Kapitel 29
Die Schule war abgesperrt. Cass starrte die Tür an, ratterte mit der Klinke und trat so fest gegen das Holz, dass die alten Angeln knarrten. Dann machte sie einen Schritt zurück … und bemerkte erst jetzt den Zettel an dem Glaseinsatz: GESCHLOSSEN, stand darauf. WEGEN HEIZUNGSAUSFALL. Das war alles – keine Nachricht für sie, kein Hinweis darauf, wo Ben jetzt war. Sie hatte Halsschmerzen. Auch ihr Herz schmerzte. Cass lehnte sich an die Tür und legte die Wange an das kalte Glas.
Erst als sie sich abwandte, fiel ihr die fast greifbare Stille auf dem Schulhof und der Zufahrt auf. Sie war hier ganz allein.
Sie hatte Sally gebeten, sich um Ben zu kümmern.
Cass hastete zur Straße hinauf und weiter durchs Dorf. Dabei wurde sie erstmals auf Stellen aufmerksam, an denen die Schneedecke so dünn war, dass darunter Asphalt zu ahnen war. Der Schnee schmolz, aber das kam zu spät. Sally hatte ihren Sohn – Sally, die möglicherweise Lucy, Bert, Mrs. Cambrey ermordet hatte.
Aber Sally hatte Jess verschont – oder etwa nicht? Cass schluckte, hatte dabei das Gefühl, Eisbrocken schürften ihr die Kehle auf, und ging weiter.
WIlLOWBREAK CRESCENT. Das Straßenschild war halb zugeschneit. Gewöhnliche Häuser, nicht aus Naturstein, sondern in Ziegelbauweise, ihre Haustüren rot oder grün oder weiß. Aus Kaminen stieg Rauch auf, wie um die Normalität dieses Tages zu unterstreichen. Cass blieb am Gartentor stehen. Der Tag war normal; davon kündete hier alles. Sie selbst hatte den Bezug zur Realität verloren. Sie hatte ein schlimmes Erlebnis gehabt und Dinge gesehen, die es nicht gegeben haben konnte.
Aber diese Frau hatte ihren Sohn. Cass erinnerte sich an Bens erste Reaktion auf Sally: Die Lady hat schlecht gerochen, und ich hasse es hier.
Cass stieß das Gartentor auf. Sallys Vorhänge waren zugezogen – warum? Es war doch noch heller Tag.
Sie klopfte an die Haustür, wartete nur Sekunden und hämmerte nochmals dagegen. Sie versuchte, den Namen ihres Sohns zu rufen – Ben –, brachte aber nur ein Krächzen heraus. Ihre Magennerven rebellierten.
Die Tür klickte und scharrte und öffnete sich. Sally erschien mit verquollenen Augen und feuchtem Haar in dem Türspalt. Ihr Gesicht glänzte von Fettcreme. »Du bist wieder da«, sagte sie. »So früh hätte ich dich nicht erwartet. Sie sind im Wohnzimmer.« Ihr Kopf verschwand, und die Tür wurde geschlossen, um gleich wieder ganz geöffnet zu werden. Sally stand in einen Morgenrock gewickelt da. »Ich hab gerade geduscht. Ben geht’s gut, er ist mit Damon zusammen. Alles in Ordnung mit dir? Du siehst aus, als hättest du …«
Cass drängte sich an ihr vorbei, rief den Namen ihres Sohns.
Im Wohnzimmer war es dunkel. Ein eigenartiges Dämmerlicht ließ die sitzenden Gestalten nur ahnen.
»Ben?«
Gesichter wandten sich ihr zu. Sie konnte nicht erkennen, welches ihrem Sohn gehörte.
»Cassandra, alles in Ordnung mit dir?«
»Ich nehme ihn mit.« Cass sah sich in dem Kreis um und begegnete nur ausdruckslosen Blicken. Dann entdeckte sie Bens helles Haar. Seine Hände umfassten etwas, das auf seinem Schoß lag. Cass trat ans Fenster, zog die Vorhänge auf, ließ Tageslicht ein und gab den Blick auf eine gewöhnliche Wohnstraße frei.
»Hör zu, ich …«
»Ich habe sie gesehen. Ich weiß, was du getan hast.«
»Ich weiß nicht, was …«
»Ben.« Cass bückte sich, packte ihn am Arm und riss ihn hoch. Ben sah nicht zu ihr auf. Er ließ das Ding fallen, das er in den Händen gehalten hatte. Cass sah, dass es das Gamepad einer Spielkonsole war. Aus dem Augenwinkel heraus nahm sie wahr, dass Damon sich bewegte, sich den Controller schnappte und ihn mit beiden Händen festhielt.
»Wir gehen, Ben. Sofort.«
Ben sagte noch immer nichts. Cass’ Finger gruben sich in seinen Arm; sie merkte, was sie tat, konnte sich aber nicht beherrschen, und er versuchte nicht, sich loszureißen. Sie sah auf ihn hinab. Sein Blick war ausdruckslos.
»Ben«, wiederholte sie.
Er wandte ihr langsam das Gesicht zu und verzog den Mund – aus Hass, nicht aus Wut oder Angst. Er war leichenblass.
»Ich glaube, er würde lieber hierbleiben«, sagte Sally, »vielleicht bis du dich wieder beruhigt hast. Ist irgendwas passiert? Bist du krank, Cassandra?«
»Nenn mich nicht so! Ich hab gesehen, was du ihr angetan hast.« Cass erinnerte sich an Lucys zerstörte Gesichtszüge, an den in ihren Mund gerammten schwarzen Stein. Sie musste einen Brechreiz unterdrücken.
»Ben, deine Mutter ist krank, fürchte ich«, sagte Sally. »Denk daran, dass du jederzeit herkommen kannst. Wir sind deine Familie.«
Cass erstarrte.
»Wir teilen, das weißt du. Wir teilen alles. Wir verbergen uns nicht vor unserer Familie, stimmt’s? Wir weisen niemanden ab, wenn er uns am nötigsten braucht.«
Cass beobachtete, wie ihrem Sohn eine Träne über die Wange lief. Ihr Griff, mit dem sie seinen Arm umklammert hielt, war das einzig Solide in diesem Raum.
»Du sollst nicht mit meinem Sohn reden«, sagte sie und zerrte ihn hinaus.
»Sie spinnt ein bisschen.« Sally folgte ihnen, als begleite sie liebe Gäste zur Tür, aber ihre Stimme war zu laut. »Sie ist ein bisschen durchgeknallt, Ben. Vergiss nicht, dass du jederzeit zu mir kommen kannst.«
Ben blieb zurück, sträubte sich etwas, und Cass’ Finger packten fester zu. Hinter sich hörte sie Schritte, aber sie ignorierte sie, schleppte Ben weiter, hatte Mühe, das Gartentor zu öffnen, und schob ihn hindurch. Als sie sich umsah, standen dort Sally und drei Jungen, deren dunkle Augen sie fixierten.
»Ein bisschen verrückt.« Sallys Stimme klang amüsiert. »Komm bald wieder, Ben. Du wirst uns fehlen. Komm wieder.«
Cass sah von einem ausdruckslos starren Gesicht zum anderen, und keiner der vier wich ihrem Blick aus.
Aus dem Augenwinkel heraus sah sie eine Bewegung im Fenster über ihren Köpfen. Es war ein weißes Fenster mit weißem Holzrahmen. Eine Hand wurde an die Scheibe gedrückt und verschwand wieder.
Cass verschlug es für einen Moment den Atem. Sie versuchte zu schlucken. Ben wand sich in ihrem Griff, aber sie ließ ihn nicht los, als sie jetzt wieder einen Schritt in Richtung Haus machte. »Du hast Jessica«, sagte sie.
Sally warf ihr feuchtes Haar mit einer Kopfbewegung zurück und hob die Hände, um es zu glätten. Ihr Gesichtsausdruck war ernst, als sie Cass’ Blick erwiderte. »Du bist das verrückteste Weibsstück, das ich kenne«, sagte sie.
Damons Mundwinkel zuckten. Er verschränkte die Arme. Ein anderer Junge grinste und stieß seinen Freund an.
»Ich hole sie hier raus«, sagte Cass. »Ich lasse nicht zu, dass ihr etwas geschieht. Verlass dich drauf!«
Damon prustete verächtlich, hob eine Hand, um spöttisch zu winken, und ließ dabei die rote Linie quer über die Handfläche sehen. Die Jungen lachten jetzt ungeniert, und als ein weiterer winkte, zeigte sich, dass auch er dieses rote Mal trug.
Cass packte Ben an der Schulter. »Komm, wir gehen.« Sie schob ihn vor sich her, und er machte roboterhafte Schritte die Straße entlang, blieb nicht zurück, gewann aber auch keinen Vorsprung. Selbst als sie seine Schulter losließ, wurde er nicht langsamer, blieb jedoch auch nicht stehen. Ihre Finger zitterten, sie bekam weiche Knie, und diese Schwäche erfasste ihren ganzen Körper. Sie begann zu zittern. Sie lehnte sich an eine Mauer und rief: »Ben, warte einen Augenblick!«
Das Geräusch seiner Schritte verstummte, aber er drehte sich nicht um.
»Ben, bitte. Komm …« Ihr versagte die Stimme. Sie konnte ihm nichts erklären, ihm nicht schildern, was sie im Moor gesehen hatte.
Er schlurfte widerstrebend zurück, kam aber nicht in Cass’ ausgebreitete Arme. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass er kein Wort gesprochen hatte, seit sie Sallys Haus verlassen hatten.
»Liebes, bitte«, flüsterte sie, und nun kam er zu ihr und vergrub sein Gesicht an ihrer Brust. Sie umschlang ihn mit den Armen, hielt ihn an sich gedrückt, fühlte ihn zittern. »Schon gut, Liebes, ich bin hier«, murmelte sie. »Ich kümmere mich um dich.«
Er wich so plötzlich zurück, dass seine Schädeldecke an ihr Kinn stieß, sodass Cass die Zähne klapperten. Er hob abwehrend eine Hand. Stopp.
»Ben, Sally und Damon sind nicht deine Familie. Ich bin deine Familie, nicht sie. Sie haben etwas Schlimmes gemacht, deshalb müssen wir so schnell wie möglich jemanden informieren.« Cass hoffte plötzlich, das Telefon funktioniere vielleicht wieder und sie werde jemanden anrufen können.
Ben schüttelte den Kopf.
»Schon gut, Schätzchen. Ich lasse nicht zu, dass dir jemand etwas tut.«
Er machte keine Bewegung, sondern stand nur mit erhobener Hand da, bis sie endlich begriff, was er ihr zeigen wollte: den roten Strich quer über seine Handinnenfläche.
Cass streckte eine Hand aus, ergriff seine und öffnete den Mund. Aber sie brachte kein Wort heraus.
Ben sah weg. Er atmete schwer.
»Was ist das, Ben? Was haben sie mit dir gemacht?«
Er versuchte zu sprechen.
Cass rieb seine Finger, um sie zu wärmen.
»Das Buch«, sagte er schließlich, »das Buch. Es ist das Buch.«
»Was soll das heißen, Schatz?«
Ben blickte auf, und sie sah den Himmel in seinen Augen: kalt und blass. »Damit ich schreiben konnte«, sagte er. »Damit ich in das große Buch schreiben konnte.« Und dann machte er kehrt und rannte davon. Auf der menschenleeren Straße hallten seine Schritte.
Cass holte ihn ein. Seine Augen waren groß von Tränen. »Ben, was soll das heißen? Welches Buch?« Sie konnte nur an ihren Vater denken, wie er über sie gebeugt kontrollierte, ob sie und ihr Kleid gut genug waren, während die Kirche düster hinter ihm aufragte.
Ben riss sich los und marschierte schweigend auf die Zufahrt zur Mühle zu. Irgendjemand hatte das in die Tür geritzte Kreuz durch tief ins Holz geschnittene Kerben ausgelöscht. Ben stand vor der Tür, und sie sah, wie sein blasses, verkniffenes Gesicht sich in dem Glaseinsatz spiegelte.
Sie tippte den Code ein, und schob Ben vor sich her in die dunkle Eingangshalle. Die Beleuchtung flammte nicht auf, aber Cass nahm sich nicht die Zeit, sich darum zu kümmern. Ihre erste Sorge galt Ben, der durchfroren und hungrig und verwirrt war. Vorerst brauchte er ein warmes Bett, und morgen in aller Frühe würden sie fliehen. Diesmal würde Ben es schaffen; notfalls würde sie ihn tragen. Sie würde ihre Aussage bei der Polizei machen, und alles würde in Ordnung kommen.
Ben ließ sich von ihr baden; er leistete keinen Widerstand, half aber auch nicht mit. Außer dem hellroten Schnitt quer über die Handfläche wies sein Körper keine Verletzungen auf. Die Wunde ließ Cass an Blutsbruderschaften denken – an Jungen, die sich in die Hand schnitten und ihre Hände aneinanderdrückten. Blutsbrüder. Familie. So hatte Sally sie genannt: ihre Familie. Cass führte seine Handfläche an ihre Lippen und küsste sie, aber Ben lächelte nicht.
»Ben, was habt ihr geteilt?«, fragte sie.
Er sah auf. Sein Blick war ausdruckslos.
»Du hast gesagt, ihr hättet euch bei Sally etwas geteilt. Was war das?« Sie streichelte sein Haar und wartete.
»Wir haben Zeug gegessen«, sagte er.
»Was für Zeug?«
Er schüttelte den Kopf.
»Wie hat es ausgesehen?«
»Es war bloß Zeug. Wie Brot, aber ganz schwarz. Und wir haben etwas getrunken. Es hat komisch geschmeckt. Ich hab’s nicht gemocht.« Er verzog das Gesicht.
»Wie hat es ausgesehen?«
Er zuckte nochmals seine mageren Schultern und schlang die Arme um die Knie. »Wir haben Spiele gespielt«, sagte er. »Die haben mir gefallen.«
»Ich weiß, dass du gern spielst. Also raus aus der Wanne, dann kannst du spielen, was dir gefällt.«
Cass trocknete ihn ab, setzte ihn vor den Fernseher und drückte ihm das Gamepad der Spielkonsole in die Hand. Der Schnitt schien nicht wehzutun, als seine Finger über die Tasten flogen, aber er reagierte auf nichts, lachte nicht, seufzte nicht und stieß auch kein Triumphgeheul aus, wenn es auf dem Bildschirm Tote gab. Nur seine Finger wirkten lebendig.
»Ben?«
Er ging auf Pause. Sie kniete neben ihm nieder, drehte sein Gesicht zu sich. Seine Augen ließen sie den Atem anhalten. Sie waren dunkel, verschattet, seelenlos. Cass zwang sich dazu, ruhig zu sprechen. »Zeit fürs Bett, Liebes.«
Cass glaubte, sie würde endlos lange wach liegen, aber stattdessen wechselte sie zwischen Wachen und Träumen hin und her. Sie trieb an der Oberfläche, aber der Traum zog sie zuletzt doch in die Tiefe. Ihr Kleid war nicht gut genug. Ihr Vater sah auf sie herab, und seine Miene war zornig. Sie wusste nicht genau, was sie tun musste, um besser auszusehen. Dies ist Liebe, sagte er ständig, aber wenn sie zu ihm aufsah, lag keine Liebe in seinem Blick.
Das Buch lag aufgeschlagen auf dem Altar, ein staubiger schwarzer Foliant mit vergilbten Pergamentseiten. Cass ging hin und sah es sich näher an. Die Schrift war graubraun, dann dunkelbraun, dann rostbraun. Die letzten Einträge waren heller, eher rötlich. An einigen Stellen waren Tintenspritzer wie von einem schlecht geschnittenen Federkiel zu sehen. Sie konnte das Buch riechen. Es roch nach Alter, Staub, trockenem Mauerwerk. Aber auch nach Gewürzen: Zimt, Nelke, Cayennepfeffer.
In dem Buch stand eine Liste von Namen. Sally war darin, hatte schwungvoll unterschrieben, während Damon seinen Namen in Druckschrift hingekritzelt hatte. Cass konnte sich vorstellen, wie er mit leicht herausgestreckter Zunge die Buchstaben gemalt hatte. Gleich darunter stand Myras Name. Cass las weiter und wusste, dass dies nur ein Traum war, denn selbst als sie aufhören wollte, glitt ihr Blick weiter von Zeile zu Zeile tiefer, als habe nicht sie darüber zu bestimmen. Sie folgte den Namen bis zu dem leeren Feld ganz unten auf der Seite – wo sie selbst unterschreiben sollte. Ihre Unterschrift würde er nie bekommen. Sie würde sich niemals in die Hand schneiden und ihren Namen auf diese gotteslästerliche Seite setzen. Und trotzdem musste sie bis zum vorletzten Namen weiterlesen … da zuckte ein Lichtblitz durch ihr Blickfeld, als Sonnenschein die Fenster erhellte und alles in lichten Tag verwandelte.
Sie sah auf, weil sie eine Vision erwartete, vielleicht Jesus Christus, aber es war nur Pete, der auf sie herablächelte. Das Licht verblasste, und ihr Mann streckte die Hände aus, die voller Steine von der Farbe des Himmels waren. Er sprach, aber sie konnte nicht hören, was er sagte. Er bot ihr die Steine an, aber sie konnte sie nicht festhalten und ließ sie zu Boden fallen, der sie aufsog. Pete runzelte die Stirn; er erzählte ihr, was sie wissen musste, was sie sehen sollte. Sie streckte die Hand aus und fing einen der Steine auf. Er funkelte in ihrer Hand und verwandelte sich in den Himmel.
Endlich hörte sie seine Stimme. Jetzt siehst du’s, sagte er. Jetzt siehst du’s.
Cass schrak hoch, krallte die Bettdecke von ihrem Hals, wischte sich brennenden Schweiß vom Gesicht. Sie öffnete ihre zur Faust geballte Hand, erwartete, darin den Stein zu finden, und erinnerte sich daran, dass alles schließlich nur ein Traum gewesen war.
Jetzt siehst du’s. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Was Pete ihr hatte erklären wollen, nützte ihr nichts; sie verstand es nicht. Sie war nicht gut genug. »Ich seh’s nicht«, flüsterte sie. »Tut mir leid, Pete, ich sehe überhaupt nichts.«
Jemand klopfte an die Wohnungstür.
Cass erstarrte. Sie musste an Lucy denken, die sie mit einem Computerausdruck in der hingestreckten Hand besuchen wollte: Ich hab etwas für dich. Nein – das konnte Sally sein, die ihrem Sohn mit Worten Gift ins Herz tröpfeln wollte, oder die Jungen, die mit ihren entstellten Händen gegen die Tür gepocht hatten.
Es konnte Remick sein. Theodore Remick, der sich nach ihrem Befinden erkundigen, sie wieder mit Brot ködern wollte.
Plötzlich spürte sie seine Hände über ihren Körper gleiten, spürte die Wärme seines Atems auf ihrer nachtkühlen Haut, dann die in ihr aufblühende Hitze. Seltsamerweise wich sie nicht davor zurück. Sie schloss die Augen, verschränkte die Arme und hörte ihn flüstern: Du wirst zu mir kommen.
Cass öffnete leicht ihren Mund. Plötzlich sehnte sie sich danach, seine Lippen auf sich zu spüren, hätte dafür alles hingegeben …
Sie biss sich auf die Unterlippe. Der Schmerz brachte sie in die Realität zurück.
An der Tür stand niemand. Sie hatte geträumt, das war alles. Es gab keinen Pete; es gab keine blauen Steine. Sie schloss die Augen und fragte sich, ob sie bei den Hexensteinen womöglich kurz eingenickt war, ob sie die drei weißen Gestalten, die sie angestarrt hatten, wirklich gesehen hatte.
Du bist das verrückteste Weibsstück, das ich kenne.
Vielleicht hatte Sally am Ende ja recht.
Das Klopfen wiederholte sich, ein gewöhnliches häusliches Geräusch, aber diesmal kam es nicht von der Tür her, sondern aus der Wand hinter ihr. Cass stand auf und starrte ins Dunkel. Aber dort war nichts zu sehen.
Vielleicht hatte Ben etwas gehört und hatte Angst.
Cass atmete tief durch und ging aus dem Zimmer, um nach ihrem Sohn zu sehen. Auf dem Flur wiederholte sich das Klopfen, diesmal lauter. Es schien von der Tür und aus der Wand und von der Decke zu kommen.
Sie sah auf – und sah natürlich nichts; das waren nur die Kinder – Damon und seine Freunde. Sie waren irgendwie in die Mühle gelangt, hatten sich auf die Wohnungen neben, unter und über ihr verteilt und warteten jetzt darauf, dass sie Angst erkennen ließ. Nun, diesen Gefallen würde Cass ihnen nicht tun.
Sie spürte, dass ihr das Herz bis zum Hals schlug.
Sie betrat Bens Zimmer. Er saß mit großen Augen aufrecht im Bett. Sein Mund stand offen, und aus dem rechten Mundwinkel hing ein dünner Speichelfaden.
Zimmerdecke, Wände und Fußboden hallten von Klopftönen wider.
Cass lief zu ihm, schloss ihn in die Arme. »Pst«, sagte sie, obwohl er nicht gesprochen hatte. »Das sind nur Kinder, die uns einen Streich spielen. Ungezogene Kinder, Ben. Aber wir müssen sie nicht mehr lange ertragen.«
»Sie sind gekommen, um mich zu holen«, sagte er.
»Nein, das sind sie nicht. Das ist nur ein dummes Spiel, das sie spielen.«
Seine Haut war klamm, wo sie ihre Arme berührte. Er wand sich aus ihrer Umarmung. »Das ist kein Spiel.«
»Darauf kommt’s nicht an, Ben. Jedenfalls gehen wir morgen von hier fort, du und ich. Ist dir das klar?«
Er schüttelte den Kopf.
»Doch, Ben. Wir gehen fort. Wir kommen nicht zurück.«
»Das macht keinen Unterschied. Er hat mich.«
»Was soll das heißen?«
»Er ist hier drinnen.«
»Hier?« Cass sah zur Tür hinüber.
Ben hob einen Finger, tippte damit an seine Brust. »Hier – er ist hier drinnen. Er hat’s mir gesagt.«
»Von wem sprichst du, Ben?«
»Daddy.« Er machte eine Pause. »Er ist jetzt mein Daddy – das sagen die anderen. Sie haben mir das Brot und das Zeug gegeben, und ich habe ins Buch geschrieben.«
Cass glaubte plötzlich, ihren Vater vor sich zu sehen: Dies ist Liebe. »Du meinst wie in der Kirche?«
Ben machte ein finsteres Gesicht.
»Was musstest du noch tun?«
Als Antwort streckte er ihr seine Hand hin, auf der eine dunkelrote Linie die blasse Haut zerschnitt.
»Du hast deinen Namen in ein Buch geschrieben?«
Er nickte.
»In welches Buch, Ben? Wo war es?«
»Damon hat gesagt, das ist okay«, sagte er. »Er hat gesagt, das ist okay, weil es in der Kirche ist. Aber es fühlt sich nicht okay an.«
Sie erinnerte sich an ihren Traum. Wie sie versuchte, Daddy in ihrem weißen Kleid zu gefallen, wie sie sich bemühte, gut genug zu sein. »Das Namensbuch.«
»Es bedeutet, dass man zur Familie gehört«, flüsterte er. »Ich wollte zur Familie gehören, Mami. Ich will meinen Daddy.«
Sie zog ihn an sich.
»Sie haben gesagt, ich könnte zur Familie gehören, nur muss es wehtun, wenn man dazugehören will. Deswegen kriegt man die Hand zerschnitten und muss damit schreiben.«
»Du hast mit Blut geschrieben?« Cass dachte wieder an den Traum, an die Schrift, die oben fast schwarz, dann dunkelbraun, zuletzt rostbraun gewesen war. »Wer hat dir die Hand zerschnitten? War das Damon?« Vielleicht waren es ja doch nur die Kinder gewesen, die alte Geschichten gehört und dumme Spielchen getrieben hatten. Vielleicht wusste Sally nicht einmal davon.
Doch was hatte Sally noch vor Kurzem zu Ben gesagt? Wir sind deine Familie.
Er ist hier drinnen, hatte Ben gesagt. Cass sah sich um, erwartete fast, wieder das Klopfen zu hören, und erinnerte sich daran, wie es scheinbar aus den Wänden gekommen war. Sie spürte einen kalten Schauder. »Wer ist da in dir, Ben?«
Sie hatte das Gefühl, es bereits zu wissen. Sie spürte das Gewicht der Hand ihres Vaters, das sie niederdrückte. Lass ihn in dein Herz, Gloria. Gib anderem keinen Raum.
Aber Ben war so klein. Wie hatte sie das geschehen lassen können?
»Die haben sie verlangt«, sagte Ben. »War das falsch, Mami? Hätte ich’s nicht tun sollen?« Als er zu ihr aufsah, erkannte sie etwas von dem kleinen Jungen, der er früher gewesen war – der er eigentlich noch immer war. Sie beugte sich hinunter und küsste ihn aufs Haar. Er war unschuldig; er konnte nicht gewusst haben, was er tat. Das Ganze war ein verrückter Schwindel, nicht mehr als irgendein religiöser Hokuspokus.
Du bist das verrückteste Weibsbild, das ich kenne.
Cass schloss die Augen. Es lag an ihr; vermutlich war sie kurz davor überzuschnappen. Sie spürte, wie Ben sie wieder am Arm zupfte, aber sie glaubte Lucy zu sehen: ausdruckslose Steinaugen, die blicklos einen verschneiten Hügel fixierten. Sie hatte eine Gänsehaut.
»Mami?«
Sie küsste ihren kleinen Jungen. Sie streichelte seinen Arm, drückte ihn an sich und schmiegte ihre Wange an seinen Kopf, bis er einschlief.