3
»Ein Selkie?«
»Genau das hat Giles behauptet.« Buffy unterbrach sich und wirbelte herum, um einen dickleibigen alten Vampir aufzuspießen, der schwerfällig hinter ihnen hergetapst kam. Sie schüttelte den Kopf. »Bilde ich mir das bloß ein oder werden die Vampire in dieser Stadt tatsächlich immer träger und fetter? Ich meine, den hier hätte sogar meine Mutter erledigt.«
Verärgert klopfte sie sich den Staub von ihrem langärmeligen schwarzen Top. »Ich sollte beim nächsten Mal darauf achten, etwas weniger Empfindliches anzuziehen.«
»Also haben wir jetzt Selkies in der Stadt?«, griff Angel den unterbrochenen Faden wieder auf, als sie ihren Weg über den mondbeschienenen Friedhof fortsetzten. Es war eine Nacht nach Vollmond, folglich schob Xander Werwolf-Bereitschaftsdienst, während Willow und Giles damit beschäftigt waren, diverse Bücher und andere Quellen durchzuackern, in der Hoffnung, dabei auf etwas zu stoßen, was ihnen in Bezug auf Giles’ neue Wohnungsgenossin weiterhelfen würde.
»Oh. Ja, richtig. Selkie, aber nur eins. Ist das der Singular? Gibt’s da überhaupt eine Unterscheidung?«
»Geht beides, glaube ich.« Er zuckte mit den Achseln und ging um einen umgekippten Grabstein herum. Vorsichtig setzte er über das Loch hinweg, das genau dort im Boden gähnte, wo sich eigentlich ein geschlossenes Grab befinden sollte. »Obwohl ich mich nie näher mit den alten Legenden, die sich um sie ranken, beschäftigt habe. Ehrlich gesagt hielt ich diese Geschichten immer für Ammenmärchen oder für den Versuch einiger weniger, sich mit dem Hauch des Geheimnisvollen zu umgeben. Jedenfalls fand ich sie ziemlich uninteressant.« Er sah Buffy von der Seite an. »Buffy, was ist?«
Sie machte eine wegwerfende Geste. »Nichts.«
»Nichts«, wiederholte er vorwurfsvoll. »Schon den ganzen Abend wirkst du so angespannt. Und erzähl mir nicht, dass du überarbeitet bist. Es ist in der letzten Woche in der Stadt ungewöhnlich ruhig gewesen, allerdings nicht so ruhig, dass du dir deswegen Sorgen machen müsstest. Und an dem Selkie kann es auch nicht liegen. Du bist nicht der Typ, der sich wegen eines kleinen, völlig normalen Neuzugangs in der Stadt aus der Ruhe bringen lässt.« Er stutzte einen Moment. »Na ja, normal für Sunnydale jedenfalls.«
Buffy rang sich den Hauch eines Lächelns ab. »Der Job geht mir manchmal einfach auf die Nerven, das ist alles.«
»Möchtest du darüber reden?«
»Nicht wirklich, nein. Nebenbei, wir bekommen Gesellschaft.«
Buffy packte eine Vampirfrau am Arm und schleuderte sie Angel entgegen, damit er den Rest erledigte, und zwang in der gleichen Sekunde deren untoten Begleiter mit einem gezielten Tritt in die Knie. Als dieser sich zusammengekrümmt am Boden wand, duckte sie sich unter dem Griff eines dritten Vampirs hinweg und pfählte ihn mit den Worten »Angenehme Alpträume«. Währenddessen war der zweite Vampir wieder auf die Beine gekommen und versuchte sich von hinten auf sie zu stürzen, doch Buffy ließ sich reaktionsschnell zu Boden fallen, sodass er in hohem Bogen über ihrem Kopf hinwegsegelte und einige Meter hinter ihr hart auf den Boden krachte. Strauchelnd rappelte er sich sogleich wieder auf, flog herum, um sie erneut anzugreifen – und rannte direkt in ihren Pflock.
»Wir wünschen einen angenehmen Flug!«, gab Buffy ihm mit ihrer zuvorkommendsten Stewardessen-Stimme mit auf die Reise.
»Fühlst du dich jetzt besser?«, fragte Angel.
»Ehrlich gesagt... ja.« Sie entspannte sich und grinste ihn an, fast ein wenig erleichtert, wie es schien. »Es gibt Momente, da macht es richtig Spaß, die Jägerin zu sein.«
»Also, worüber regst du dich dann eigentlich auf?«
»Angel...« Buffy stockte, und ihre gute Laune verflog ebenso schnell, wie sie gekommen war. Doch ein Blick in seine Augen verriet ihr, dass er keineswegs die Absicht hatte, sich mit irgendwelchen Ausflüchten abspeisen zu lassen.
Es ist immer das Gleiche mit ihm, dachte sie. Sobald es um unsere Beziehung geht – oder wie immer man das nennen soll –, tanzt er um den heißen Brei herum wie Fred Astaire um Ginger Rogers. Aber kaum handelt es sich um etwas, das nicht mit uns zu tun hat, wird er... echt nervig.
Angel wartete geduldig auf eine Antwort. Sie würde es ihm erzählen. So, wie sie es immer tat.
»Über gar nichts rege ich mich auf. Ich bin die Ruhe selbst. Ganz bestimmt. Es ist nur... was weißt du wirklich über Selkies?«
Angel runzelte leicht die Stirn und versuchte offensichtlich, aus der Erinnerung an seine in ferner Vergangenheit liegenden Tage der Kindheit irgendetwas Brauchbares hervorzukramen. »Eine alte keltische Legende, von der man sich vor allem in den Fischerdörfern entlang der Küste erzählte. Demnach leben die Selkies als Seehunde im Meer, können jedoch an Land menschliche Gestalt annehmen. Für diese Verwandlung benötigen sie allerdings ihre magischen Seehundfelle – aber ich schätze, das weißt du alles längst.«
»Erraten«, gab Buffy trocken zurück. »Und was machen wir nun mit dem kleinen Selkie, das derzeit ohne funktionierendes Fell in Giles’ Wohnung herumplantscht?«
»Beinahe alle Geschichten, an die ich mich erinnern kann, handeln von erwachsenen Selkies, ein paar wenige berichten von männlichen Vertretern ihrer Art, die sich in Menschenfrauen verliebt haben, meistens geht es jedoch um weibliche Selkies, die von irgendwelchen Kerlen gefangen und zur Frau genommen worden sind. Manchmal mit glücklichem, häufiger mit weniger glücklichem Ausgang. Wie ich schon sagte, nicht wenige haben die alten Legenden dazu genutzt, ihre langweilige Familiengeschichte ein bisschen aufzupolieren. Es sollen angeblich heute noch einige aus solchen Verbindungen hervorgegangene Ururenkel herumlaufen, mit Schwimmhäuten zwischen Fingern und Zehen, die Zeugnis ablegen von dem Selkie-Blut, das in ihren Adern fließt.«
Automatisch betrachtete Buffy ihre Hände, dann wurde ihr bewusst, dass Angel sie dabei beobachtete, und rasch sagte sie: »Alles in allem sind sie also nicht bösartig, richtig?«
Abermals zog der Vampir die Stirn in Falten. »Nun ja... nein. Nicht bösartig. Vielleicht manchmal ein wenig grausam, zumindest vom Standpunkt eines Menschen aus gesehen, vermute ich. Aber Giles wird sicherlich mehr darüber wissen als ich.«
In diesem Moment trat ein Vampir hinter einer Grabfigur hervor und schrak sichtlich zurück, als er registrierte, wen er sich da als Opfer auserkoren hatte.
»Mr. Lawrence. Ich habe mich schon gefragt, wann Sie wieder auftauchen würden, um mir das Leben schwer zu machen.« Buffy seufzte und stapfte ihrem ehemaligen Fahrlehrer entgegen, den Pflock in der Hand.
»Um ehrlich zu sein«, gestand Giles mit nicht zu übersehendem Widerwillen und blickte von dem auf seinem Schreibtisch bedrohlich anwachsenden Bücherhaufen auf, »mein Wissen ist, was Selkies anbelangt, nur äußerst begrenzt. Da sie im Allgemeinen als, nun ja, eher gutartig gelten, bestand bisher wenig Veranlassung, sich näher mit ihnen zu befassen.«
»Oder gar umfangreiche Recherchen anzustellen«, fügte Willow gereizt hinzu, schloss mit einem Knall ein weiteres Buch und warf es auf den ebenfalls immer größer werdenden Haufen neben dem Sofa, auf dem sie sich niedergelassen hatte. Um Ariel nicht unnötig neugierigen Blicken auszusetzen, hatten sie vorübergehend ihre Operationsbasis in Giles’ Wohnung verlegt. Nachdem sie alles in Frage kommende Material aus der Bibliothek in Giles’ ohnehin von Büchern überquellende Privatgemächer geschleppt hatten, sah es dort aus wie in einer Buchbinderei, in die eine Bombe eingeschlagen war. Doch weder Giles noch Willow noch das kleine Selkie-Mädchen schienen das Chaos aus Büchern und schweren Wälzern, das um sie herum herrschte, überhaupt wahrzunehmen.
»Wie kann es sein, dass so viele Bücher so wenig brauchbare Informationen enthalten? Und die ganzen Websites erst«, schnaubte Willow verächtlich. »Jede Menge Märchen und haarsträubende Geschichten, die sich nicht einmal mit dem decken, was in den alten Legenden berichtet wird. Als hätten sich irgendwelche Leute die Geschichten einfach mal eben so ausgedacht.«
»Möglicherweise stimmt das sogar«, erwiderte Giles. »Wenn dir eine Geschichte ohnehin als unrealistisch und völlig an den Haaren herbeigezogen erscheint, was sollte dich davon abhalten, sie nach Belieben umzuschreiben und dir deine eigene Version zu stricken? Ein altes Übel, mit dem ernsthaft ambitionierte Volkskundler oder, wie in diesem Fall, Okkultologen seit jeher zu kämpfen haben.«
Ariel, die immer noch in Willows ausrangierten Klamotten steckte, lag zusammengerollt am anderen Ende des Sofas und beobachtete die beiden Menschen aus großen Augen. Nach wie vor klammerte sie sich krampfhaft an ihr Seehundfell, doch ihre Blicke wirkten längst nicht mehr so furchtsam, ihre Körperhaltung bei weitem nicht mehr so angespannt wie noch wenige Stunden zuvor. Sie in Giles’ Auto zu verfrachten war nicht ganz so einfach gewesen – für Xander Grund genug für die Bemerkung, selbst Selkies könnten mit einem Blick erkennen, dass es sich bei der Mühle um eine potentielle Todesfalle handele. Doch hier, in der abgedunkelten, kühlen Wohnung, hatte sie sich allmählich wieder so weit beruhigt, dass selbst das schrille Läuten des Telefons sie nicht mehr allzu sehr aus der Fassung zu bringen vermochte.
»Ja...«, fuhr Giles fort, nachdem er einen weiteren Text überflogen, für unbrauchbar befunden und beiseite gelegt hatte. »Es waren immer die eher romantischen Geschichten, die die Herzen der Masse eroberten. Und – auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole – Selkies gehörten zu keiner Zeit zu den Wesen, mit denen sich ein Wächter auseinander setzen musste.«
Er lehnte sich zurück, griff zu seiner Tasse und nahm einen kleinen Schluck Tee. »Sie gelten gemeinhin als eine Spezies, der grundsätzlich eine gewisse Überheblichkeit zu eigen ist, abgesehen natürlich von den wenigen ihres Volkes, die an Land gingen, um den Rest ihres Lebens mit einem Menschen zu teilen. Obwohl«, fügte er hinzu, »sich in den wenigsten dieser Fälle glaubhaftere Quellen finden lassen als alte Familienchroniken. Es ist wirklich zum Auswachsen.«
Abermals gab Willow ein verächtliches Schnauben von sich, ein ganz und gar nicht damenhaftes Geräusch. »Das kann man wohl sagen! Da haben wir nun einen Riesenhaufen von Büchern und in allen steht immer nur das Gleiche. Und nichts von alldem scheint wirklich zusammenzupassen, weil die eine Hälfte der Informationen der anderen völlig widerspricht und –“
»Willkommen in der wunderbaren Welt der Quellenforschung. Vielleicht verstehst du nun, warum ich es vorziehe, mit Primärtexten zu arbeiten.« Giles’ Denkerstirn zog sich mit einem Mal in Falten. »Natürlich, warum habe ich nicht gleich...« Er richtete sich kerzengerade in seinem Stuhl auf, trommelte mit einer Hand gegen den aufgetürmten Bücherstapel, schien einen Moment angestrengt nachzudenken, schnippte schließlich mit den Fingern und stürmte wie ein geölter Blitz die Treppe hinauf, über die man in die oberen Räume gelangte.
»Giles?«, rief Willow ihm völlig perplex hinterher.
Ariel starrte aufgeschreckt aus weit aufgerissenen Augen abwechselnd Willow und die Treppe an, als wollte sie fragen, wohin der merkwürdige große Mann verschwunden war.
»Hey, ist ja gut«, beruhigte sie Willow. »Alles in Ordnung.«
Das Selkie kuschelte sich wieder in seine Wolldecke und gab ein Geräusch von sich, das wie ein leises Gähnen klang – laut der umfassendsten Website über Seehunde, die Willow im weltweiten Netz hatte finden können, ein Ausdruck von Zufriedenheit. Nun, bei Seehunden jedenfalls. Bei Selkies könnte es durchaus etwas völlig anderes bedeuten. Vielleicht aber auch nicht. Sie war sich nicht sicher, ob alles, was sie dort gelesen hatte, auch auf diese Wesen übertragbar war. Obwohl einige Verhaltensmuster, die für Wölfe galten, auch auf Werwölfe zutrafen; in diesem Punkt hatten sie reichlich Erfahrungen sammeln können. So gesehen stellten die Informationen aus dem Internet zumindest einen ersten Ansatz dar.
Dem Ratschlag auf der Website folgend, streckte Willow eine Hand aus, die Handfläche nach unten, und ließ sie sanft auf das Sitzpolster sinken, weit genug von ihrem scheuen Gast entfernt, sodass dieser sich nicht bedroht fühlen konnte. Je häufiger sie diesen Vorgang wiederholte, umso rascher würde Ariel ihn als tröstlich empfinden. Angeblich.
»Wenn wir dir helfen sollen«, begann sie im Plauderton, »werden wir nicht darum herumkommen, dein Fell etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Was bedeutet, dass du nicht darum herumkommen wirst, uns ein klein bisschen zu vertrauen. Anderenfalls hängst du nämlich mehr oder weniger hier fest. Und das hier ist wirklich nicht der richtige Ort für dich, wenn du verstehst, was ich meine.« Willow verdrehte anlässlich ihrer eigenen Worte die Augen. »Was offensichtlich nicht der Fall ist. Weil du ja kein Englisch kannst. Ein Problem, das wir bisher noch nicht hatten.«
Diese Erkenntnis verblüffte sie selbst. »Wow. Das stimmt. Alle Dämonen sprechen Englisch. Als ob es so etwas wie die offizielle Sprache der Hölle wäre. Oder haben die vielleicht so eine Art satanischen Universaltranslator? Oder irgendeinen Zaubertrick? So was könnte ich echt gut für den Französischunterricht gebrauchen. – Hey, Giles! Was gefunden?«
Der Bibliothekar kam langsam die Treppe herunter, blieb auf der untersten Stufe stehen und betrachtete das Buch, das er in der Hand hielt. »In der Tat, ja, ich glaube, das habe ich. Honigbergs und O’Hogans Treoir Praiticuil Muiri.«
Ariel hob den Kopf und gab ein leises, überraschtes Jaulen von sich. Giles, den Blick immer noch auf das Buch gesenkt, fuhr indes fort: »Das ist Irisch-Gälisch und lässt sich wohl am ehesten mit Praktischer Meeresführer übersetzen. Ich habe ihn vor ein paar Jahren in einer kleinen unscheinbaren Buchhandlung erstanden, zusammen mit einigen anderen Raritäten; bisher bin ich nicht dazu gekommen, mehr als flüchtig hineinzusehen –“
»Giles, stopp, warten Sie! Als Sie eben den Titel genannt haben, auf Gälisch, meine ich, ist sie – Ariel, sprichst du Gälisch? Ich leider nicht, aber – Giles?«
Giles blickte von Willow zu dem Selkie und bemerkte die plötzliche Aufmerksamkeit, die in den großen braunen Augen des seltsamen Wesens aufgeflackert war. »Meine Gälischkenntnisse sind eigentlich eher bescheiden... ähm... Caintigh Gaelige?«
Ariel machte ein Geräusch, das man, wäre es von einem Menschenkind gekommen, beim ersten Hinhören für ein glucksendes Kichern hätte halten können. »Se’fo’d’ach.«
»Hey!«, rief Willow begeistert. »Sie hat was gesagt!«
Giles blinzelte verwundert. »Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, sie hat gerade... Dummkopf zu mir gesagt.« Der Ausdruck in seinem Gesicht ließ vermuten, dass er sich noch unschlüssig darüber war, ob er sich freuen oder beleidigt sein sollte. »Sicher, sie spricht mit starkem Akzent, genau wie ich, und ich gebe gerne zu, dass mein Gälisch ein wenig eingerostet ist, sodass mir die Syntax einige Probleme bereitet, aber...«
Er radebrechte sich noch ein paar Sätze zurecht, versuchte tapfer die Klippen gälischer Grammatik zu umschiffen, doch Ariel, die seine angestrengten Bemühungen mit großem Interesse zu verfolgen schien, blieb jede weitere Antwort schuldig.
Schließlich gab Giles seufzend auf. »Schätzungsweise kennt ihr Volk Gälisch nur als eine Art Zweitsprache, vielleicht ein Überbleibsel aus jener Zeit, als sie noch Kontakt zu den Fischern und Seeleuten hatten, die an den Küsten ihrer Heimatinsel lebten. Ich kann mich an die Wörter und ihre Aussprache noch einigermaßen gut erinnern, und was sie soeben von sich gegeben hat, lässt wenig Hoffnung auf eine von Missverständnissen freie Verständigung.«
Er wedelte mit dem Treoir Praiticuil Muiri herum. »Immerhin wissen wir, dass wir auf dem richtigen Weg sind.«
Willow fand nicht, dass das Nachschlagewerk sonderlich beeindruckend aussah. Anders als die meisten von Giles’ Büchern war es auf minderwertigem Papier gedruckt und mit einem Einband aus Pappe versehen, eine dieser Billigausgaben, wie man sie in jeder mittelmäßigen Buchhandlung fand. Sie streckte die Hand aus und bereitwillig überließ ihr Giles die angeblich so bedeutende Publikation. Okay, sie war in einer Sprache geschrieben, die sie nicht verstand, das sprach grundsätzlich schon mal für das Buch – nur wenige der wirklich interessanten Dinge waren in neuzeitlichem Englisch abgefasst.
»Steht da sonst noch was drin, das uns irgendwie weiterhelfen könnte?«, fragte sie und gab Giles das Buch wieder zurück.
»Möglicherweise... Mal sehen, hier... warte... hier steht etwas wie ›Mit den Wellen‹. Mit den Wellen..., hm, go brach...«
»Go brach«, wiederholte Ariel, als wollte sie ihm soufflieren. »Go deo!« Ihre Stimme war sanft, doch um einiges sonorer als die eines Menschenmädchens vergleichbaren Alters.
»Immerdar!«, schloss Giles triumphierend. »›Mit den Wellen immerdar‹ – es handelt sich offensichtlich um einen Verwandlungsspruch, vielleicht von dem Nachkommen eines Selkie und eines Menschen, der wieder ins Meer zurückwollte.«
»Leider wird davon das Seehundfell auch nicht sauber.«
»Äh, nein.« Giles blätterte hektisch in dem Buch herum. »Ich sollte unbedingt meine Gälischkenntnisse aufbessern.«
»Meinen Sie, ich kann im Internet mehr darüber finden, wenn ich ein wenig mit der Schreibweise und Aussprache herumexperimentiere?«, fragte Willow mit leuchtenden Augen.
Giles zuckte mit den Schultern. »Einen Versuch ist es wert. Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, warum jemand sich die Mühe machen sollte, solch obskure Informationen ins Netz zu stellen.«
Willow verzog das Gesicht. „Glauben Sie mir, wenn es sich um etwas total Abgedrehtes handelt oder etwas völlig Sinnloses, im Internet werden Sie es finden.«
»Was wieder einmal beweist, dass meine Meinung über diesen Tummelplatz für Freaks aller Couleur nicht einer gewissen Berechtigung entbehrt.« Giles’ Skepsis gegenüber dem World Wide Web war bereits Thema zahlreicher und endloser Diskussionen gewesen und beiden war klar, dass sie in dieser Sache wohl niemals einer Meinung sein würden.
»Hier scheinen ein paar überaus interessante Dinge über die ursprüngliche Heimat der Selkies und ihre Ausbreitung in andere Gebiete zu stehen«, kehrte Giles wieder zum eigentlichen Thema zurück.
»Rachaidh me arm go!«, platzte Ariel plötzlich heraus und sah sie erwartungsvoll an.
»›Ich werde wieder zurückgehen‹«, übersetzte Giles nach einem kurzen Moment des Nachdenkens.
»Sie möchte nach Hause«, sagte Willow gerührt. »Armes Ding.«
»Ein völlig anderer Fall als die Katastrophen, mit denen wir uns für gewöhnlich herumschlagen müssen«, meinte Giles und nahm wieder an seinem Schreibtisch Platz, um weiter in dem Buch zu studieren. »Und ein höchst willkommener zudem.«
Die späte Nachmittagssonne warf lange Schatten auf den verlassenen Strand. Katastrophenschutz und Einsatzhelfer waren längst abgerückt und nicht ein einziges Schiff der Küstenwache störte die Stille der sanft wogenden See. Hier und dort bedeckten schaumige schwarze Flecken den Sand und die Felsen, und mit dem Morgengrauen würden sich weitere Helfer einfinden, um einige Wasser- und Bodenproben zu nehmen, doch der größte Teil der Säuberungsarbeiten – die der Menschen wie die von Mutter Natur – war getan, zumindest an diesem Ort. In San Diego kämpften indes Labortechniker, Veterinärmediziner und Freiwillige um das Leben jeder einzelnen der zahllosen Kreaturen, die von überall entlang der Küste zu ihnen gebracht wurden. In wenigen Tagen würden die Tiere, denen man noch hatte helfen können, wieder in ihren angestammten Lebensraum zurückkehren.
Weit und breit das einzige lebende Wesen, das an diesem unwirtlichen Küstenstrich zu sehen war, war ein Mann, der, die Hände tief in die Taschen seines dunkelbraunen Anoraks vergraben, nur wenige Meter von seinem abgestellten Leihwagen entfernt am Straßenrand stand und aufs Meer hinausblickte.
Zu spät. Wieder einmal.
Er stieg über die niedrige Straßenbegrenzung und ging über den Sand zum Wasser hinunter. Dort blieb er stehen und ließ seine Blicke wie suchend über die beinahe reglos scheinende Meeresfläche schweifen. Rötliches Sonnenlicht fiel auf seine grimmigen, harten Züge und zauberte einen seltsam anmutenden Schimmer auf sein bereits angegrautes schwarzes Haar.
»Wo bist du?«, fragte er in die sich wie endlos vor ihm erstreckende Weite. »Wo bist du?« Seine Worte waren leise, doch in seiner Stimme schwang Wut.
Keine Antwort, nur der heisere Schrei einer Möwe, die einen Moment lang direkt über ihm stand, bevor sie weiter aufs Meer hinausstürzte, wo sie allmählich im Sonnenuntergang verschwand.
Der Mann schenkte ihr kaum Beachtung, sah nur einmal kurz auf und wandte seine Aufmerksamkeit sogleich wieder der glitzernden Fläche des Ozeans zu. Schließlich setzte er sich schulterzuckend in Bewegung und wanderte weiter den Strand entlang, die suchenden Blicke auf den Sand gerichtet, von dem die Flut alle Spuren der frühmorgendlichen Menschenansammlung hinweggespült hatte. Irgendwann würde etwas sein Augenmerk auf sich ziehen und er würde sich hinabbeugen, um es genauer zu untersuchen. Oder er würde zu einer der hier und da emporragenden Felsgruppen gehen und die Hände tastend über Vorsprünge und Kanten gleiten lassen.
Sein ganzes Erscheinungsbild war das eines Mannes, der eine Mission zu erfüllen hatte. Eines Mannes, der beharrlich nach etwas zu suchen schien... ob er es nun finden mochte oder nicht.
Ein schriller Signalton zerriss die Stille. Der Mann blieb stehen und zückte sein Handy.
»Hier Dr. Lee«, blaffte er hinein. »Was gibt’s?«
Die Antwort schien ihm nicht zu gefallen.
»Ihr Idioten! Und warum erfahre ich das jetzt erst?« Nur mit Mühe gelang es ihm, seinen aufwallenden Zorn zu unterdrücken, während er sich die hastig gestammelten Entschuldigungen seines Mitarbeiters anhörte. »Vergessen Sie’s. Ich will die Namen aller, die auch nur in irgendeiner Weise an diesem Einsatz beteiligt waren.«
Er sah sich noch einmal prüfend um und runzelte die Stirn. Es war bereits zu dunkel, um die Suche fortzusetzen.
»Nein. Der Bericht aus Los Angeles war diesbezüglich eindeutig. Zumindest eines von ihnen hat etwas von dem Rohöl abbekommen. Was bedeutet, dass es, solange es ihm nicht gelingt, zu seinem Rudel zurückzukehren, völlig hilflos ist. Ich habe nicht die Absicht, es entkommen zu lassen. Nicht dieses Mal.«
Er unterbrach die Verbindung und ließ das Handy wieder in seiner Tasche verschwinden. Sein Blick wanderte zum Horizont, dorthin, wo das Blaugrau des Meeres auf das gräuliche Blau des Himmels traf und beide allmählich zu einem trüben Dunkel verschmolzen.
»Nicht noch einmal.«