Donnerstag – noch zwei Tage bis zur Wiesn

„Die Zeitungen überschlagen sich. Alle berichten über das gestrige Ereignis auf der Roseninsel. ‚Eine exquisite Performance und eine Hommage an Sisi und Ludwig II.‘, heißt es hier. Die Fotos füllen drei Seiten. ‚Die Créme de la créme war zugegen‘, schreibt ein anderes Blatt.“ Ochshammers tiefe Stimme klingt besorgt.

„Keine Angst, Herr Ochshammer, unser Event wird in den Medien ebenso begeistert gefeiert werden, und schauen Sie hier: ‚Mineralwasser, das durch rote Beeren zum Partydrink aufgemotzt wird und Rosenblüten im Champagner, in rosafarbenen Rosenkelchen serviert. Dekadenter Luxus für die oberen Zehntausend?‘ schreibt der Hinterbärenbader Bote. Da kommen wir doch ganz anders rüber, mit unserer Symbiose zwischen rassigen Autos und deftigen Wurstschmankerln in Verbindung mit einem gepflegten Bier. Noch kein Wiesn-Bier, aber eine hochprozentige Sonderschöpfung der Brauerei, die sicher Furore machen wird. Schade, dass es noch keine Punkte gibt, dann hätten wir bereits vor Beginn die Nase vorn.“ Der Mann, Anfang dreißig, eher klein, agil, dunkelhaarig, im schwarzen Anzug und weißem Hemd, hämmert auf seinen Laptop ein, tritt dann einen Schritt zurück und zeigt auf die Kurvenstatistik, die auf dem Screen zu sehen ist. „Hier, schauen Sie. Wenn das nicht überzeugend ist. Claudia Fioretti konnte nicht punkten.“

„Ach, lassen Sie mich mit Ihren Tabellen in Ruhe, Kopitzki, die sind doch alle nur geschwindelt, man weiß doch, wie sie manipuliert werden. Bei mir zählen nur tatsächliche Zahlen. Aber in einem gebe ich Ihnen recht. Zum Oktoberfest passen nun mal Bier und Wurst besser als Trüffelschnickschnack.“ Seine Blicke gleiten aus dem Fenster auf den Hof seiner Fabrik. Die ersten Lieferfahrzeuge trudeln gerade ein. Ein Großteil seiner Flotte ist für das Ereignis reserviert, schließlich soll bei dem Fest nur das Beste frisch aufgetischt werden.

Sein neuester Truck von MAN steht vor der Ladezone. Laut Prospekt ein Multitalent für die Stadt und den Verteilerverkehr. Truck of the year und in diesem Fall ein Zwölftonner. Stolz betrachtet er den glänzenden Lack. „KARL“ steht auf einem Schild hinter der Frontscheibe. Karl Hinterhofer, einer seiner besten Fahrer seit etlichen Jahren, schwingt sich vom Bock herunter, tritt zur Rampe, um mit der Buchhaltungschefin zu verhandeln, die mit einigen Papieren anscheinend auf ihn wartet.

Der Anblick der gelben Backsteinbauten aus den fünfziger Jahren, die schon Giselas Vater gehörten, bringt Ochshammer zum Grübeln. Warum hat er sich bloß auf den Wettbewerb eingelassen? Die Beweggründe scheinen sich wie die frühen morgendlichen Herbstnebel heute im Sonnenlicht verflüchtigt zu haben. Veranstaltet er das Ganze nur, um posthum Giselas Wunsch zu erfüllen? Sie träumte stets davon, auf dem Oktoberfest vertreten zu sein. Bewirbt er sich aus diesem Grund um den Posten als Wiesn-Wirt?

Sein Blick wandert zurück in den Raum. Kopitzki hockt versunken über seinem PC, in Ochshammers Augen seinem Machtinstrument. Ochshammer flucht leise. „Warum muss ich mich mit diesen Kopitzkis abgeben, um die ich bisher immer einen großen Bogen gemacht habe? In ganz München fressens meine Wurst und mein Fleisch und im Umkreis auch, und ich hab’s nötig, mich mit diesen Unternehmensberatungstypen abzugeben?“

Sie verbessern alles soweit, bis es aalglatt ist, so glitschig, dass der Betrieb auf dieser Glätte ausrutscht und von einem anderen geschluckt wird, hört er sich bei der Versammlung der Fleischerinnung sagen. Bitternis steigt in ihm auf, weil das Ganze gegen sein Bauchgefühl geht. Aber, was bleibt ihm? Er kann sich dem Fortschritt und der Globalisierung nicht verschließen. Wohl oder übel muss er seinem neuen Wirtschaftsprüfer, Rottler, Glauben schenken, damit es ihm nicht so geht wie dem Cousin seiner Frau in Regensburg, der fast Insolvenz anmelden musste. Die Aussichten sind weniger rosig geworden, seit die Ökowelle rollt.

„Wir sollten Ihre PR-Strategie überdenken, es heißt, frühzeitig zu planen. Nicht erst, wenn der Konkurs winkt. Bedenken Sie, dass wir Regensburg nur durch umfangreiche Modernisierungen retten konnten. Dieses Feld heißt es auch bei Ihnen zu beackern. Sonst …“ Seinen Einwand: „Bisher sind wir mit unserem traditionellen Angebot doch gut gefahren“, fegte Rottler locker vom Tisch. „Wir müssen erreichen, dass die jungen Leute von diesem vegetarischen Schnickschnack, von wegen Tierschutz und so, abkommen. Sie müssen wieder auf den Geschmack gebracht werden, mehr Wurst und Fleisch zu essen.“ Und auf seinen skeptischen Blick hin legt er nach: „Natürlich sind die Skandale mit dem Gammelfleisch nicht angetan, den Wurstverzehr zu fördern.“ In diesem Punkt konnte er ihm beipflichten und protestierte lauthals: „Nicht bei mir.“ Rottler klopfte ihm auf die Schulter und besänftigte ihn: „Sicher, Herr Ochshammer, nicht bei Ihnen. Sie machen Ihre eigenen Stichproben und Kontrollen.“

„Ich bin stolz darauf, für meine Betriebe bislang immer Unbedenklichkeit nachweisen zu können.“

Ochshammer verlässt seinen Fensterplatz, wandert unruhig im Raum herum. „Kann ich Ihnen helfen?“ fragt ihn Kopitzki.

„Nein, passt schon.“ Es fällt ihm einfach schwer zu akzeptieren, dass dieser junge Schnösel in seinem Betrieb rumschnüffelt. Aber kann er Rottlers Worte ohne weiteres ignorieren? „Wenn Sie sich der modernen Zeit nicht stellen, gehen Sie unter. Kopitzki ist ein kluger Kopf und ein exzellenter Berater in Sachen Modernisierung. Und bei der Wiesn-Bewerbung haben Sie allein nicht die geringste Chance, da müssen Sie …“ Ja, wenn seine Gisela noch wäre. Aber sie hat ihn vor zwei Jahren allein gelassen. Mir ihr zusammen hätte er es geschafft, aber so?

Ochshammer gibt sich einen Ruck und versucht, Zuversicht in seine Stimme zu legen: „Okay, Kopitzki, dann starten wir heute Abend die Vorrunde, und die werden wir ebenso wie die Hauptrunden gewinnen. Ich vertraue mich Ihnen an.“

Kopitzkis Lächeln fällt etwas schief aus. „Sicher, Herr Ochshammer.“

„Ich mache dann mal meine Runde durch den Betrieb“, verabschiedet Ochshammer sich, ohne seine Bedenken losgeworden zu sein. Trotzdem oder gerade deshalb schlägt er Kopitzki betont kameradschaftlich auf die Schulter, auch, um seiner Befangenheit Herr zu werden. Als der andere zusammenzuckt, verliert sich ein Stück davon, und sein Gleichgewicht kommt wieder einigermaßen ins Lot. Er pfeift beim Hinausgehen einen Schlager vor sich hin.

Kopitzki reibt sich das Schultergelenk und flucht, nachdem sich die Tür geschlossen hat. Bei diesem Ochshammer-Job müsste man eigentlich Gefahrenzulage beantragen, und dann dieses Grinsen des Alten. Wie geschaffen, um Rachegelüste zu schüren. Missmutig kaut er auf seinem Kugelschreiber herum. „Nicht mehr lange“, murmelt er. „Dann kannst du dir deine Kraftmeierei an den Hut stecken. Wir arbeiten mit anderen Methoden. Von wegen: ‚keinen Mumm und keine Muckis mehr, die Jungen heute. Können alle nur ihren Laptop bedienen, arbeiten sich nicht mehr vom Metzgergesellen bis ganz nach oben vor.‘ Heute kommt es auf andere Dinge an, nicht darauf, ob du noch immer ein Rind ausschälen oder eine gefrorene Schweinehälfte in einen Laster hieven kannst und dich mit deinen 51 Jahren noch topfit fühlst. Deine Figur ist noch ganz passabel, immerhin. Aber ansonsten lebst du in der Steinzeit.“ Wieder besänftigt summt er vor sich hin. Ochshammer wird sich noch wundern. Rottler und er werden eine Glanznummer hinlegen. Zwar werden sie ihm den Wiesn-Job an Land ziehen, damit er sich dort seine Streicheleinheiten besorgen kann, aber ansonsten? Hämisch grinsend hämmert Kopitzki in seinen Laptop: „Blöder Ochse, damischer Ochse, saublöder Ochse, Hornochse …“ Bald wird der Betrieb hier ebenso funktionieren wie in Regensburg. Bei diesem Gedanken summt er gutgelaunt vor sich hin. Rottler wird noch die Huber knacken und kleinkriegen. Richtig warm wird es Kopitzki bei dieser schönen Vorstellung, und er legt eine zweite Zeile nach: „Ochshammer ist ein blödes Rindvieh.“

Nach einer Weile betätigt er die Löschtaste und ruft sich zur Ordnung. Er muss sich auf den heutigen Abend konzentrieren, der muss hinhauen, sonst springt ihm der Ochshammer noch vor dem Beginn des Wettbewerbs ab, und da muss er ihn durchboxen, koste es, was es wolle. Persönliche Animositäten sind fehl am Platz. Vielleicht sollte er ihm noch ein paar Kleidervorschriften mit auf den Weg geben. Ochshammers altmodische Jägeranzüge sind nicht das Gelbe vom Ei. Er greift zum Telefon. „Kopitzki hier, ich bin der persönliche Berater von Herrn Ochshammer. Wir bräuchten für heute Abend noch einen angemessenen Anzug, etwas in Richtung Tracht, Loden oder Leinen, ein gutes Tuch auf jeden Fall. Könnten Sie mir eine Auswahl mit den passenden Hemden und Krawatten vorbeischicken? Möglichst sofort? Geld spielt keine Rolle. Danke.“

Während Ochshammer die Treppe zum Lager hinuntergeht, fühlt er einmal mehr, wie sehr ihm seine Gisela fehlt. Sie hätte ihm sagen können, welcher Anzug heute Abend passt und welcher nicht. Nicht um alles in der Welt würde er diesen jungen Schnösel fragen, der nichts anderes als diese schwarzen Anzüge trägt, die ihn unsäglicherweise an Trauerfeiern erinnern. Insbesondere an die seiner Frau vor zwei Jahren. Die Meierin, seine Haushälterin, die treue Seele, die könnte er eventuell bitten. Aber bevor er nach Hause fährt, wird er noch die Wurstwaren prüfen, ehe sie rausgehen. Denn was die Qualität angeht, da kennt er tatsächlich kein Pardon. Nicht, dass seine Leute denken, die Brüder von der Unternehmensberatung hätten bereits vollständig das Ruder übernommen. Unruhe stiften sie schon genug. Es ist gut, dass alle sehen, wer hier der Chef ist.

Als er in den Hof tritt, atmet er auf. Er braucht frische Luft, zu lange hält er es im Büro einfach nicht aus. „Wir? Wir lassen uns die Wurst nicht vom Brot nehmen“, hatte Gisela immer gescherzt, wenn früher manchmal die Leute etwas beklommen dreinschauten, weil er ihnen zu derb kam. Ja, seine Gisela, die war schon eine Pfundsfrau gewesen. Ob er die Huber heute zum Empfang mitnehmen sollte, die Buchhalterin? Ach Unsinn, die kommen ja eh alle. Als reicher Junggeselle ist er außerdem besser im Spiel. Ein spitzbübisches Grinsen umspielt seine schmalen Lippen, und er fährt sich mit der Hand über das immerhin noch volle Haupthaar.

„Sono di Flavio. Ciao Luigi. Schön, deine Stimme zu hören. Come stai? Was macht die Familie, tutti bene?… Non c’è male? So lala, ah, verstehe. Sag, verfügst du über telepathische Fähigkeiten? Gerade wollte ich dich anrufen. Arbeitest du noch für die Brauerei? Ja? Obwohl du inzwischen Lottomillionär bist?“ Der Commissario lacht, als er die Antwort hört. Seine freie Hand streicht über den glattgeschliffenen Granitstein der Brüstung, an der er steht. Sein Blick streift die Besucher, die sich unten in der Halle wie ein Pulk immer wieder um einen legendären weißen BMW-Rennwagen scharen und wieder auflösen. Wie eine Diva, angestrahlt und auf einem Podest, präsentiert sich das außergewöhnliche Fahrzeug den Betrachtern. Ein junger Bursche wedelt mit einem Lederlappen wie ein Liebhaber um diese Diva herum, gewillt, jede frevelhafte Berührung sofort wegzustreicheln. Sie gehört ihm, wenigstens für den Augenblick, ihm und seinem Ledertuch. „Bei einer Million würdest du im mare azzurro fischen gehen? Capito.“

Auf der gegenüberliegenden Empore, die mit dem Werk verbunden ist und normalerweise zur Auslieferung der Neufahrzeuge dient, werden gerade Neuwagen hereingefahren und auf in den Boden eingelassenen Drehbühnen postiert. Während er das Schauspiel betrachtet, hört er Luigi klagen. „Immer muss ich im September und Oktober die Stellung halten. Ich würde was darum geben, einmal, wenigstens einmal, im September und Oktober nach Kalabrien reisen zu können. In dieser Zeit ist es einfach am schönsten dort. Das Meer türkisblau und warm und nicht mehr so viele Touristen …“

Di Flavio seufzt: „Da geht es dir wie mir. Mein Urlaub wurde auch gestrichen, und ich hätte auch gern mal wieder Heimatluft geschnuppert.“

„Vielleicht sollte ich einen Antrag stellen, dass sie das Oktoberfest mal auf den August verlegen?“ scherzt Luigi.

„Sì, das Oktoberfest. Der Grund, aus dem ich hier bin.“

„Du bist in München? Das ist ja wundervoll, dann können wir uns treffen, denn … Warum hast du das nicht gleich gesagt? Sicher brauchst du Platzkarten für ein Festzelt, oder?“

„Nein, ich möchte dich lieber ohne den Wiesn-Rummel treffen.“

„Verstehe, du bist dienstlich in München und brauchst Informationen. Wenn ich dir helfen kann, gerne. Sag mir, was du wissen willst, dann höre ich mich um. Aber der Grund, aus dem ich dich anrufe … Weißt du … Ich brauche deine Hilfe, ich bin da in eine Sache hineingeraten, die … Aber, wo du jetzt hier bist, ist es besser, wir sprechen darüber nicht am Telefon.“

„Deine Frau? Dein Sohn? Hast du mal wieder eine Frau verführt?“

„Nein, etwas anderes, ich bin sicher … Schön, dass du in München bist. Vielleicht sehe ich auch Gespenster, aber …“

„Okay, wir besprechen alles, wenn wir uns treffen. Und keine Angst, ich brauche nur ein paar Infos über das Oktoberfest. Dieser Wirte-Wettbewerb … Wann passt es dir? Ich wohne im Olympiadorf.“ Di Flavio blickt nach oben, und einen Moment lang meint er, unter einem Sternenhimmel zu stehen und vermutet, dass genau dieser Effekt von den Baumeistern erzielt werden sollte. Die Lampen in der Kuppel erinnern an Sternschnuppen.

„Warte, heute Abend klappt es leider nicht. Ich muss mich bei einem Großereignis in der BMW-Welt um den optimalen Bierfluss kümmern“, meint Luigi entschuldigend.

„In diesem neuen Tempel der Autowelt stehe ich gerade. Wirklich grandiose Architektur. Könnte glatt von einem italienischen Designer stammen“, bemerkt di Flavio launisch.

Luigi lacht. „Von dem Wiener Architektenbüro ‚Coop und Himmelblau‘. Probier mal den Cappuccino im Café oben. Außerordentlich lecker, auch das Gebäck, alles von der Wiener Zuckerbäckerei ‚Dehmel‘. Und warte, ich könnte eine Karte für dich für den Empfang hinterlegen, dann können wir zwar nicht groß reden, aber …“

„Ich bin bereits eingeladen, danke. Ich freue mich, dir unweigerlich über den Weg zu laufen, dann können wir ja noch was ausmachen. Die Luxuskarossen mit ihren fast dreihundert PS würden mir schon gefallen. Mit einem solchen Flitzer in Höchstgeschwindigkeit über eine leere Autostrada rasen, mhm.“

„Du als Kriminaler kannst das ja machen, setzt einfach deine blaue Lampe aufs Dach. Sirene an und los. Da muss die Autostrada nicht mal leer sein.“

„Die Sitze! Mit dem Geruch des Leders in der Nase … Ein schöner Traum. Also bis heute Abend, ich werde nach dir Ausschau halten.“

„Sì, bene, ciao Tino.“

Di Flavio rätselt noch ein wenig, was Luigi wohl bedrücken könnte. Wahrscheinlich hat er mal wieder zu viel Geld unter die Leute gebracht. Ein paarmal hatte er ihm schon aus der Klemme geholfen … Und seine Frauengeschichten? Luigi wird es ihm heute Abend sagen, oder sie treffen sich morgen und dann können sie in Ruhe darüber reden. Er erreicht nach ein paar Schritten die empfohlene Kuchentheke und bestellt sich ein Stück von dem Plundergebäck und dazu einen Cappuccino. Er blättert in der kleinen Broschüre, die ihm von einer jungen, hübschen Blondine bei der Information in die Hand gedrückt wurde. „Aus seiner kraftvollen, dynamischen Konstruktion entwickelt sich das Dach, das wie eine Wolke über der BMW-Welt liegt. Die aufstrebende Form des Doppelkegels prädestiniert das Gebäude geradezu für besondere Ereignisse …“, liest er.

Von seinem Platz aus schaut er auf den Fernsehturm und das Dach des Olympiastadions. Ein Mann mit seinen zwei Töchtern im Teenageralter gesellt sich zu ihm an den Tisch. „Beeindruckende Architektur, nicht wahr?“ würgt er zwischen zwei Bissen hervor und klopft sich den Puderzucker von seinem dunkelblauen Sporthemd. Der Mann zeigt amüsiert auf einen verbliebenen weißen Rest. Er lächelt di Flavio zu, und die beiden Mädchen, wie alle Girlies ihres Alters in engen Jeans und dem obligaten Kapuzenshirt, lächeln ebenfalls. Zwillinge, stellt der Commissario fest. Sie haben die Augen des Vaters geerbt, schräg und ein wenig an Katzenaugen erinnernd. Ein kleiner Stich durchfährt ihn, weil ihm einfällt, wie schwierig seine Tochter in diesem Alter war, und wie lange das schon her ist, und dass sie jetzt bereits zwei Jahre mit ihrem Spanier verheiratet ist, und Erica bei jedem Besuch prüfend nachschaut, ob sich ihr Bauch nicht endlich rundet und Nachwuchs in Sicht ist.

Nach einer Weile schlendert di Flavio zum Ausgang. Draußen fängt sich das Hellblau des Himmels in der Glasverkleidung des futuristischen Gebäudes, und die Dreiecke der Fenster schimmern wie geschliffene Aquamarine. In ihnen spiegeln sich selbstbewusst das Dach des Olympiastadions und der aufgrund der Brechung des Lichtes in zwei Teile zerlegte Fernsehturm. Di Flavio wandert über eine Fußgängerbrücke, die den Mittleren Ring, eine Stadtautobahn, überquert, auf den Fernsehturm zu. Das Zeltdach schwebt zu seiner Rechten über dem Stadion. Besichtigt hat er alles schon bei anderen Besuchen, heute geht es ihm eher darum, frische Luft in die Lungen zu bekommen.

Vor dem Eingang zum Fernsehturm wartet eine kleine Menschentraube. Ein Plakat lockt in das oben eingerichtete Kinomuseum und weist auf die Gelegenheit hin, sich mit seinem Lieblingsstar fotografieren zu lassen. Beispielfotos zeugen von strahlenden Helden und Heldinnen. Der Biergarten am Fuß des Turms ist einigermaßen besucht. Das Lokal wirkt ein wenig steril, findet di Flavio und erinnert sich an den Jazzbiergarten, den er mit Heimstetten bei seinem letzten Besuch kennen lernte. Waldwirtschaft? Schattige Kastanien, viel Grün und fetzige Jazzmusik, ja, das hatte ihm besser gefallen. Etwas verwundert hatte er beobachtet, wie der junge Kollege eine Tischdecke auf dem Holztisch ausbreitete und dann aus seinem Korb Käse, Brot, Radieschen und Gurken hervorzauberte und dazu stellte. „Kann man alles mitbringen, nur das Bier müssen Sie kaufen“, erklärte er ihm, weil er wohl seinen verwunderten Gesichtsausdruck bemerkte. Der Weg windet sich jetzt an einem künstlichen See entlang, und di Flavio teilt ihn sich mit Joggern, Walkern und Spaziergängern aller Art.

Das Brummen seines telefoninos reißt ihn aus dieser friedvollen Idylle.

„Ja, di Flavio … Ah, Erica, ja, mir geht es gut … Nein, ich komme zurecht …“ Wortlos hört sich di Flavio eine Weile an, mit welchen ihrer Meinung nach wichtigen Leuten seine Frau in den letzten Tagen zusammengekommen ist. Erst als sie den Empfang in der BMW-Welt erwähnt, und dass ihr Freund, der Großindustrielle, er wüsste schon wer, heute dort sein würde, weil er mit diesem neuen Wirt zusammen in die Volksschule gegangen wäre, horcht er auf. „Der Vater der anderen Bewerberin, einer Claudia, kommt übrigens aus Nicotera. Aber hast du davon überhaupt schon was mitbekommen? Wahrscheinlich nicht, dein Blick ist ja immer nur auf die Leute der ’Ndrangheta gerichtet, wo immer die sich auch verstecken. Wir Normalbürger verkehren jedenfalls in anderen Welten. Du solltest dich darin auf jeden Fall mal umhören. Nicht, dass du mich wieder so blamierst, wenn du dich mit meinen Bekannten auf der Wiesn unterhältst.“

Er lässt Ericas Worte noch eine Weile an sein Ohr plätschern und flicht nur ab und an ein „Sì, sì“ ein. Erst als Erica sich empört: „Unterlasse es, so fies zu grinsen“, bemüht er sich um mehr Aufmerksamkeit. Er fühlt sich tatsächlich ertappt. Mein Gott, sie kennt ihn wirklich gut.

„Passt schon“, grummelt er und muss auch schon wieder lächeln, weil ihm dieser Ausspruch, mit dem die Münchner eher zähneknirschend ihre Zustimmung bekunden, während sie denken: „Rutsch mir doch …“, so einfach rausgerutscht ist. Er beeilt sich, den Gegenstand des Gesprächs auf seine Tochter zu fokussieren und fragt schnell, ob Erica schon etwas gehört hätte, und landet damit wieder auf sicherem Terrain.

Auf seinem Heimweg kommt die BMW-Welt erneut in sein Blickfeld, und wieder streiten sich in ihm einerseits Bewunderung für die architektonische Leistung, anderseits Zweifel, ob ein solcher Tempel für den Götzen Auto in der heutigen Zeit der Luftverpestung und der zunehmenden Umweltschäden noch Anerkennung verdient. Mit gemischten Gefühlen biegt er in das olympische Dorf ein, sieht eine Post, ein Café und ein chinesisches Restaurant. Als er die Weltuhr entdeckt, erinnert sich di Flavio an die Olympischen Spiele 1972. In jener Zeit hatte er ziemlichen Stunk mit seinem Vater. Kurz vor dem Abitur ließ er die Schule schleifen, und es hagelte Vorwürfe. Er wollte gerade wutentbrannt aus dem Zimmer stürmen, als die Bilder von der Geiselnahme der israelischen Sportler über den Fernseher flimmerten. Der Streit war vergessen, sein Vater und er saßen geschockt vor dem Bildschirm. Eines der Bilder zeigte jene Uhr. Über dreißig Jahre ist das her, überlegt er. Die Welt ist leider nicht ärmer an solchen Ereignissen geworden.

Nach einigem Suchen findet der Commissario die Nadistraße und die richtige Hausnummer und fährt mit dem Lift in den sechsten Stock. In der Wohnung entdeckt er, dass Heimstetten ihm seinen Koffer bereits in eines der beiden Zimmer gestellt hat. Frische Handtücher und Bettwäsche liegen sorgfältig auf einem Stapel daneben. „Bitte fühlen Sie sich wie zu Hause, nehmen Sie aus dem Kühlschrank und auch sonst, wonach Ihnen der Sinn steht. Sie sind mein Gast“, versicherte der Kollege ihm immer wieder. Mit einem Glas Mineralwasser in der Hand öffnet er die Terrassentür und tritt hinaus. Der Fernsehturm ist allgegenwärtig und blickt ihn jetzt schon sehr vertraulich an. Ein Blick zur Uhr beruhigt ihn. Er hat noch ein Stündchen Zeit, bevor er aufbrechen muss. Eine Dusche, ein Nickerchen fasst er ins Auge.

Seine Gedanken streifen zu Julia. Sie wohnt in dieser Stadt. Soll er sie einladen und in eines der Nobelrestaurants ausführen? Sehnsucht zieht durch seine Lenden. Alter Narr, wirst du denn nie vernünftig? schimpft er sich, klappt sein telefonino wieder zu und geht in die Wohnung zurück. Bist auch nicht besser als Luigi.

„Ruft mich an, dann hole ich euch ab, wenn ihr die Veranstaltung in der BMW-Welt verlassen wollt. Sicher wird es spät. Ich schau dann schnell mal rein und habe auch etwas gesehen von der großen, weiten Welt, in der ihr euch dauernd rumtreibt“, schärft Julia Ludwig mit diesem seltsam besorgten mütterlichen Blick ein. Ludwig nickt ergeben, wie er es immer macht, wenn die Erwachsenen so ihre Vorstellungen entwickeln und ihn wie ein Kleinkind behandeln. Es ist einfacher, als dagegen zu opponieren.

„Uff“, meint er nur, als er mit Nadine endlich im U-Bahnhof Haderner Stern steht und auf die Bahn wartet.

Nadine lächelt. „So sind die Mütter und Tanten, aber Julia ist eine Nette, finde ich jedenfalls.“

„Ja, klar“, brummelt er.

„Das wird heute ganz anders als auf der Roseninsel, musst du wissen. Aber wir sind ja auch nicht als Königspaar im Einsatz, sondern können uns irgendwo unters Volk mischen und uns mit Wurst vollhauen. Denn Wurst und Braten gibt es im Überfluss beim Ochshammer. Isst du gern Wurst?“

„Ja, schon, Currywurst.“

„Dass es Currywurst geben wird, bezweifle ich. Eher Schweinsbraten, Schweinsbratwürstl, Ripperl mit Kraut oder Spareribs wie im Biergarten und Leberkäs, Leberknödelsuppn, Hendl und Ochsen gegrillt, dazu resche Brezn und einen Kartoffel- oder Krautsalat.“

„Kartoffelsalat ess ick och janz gerne, aber Ochsen, igitt.“

„Also da hast keine Ahnung, was gut ist, ein Stück Ochsn in der Semmel, mhm, das ist lecker, ess ich auch immer beim Oktoberfest.“

„Aber wenn’s den Ochsenbraten schon auf dem Oktoberfest gibt, warum will denn der Mann noch mal so was anbieten? Hat er doch null Chance. Oder nur weil er Ochshammer heißt?“ Ludwig delektiert sich an dem Namen. Ochshammer, Ochsbraten … Er beginnt zu kichern. Als ihn einige Leute in der Bahn ansehen, bremst er sich und wird rot. Verlegen schaut er zu Boden und sagt lieber nichts mehr.

„Na, du bist mir ja einer“, prustet Nadine nur, und sie kichern zusammen weiter. Bei der Münchner Freiheit verlassen sie die U6 und warten auf dem Bahnsteig auf die U3, die nach Moosach fährt. Der Zug rollt gleich darauf ein, und sie sind kurze Zeit später am Ziel. Eine Gruppe Menschen, wie Ludwig findet recht ulkig gekleidet, strebt mit ihnen zum Ausgang. „Gehen die alle als irgendwas?“ raunt er Nadine zu, als sie den Hinweisen zur BMW-Welt folgen.

„Wieso?“ fragt sie verblüfft. „Ich verstehe nicht …“

„Na, wegen der Kostüme.“

Nadine bleibt abrupt stehen, schüttet sich aus vor Lachen, kann gar nicht mehr aufhören, hält sich den Bauch und fängt immer wieder von vorn an. Ludwig blickt sie verständnislos an. Was hat er jetzt schon wieder Falsches gesagt? Irgendwie tickt hier alles anders. Wieder beruhigt, nur noch mit einem kleinen Glucksen in der Stimme, erklärt Nadine: „Die gehen in Tracht, das ist hier üblich bei solchen Gelegenheiten, bei denen es traditionell zugeht. Ich hatte auch überlegt, ob ich mein Dirndl anziehen soll, aber ich hatte keine Lust. Denn in der Oktoberfestzeit komme ich kaum aus ihm raus, wenn ich bei meiner Mutter helfe. Aber am Nachmittag und frühen Abend gehe ich mit dir natürlich als Sisi verkleidet.“

Ludwig betrachtet die Leute genauer. Die Männer tragen dreiviertellange Lederhosen mit Hosenträgern und meist karierte oder weiße Hemden dazu. Die Frauen gefallen ihm besser. Ihre Kleider bestehen aus einem engen Mieder mit einem offenherzigen Ausschnitt mit manchmal kurzen und manchmal langen, weiten Röcken, über die dann noch eine Schürze gebunden ist.

„An der Schleife kannst du erkennen, ob die Frau verheiratet ist oder nicht. Wenn sie links gebunden ist, dann ist sie noch zu haben. Aber ich denke, die meisten wissen das gar nicht mehr.“

„Na gut, wenn die das hier cool finden“, meint er herablassend.

„Na, da bin ich ja froh, dass das deine Zustimmung findet“, antwortet Nadine trocken. Sie haben den Eingang des großen Gebäudes erreicht, und sie fingert die Eintrittskarten heraus. Ein roter Teppich führt ins Innere. Vorher heißt es an zwei Bodyguards, richtigen Schränken von Männern in tristem Schwarz und mit kahl geschorenen Schädeln, vorbeizukommen. Sie kontrollieren die Karten und die Ausweise. Bei Ludwig wird eine Leibesvisitation vorgenommen. Wie im Kino, denkt er stolz und würde jetzt lieber in seinen Rapperklamotten stecken als in diesen braven Jeans mit dem einfachen Sporthemd und der Lederjacke darüber, die Nadines Freund gehört. Eine Hostess gleicht ihre Namen mit denen auf einer Liste ab und setzt einen Haken dahinter, erst dann dürfen sie eintreten.

Sofort ist Ludwigs Blick gebannt. Irre! Dieses moderne Schloss hätte Ludwig II. sich gebaut, würde er heute regieren, darauf würde er wetten. Schade, dass die vielen Leute verhindern, dass er einfach überall stehen bleiben kann. Außerdem zerrt Nadine ihn am Ärmel weiter.

„Hallo Nadine“, hört er. Der Typ, der jetzt Nadine umarmt, ist nur wenig älter als er, außerdem wesentlich kleiner, und na ja, aussehen tut er schon ganz ordentlich. Verlegen schaut er zur Seite, als sie sich ungeniert küssen. „Hey, du bist also der Ludwig. Meine Lederjacke steht dir. Die Ärmel sind etwas zu kurz, aber ansonsten …“ Der Bursche hält ihm die Hand hin. „Patrick. Komm, ich zeig euch die heißen Schlitten, bevor die ganzen Reden geschwungen werden.“ Er zwinkert ihnen zu. „Ich weiß, wie man in den Bereich kommt, in den die anderen nicht dürfen. Folgt mir.“

Patrick führt sie die Treppe zu den Veranstaltungsgarderoben und den Toiletten hinunter. Die Garderobenfrauen langweilen sich, da niemand etwas abgibt. Sie unterhalten sich angeregt und schauen nicht auf. Patrick schleust sie an den Toiletten vorbei bis zum Ende des Flurs. Dort öffnet er, nicht ohne sich umzuschauen, eine unscheinbare Eisentür. Nach wenigen Schritten gelangen sie zu einer Hintertreppe, die, spärlich beleuchtet, zwei Stockwerke hinaufführt und in der Nähe einer ebenso unauffälligen Eisentür mündet. Hinter dieser Tür finden sie keinen weiteren Flur, sondern eine richtige Fahrstraße, die ein wenig aufwärts führt. Weiter vorn drehen sich Autos.

„Kommt, wir schleichen hinter den Autos entlang. Wenn ich winke, schnell durchstarten und in den Wagen reinsetzen, verstanden?“ Plötzlich zaubert er ein Tuch hervor, geht auf eines der Autos zu, wienert daran herum, öffnet die Wagentüren, um ihnen dann das versprochene Zeichen zu geben. Ohne Zögern laufen sie auf das Fahrzeug zu, schlüpfen, als sie bei der offenen Tür ankommen, schnell hinein. Der Wagen dreht sich mit ihnen. Das helle Leder der Sitze riecht streng, und Ludwig fährt mit der Hand darüber. Es fühlt sich seidenweich an. „Volllederpolster, Interieurleisten aus Pianolack, natürlich Leichtmetallfelgen. 507 PS, einen V10-Hochdrehzahl-Saugmotor, 250 ‍km/h Spitze. Kostet nur schlappe 140 ‍000 ‍Euro. Fast geschenkt, oder?“

Ludwig beugt sich über die Konsole mit den Bedienungselementen und weiß, diesen Wagen muss er fahren, am liebsten heute noch, ansonsten eben, wenn er seinen Führerschein besitzt. Seine Hand streichelt das Lenkrad.

„Oh Mann, ist der geil“, wirft Ludwig ein, und sein Mund bleibt vor Bewunderung offen stehen. „Kann ich beim nächsten auf den Fahrersitz?“ bettelt er.

Patrick nickt. Doch plötzlich schallt Blasmusik zu ihnen herüber. Patrick wirft einen schnellen Blick in die Runde. „Schade, wir müssen wieder verschwinden, die Veranstaltung beginnt, und es wäre nicht gut, wenn sie uns hier entdecken.“

Sie verdrücken sich in der gleichen Reihenfolge wie sie gekommen sind und stehen bald wieder unauffällig in der großen Halle.

„Ich bin schon ganz neugierig, wie der Ochshammer in natura aussieht. Die Bilder in der Zeitung von ihm sind nicht sonderlich schmeichelhaft. Gedrungen, kein Hals, Stiernacken, immerhin keine Glatze sondern lockiges Haar. Meine Mutter findet ihn ganz fesch. Sie sagt, vielleicht sollte sie sich ihn angeln, denn Geld hat er wie Heu, und seine Frau ist vor zwei Jahren gestorben. Aber dann müsste sie vorher den Papa entsorgen, und das wird schwierig“, bemerkt Nadine.

„Da ist er.“ Sie treten zur Seite, und mit einem Gefolge von mindestens sechs Mann marschiert er an ihnen vorbei – in einem braungrünen Jägeranzug. Absolut scheußlich, findet Ludwig. Aber der Typ ist sowieso jenseits von Gut und Böse. Nur dass er Millionen hat, das ist schon obergeil. Vielleicht sollte seine Tante sich ihn mal ansehen. Sie sieht noch gut aus, das Alter passt, sie hat keinen Mann, und dann hätte sie ausgesorgt und er auch.

Als er und noch andere zu labern anfangen, gähnt Ludwig verstohlen. Nadine ist mit ihrem Patrick beschäftigt. Die beiden haben sich etwas nach hinten gedrückt und halten Händchen und albern leise herum. Applaus ertönt, und ganz ungewollt wird Ludwig von der Menschenansammlung fortgeschoben. Wie er bald feststellt, bewegt sich die Menge in Richtung der riesigen Tische mit Essen, und tatsächlich ist auf einem ein großer Spieß aufgebaut, an dem sich über einer Heizröhre ein gewaltiges Trumm dreht. Aha, denkt er, das ist also der Ochse. Daneben türmen sich Wurstberge, und in einer überdimensionalen Schüssel, die wie ein Hexenkessel über einem Feuer hängt, scheint irgendeine Suppe zu brodeln. Fast wie bei den Ritterspielen in Brandenburg, bei denen Ludwig mal mit seiner Gruppe teilgenommen hat, nur dass dort alles unter freiem Himmel ablief und nicht wie hier unter einem künstlichen Dach. Irgendwie wirkt das Ganze neben dem vielen Chrom und den glänzenden Autos fehlbelegt. Aber die Menschen drängen sich an die Futterkrippe, als hätten sie wochenlang nichts zu essen bekommen, und sie scheinen ganz zufrieden mit allem. Wie Nadine es schon vermutet hat, Currywurst ist nicht im Sortiment vorhanden. Er schaufelt sich etwas Kartoffelsalat auf den Teller und Buletten, obwohl auf dem Schild „Fleischpflanzl“ steht und mampft vor sich hin.

Seinen leeren Teller stellt er auf einen der Tische ab, die dafür vorgesehen sind. Er bemerkt, dass er sich an der Treppe zu den Garderoben befindet. Die unscheinbare Eisentür da unten zieht ihn wie ein Magnet an. Unauffällig treibt sich Ludwig bei den Toiletten herum, linst verstohlen nach links und rechts. Als sich niemand für ihn interessiert, öffnet er die magische Tür und schlüpft hindurch. Sein Herz klopft. Mit dem Ziel vor Augen, noch einmal in diesem klasse Auto zu sitzen, am Lenkrad zu drehen, über das Leder zu streichen, den Schaltknüppel in der Hand zu spüren, nimmt er jeweils zwei Stufen auf einmal. Oben angekommen, späht er erst vorsichtig durch einen Spalt und beobachtet einen Moment, wie die Karossen sich Geisterfahrzeugen gleich drehen. Kein Mensch befindet sich in ihrer Nähe. Nur das Stimmengewirr schallt hinauf, und weit entfernt liegt gegenüber die andere Terrasse. Auf ihr stehen Menschengruppen. Über dem Ganzen schwebt in luftiger Höhe ein Restaurant. Ludwig hat es vorhin übersehen. Wie eine Puppenstube hängt es über der Terrasse. Tischlämpchen schimmern gelblich-weiß wie Pilze an den Fenstern, hinter denen sich schattengleich Menschen bewegen. Alle nicht größer als Zwerge.

Er muss nur schnell genug das Auto erreichen, dann wird kein Mensch ihn bemerken. Wie Patrick vorhin drückt er sich flach an der Wand entlang, hält dann, nach einem nochmaligen schnellen Rundblick, geduckt auf eines der Autos zu, öffnet blitzschnell die Wagentür und lässt sich auf den Fahrersitz fallen. Sofort hat er das Lenkrad in der einen und den Schaltknüppel in der anderen Hand. Sogar der Schlüssel steckt, und er ist versucht, ihn umzudrehen und einfach loszufahren. Bei dem Lärm draußen würde das Motorengeräusch sicher gar nicht auffallen, vor allen Dingen, wenn der Renner wirklich so eine Flüstermaschine hat, wie sie in der Reklame immer behaupten. Bevor er den Zündschlüssel umdreht, schaut er in den Rückspiegel.

Aus seinem Mund würgt sich ein heiserer Schrei. Seine Bewegungen erstarren. Seine Hand fällt, als würde sie ihm nicht gehören, auf seinen Schoß hinunter. Vorsichtig wagt er einen zweiten Blick in den Spiegel. Tatsächlich. Auf der Rückbank sitzt ein Mann. Hat er ihn etwa die ganze Zeit beobachtet? Will er ihn auf frischer Tat ertappen? Wie konnte er nur annehmen, diese tollen Fahrzeuge ständen unbewacht im Gelände. Als Ludwig die Tür öffnen will, um abzuhauen, wird ihm bewusst, dass irgendetwas mit dem Mann nicht stimmt. Er sagt kein Wort. Nicht einmal seine Augen scheinen sich zu bewegen. Ludwig dreht sich vorsichtig um. Die Augen starren ihn unentwegt an. Ihr Blick geht durch ihn hindurch. Es sind tote Augen. Der Mann ist tot.

Er wendet sich ab. Seine Gedanken überschlagen sich. Hinter ihm im Auto hockt eine Leiche. Er schluckt. Langsam gewöhnt sich sein Hirn an den Gedanken. Seine Neugier gewinnt die Oberhand. Plötzlich kribbelt die Spannung in ihm, er ist aufgeregt. Würde er den Mut haben, die Leiche zu berühren? Nur so könnte er herausfinden, ob sie dann auch so einfach zur Seite fällt wie im Film. Er ist aufgeregt. Wie im Fieber. Das ist eine Story. Wenn er das seinen Kumpels erzählt. Damit kann er punkten. Nach einer gefühlten Ewigkeit dreht Ludwig sich vorsichtig zu dem Toten um. Er vermeidet sich in den starren Augen zu verlieren, nimmt lieber das Gesicht und den Körper ins Visier.

Der Schreck trifft ihn wie ein Schlag. Er zuckt zusammen, kann einen Schrei nicht unterdrücken. Sofort hält er sich den Mund zu. Eiskalt läuft es ihm den Rücken hinunter, er friert, und ihm ist heiß zugleich. Bullshit. Hinter ihm hockt, gekillt, Luigi, der Brautechniker vom Oktoberfestzelt.

Das ist gar nicht gut. Er ist geliefert. Sie werden ihn beschuldigen. Er kannte ihn. Sie werden ihn einsperren. Angst überfällt ihn wie ein Tier, seine Hände zittern, Schweiß bricht ihm aus allen Poren. Einen Lidschlag lang sitzt er wie festgenagelt, dann erwacht sein Fluchtimpuls. Weg, er muss sofort weg.

Mit einem schnellen Rundblick prüft er, ob das Auto beobachtet wird. Als es sich mit der Frontscheibe zur Allgemeinheit dreht, rutscht er in den Fußraum des Wagens. Seine Hand stützt sich auf dem Boden ab. Seine Finger ertasten einen Gegenstand aus Metall. Eine Pistole? Die Mordwaffe? Er nimmt das Ding auf. Es handelt sich um ein Handy. Schnell schiebt er es in die Jackentasche. Draußen ertönt Applaus. Der Moment ist günstig. Ludwig nutzt ihn und flutscht, immer noch in gehockter Stellung, aus dem Fahrzeug. Kurze Zeit später erreicht er die Eisentür, rennt die Treppen hinunter. Niemand hindert ihn oder hält ihn auf. Im offiziellen Untergeschoss, in der Nähe der Garderoben, hält er inne, schnauft durch, bemüht sich, normal weiterzugehen, um nicht aufzufallen.

Vor den Toiletten wieder ein prüfender Rundblick, keine Gefahr. Hastig schließt er sich in einer Kabine ein und hockt sich aufatmend auf den geschlossenen Klodeckel. Für einen Moment schließt er die Augen. Wieder zur Ruhe gekommen, zieht er vorsichtig den Fund aus seiner Tasche. Ein Smartphone der gehobenen Klasse und es ist sogar eingeschaltet. Sofort fingert er mit den Apps herum. Im Postkasten wartet eine SMS. Er öffnet sie. „Melde dich bitte, egal, wie spät es ist. Claudia.“

Ludwig überlegt, ob er die Person zurückrufen und ihr alles erzählen soll. Er kann seine Stimme verstellen, ein Taschentuch vor den Mund halten. In welchem Film ist das gelaufen? Er verwirft den Gedanken. Besser, er lässt das Ding einfach verschwinden. Er wird es in den Papierkorb werfen, dann weiß niemand, dass er die Leiche gesehen hat, und niemand kann ihn mit dem Mord in Verbindung bringen.

Vorsichtig öffnet er die Toilettentür. Im Spiegel beobachtet er, wie die Eingangstür sich bewegt. Er steckt das Handy in die Hosentasche und eilt an dem Eintretenden vorbei hinaus.

Den ganzen Abend, während di Flavio bei diesem Superempfang herumstand und mit ihm unbekannten Leuten Smalltalk führte, ist Erica ihm nicht aus dem Sinn gegangen. Was findet sie nur aufregend an solchen Veranstaltungen? Ihn strengt dieser Part nur an, schlimmer noch als das stundenlange Abhören von Telefonmitschnitten. „Ich kann dir Heimstetten nicht an die Seite stellen. Wir brauchen ihn hier, tut mir leid. Bitte schau dich nach dir bekannten Leuten um. Auch die kleinen Fische sind interessant.“

Bei diesem Umschauen hat er unvorsichtigerweise bei der Wurst zugelangt, weil sich alle um den Ochsen drängten, und die liegt ihm jetzt verdammt schwer im Magen, so dass er alle paar Minuten aufstoßen muss und sich dementsprechend mies fühlt. Die Festreden haben dann noch ein Übriges getan, und die Blasmusik hat ihn an Beerdigungen erinnert. Luigi hat er gleich nach seinem Eintreffen kurz gesehen. Leider konnten sie kein Wort wechseln. Luigi hat nur mit den Schultern gezuckt und ihm bedeutet, dass er heute im Stress ist. Er würde ihn morgen anrufen, um ein Treffen zu vereinbaren. Alles in allem hat er sich erbärmlich gelangweilt, nicht einmal die schönen Autos konnten trösten. Die wirklich tollen Objekte konnte man nicht näher in Augenschein nehmen, weil sie sich unbehelligt von den Massen als Schaustücke auf der nicht zugänglichen Seite drehten, und um die anderen drängten sich zu viele Menschen.

Der Commissario atmet durch, als er ins Freie tritt. Durch den Lärm im Inneren des Gebäudes ist ihm gar nicht aufgefallen, dass es angefangen hat zu regnen. Die Luft riecht angenehm frisch und ein wenig modrig. Er schlägt seinen Jackenkragen hoch und ruft sich Heimstettens Worte ins Gedächtnis. „Regen ist für mich kein Problem. Unterirdisch komme ich auch ohne Schirm trockenen Fußes nach Hause. Warten Sie, ich erkläre es Ihnen: Sie gehen erst ein Stück durch das Parkhaus, dann erreichen Sie die unterirdische Straße, und schon sind Sie im Trockenen.“

Die Aussage stimmt nur bedingt, stellt er fest, als er im Parkhaus den Regen von der Lederjacke schüttelt. Schon die paar Meter haben ausgereicht, seine Hose durchzuweichen. Die Abstellplätze sind mit Neonröhren hell ausgeleuchtet und gut belegt. Er folgt dem Pfeil zur Ausfahrt und erreicht einen Gehweg, der neben einer breiten Straße abwärts führt. Wieder unter freiem Himmel, überfällt ihn die dort herrschende Dunkelheit. Seine Augen brauchen einen Moment, um sich daran zu gewöhnen. Auch der Regen prasselt wieder auf ihn nieder. Wie ein großer Schlund öffnet sich etwas weiter hinten der unterirdische Bereich der Wohnanlagen. Eine Baustelle engt die Straße ein, an ihren Rändern parken Autos. Er beeilt sich, den geschützten Bereich schneller zu erreichen.

Zwei Jugendliche kommen ihm entgegen. Einer kickt eine Dose am Rinnstein vor sich hin. Sie machen keine Anstalten, zur Seite zu gehen. „Entschuldigung“, murmelt er und drängt sich zwischen ihnen durch, als der eine sich zu ihm umdreht und ausspuckt: „Alter, hast nich ‚n Euro für uns?“

Ohne weiter zu diskutieren, fingert di Flavio in seiner Jackentasche nach ein paar Münzen und gibt sie dem Jungen. „Danke, Alter“, sagt der Beschenkte höflich und grinst. Im nächsten Augenblick reißt etwas seinen Kopf nach hinten. Der eisenharte Griff presst ihn gegen einen Pfahl oder Ähnliches. Er will schreien, um sich schlagen, doch es gelingt ihm nicht. Der Überwältiger hält seinen Kopf wie mit einer Schraubzwinge fest. Er kann sich weder bewegen noch sich die Gesichter der beiden Angreifer einprägen. Der Arm würgt an seinem Hals, seine Hände befinden sich ebenfalls im Klammergriff. Er spürt den Schlag auf den Hinterkopf und ist verwundert, dass nicht gleich alles schwarz wird.

Er liegt am Boden, und in seinem Kopf poltert es unangenehm. Als er versucht, die Augen einen Spaltbreit zu öffnen, was ihm unheimlich schwerfällt, hört er: „Gib ihm noch eines.“ Er gibt es auf, die Augen öffnen zu wollen. „Der hat genug“, sagt die andere Stimme. Er merkt, dass sie in seinen Taschen wühlen. „Mist, er hat das Handy nicht. – Schnell, da kommt wer, weg hier.“ Di Flavio driftet in eine andere Welt.

„Hallo Commissario“, ist das Nächste, was er hört. Kennen die Gangster ihn? Wieder versucht er, mühsam nach oben zu linsen. Er sieht ein Frauengesicht über sich schweben. „Ich werde einen Krankenwagen anfordern, können Sie mich hören? Bitte, Sie müssen kämpfen. Sie haben mir doch immer geholfen, wenn es brenzlig wurde, Sie können nicht so einfach …“

Julia? Er muss sich täuschen, anscheinend ist er im Himmel oder sonst wo. Dann hört er ein Martinshorn, und zwei Sanitäter beugen sich zu ihm hinunter. „Haben wir mal wieder eine Bierleiche? Sowie das Wetter schlecht wird, wollen die Penner ins Krankenhaus.“

„Das ist kein Penner, der Mann ist verletzt, er ist ein Bekannter von mir aus Italien, er ist Polizist. Sie müssen ihm helfen.“

Di Flavio schließt die Augen, als sie ihn auf die Trage hieven. Er ist müde und erschöpft und möchte einfach nur noch schlafen. Der Wagen fährt an, Julia streichelt seine Hand und sagt immer wieder: „Bitte. Nein. Bitte.“ Irgendetwas Feuchtes tropft auf sein Kinn, und dann spürt er einen Mund an seiner Wange, und das „Bitte …“ kommt ganz gehaucht. Die Kälte wird von einer angenehmen Wärme abgelöst, und er seufzt.

„Wir fahren ins Schwabinger Krankenhaus“, verkündet einer der Sanitäter, „dauert nicht mehr lange.“ Als die Türen des Wagens geöffnet werden, er herausgezogen wird und Lärm um ihn herum entsteht, möchte er protestieren. „Keine Angst, ich bleibe hier.“ Julias Stimme beruhigt ihn.

Während Julia im Krankenwagen neben di Flavio sitzt und dessen Hand beruhigend streichelt, ab und an das Martinshorn sie erschreckt und über ihr das Blaulicht zuckt, denkt sie: Es ist schon kurios. Immer wenn dieser Commissario ihren Weg kreuzt, passiert ein Unglück. Beim ersten Mal zwitschert ihr Mann mit einer anderen ab. Gut, di Flavio tröstet sie und … Dann trifft sie ihn ein Leben später in Tropea als Ermittler wieder und hat gerade eine Wasserleiche entdeckt. In Mallorca taucht er als Retter auf, als Ulla und sie von einem Irren verfolgt werden und fast im Feuer umkommen. Heute liegt er in München verletzt vor ihr, und die Rettungsdienstler meinten, einen Penner aufzulesen. Und jetzt bringt er, so hilflos wie ein Baby, auch noch ihren schon wechseljahrbedingten, ruhigen Hormonhaushalt durcheinander. Sie nimmt sich vor, einen kühlen Kopf zu bewahren und beim nächsten Treffen auf Distanz zu gehen.

Als sie später das Krankenhaus verlässt, fällt ihr Ludwig wieder ein. Sie greift zum Handy, drückt den Hörer ans Ohr. Ungeduldig tritt sie von einem Bein auf das andere, bis sich am anderen Ende endlich jemand meldet.

„Nadine, habt ihr Ludwig gefunden? Habt ihr ihn in ein Taxi gesetzt? Was, nein? Das kann doch nicht euer Ernst sein, so groß ist das Gelände doch nicht, oder? Ich bin am Bonner Platz und fahre mit der U-Bahn wieder zum Olympiazentrum. Mein Auto steht in der Parkanlage. Ich komme zum Eingang der BMW-Welt. Wann ist die Veranstaltung denn zu Ende?“

„Wir suchen Ludwig noch mal, Julia. Eigentlich müsste hier um 24 Uhr Schluss sein, mein Handy zeigt jetzt 23.30 Uhr. Wir packen das schon, der Patrick und ich. Tut mir leid.“

Ludwig schlängelt sich vorsichtig durch die einzelnen Grüppchen. Es ist wichtig, dass er Nadine findet. Er muss hier verschwinden, das ist ihm klar. Aber Nadine und Patrick sind nicht zu sehen. Als er vor dem Ausgang steht, beschließt er, allein zu gehen. Nadines Handyanschluss ist ständig besetzt. Ludwig probiert es, bis seinem Handy der Saft ausgeht. „Mist“, flucht er. Soll er mit dem fremden Handy versuchen, Nadine anzurufen? Er spielt einen Moment lang mit dem Gedanken, aber er traut sich nicht, das Teil aus der Hosentasche zu nehmen. Irgendwie hat er eh das Gefühl, dieser fremde Gegenstand brennt ein Loch durch das Taschenfutter. Die Hitze spürt er bis zu seinem Oberschenkel. Er sehnt sich nach seinen normalen Klamotten, dann könnte er jetzt seine Kappe in die Stirn ziehen und das Ding so tief in den Taschen versenken, dass er es vergessen könnte.

Ludwig tritt in die Kühle hinaus. Es muss gerade noch geregnet haben, denn ein paar große Pfützen haben sich gebildet, und in ihnen spiegelt sich das Licht der Straßenlaternen, die den Weg beleuchten. Zwei Jugendliche gehen vor ihm. Er versucht, seinen Schritt zu verlangsamen, entscheidet sich spontan, in die entgegengesetzte Richtung abzuschwenken und wandert über eine Brücke auf den Turm zu. Warum er sich so entscheidet, ist ihm unklar, es ist so ein Gefühl. Das Lokal vor dem Turm ist leer, aber hell beleuchtet. Ludwig betrachtet die Bilder im Schaukasten, dann gleitet sein Blick zur Spitze des Turms. Es würde ihn reizen, dort oben zu stehen. Er fingert sein Geld heraus. Enttäuscht registriert er, dass es für die Auffahrt nicht reicht. Er trottet weiter. Eine breite Straße führt immer geradeaus, es sieht nicht anders aus als in Berlin. Irgendwann wird schon eine U-Bahnstation auftauchen, hofft er. Vielleicht findet er ja auch direkt zum Haderner Stern, wo seine Tante wohnt, da hinten sind so Hochhäuser …

Wenn er die Augen zusammenkneift, weil sich von irgendwo ein Tropfen verirrt, tauchen Luigis starre Augen vor ihm auf. Er stöhnt. Als er an einer Pizzeria vorbeispaziert, tritt er ein. Eigentlich weiß er nicht recht, was er sich davon verspricht. Etwas verloren wartet er an der Theke.

„Tut uns leid, wir haben schon Feierabend und machen gleich zu, junger Mann“, verkündet der Ober, der ihn entdeckt, als er mit einem Tablett voller schmutzigem Geschirr an ihm vorbeischwebt.

„Na gut. Kennt ihr Luigi?“ würgt er raus. Der Ober schenkt ihm einen mitleidigen Blick. „Luigi? Nein, der arbeitet hier nicht. Aber vielleicht ein Stück weiter die Straße entlang, da ist noch eine Pizzeria. Versuche es dort. Ist das ein Freund von dir?“ Ludwig schüttelt den Kopf und verlässt das Lokal.

„Wir machen gleich zu, bei uns gibt es nichts mehr. Und Alkohol schenken wir an Jugendliche nicht aus. Du bist doch höchstens 17“, hört er im nächsten Laden, der nur ein paar Blocks weiter auf der anderen Seite der Straße ebenfalls Pizza anbietet.

„Ich bin schon 19, und ich will keine Dröhnung, ich bin clean“, kann er sich nicht verkneifen zu sagen. Was die sich denken! Als würden alle nur Alkohol wollen. „Arbeitet Luigi hier?“

„Einen Luigi haben wir, aber der hat die Tagesschicht und kommt immer von elf bis acht Uhr. Der liegt jetzt schon mit seiner Claudia in der Heia.“

„Gut, dann komme ich morgen wieder.“

„Mach das“, sagt der Wirt des Lokals und schüttelt den Kopf. „Soll ich ihm irgendetwas ausrichten?“

„Nein, nein“, antwortet Ludwig hastig und ärgert sich über seine Worte. Er weiß doch, dass Luigi nicht mehr dort erscheinen kann, und er wird einen Teufel tun und morgen, wenn alle vielleicht wissen, dass Luigi nicht mehr am Leben ist, wieder hier auftauchen. Claudia, hat der Mann gesagt und stand doch auch in der SMS. Das war doch die heiße Braut von der Roseninsel. Ob die was mit dem Tod von Luigi zu tun hat? Heute war sie nicht auf diesem Fest. Nein, das ist unmöglich. Sie ist ein Engel. Er prägt sich den Namen des Lokals ein: Pizzeria Napoli. Neapel. Ist in Neapel nicht die Mafia aktiv? Ludwig erinnert sich, darüber in einer Zeitung gelesen zu haben. Marlon Brando, der Pate, ja, das war es. Luigi ist dem Paten in die Quere gekommen. Aber Marlon Brando war Schauspieler und ist schon tot. Al Pacino? Wer ist hier der Pate? Ob er doch einfach mal die Nummern anläutet, die im Handy gespeichert sind? Heute nicht mehr, es ist schon zu spät. Im Internet wird er sich erst einmal informieren, was es so darüber gibt. Er muss vorsichtig zu Werke gehen.

Ludwig läuft weiter die Straßen entlang. Nur ab und zu hastet jemand an ihm vorbei auf ein Haus zu. Schließlich entdeckt er ein Leuchtschild der U-Bahn. Irgendwo muss er noch die Streifenkarte haben von der Hinfahrt. Er erinnert sich, dass er zwei Streifen abstempeln muss. Die Kontrollen sind sehr streng hier, hat ihm Julia eingebläut, fahr nur nicht schwarz, dann bekommst du gleich einen Punkt im Strafregister. Er hatte stumm genickt. Auf dem Bahnsteig orientiert er sich am Plan, und als die U-Bahn einfährt, steigt er ein. Bis zum Sendlinger Tor, dann mit der U6, hat er sich eingeprägt, und so ist es nicht nötig, jemanden zu fragen, und er fällt nicht auf.

Als er am Haderner Stern aussteigt, möchte er am liebsten in das Internetcafé gehen. Aber es geht auf Mitternacht zu. Er schließt das Haus auf und steht gleich darauf in Julias Wohnung. Alles ist dunkel, niemand da. Ulkig, denkt er und macht es sich vor dem Fernseher gemütlich. Ab und zu zieht er das fremde Handy aus der Tasche und spielt damit herum. Eine Claudia findet er im Verzeichnis. Soll er? In diesem Moment hört er, wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wird, und schnell verschwindet das Teil wieder in seiner Hosentasche.

„Ludwig!“ Ein Schrei vom Korridor aus. „Mein Gott, habe ich mir Sorgen gemacht. Warum geht dein Handy nicht? Warum hast du dich nicht gemeldet? Ich hatte solche Angst, dass du nicht herfindest.“

„Ich bin doch kein Kleinkind“, mault er und lässt wohl oder übel die Umarmung seiner Tante über sich ergehen.

„Du bist sicher müde. Wie war es denn in der BMW-Welt? Hast du dir die schnittigen Wagen angesehen?“

„Mhm, war ganz okay.“

„Warum bist du nicht mit Nadine und Patrick zusammengeblieben?“

„Weiß nicht.“

„Beim nächsten Mal rufst du bitte vorher an, versprochen? Mein Gott, Junge. Jetzt geh schlafen und schalte den Fernseher aus. Gute Nacht. Ich bin fix und fertig.“

Ludwig fragt nicht warum. Die Alten, denkt er, immer sehen sie alles so uncool.