also sprang ich doch ein: »Der berühmte Sohn von Arteus wiederum ist König Agamemnon. Seine zänkische Frau heißt Klytämnestra. In seiner Abwesenheit während des Trojanischen Krieges wird sie die Geliebte ihres mürrischen Vetters Aigisthos. Aigisthos bekommt seine Rache für den neuen Eintopfvorfall, Klytämnestra befriedigt ihre Wollust. Bei seiner Rückkehr aus dem Trojanischen Krieg ermorden die beiden Liebenden Agamemnon, dessen Sohn und Tochter dann die beiden ermorden und Material für viele Tragödien liefern.«
»Die Moral daraus lautet: Esst nur Salat. Wenn eine Reisegruppe nach Troja will«, sagte Helena, »ist Olympia ein guter Ausgangspunkt.«
»Ja, die Gruppe von Sieben-Stätten-Reisen bekommt nicht nur Sport geboten, sie befindet sich auch auf einer von Dramen überquellenden Route. Nach einem Umweg über Sparta reisen sie als Nächstes nach Mykene, dem Palast des Agamemnon. Dann nach Aulis, wo die griechischen Schiffe ablegten, und weiter nach Troja – Troja soll heutzutage bloß noch aus Schutt bestehen, habe ich gehört, nur Beutelschneider und kitschige Andenkenstände. Aber sag mir, Helena, warst du deshalb von Pelops fasziniert?«, fragte ich.
»Nun, er vertritt den heldenhaften, sterblichen Menschen. Er scheint ein schlechtes Gewissen gehabt zu haben und hat eine Menge Erinnerungsstätten errichten lassen – für Myrtilos, Oinomaos, die anderen Freier …«
»Wie großherzig von ihm. Ich würde im Traum nicht daran denken, deine früheren Liebhaber zu ehren.«
»Didius Falco, du bist Privatermittler, du hast kein Gewissen.« Was nicht stimmte, wie Helena genau wusste.
»Der ganze Peloponnes ist nach Pelops benannt«, piepste Cornelius. Er hatte sich aufs Angeben verlegt.
Gaius streckte sich in ganzer Länge auf dem Rücken aus. »Hier ist alles voll mit Relikten. Außer seinem Schulterbein haben wir auch noch seinen Zeremoniendolch mit dem goldenen Knauf gesehen, im Schatzhaus des Sikyon …«
»Und Hippodameias Liege«, sagte Albia. »In ihrem Schrein.«
»Mädelskram!«, spottete ich. »Jetzt hört mal zu. Ist ja schön, dass ihr so viel Spaß als Touristen habt, aber wir sind wegen eines Falls nach Griechenland gekommen.«
»Ich verfolge den Fall durchaus«, grummelte Helena. »Stell es dir vor. Die Männer auf der Tour waren besessen von all diesen blutigen Sportarten – Boxen, Ringen und dem grausigen Pankration. Die Frauen hatten die Nase voll davon, dass die Männer heimkamen und nur von Gewalt und Blut faselten. Zur Ablenkung organisierten sie eine Pelops-Tour. Später am selben Abend wurde Valeria ermordet – also versuche ich zu folgern, was an dem Tag in ihrem Kopf vorging.«
»Hat dich diese Theorie weitergebracht?«
»Ich frage mich«, fuhr sie fort, ohne auf mich einzugehen, »ob Hippodameias Liebeswerben in Valeria vielleicht irgendwas auslöste. Falls sie festgestellt hatte, dass sie mit ihrem frisch Angetrauten unglücklich war, hat sie dann die Geschichte einer beherzten jungen Frau bewegt, die sich einen Mann eroberte, der sie wirklich wollte? Vielleicht war Valeria ruhelos geworden.«
Nachdenklich betrachtete ich mein Mädchen. Helena hatte selbst eine arrangierte Ehe hinter sich, mit einem schwachen Mann, der sie betrogen hatte. Sie hatte die Qual ein paar Jahre ertragen und sich dann von ihm scheiden lassen. Ich wusste, dass Helena nicht vergessen hatte, wie niedergeschlagen sie gewesen war, sowohl während ihrer Ehe als auch nach deren Versagen.
»Liebling, willst du darauf hinaus, dass Valeria Ventidia befürchtete, für immer an den Zweitbesten gefesselt zu sein, und daher ihre eigene Sicherheit in den Wind schlug? Dass sie Statianus den Laufpass geben und sich einen Helden im alten Stil suchen wollte?«
»Nein, ich vermute nur, dass die arme kleine Valeria, während die Frauen in der Altis herumschlenderten und von Pelops hörten, ihrem Mörder ins Auge fiel.«
»Und dann bot ihr dieser Brutalo eine Fahrt in seinem Rennwagen an?«, sagte ich anzüglich, doch gleich darauf ernsthafter: »Nein, ich bin sicher, dass er sie mit Sportlergeschichten über Weitsprünge in die Palästra lockte.«
»Konnte sich keinen Streitwagen leisten«, meinte Gaius neidisch. »Man muss Millionen besitzen, um bei Wagenrennen mitzufahren, Onkel Marcus. So viel, dass die Besitzer die Kränze für den Sieg kriegen, statt der Wagenlenker.«
»Stimmt. Also kein Wagenlenker.«
Helena drängte weiter. »Noch eine Frage: Wer nahm die Frauen auf diesen Rundgang mit? Keiner der Fremdenführer will sich dazu bekennen.«
»Euch ist es ja auch gelungen, die Relikte allein zu finden.«
Gaius drehte sich auf den Bauch, während er und Cornelius einstimmig riefen: »Helena ist gescheit!«
»Und warum sind die Fremdenführer so spöttisch? Pelops ist der Begründer der Spiele.«
»Oder Herakles war es«, teilte mir Helena mit. »Wie auch immer, die Anhänger wollen, dass dieser Ort vorrangig Zeus geweiht ist. Pelops wurde auf den zweiten Platz verwiesen, er gilt nur als Symbol menschlichen Bestrebens. Die Götter beherrschen diesen Hain.«
»Und Zeus ist der oberste Gott … Tja, ich würde sagen, die Pelops-Exkursion ist ohne Bedeutung für das, was Valeria angetan wurde.«
Cornelius blickte mich ängstlich an. »Wenigstens wurde sie nicht zerhackt und als Eintopf verspeist.« Zu entdecken, dass ich einen so empfindsamen Neffen hatte, war ein Schock. »Ist es hier sicher, Onkel Marcus? Ich werde doch nicht in einem Topf landen und aufgegessen werden, oder?«
»Du musst halt aufpassen. Selbst Zeus kam nur knapp davon«, neckte ihn Helena. »Kronos, sein Vater, der einst König des Himmels war, bekam die Warnung, dass sein Sohn sich seiner entledigen wollte. Jedes Mal, wenn ein Kind geboren wurde, aß er es auf. Nachdem sie Zeus geboren hatte, musste seine Mutter den Säugling verstecken, getarnt als Stein, aufgehängt zwischen Himmel und Erde, wo Kronos ihn nicht finden und verschlucken konnte.«
Cornelius hielt sich die Hände über die Ohren und lief kreischend davon.
Die grausige Geschichte lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf den Kronoshügel, wo Marcella Caesia gestorben war. Ihre Leiche hatte unter den Sternen gelegen, bis ihr hartnäckiger Vater vorbeikam und sie gefunden hatte. Ein römischer Vater, dem seine Tochter mehr am Herzen lag als dem durchschnittlichen mythologischen Griechen.
Trübsinnig überlegte ich, wie es wohl Julia Junilla und Sosia Favonia daheim in Rom erging. Meine Schwiegermutter führte ein ruhiges Haus. Ich war mir ziemlich sicher, dass die edle Julia keine Götter zu einem Mitbring-Picknick herausfordern würde. Ihr Koch würde meine Töchter mit Leckereien verwöhnen – unser größtes Problem würde darin bestehen, sie nach unserer Rückkehr wieder an die Normalität zu gewöhnen.
XV
Uns gingen die Möglichkeiten aus.
Außerdem fehlte es uns an Essbarem. Helena hatte dem Pförtner mitgeteilt, dass wir auf die Mahlzeiten seiner Schwester verzichten würden. Sie bereitete ein provisorisches Abendessen aus Einkäufen von Straßenständen zu.
Es gab Brot, ein paar gefüllte Weinblätter und die Reste unserer römischen Würste.
»Ich brauche Fleisch!«, beschwerte sich der junge Glaucus und maulte, dass Milon von Kroton, der berühmteste olympische Athlet aller Zeiten, zwanzig Pfund Fleisch und zwanzig Pfund Brot pro Tag verschlungen hätte, hinuntergespült mit achtzehn Bechern Wein. »Milon trug zum Training ein Kalb auf seinen Schultern. Es wuchs Tag für Tag und Woche für Woche, bis es ein voll ausgewachsener Ochse war, und hatte denselben Effekt wie ein sich steigerndes Training mit Gewichten. Am Ende verspeiste er den Ochsen als eine einzige Mahlzeit.«
»Wir schleppen kein Bullenkalb mit uns herum, Glaucus, selbst wenn du dich anbietest, es zu tragen. Außerdem war Milon von Kroton Ringer. Jeder kann deinem hübschen Gesicht ansehen, dass du keiner bist.«
»Pentathlon«, klärte mich Glaucus auf. »Diskus, Speer, Weitsprung, Laufen – und Ringen.«
»Und wie kommt es dann, das deine schöne Physiognomie noch nie zerstört wurde?«
»Es geht um drei von fünf. Der erste Athlet, der in drei Disziplinen siegt, gewinnt alle. Die übrigen Wettkämpfe werden gestrichen. Ich versuche die frühen Wettkämpfe zu gewinnen, damit ich nicht ringen muss.« Ein langsames Grinsen breitete sich über sein Gesicht. »Und wenn der Gegner ein Knochenknacker oder Augenauskratzer ist, gebe ich mich immer geschlagen.«
»Aber insgeheim«, wollte Gaius wissen, »bist du selber ein absoluter Knochenknacker?«
»Eher nicht«, antwortete Glaucus.
Dann wollte er losziehen, um bei den vielen Schreinen der Altis rumzulungern, in der Hoffnung, dass dort Opferhandlungen vorgenommen wurden. Selbst wenn bei den Spielen die hundert Ochsen geschlachtet wurden, trug man nur die Beine, Schwänze und Innereien die Treppen zum Zeusaltar hinauf. Das übrige Fleisch wurde unter die Menge verteilt.
Bevor er ging, sagte Glaucus: »Falco, der Mörder von Valeria ist vermutlich ein Athlet, ja? Angenommen, er wählte einen Sport, den er kannte. Nur ein Pentathlet würde Sprunggewichte benutzen. Weitsprung wird nur beim Fünfkampf ausgeführt.«
»Danke, Glaucus. Ich stimme dir zu, dass er höchstwahrscheinlich ein Athlet ist – noch aktiv oder es in der Vergangenheit war. Ein Pentathlet würde gut passen, aber so spielt das Leben nicht. Ich glaube, es könnte jeder sein, der mit der Palästra vertraut ist – Boxer, Ringer, selbst ein Pankrationkämpfer. Es ist niederschmetternd. Mir ist gar nicht danach, jeden abgehärteten olympischen Sporthelden zu verhören, um rauszufinden, ob einer davon Mädchen umbringt.«
»Die meisten werden mit dem Sportzirkus unterwegs sein«, wies mich Glaucus hin.
»Wie viele Spiele umfasst denn dieser Zirkus, Glaucus?«
Er grinste. »Tja, die großen vier sind die Panhellenischen: Olympia, Delphi, Nemea und Korinth, die nicht jedes Jahr stattfinden. Die Panathenäischen in Athen werden jedes Jahr abgehalten. Wenn du noch all die anderen Städte dazunimmst, kommst du auf etwa fünfzig, Falco.«
Ach, das war ja einfach!
Helena Justina schlief in dieser Nacht friedvoll. Ich erinnerte mich, wie ich letzte Nacht, als sie mehrfach rausgekrochen war, um sich nach dem Oreganoeintopf zu übergeben, in einem unerwartet leeren Bett aufgewacht war. Mit wild klopfendem Herzen war ich alarmiert hochgeschreckt. Daher wusste ich nur allzu gut, wie sich Tullius Statianus gefühlt haben musste – vorausgesetzt, er hatte überhaupt Gefühle für Valeria –, allein in seinem Zeltbett, als sie nicht heimgekommen war.
Die gefüllten Weinblätter flutschten durch mich hindurch wie eine Ratte durch einen Gulli. Jetzt war ich dran, die ganze Nacht zu stöhnen und in Schweiß gebadet zu sein. Und während ich mich herumwälzte und auf den nächsten schmerzhaften Anfall wartete, war ich auch dran, mich zu fragen, warum überhaupt jemand reisen will.
Ich war nicht als Einziger wach. Ein Weinen zog mich zum Zimmer der Jungs. Im Licht des Mondes, das durch einen offenen Fensterladen eindrang, bot sich mir ein mitleiderregender Anblick. Cornelius weinte sich die Seele aus dem Leib, überwältigt von Heimweh. Er war noch nie aus Rom fort gewesen und hatte keine richtige Vorstellung, wie lange die Reise dauern würde. Ich setzte mich auf das Bett, um ihn zu trösten, und klemmte im nächsten Moment unter dem stämmigen, tränenüberströmten Elfjährigen fest, der rasch wieder eingeschlafen war.
Ich zog meinen Arm unter ihm heraus und schob den Jungen weiter nach innen, damit er nicht von der schmalen Matratze fiel, falls er herumstrampelte. Ich deckte ihn mit einer dünnen Decke zu und quälte mich dann wieder mit sentimentalen Gedanken an Julia und Favonia zu Hause in Rom. Wer kümmerte sich um meine Kleinen, wenn sie nachts weinend aufwachten?
Beruhige dich, Falco. Sie waren in Sicherheit. Sie hatten vier alte Sklavenkindermädchen, die sich einst um ihre Mutter gekümmert hatten, ihre edle Großmutter, ihren vernarrten Großvater, und wenn alles andere versagte, würden meine materiell verwöhnten Gören mit einer ganzen Reihe von Puppen und Spielzeugtieren ins Bett gebracht werden.
Irgendwo in der Altis schrie eine Eule. Mein Magen antwortete mit einem traurigen Gluckern. Ich saß ganz still und benutzte die Zeit bis zum nächsten Krampfanfall zum Denken. Dünnschiss kann der Freund des Ermittlers sein.
Ich konnte die verschwommenen Umrisse von Gaius (schnarchend) und Glaucus (mit dem langsamen Atmen der Durchtrainierten) in den anderen beiden schmalen Betten erkennen. Wäre das Leonidaion voller gewesen, hätten wir uns vielleicht alle ein Zimmer teilen müssen. Trotz knapper Geldmittel hatten wir uns zwei Zimmer geleistet. Aus wirtschaftlichen Erwägungen hatten Helena und ich Albia mit bei uns, was eheliche Zärtlichkeiten etwas schwierig machte. Wir fanden uns damit ab – oder fanden Möglichkeiten, es zu umgehen. Unsere Unterkünfte lagen alle im oberen Stock, sonst hätte ich vielleicht sogar im Zimmer der Jungen die Fensterläden geschlossen, um Diebe und liebestolle, als Mondstrahlen verkleidete Götter abzuwehren.
Ich dachte über die Schlafanordnungen der Sieben-Stätten-Reisegruppe nach, zumindest wenn sie nicht in Zelten untergebracht war. Laut Aulus’ Liste befand sich eine vierköpfige Familie darunter, die man natürlich gemeinsam unterbringen konnte. Dann gab es noch drei Paare, von denen eins frisch verheiratet war und ein anderes durchgebrannte Ehebrecher sein konnten; beide wären sicher auf ihre Privatsphäre erpicht gewesen. Der Rest setzte sich aus vier – nein fünf – Alleinstehenden zusammen, eine weiblich und vier männlich, einschließlich Volcasius, dem Seltsamen, mit dem sich keiner irgendwas teilen wollte. Einige würden Sklaven mitgebracht haben, die unser hochnäsiger Aulus gar nicht erst erwähnt hatte. Das konnte bedeuten, dass Phineus, wenn sie in einem Gästehaus übernachteten, neun Zimmer finden musste, ganz zu schweigen davon, wo er, seine Fahrer und sonstigen Helfer (die es geben musste, obwohl Aulus sie ebenfalls nicht aufgeführt hatte) unterkommen wollten.
Das bedeutete, dass Phineus sich entweder an Hauptstraßen hielt, wo es gute Mansios im römischen Stil geben sollte – offizielle oder halboffizielle Reiseunterkünfte von hohem Standard, mit Stallungen dazu –, oder diese zusammengewürfelte Gruppe wohlhabender Unschuldiger würde sich in allen möglichen Kombinationen wiederfinden. Auf der Überfahrt hätten sie Glück gehabt, wenn sie auch nur eine einzige Kabine fanden. In Olympia musste der Anblick von nur zwei großen Zelten für die ganze Gruppe ihre erste richtig schlimme Erfahrung auf dieser Reise gewesen sein. Für manche von ihnen ein ernsthafter Schock. Und dann waren sie gezwungen, wochenlang am Flussufer zu zelten, während Valerias Tod untersucht wurde.
Als sie ihre ursprüngliche Reiseroute wieder aufnahmen, mussten sich diese Leute, die am Anfang Fremde gewesen waren, inzwischen sehr gut kennengelernt haben.
Ich musste sie finden und mir selbst ein Urteil bilden. Doch als der Morgen anbrach und sich mein Inneres endlich beruhigt hatte, zog ich los, um in Olympia ein letztes bisschen Detektivarbeit zu erledigen. Cornelius bewegte sich, also weckte ich ihn auf und nahm ihn zur Belohnung mit. Es wurde ein größeres Abenteuer, als wir beide erwartet hätten.
XVI
Es wurde gerade erst hell. Im gesamten Imperium rissen sich die Sklaven aus ihren Träumen los oder wurden von übellaunigen Aufsehern hochgeschreckt. Die Unglücklichsten stolperten mit grauen Gesichtern zur Fronarbeit in den Minen, wo sie an ihrer grausigen Schufterei allmählich verrecken würden. Die vom Schicksal Begünstigteren mussten nur eine saubere Toga bereitlegen oder kostbare Schriftrollen in einer prächtigen Bibliothek ordnen. Der bei weitem größte Teil würde Besen, Eimer und Schwämme zusammensammeln, um Häuser, Werkstätten, Tempel, Bäder – und Gymnasien zu säubern.
Niemand verwehrte uns den Eintritt. Cornelius und ich gingen durch die Vorhalle der Palästra in den Säulengang. Jeder, der uns beobachtete – und jemand musste das getan haben –, hätte meinen Neffen hinter mir hertappen sehen, die Augen noch halb geschlossen und an den Saum meiner Tunika geklammert wie einer von Augustus’ ängstlichen Enkeln in der Parade zum Ara Pacis, dem Friedensaltar. Nicht, dass Cornelius jemals einen Bildungsausflug zum Friedensaltar mitgemacht hätte. Meine Schwester Allia hatte ihren Kindern nur beigebracht, wie man sich von Verwandten etwas borgen konnte. Verontius’ Bemühungen, ein guter Vater zu sein, erschöpften sich darin, einmal pro Woche einen Früchtekuchen heimzubringen; wenn er ein sehr guter Vater sein wollte, brachte er zwei.
Cornelius brauchte die weise Zuwendung Erwachsener, sonst würde er wie seine Eltern werden. Ein Zuschauer hätte gesehen, wie ich mich zu der kleinen Schlafmütze umdrehte und ihm zärtlich das Haar verstrubbelte. Und er hätte daraus schließen können, dass er durch ihn an mich herankommen könnte.
Ein paar Arbeiter in tristen Tuniken harkten träge den feuchten Sand des Skamma. Woher diese Sklaven auch stammen mochten, sie waren alle untersetzt und von dunkler Hautfarbe. Zwei Fackeln flackerten in eisernen Wandhaltern. Motten hatten sich am Mauerwerk daneben festgekrallt. Der Himmel über dem großen Innenhof war bleich, aber sichtbar. Er wurde allmählich heller, während ein heißer griechischer Tag heraufzog. Alle dämpften instinktiv die Stimme, da der Tag noch zu jung für angeregte Unterhaltungen war.
Auf ein Zeichen von mir schlenderten die Sklaven herbei und umringten uns.
Ich streckte mich, sprach langsam und heiser. »Hasst ihr diese Morgenzeit nicht auch? Nur Geflüster und Gekrächze und die Entdeckung, wer über Nacht gestorben ist … Ich brauche eure Hilfe. Könnt ihr mir erzählen, was los war, als ihr das tote römische Mädchen gefunden habt?«
Wie ich gehofft hatte, waren sie durchaus bereit, Fragen zu beantworten. Die meisten Sklaven unterbrechen nur zu gerne ihre Arbeit, um ein wenig zu schwatzen. Kein Vorgesetzter hatte es für wichtig genug erachtet, ihnen zu befehlen, zu diesem Thema die Klappe zu halten. Hätte der Oberaufseher gewusst, dass ich kommen würde, dann hätte er es getan, wenn auch nur, um mich zu ärgern.
Sie hatten Valeria in einer Ecke gefunden, der Sand um sie herum aufgewühlt, als hätte sie verzweifelt versucht auf Händen und Knien zu entkommen. Sie hatte sich abwehrend zusammengekrümmt, und alles war voller Blut. Blut und Sand verklebten ihre Kleidung; sie war vollkommen bekleidet, was darauf hindeutete, wie die Sklaven meinten, dass gleich zu Anfang ihres Treffens mit dem Mörder irgendwas schiefgelaufen war. Sie hatten bemerkt, dass auf ihrer Kleidung auch Staub war, die Art von Staub, mit der Athleten ihren eingeölten Körper bedecken. Gestern hatte ich gesehen, wie sie ihn auftrugen, ihn mit der offenen Hand über sich warfen, so dass ganze Staubwolken in der Luft des Übungsraums hingen. Der Sand auf Valerias Kleidung war gelb, stets dafür bewundert, dem Körper einen leichten Goldschimmer zu verleihen, was mir allerdings nicht viel weiterhalf. Gelb war die beliebteste Farbe.
Sobald der Oberaufseher informiert worden war, hatte er den Sklaven befohlen, die Leiche rauszuwerfen. Sie hatten sie in die Vorhalle getragen und sie in eine sitzende Stellung gebracht (damit sie lebendiger aussah und nicht so viel Platz einnahm). Sie standen immer noch um sie herum, als Tullius Statianus eingetroffen war.
Er hatte zu schreien begonnen, hatte sich hingehockt, geweint und vor sich hin gestarrt. Der Oberaufseher hatte den Lärm gehört und war aus seinem Verschlag gekommen. Er befahl Statianus, die Leiche zu entfernen. Nachdem Statianus vergeblich um Hilfe gebeten hatte, brüllte er den Oberaufseher wütend an und verfluchte ihn. Dann nahm er seine zerschmetterte junge Frau auf die Arme und stolperte mit ihr zum Lagerplatz.
»Nach dem, was ihr sagt, war Statianus echt betroffen. Benahm sich nicht wie ein Mann, der sie umgebracht hatte?«
»Überhaupt nicht. Er konnte nicht glauben, was passiert war.«
Das war interessant, wenngleich nur unter Zwang gemachte Aussagen von Sklaven vor Gericht verwendbar waren. Ich versuchte ihnen Namen von möglicherweise verdächtigen Palästra-Mitgliedern zu entlocken, aber die Sklaven verloren abrupt das Interesse und wandten sich wieder ihrer Arbeit zu.
Wir hätten gehen sollen. Das tut man nie. Man hofft immer, dass man mit einer letzten, gewieften Frage den Durchbruch schafft. Man lernt es nie.
Dann hörte ich ein Keuchen. Ich drehte mich um, und mein Herz machte einen Satz. Ein riesiger Mann war hereingekommen, ohne dass ich es bemerkt hatte, und hatte sich Cornelius geschnappt. Jetzt würgte er dem Jungen die Luft ab.
XVII
Der riesige Ringer wartete darauf, dass ich mich umdrehte und sah, was passierte. Nun hob der muskelbepackte Kinderzerquetscher meinen Neffen über seinen rasierten Schädel und wollte ihn zu Boden schleudern. Auf hartem, feuchtem Sand konnte das tödlich sein.
Mit höhnischem Grinsen hielt der Brutalo inne.
Er war Mitte zwanzig, auf dem Höhepunkt seiner Kraft. Feste Taille, gewaltige Waden, erstaunliche Oberschenkel, monumentale Schultern. Bis auf eine lederne Schädelkappe und Boxriemen war er vollkommen nackt. Sein großartiger Körper war mit Olivenöl eingeschmiert – so viel, dass ich es riechen konnte – und bedeckt mit einer dicken Schicht grauem Staub.
Es gab mal einen Ringer, der sich mitten auf die Hauptstraße stellte und einen im Affenzahn heranbrausenden Streitwagen anhielt. Das hätte dieser Mann auch gekonnt. Er konnte den Verkehr einhändig anhalten, während er ein Brötchen aß. Milon von Kroton pflegte auf einem Diskus zu stehen, einen Granatapfel hochzuhalten und alle herauszuforden, ihn ihm abzunehmen. Nur seiner Freundin gelang das, aber sie muss gewusst haben, wo er kitzlig war. Ach, was gäbe man nicht für so ein gertenschlankes Geschöpf, das mit sinnlichen Händen wohltuende Massagen verabreicht.
»Stell das Kind auf den Boden und lass uns reden!« Griechische Ringer reden nicht. Sie schauen finster, umkreisen und packen den Gegner mit knochenknackenden Umklammerungen, dreschen dann ohne Zeitbegrenzung auf ihn ein, bis der eine Hüne den anderen dreimal zu Boden geworfen hat. Oder bis einer so stark verletzt ist, dass er nicht weitermachen kann. Oder, besser noch, einer tot ist.
Der Ringer schüttelte Cornelius, um ihn noch mehr zu verängstigen.
»Er ist nur ein Junge. Er gehört nicht zu deiner Altersklasse. Halte dich an die Regeln!« Mein Flehen war verzweifelt. Auf Armeslänge gehalten, die eine mächtige Faust um seine beiden Knöchel und die andere um sein Genick, war Cornelius aschfahl, zu panisch, um auch nur zu wimmern. »Lass ihn runter. Er hat dir nichts getan. Ich habe kapiert, was hier los ist – jemandem gefallen meine Nachforschungen nicht, und du sollst mich davon abhalten. Also lass den Jungen runter und ermorde mich stattdessen.«
Der Riese stieß einen markerschütternden Schrei aus, was wohl zu seiner Schau gehörte. Plötzlich beugte er die Arme, die Ellbogen weit nach außen, als wollte er Cornelius quer über den Skamma schleudern. Die zuschauenden Sklaven traten nervös zurück. Von hoch zum Himmel bis hinunter zum Sand wurde mein Neffe wie eine Lumpenpuppe herumgeschlenkert. Seine pummeligen Arme baumelten herab. Die eine Hand war wie unabsichtlich zur Faust geballt und erwischte den Ringer am Auge. Der Riese schüttelte den Kopf, als wäre eine Weinfliege auf seinen Wimpern gelandet – doch dann, wie man das eben so tut, musste er das Auge mit dem Faustrücken auswischen, also ließ er Cornelius los.
Ich sprang vor und fing den Jungen im Fall auf. Für mich war er verdammt schwer. Es gelang mir, ihn recht sanft zu Boden zu setzen, wobei ich mir allerdings den Rücken verzerrte. Dann warf mich der Ringer zu Boden. Ich knallte auf den Sand, schaffte es jedoch irgendwie, Cornelius einhändig aus der Gefahrenzone zu schubsen. Der Ringer trat mich von ihm weg. Ich fiel der Länge nach hin und kaute Sand.
Als Nächstes zerrte mich der Riese an einem Arm hoch und musterte mich verächtlich. Er drehte mir den Arm auf den Rücken und achtete darauf, es möglichst schmerzhaft zu tun. Ich hüpfte herum und bemühte mich, ein Bein hinter seines zu bekommen. Wobei ich wusste, dass es sinnlos war. Er war über sechs Fuß groß, und mit meinem Gewicht konnte ich seine baumstammdicken Waden nicht vom Fleck bewegen. Er behielt seine Stellung bei, während ich hilflos herumfuchtelte. Er spielte mit mir. Wenn er mich fertigmachen wollte, würde ich seine Fäuste zu spüren bekommen. Diese Fäuste waren mit hartem Rohleder umwunden, die Riemen reichten hinauf bis zu seinen Unterarmen. Vliesbänder erlaubten ihm, Schweiß abzuwischen, obwohl er bisher keinen vergossen hatte. Ohne sich besonders anzustrengen, faltete er mich zusammen wie ein Mädchen eine Decke.
Dann warf er mich mit einem plötzlichen, verärgerten Knurren auf den Sand. Im Idealfall hätte ich ihn mitgerissen. Völlig unmöglich. Als ich mich mühsam wieder aufrappelte, sah ich, dass sich Cornelius an den linken Fuß des Riesen gehängt hatte und die Zehen des großen Mannes mit aller Kraft nach hinten bog. Der wütende Ringer wirbelte herum, schlenkerte das Bein, um Cornelius abzuschütteln. Ich warf mich wieder ins Getümmel, wollte ihn diesmal von hinten in den Schwitzkasten nehmen. Das war, als hätte ich den Arm um einen halb versunkenen Pfahl am Ufer geschlungen und versuchte eine solide Eiche zu würgen. Ich tat mein Bestes, ihn mit einer Hand zu erwürgen, während ich ihm ins Ohr boxte. Was er vermutlich gar nicht bemerkte. Dieser Hieb war im griechischen Boxen und beim Pankration erlaubt. Er schüttelte mich nur herablassend von seinem Nacken und brachte mich wieder in Reichweite. Dann packte er mich mit einer grausigen Umarmung und drehte mich kopfüber.
Er rammte mich in den Boden, direkt auf den Schädel. Es gelang mir, einen Arm auszustrecken, um den Aufprall abzudämpfen. Das meiste fing ich mit Schulter und Nacken ab, hatte aber keine Chance, erneut anzugreifen. Ich war ihm jetzt auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, aber die Todeshiebe kamen nicht.
»Falco!«
Unterstützung war eingetroffen – der junge Glaucus. Er musste uns hierher gefolgt sein – wenngleich er das wohl noch bedauern würde. Trotz des mächtigen Körperbaus unseres Freundes war der riesige Ringer doppelt so groß. Bis ich mich in eine sitzende Stellung aufgerichtet hatte, waren die beiden schon in Position gegangen. Der Riese fletschte die Zähne in einer abscheulichen Grimasse. Er blähte die Nasenflügel auf und verzog grotesk das Gesicht. Seine Brust schwoll an. Sein Bizeps wölbte sich. Ich war bloß eine Ablenkung gewesen; Glaucus anzugreifen würde ihm richtig Spaß machen.
Unser normalerweise vorsichtiger Glaucus hatte die Herausforderung angenommen. Bedächtig zog er seine Tunika aus und warf sie mir zu. Nackt und stolz stand er da, ohne Öl und Staub, aber bereit zum Kampf. Der Riese ließ ihm Zeit, sich Riemen von den Bündeln zu ziehen, die an der Palästrawand hingen. Cornelius huschte zu ihm und half ihm beim Binden. In meinem Kopf hörte ich nur die Antwort unseres Freundes, als Gaius ihn gefragt hatte, ob er so was tun könnte: »Eher nicht.«
Ach, zum Hades.
»Glaucus.« Während er die Riemen festzog, stellte er sich mit einem herrischen Schnauben vor.
»Milon.«
»Milon von Kroton?«, entfuhr es Glaucus aufgeregt.
»Milon von Dodona.« Der Riese genoss es, ihn zum Narren gehalten zu haben.
»Ach so!«
Ich war weniger überrascht als Glaucus. Nicht zum ersten Mal hatte ich einen modernen Hünen getroffen, der sich nach dem sechsmaligen Olympiasieger nannte.
Der Kampf begann. Sporttheoretiker behaupten, dass weniger gewichtige, leichtfüßigere Männer Geschick einsetzen können, um die Schwergewichte zu übertölpeln. Ein Fliegengewicht, sagen sie, kann hin und her flitzen, einen Fußknöchel wegtreten und einen Berg von einem Mann umwerfen … Vernünftige Zuschauer wetten nicht darauf. Glaucus wusste, wenn dieses Monster ihn in einer Umarmung zerdrückte, würde es tödlich sein. Das muss der Grund gewesen sein, warum Glaucus schummelte.
Sie machten ein paar undramatische Finten. Sie umkreisten sich, scharrten Sand auf wie Kampfstiere. Der Riese grunzte, ließ sein langsames Hirn entscheiden, wann er loslegen und Glaucus in einer tödlichen Umarmung zerquetschen würde. Glaucus wartete nicht. Er bückte sich, schaufelte rasch Sand auf und warf ihn dem Riesen in die Augen. Als sein Gegner aufbrüllte und ihm Tränen aus den Augen schossen, trat ihn Glaucus – mit einem bewundernswerten rechtsfüßigen Ringertritt – voll in die bei Zeus recht veritablen Eier.
Dann packte Glaucus Cornelius und mich und zerrte uns quer über den Skamma zum nächsten Ausgang.
»Der Sprint ist meine Spezialität. Jetzt lasst uns um unser Leben rennen!«
XVIII
Wir kamen im großen Gymnasion heraus, wo wir zur Überwindung des Schocks für einen kurzen, unklugen Moment nach Atem rangen. Glaucus fing meinen Blick auf. Ausnahmsweise zeigte er einen Anflug von Humor. »Fürchte dich nie vor dem Risiko – aber sei dir immer deiner Grenzen bewusst!«
»Warum höre ich darin die Stimme deines Vaters?«
Wir hatten einen Vorsprung – aber wir waren in die falsche Richtung gelaufen. Schmerz war Milon von Dodonas täglicher Ansporn. Hinter uns hörten wir das Monster brüllen, während es uns verfolgte. Glaucus gab dem Jungen und mir einen Schubs nach vorne und übernahm Ablenkungspflichten. Ich zog Cornelius mit mir und wünschte, wir wären draußen im Heiligtum, wo ich das keuchende, pummelige Kind in eines der von griechischen Städten gestiftete Schatzhäuser schieben könnte, um zwischen der Kriegsbeute in Sicherheit zu sein. So ist das Leben – nie ist ein Schatzhaus da, wenn man es braucht …
Wir beide rannten durch den hinteren Teil des Gymnasions zu einem Eckausgang. Bei einem Blick zurück sahen wir, dass Glaucus den großen Mann verhöhnte und dann auf die Laufbahn bog, um ihn von uns wegzulocken. Doch Milon von Dodona hatte nur eines im Sinn – mich zu töten.
»Los jetzt, Cornelius!«
Wir flitzten aus dem Gymnasion, das Monster dicht auf unseren Fersen. Glaucus folgte uns nicht sofort, und ich verfluchte seine Taktik. Der Junge und ich kamen an das offene Schwimmbecken. Das stille Wasser am Ufer des Kladeos erwärmte sich langsam in der Morgensonne. Ich hetzte am Beckenrand entlang. Cornelius, zu atemlos, war keuchend und vornübergebeugt stehen geblieben. Milon hatte ihn fast erreicht. Mein Neffe sah sich verängstigt um, hielt sich dann die Nase zu, sprang ins Becken und paddelte wie wild davon. Der Sprung hatte ihn ein ganzes Stück vorangebracht, aber seine dreschenden Fäuste richteten kaum etwas aus. Milon zögerte. Vielleicht konnte er nicht schwimmen. Tja, damit waren wir schon zwei.
Glaucus war wieder aufgetaucht und hielt etwas in der Hand. Ich erkannte, was er vorhatte. Er blieb stehen. Im klassischen Stil, den Körper zurückgebeugt. Er ging in die Hocke, machte eine Dreivierteldrehung, ein Knie gebeugt, eine Schulter gesenkt, holte aus und schleuderte sein Geschoss. Bronze blitzte auf. Ein Diskus flog auf Milon zu. Wieder hatte der junge Glaucus die Regeln gebrochen; diesmal besagten die Regeln, dass ein Diskuswerfer sich vergewissern muss, dass ihm niemand im Weg steht.
Der Bronzeteller traf Milon voll an seiner enormen Schädelbasis. Er hatte ihn nicht kommen hören. Cornelius hatte sich im Becken auf den Rücken gedreht, mit staunend geöffnetem Mund. Jetzt paddelte er rasch rückwärts, um der erwarteten Gischt auszuweichen, während der schwere Mann umkippte. Doch Milon landete auf dem Beckenrand. Ich hielt mir die Augen zu, als er mit dem Gesicht nach vorne auf die Steine krachte.
Cornelius erreichte den Rand. Ich hievte ihn heraus, tropfnass und zitternd, und wickelte ihn in Glaucus’ Tunika. Glaucus war ruhig zum Beckenrand gegangen und überlegte, ob die Wettkampfregeln von ihm verlangten, Hilfe zu leisten. Er war von härterer Mentalität, als ich gedacht hatte, und entschied sich dagegen. In griechischen Sportwettkämpfen gewinnt man mit allen Mitteln, die von den Kampfrichtern akzeptiert werden. Der Verlierer schleicht sich schamvoll davon – falls er noch auf den Füßen ist. »Durch die Hintergassen heim zu Mutter«, wie sie es ausdrücken.
Ich nahm Cornelius mit zu Glaucus.
»Ist er tot?«
»Nein.«
»Blöd, dass wir nicht einfach abhauen können – aber ich fürchte, wir hatten Zeugen.«
Andere trafen ein, allen voran Lacheses, der verdammte Priester, der mich gestern so genervt hatte. Mit hochnäsiger Miene trat er an den Beckenrand und befahl den Sklaven, den Ringer umzudrehen.
Heute war Lacheses in eine knöchellange Robe gekleidet, besetzt mit Hermelin, und trug einen Zweig des wilden Ölbaums in der Hand, was wahrscheinlich darauf hindeutete, das er dem Tempel des Zeus zugeordnet war. »Sie haben fast einen Pankrationmeister getötet!«
»Er oder wir«, erwiderte ich kurz angebunden. »Jemand hat ihn beauftragt, mich anzugreifen.« Der Zeuspriester war meine erste Wahl dafür. »Glaucus, mein Freund, ich hoffe, dein Diskus entsprach der olympischen Größe.«
»Absolut«, erwiderte der junge Glaucus mit unbewegter Miene. »Ich habe ein offizielles Standardexemplar von der Wand des Gymnasions genommen. Pech für Milon, dass die in Olympia verwendeten schwerer sind als normal …« Der Priester zog über dieses respektlose Vorgehen scharf die Luft ein. »Meinen habe ich daheim gelassen«, entschuldigte sich Glaucus kleinlaut.
Ich nahm die Sache in die Hand. »Ihr Sportheld wollte uns alle umbringen. Mein Freund musste rasch handeln.«
»Sie missbrauchen unsere Gastfreundschaft!«, blaffte Lacheses. Er hatte eine wunderliche Einstellung zu traditioneller Gastfreundschaft. »Ihr Besuch unseres Heiligtums muss beendet werden. Verlassen Sie Olympia, bevor Sie weiteren Schaden anrichten.«
Die Menge schwoll an. Eine Frau mittleren Alters schob den Priester beiseite. Quer über ihrem Reisemantel hing eine Umhängetasche. Sie trug ein Kleid mit leuchtend bunten Säumen, dazu einen passenden Schleier, auf dem ein spitzer Kopfputz saß, eine teure goldene Stephane. Ein männlicher Begleiter hinter ihr war in das lange, gefältelte Gewand eines Wagenlenkers gekleidet. Eine jüngere Frau hielt einen Tragekorb und gab sich bescheiden. Sie trug einen einfachen gefalteten Chiton und hatte ihr Haar recht anziehend mit Tüchern hochgebunden. Sie hätte einer Vasenmalerei entsprungen sein können, auf der sie sich mit einem leicht anzüglichen Lächeln auf den Ellbogen stützte und Parfüm ausgoss. Glaucus und ich schenkten ihr ein bewunderndes römisches Lächeln.
Die gebieterische Matrone bemerkte es und funkelte uns an. Eine energische Dame. Sie schob die Sklaven beiseite, kniete sich rüstig neben den Ringer und überprüfte ihn auf Lebenszeichen. »Ach du je, das ist ja Milon von Dodona. Treibt der sich immer noch in Olympia herum? So hingebungsvoll!«
»Er kann hier zu den Ärzten des Gymnasions gebracht werden …«, setzte Lacheses an.
»Nein, nein, im Tempel der Hera ist er besser aufgehoben, Lacheses. Wir werden uns um ihn kümmern.«
Glaucus half ihr auf, und diesmal verleugnete die Frau ihre knackenden Knie nicht. Der Priester verbeugte sich ehrerbietig. Sie nickte, ohne viel Zeit darauf zu verschwenden, und sagte dann, sie habe ihm einen Topf der eingemachten Kirschen mitgebracht, die er so gerne esse. Das schien Lacheses zu beruhigen.
Dann wandte sie sich an mich. »Ich bin Megiste. Ich gehöre zum Rat der Sechzehn.« Das sagte mir nichts. Forsch erklärte sie: »In Erinnerung an die sechzehn Ehrenmatronen bei der Hochzeit von Hippodameia bilden die angesehensten Frauen von Elis ein Gremium, das die Wettläufe der Mädchen bei den Spielen der Hera organisiert.« Ich wette, sie organisierten mehr als das.
Der Priester wollte etwas sagen.
»Ich übernehme das, Lacheses!« Der Schlappschwanz fügte sich. »Ich habe mir Gedanken über das Problem gemacht und die Sache in die Hand genommen. Morgen wird ein Wagen diese Leute zur Küste bringen. Aus Kyllene wird ein Schiff kommen und sie in Pheia abholen.«
»Also, entschuldigen Sie mal …« Ich hätte es besser wissen sollen.
»Nein, Falco!« Woher kannte sie meinen Namen? Ich kam zu dem Schluss, dass der Rat der Sechzehn so ziemlich alles wusste. Ich hasse Frauen dieses Typs aus dem öffentlichen Leben, die sich in alles einmischen. »Zwietracht verunreinigt das Heiligtum. Sie müssen abreisen.«
»Ach, das ist mal wieder typisch für Elis.« Ich wollte mich nicht geschlagen geben. »Muss sich immer einmischen und universellen Frieden stiften! Sie hätten Ihren Meisterringer nicht auf uns anzusetzen brauchen«, knurrte ich den Priester verbittert an. »Überlassen Sie es einfach den Matronen von Elis! Diese Dame kann für die Ausweisung unbequemer Besucher sorgen, während sie gleichzeitig ihre Speisekammer mit gesalzenen Oliven füllt, einen vierfarbigen Teppich webt und ihre Bienenkörbe säubert.«
Er schenkte mir sein priesterliches Schulterzucken. »Ich hoffe, Sie haben Ihre Zeit hier genossen und fanden sie erbaulich.« Ein Hauch von Bewunderung schlich sich in seine Stimme. »Hoffen wir, dass Milon sich erholt.«
»Das wird er«, versicherte ihm Glaucus. »Der Wurf war am Ende seiner Flugbahn. Milon war bewusstlos, also wurde er schlaff, als er fiel. Außerdem hat er genügend Polster!«
Milon sah tatsächlich mitleiderregend aus, aber er setzte sich auf und murmelte etwas vor sich hin. Megiste befahl den Sklaven, ihn zum Tempel zu schaffen. Lacheses trottete auch davon.
Megiste wartete, bis alle fort waren, dann wandte sie sich wieder uns zu.
»So, dann kümmern wir uns mal um Sie!« Zu unserem Erstaunen war sie vom Griechischen direkt zu einer höflichen Version unsere eigenen Sprache übergegangen. Als wir sie verblüfft anschauten, kicherte sie auf gewinnende Weise. »Weben und Bienenzucht halten mich nicht genug auf Trab. Ich dachte, es könnte Spaß machen, Latein zu lernen.«
Wenn ihr plötzlich die Idee käme, würde sie bestimmt genauso begeistert einen praktischen Kurs in Glasbläserei oder Druidentum für Heim und Herd absolvieren. Ich deutete auf ihren Fahrer in voller Wagenlenkermontur. »Und ich nehme an, Sie verwenden jeden winzigen freien Augenblick dazu, Wagenrennen zu organisieren?«
»Ja, ich bin Besitzerin. Ich bin sehr erfolgreich …« Dann war sie auch sehr reich. Sie musterte mich durchdringend. »Hm. Saubere Zähne, ordentlicher Haarschnitt und eine geflickte Tunika – geflickt mit passendem Garn, wie ich sehe. Da muss es eine Frau geben. Darf ich darauf hoffen, dass sie Sie nach Griechenland begleitet hat?«
»Sie können mit mir verhandeln.«
»Das glaube ich nicht, Falco! Wir vom Rat der Sechzehn sind wegen unserer Ehrbarkeit gewählt worden.«
Während ich mich fragte, was sie auf ihre wissenschaftliche Art noch über mich abgeleitet hatte, gab ich zu, dass sich Helena Justina im Leonidaion befand. Megiste winkte ihre Dienstboten zu sich. »Sagen Sie Ihrer Frau, dass ich noch das eine oder andere im Tempel der Hera zu tun habe, dann werde ich bei ihr vorbeikommen. Bitten Sie sie, da zu sein. Ich bin eine sehr beschäftigte Frau.«
In dem Bemühen, mich einzuschmeicheln, erwähnte ich, dass wir den Tempel besucht hätten. Um es zu beweisen, machte ich eine Bemerkung über das schön bemalte Terrakotta-Akroterion, einen der größten und prächtigsten Giebelfirste, die ich je gesehen hatte.
»Ich hoffe, Ihnen ist auch aufgefallen, dass die dorischen Säulen alle unterschiedlich sind. Sie wurden vor vielen Jahren von verschiedenen Städten gestiftet. Der Heratempel ist der älteste hier«, sagte Megiste. »Darum lassen wir uns von den Priestern des Zeus auch nichts bieten.« Sie hielt inne. »Es gibt Dinge, die ich Ihrer Frau über Valeria Ventidia erzählen muss.«
»Valeria? Das ist gut – aber nicht genug, Megiste. Wenn ich aus Olympia rausgeworfen werde, brauche ich ebenfalls rasche Antworten zu Marcella Caesia.«
»Ah, das kleine Mädchen, das tot auf dem Kronoshügel gefunden wurde … Es tut mir leid. Niemand weiß, warum sie auf den Hügel gestiegen oder was passiert ist, als sie dort war. Jetzt muss ich meine Gedanken sammeln und mit Ihrer Frau sprechen. Dabei brauchen wir Sie nicht, Falco.«
Mir platzte schier der Kragen. »Meine Frau hat leichte Magenbeschwerden …«
»Oh, dafür kann ich ihr etwas mitbringen. In etwa einer Stunde.« Megiste spürte meine Rebellion. »Da Sie morgen abreisen, junger Mann, sollten Sie lieber eine forsche Wanderung auf den Kronoshügel unternehmen, falls Sie das noch nicht getan haben.«
Herrische Frauen sind mir ein Greuel. Und wenn hier Kommandos ausgeteilt wurden wie kostenlose Geschenke im Amphitheater, besaß ich selber ein Mädchen, das damit umgehen konnte. Helena würde sich weigern, Befehle von dieser arroganten Trulla anzunehmen. Ich beschloss, mich beim Leonidaion herumzutreiben, um Megiste und Helena dabei zu beobachten, wie sie sich als Herausforderer in einer weiblichen Entsprechung des Pankration gegenüberstanden. Nachdem diese tyrannische Bürgerin mir dazu geraten hatte, dachte ich im Traum nicht daran, eine Wanderung zu unternehmen.
XIX
Nur wegen des Versprechens weiterer Informationen erklärte sich Helena bereit, dem Treffen zuzustimmen. Sie war wütend, dass sich der Rat der Sechzehn eingemischt und unseren Besuch vorzeitig beendet hatte. Die Tatsache, dass es sich um Frauen handelte, schien ihre Wut noch zu steigern.
Sie nahm in einem Säulengang Platz und gab sich, umgeben von Schriftrollen, einen intellektuellen Anstrich. Ich stellte mir einen Hocker in die nächste Lücke und setzte mich untätig hin, die Sandalen beiseitegeworfen und die nackten Füße auf dem Piedestal einer Säule. Ich stocherte mit einem Zweig in den Zähnen. Auf dem Aventin wird so was als Beleidigung verstanden.
Etwas später als angekündigt marschierte Megiste heran, ihre Begleiterin im Schlepptau, und stellte sich Helena vor, die – da sie jemanden von so renommierter Ehrbarkeit empfing – Albia als Anstandsdame bei sich hatte. Mir wurde von den Neuankömmlingen ein missbilligender Blick zugeworfen, doch danach beachtete mich niemand mehr. Die Begleiterin in dem farbenfrohen Chiton wandte mir den Rücken zu, so dass ich nicht mal mit ihr liebäugeln konnte.
Helena gedachte, das Kommando zu übernehmen. »Wie nett, Sie kennenzulernen, Megiste. Mir wurde berichtet, wie sehr Sie sich in der Gemeinschaft einsetzen. Elis kann von Glück sagen. Wenige Städte bringen sechzehn ehrbare Frauen zusammen.«
»Wir sind eine eng verbundene kleine Gruppe«, bestätigte Megiste.
»Besteht der Rat jedes Jahr aus denselben?«
»Wir versuchen neues Blut anzulocken. Freiwillige zu finden ist nie leicht, und Erfahrung zählt. Für gewöhnlich kommt dann wieder dieselbe alte Gruppe dabei heraus.«
»Ich war von der Vorstellung ausgegangen, dass alle griechischen Frauen nach wie vor auf ihre häusliche Umgebung beschränkt sind, während ihre Männer ausgehen und ihren Spaß haben.« Das war beleidigend gemeint. Helena Justina verabscheute das griechische System, das Frauen in getrennten Teilen des Hauses einsperrte, außer Sichtweite von Besuchern.
»Meine Mitglieder sind sehr traditionell«, sagte Megiste. »Wir glauben an die alten Sitten.«
Noch nie hatte ich Helena so viel feixen sehen. »Weben und sich um die Kinder kümmern – oder die anmutige Kurtisane für das nächste Symposion des Ehemannes buchen?«
Megiste ließ sich nicht so leicht beleidigen. »Ja, ich stelle die Hetäre gerne selber ein.«
Helena entschied sich, das buchstäblich zu nehmen. »Erstaunlich. Wählen Sie sie anhand der Größe des Busens oder intelligenter Konversation aus?«
»Anhand annehmbaren Flötenspiels!«, blaffte Megiste.
»Natürlich. Viel besser, wenn ihre vorwitzigen Finger beschäftigt sind.« Nachdem sie ihre spitzesten Pfeile verschossen hatte, wandte sich Helena wieder dem Eigentlichen zu. »Also – da wir so völlig unerwartet aus Olympia abtransportiert werden, meine liebe Megiste, muss ich mich dringend um das Packen kümmern. Sagen Sie mir bitte, was Sie über Valeria Ventidia zu berichten haben.« Megiste musste zu mir herübergeschaut haben. »Ach, lassen Sie ihn bleiben. Ich ehre die römische Tradition«, prahlte Helena. »Mein Mann und ich haben keine Geheimnisse voreinander.«
»Wie ungemein ermüdend für Sie«, zahlte Megiste es ihr heim.
Da sie möglichst umfassende Informationen erhalten wollte, kapitulierte Helena und senkte verschwörerisch die Stimme. »Nun ja, er erzählt mir alles, wie ein guter Junge – während ich ihm nur das anvertraue, was ich ihn wissen lassen will … Marcus, Liebling, du hängst da rum wie bestellt und nicht abgeholt. Mach doch mal einen Spaziergang mit deinem Hund.«
Ich war ein traditioneller Römer. Als Mann war ich König, Oberpriester und sämtliche Götter in meinem eigenen Haushalt. Andererseits, wenn meine Frau sprach, nahm ich den Wink an. Ich pfiff nach Nux, mir meine Sandalen zu bringen, und wir machten uns auf, den Kronoshügel zu erforschen.
Helena Justina war in der Tat eine traditionelle römische Ehefrau. Später teilte sie mir nicht nur mit, was sie von Megiste erfahren hatte, sondern auch ihre eigenen Gedanken dazu.
Im Heiligtum war der Tod einer jungen Frau als eine Angelegenheit für den Rat der Sechzehn betrachtet worden. Als Valeria Ventidia ermordet wurde, hatten die unerschütterlichen Damen Nachforschungen angestellt. Sie entdeckten, dass die junge Braut eine unkluge »Freundschaft« mit einem Mann eingegangen war. Er war ein Athlet, ein Pankrationsieger von der letzten Olympiade, der in der Hoffnung vor Ort geblieben war, Förderer zu finden. Er hatte die Erlaubnis erhalten, eine Statue von sich unter den Hunderten zu errichten, die das Heiligtum schmückten, doch er konnte sie sich nicht leisten. Sein Heimatort war nicht in der Lage, das Geld aufzubringen, und so hoffte er auf finanzielle Unterstützung bewundernder Sportbegeisterter. Die Sieben-Stätten-Gruppe – reiche römische Reisende, alle verliebt in das griechische Ideal – hatte wie mögliche Patrone ausgesehen. Irgendwie war es ihm gelungen, Valerias Aufmerksamkeit zu erregen, und er versuchte sie zu bezirzen, ihren Mann und möglicherweise andere zu überreden, ihn zu fördern.
Seltsamerweise hatten die Parzen dafür gesorgt, dass dieser fragliche Sportheld kein anderer war als Milon von Dodona. Sein Angriff auf Cornelius, hatte Megiste gesagt, deutete auf seinen Hang zu grundloser Gewalttätigkeit hin.
Die Damen neigten dazu, den Athleten von niederträchtigen Motiven beim Anbandeln mit Valeria zu entlasten. Sie nahmen jedoch hin, dass die Beziehung ohne anfängliche Absicht eine hässliche Wendung genommen hatte. Valeria war selbst leichtsinnig und dumm gewesen. Die Damen vermuteten, dass der Athlet sie getötet hatte – konnten es aber nicht beweisen.
Das war eine neue Wendung der Ereignisse. Ich war begierig darauf, Milon zu verhören. Doch wiederum hatte seltsamerweise eine griechische Laune des Schicksals das verhindert. Megiste teilte Helena bedauernd mit, dass Milon, obwohl er in den besten Händen gewesen war, an diesem Nachmittag, während er im Tempel der Hera behandelt wurde, gestorben sei. Ihm war ein beruhigender Schlaftrank – von erprobtem, traditionellem Ursprung – verabreicht worden, der zu helfen schien. Aber er wachte nicht mehr auf.
Das war für uns doppelt beklagenswert. Es sah aus, als wäre Milon an den Verletzungen gestorben, die ihm der junge Glaucus mit dem Diskus zugefügt hatte. Gehirnerschütterungen verlaufen manchmal eigentümlich. Wie Megiste Helena klargemacht hatte, lag es jetzt noch mehr in unserem Interesse, Olympia rasch zu verlassen.
Zuschauer waren gelegentlich von einem fliegenden Diskus getroffen worden und für gewöhnlich sofort gestorben. Aber Milon von Dodona war kräftig und gesund. Als wir sahen, wie er vom Schwimmbecken fortgetragen wurde, hatte er gestöhnt, aber er war wach gewesen und hätte höchstens Kopfschmerzen haben sollen. Meiner Meinung nach brauchte er nicht mehr als ein paar ordentliche Schlucke Wasser und einige Stunden Ruhe.
»Ich bin erstaunt, Helena, dass sich Milon, obwohl er sich in der fachkundigen Pflege einer Matrone aus Elis befand, nicht wieder erholt hat.«
»Gerate niemals mit einer Bürgerinnengilde aneinander«, warnte Helena düster. »Vergiss ihr Herumwerkeln mit den Bienenstöcken, Marcus. Wir sind im Land der Medea, der kindermordenden Mutter, der Klytämnestra, die ihren Ehemann ermordete, großer kräftiger Mädchen wie den kämpfenden Amazonen, die sich die eigenen Brüste abschnitten, um nicht mit den Bogensehnen daran hängenzubleiben … Hör zu. Nachdem du gegangen bist und Megiste ihren Schleier abnahm, sah ich, dass sie ein blaues Auge hatte. Ich fragte, ob ihr Mann sie geschlagen habe. Sie behauptete, es sei im Heratempel passiert.«
»Ich nehme an, sie ist gegen eine Cella-Tür gestoßen?«
»Ja, und wie passend. ›Gegen eine Tür stoßen‹ ist eine sehr traditionelle Ausrede.«
»Ich bekomme allmählich den Eindruck, Helena, dass der Rat der Sechzehn zum Aufräumen gerufen wird, wenn es in diesem Heiligtum einen Skandal gibt. Ich bin mir nicht so sicher, dass Milon von Dodona Valeria getötet hat. Valeria war mit gelbem Athletenstaub bedeckt, und mir fiel auf, dass Milon grauen benutzte. Vielleicht nicht unbedingt ein Beweis, aber doch ein Anzeichen.«
»Also wurde Valeria nicht von Milon umgebracht?«
»Und Milon wurde nicht vom jungen Glaucus getötet. Doch es könnte für einige Leute vorteilhaft sein, wenn es so aussieht.«
Leise sagte Helena Justina: »Stell dir Milon von Dodona vor, halb weggetreten von dem Schlaftrunk. Es könnte knifflig sein, die genaue Dosis für einen Mann von seiner enormen Größe zu berechnen. Dann wäre es schwierig, mit ihm fertig zu werden, wenn er um sich schlägt – was er bestimmt tun würde, falls die Dosis zu gering war und er so weit zu sich kommt, um zu merken, dass er mit einem Kissen erstickt wird, zum Beispiel. Jeder, der das Kissen runterdrückt, könnte ein blaues Auge davontragen.«
»Das ist doch rein hypothetisch.«
»Es stimmt aber, Marcus!« Helena war selten so voreingenommen. Sie musste Megiste wirklich verabscheuen.
»Doch warum musste Milon zum Schweigen gebracht werden?«, sinnierte ich. »Tja, wenn er tatsächlich was mit Valeria hatte, muss er nach ihrem Tod die Hosen gestrichen voll gehabt haben. Für jeden, der herausfand, dass er sie gekannt hatte, musste er schuldig wirken. Er hatte zwar einen eindrucksvollen Körper, aber wenig Grips im Hirn, einem Hirn, das in seiner Sportlerlaufbahn schon einiges an Schlägen abbekommen hatte …«
Helena nahm den Faden auf. »Der Rat der Sechzehn könnte ihm ursprünglich Schutz geboten haben. Er war Grieche, war möglicherweise unschuldig, und selbst wenn sich Valeria ihm gegenüber unzüchtig verhalten hatte, könnten ehrbare Frauen mit traditionellen Wertvorstellungen das Gefühl gehabt haben, dass ein Mann immer im Recht ist. Für den Rat hatte Valeria ihr Schicksal verdient.«
»Schwachsinn. ›Ehrbare Frauen mit traditionellen Wertvorstellungen‹ sind tödlich!« Ich hatte Helena ein Lächeln entlockt. »Dann kommt Didius Falco daher. Selbst dem Rat der Sechzehn war es nicht gelungen, den Skandal zu vertuschen. Die Frauen waren gezwungen, mit oder ohne die Hilfe der Priester des Zeus, sich eine neue Taktik auszudenken. Jemand überredete Milon, mich anzugreifen.«
»Als das dank Glaucus misslang, befürchteten sie vielleicht, es würde auf sie zurückfallen. Ich vermute, die Priester haben ihn auf dich angesetzt«, meinte Helena, »während die Frauen es für eine dämliche Idee hielten, weil du dadurch von Milons Existenz erfuhrst. Du warst kurz davor, seine Verbindung zu Valeria zu entdecken. Nach dem Diskusvorfall hättest du möglicherweise mit ihm reden wollen …«
»Ja, wenn ein gigantischer Drecksack mich angreift, wechsle ich danach immer ein paar nette Worte mit ihm!«
Helena empfand ihre eigene düstere Verärgerung. »Gut möglich, dass die Priester oder der Rat der Sechzehn oder beide beschlossen, Milon müsse jetzt bestraft werden, entweder für seine dämliche Tändelei mit dem Mädchen oder dafür, sie getötet zu haben, falls er es denn war. Wie auch immer, Marcus, vielleicht war Milons Zuneigung zu Valeria tatsächlich echt. Wenn du nachgebohrt hättest, dann hätte er dir eventuell verraten können, was er über ihren Tod wusste.«
Mich ergriff tiefste Frustration. »Und was war das? Was hätte mir Milon verraten können? War er der wirkliche Mörder? Wenn nicht, wusste er, wer es war?«
Helena und ich waren uns jetzt über eines sicher: Milon von Dodona war zum Schweigen gebracht worden. Das schreckliche Weibsbild des eleischen Rates der Sechzehn hatte ihn aus dem Rennen geworfen.
Was meine Wanderung auf den Kronoshügel angeht, die war die reinste Zeitverschwendung gewesen, wie erwartet. Nun war ich mit dem Anvertrauen dran – ich beschrieb sie Helena. Ich war hinaufgegangen, hatte mich umgeschaut, nichts gefunden und war sehr erschöpft wieder hinuntergetappt. Jetzt mussten wir Olympia ohne wirkliche neue Beweise verlassen, sowohl für den Mord an Valeria Ventidia als auch für den mysteriösen Tod von Marcella Caesia drei Jahre zuvor.
Ich wies meine Gruppe an, fertig gepackt und bereit zu sein, sobald der nimmermüde olympische Hahn sein erstes Krähen des Tages ausstieß. Sie waren alle sehr gedämpfter Stimmung, besonders der junge Glaucus. Als wollte er für seinen Anteil am Tod von Milon Buße tun, kam er mit einem Gegenstand zu mir, den wir mitnehmen würden, unserem einzigen greifbaren Beweis – einem Sprunggewicht.
»Ich habe den Flötisten Myron überredet, es aus dem Verschlag des Oberaufsehers zu stehlen. Seit Valeria ermordet wurde, lag es da auf einem Regal.«
Für ein Gewicht war es bemerkenswert. Im Gegensatz zu den im Stil viel schlichteren, die Glaucus mir gezeigt hatte, war dieses aus Bronze gearbeitet, in Form eines angreifenden wilden Ebers, voller Eigenart. Ein einfacher Stab bildete den Handgriff. Bei Benutzung würde sich der gebogene Körper des Ebers über die Fingerknöchel wölben. Der scharfe Rand des Rückgrats würde das Gewicht doppelt gefährlich machen, wenn man damit auf jemanden einschlug.
»Wurde das hier blutbeschmiert gefunden?«
»Wir glauben schon, allerdings ist es gesäubert worden. An der Wand hatten zwei gehangen. Das andere ist seit dem Angriff nicht mehr gesehen worden.«
»Mag sein, dass der Mörder es mitgenommen hat. Manche wollen eine Trophäe behalten …« Ich fuhr mit dem Finger über das gewölbte Rückgrat des Ebers und ließ meinen Satz unbeendet.
Glaucus erschauerte. Ich wickelte den Eber in einen Ersatzumhang und verstaute ihn in meinem Gepäck.
Ich weigerte mich, entführt zu werden. Ich würde mich nicht widerspruchslos auf das Schiff begeben, das Megiste angefordert hatte, und mich dorthin bringen lassen, wohin sie mich schickte – vermutlich direkt zurück nach Rom. Stattdessen würden wir unsere eigenen Esel satteln und uns nach Pyrgos aufmachen, dann über Land nach Patrai am Südufer des Golfs von Korinth, wo wir ein Schiff meiner Wahl nehmen würden, um den Provinzstatthalter aufzusuchen.
Die ehrbaren Damen konnten mich mal. Ich hatte meine Anweisung von Claudius Laeta aus dem Palast. Normalerweise missachtete ich offizielle Anweisungen. Diesmal würde ich mich daran halten.
Unsere Unabhängigkeit verärgerte anscheinend die Obrigkeiten des Heiligtums. Hoffentlich. Auf jeden Fall verärgerte sie den allmächtigen Zeus. An diesem Abend bemerkten wir hin und wieder ein Wetterleuchten, als ginge weit draußen über dem Ionischen Meer ein Gewitter nieder. Allmählich verstärkte es sich. Als die Dunkelheit anbrach, wurden sämtliche Hügel um uns herum von immer rascher aufeinanderfolgenden Blitzen erhellt. Die mit Fichtenduft geschwängerte Luft wurde schwer. Inmitten des wilden und unheimlichen Flackerns nahmen wir ein bescheidenes Abendessen zu uns, waren verschwitzt und streitsüchtig. Uns wurde nur allzu deutlich, warum dieser abgelegene Ort die Alten zu der Behauptung angeregt hatte, Zeus beherrsche das Gebiet. Näher und näher kam das Gewitter, bis nach einem leichten Tröpfeln plötzlich riesige Regentropfen herabklatschten. Der schwere Regenfall dauerte die ganze Nacht an, während Olympia stundenlang von Donner widerhallte, bis diejenigen unter uns, die an Gottheiten glaubten, davon überzeugt sein mussten, dass unsere Anwesenheit die allwissenden Götter erzürnt hatte.